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Heinz Marquardt wollte auch eben aufstehen und gehen, als Alex, der ihn hierhergebracht hatte, an seinen Tisch kam und ganz laut sagte:
»Na weeßte, du Schlamassel, det hättste mir ooch frieha sagen kennen, det de bloß hierher jekommen bist, um Lampen zu machen! Lampen machen – verraten. ... Dazu brauchen wa dir doch nich! Unse Achtjroschenjungen, die halten wa uns aleene ...«
Marquardt war ganz verblüfft.
Wie? ... was? ... er machte Lampen? ... was sollte denn das heißen? ... Nein, wahrhaftig, er wußte gar nicht ... übrigens verbäte er sich dieses unverschämte Duzen!
»Wat willste?!« Ales, lachte wiehernd, »du vabittst dir det? ... Ja, Mensch, sei man bloß froh, wenn wir uns det nich vabitten! ... Nicht wahr, Husarenwilhelm, wir vabitten uns det, det so'n Schlemminer Schlemminer – Dummkopf. hierher kommt un uns veräppeln veräppeln – sich über einen lustig machen. will!«
»Na jewiß«, sagte Husarenwilhelm, neben dem plötzlich noch eine ganze Anzahl konfiszierter Gesichter erschien, während aus dem Hintergrunde Aprikosenjuste höhnisch lachend herüberblickte.
»Wo wer'n wir uns det jefallen lassen! Hier sin wir zu Hause und keen andrer! ... Am Ende haste ja 'ne polizeiliche Ermächtigung bei dir, uns auszuspionieren, du, wat?! ... Zeije doch ma her, wat de dra drin hast in deine Tasche!«
Und Husarenwilhelm griff dem sich fest mit dem Rücken an die Wand pressenden jungen Manne rücksichtslos in den Rock hinein. Aber im selben Moment taumelte er, von einem Hieb auf die Nase getroffen, zurück. Marquardt, der über bedeutende Kräfte verfügte, war nach dem Schlage aufgesprungen, hatte die Nächststehenden zur Seite gestoßen und versuchte nun den Ausgang zu gewinnen.
Aber das Lokal war voller Gäste.
Heinz Marquardt fühlte sich, ehe er noch zehn Schritte weit gekommen war, von hinten gepackt und zu Boden gerissen. Im Fallen zog er seinen Revolver, nach dem er schon während der Flucht gesucht hatte, aus der hinteren Beinkleidertasche und schoß in die Luft.
Das schuf ihm für einen Augenblick Raum. Die Angreifer wichen zurück. Nur Husarenwilhelm, der sich vordrängend wohl die Scharte von vorhin auswetzen wollte, packte ihn bei den Füßen.
»Laß los!« schrie Heinz und zielte auf den Dieb.
Der griff über ihn weg und wollte ihm die Waffe entreißen, indem schoß Heinz, und mit einem Wehlaut brach der Getroffene zusammen.
Aber als sei das nur das Signal gewesen für die anderen, so fielen sie jetzt alle über ihn her. Voran der vabubanzte Theodor, dessen Fausthiebe Heinz Marquardt mit ein paar Revolverkugeln erwiderte, die fehlgingen.
Der junge Beamte, den seine Feinde bis an die Wand zurückgetrieben hatten, nahm die Waffe verkehrt und hieb damit auf die Köpfe der Andringenden ein, die sich, die Arme vorhaltend, jetzt durch nichts mehr zurückhalten ließen.
Marquardt fühlte das Blut aus einer Stirnwunde über seine Wange rieseln. Der linke Rockärmel hing, von Messerstichen aufgeschlitzt, herunter, das Hemd war blutig, und ein Stoß, der ihn in die Magengegend getroffen hatte, machte ihn fast bewußtlos. Aber noch immer schlug er um sich mit dem Revolver, der auf den Köpfen und in den Gesichtern der Verbrecher böse Spuren hinterließ.
Da traf den schon Ermatteten ein Messerstich in die Brust; er fühlte es, wie die getroffene Rippe knackte.
Er ließ die Arme sinken und gab sich verloren.
Erschlafft und betäubt sank er wie ein leerer Sack zusammen ...
Man schlug und stieß ihn, trat auf ihm herum, er fühlte keinen Schmerz mehr, nur sein Gehirn arbeitete noch wie rasend.
Eine große Menge von Gedankengängen schoß blendend hell, wie reißende Gebirgsbäche, nebeneinander her durch seinen Schädel: seine Kindheit in der kleinen Landstadt, der alte Turm, die Promenade, der ehemalige Kirchhof, wo er seine erste Liebe getroffen und zum erstenmal in seinem Leben geküßt hatte; der meilenweite See, auf dem er als Junge Schlittschuh lief ... und daneben die Zeit, wo er in Berlin die Präparandenanstalt besuchte; denn anfänglich wollte er ja Lehrer werden; die Ausflüge mit den Kollegen und ein heller Sonntag, wo er oben auf dem Schildhorndenkmal hockte und über die blitzende Havel hinwegsah ... und dann wieder die alte Bekanntschaft mit seiner Trude ... ihr erster Kuß und die erste leidenschaftliche Umarmung; derselbe Sturm von Glück wie damals, dieselbe Wonne wie damals und ihr schauerliches Ende. Die Nacht, wie er nach Hause kam und sie ermordet fand, wie er bei ihr wachte, wie das Mädchen auf den Zehenspitzen heranschlich ... sein Bureau, der alte Direktor Weckerlin, Maaß im Gefängnis und dieser Abend hier mit der schönen Frau, die er besuchen sollte – – – alles, alles, alles wie ein einziges, in rasenden Blitzen aufzuckendes Panorama! ... Und dann Nacht ... schwarze, totenstille, traumlose Nacht – – –
»Na, was is denn hier los?!«
Mit einem Sprung war der Kriminalkommissar, der zurückgekommen war, die Stufen der Treppe hinunter und mitten unter den Gästen des Kabaretts.
Wie die Ratten, wenn die Katze sich blicken läßt, wollten sie durch Fenster und Seitentüren verschwinden, aber schon klang die scharfe Stimme des Beamten:
»Dableiben! ... Alle Ausgänge sind besetzt! ... Auch der Nachbarhof! ... Was habt Ihr denn da angestellt, Ihr Himmelhunde?!«
Mit ein paar Hieben seines Gummiknüppels diejenigen, die sich vor den hingesunkenen Marquardt postiert hatten, zurücktreibend, trat er an den Ohnmächtigen heran, und sofort seine Pfeife an die Lippen bringend, stieß er einen schrillen Pfiff aus, auf den sofort hastige Tritte im Gange hörbar wurden.
Sechs Kriminalbeamte stürmten, den Revolver in der Faust, in das Lokal.
»Die janze Jesellschaft wird verhaftet!« befahl der Kommissar. »Aber halt! Erst soll der mal vortreten, der vorhin dem Herrn, mit dem ich hier war, die Kette mit den Brillanten von der Hand geschnitten hat! ... Na, wird's bald!«
Keiner meldete sich.
»Also, Herr Graf, bitte, zeigen Sie mir mal den Kerl, der sich vorhin so auffällig an Sie herangedrängt hat!«
Mit den Schutzleuten zugleich war der Kavalier von vorhin wieder erschienen.
Furchtlos, mit einer Ruhe, als sei das alles hier bloß ein effektvolles Theaterstück, sah sich der Adlige, das Monokel im Auge, rings um. Dann zeigte er auf einen Menschen, der sich in dem eingebauten Winkel des Lokals hinter ein paar andere zu drücken versuchte, und sagte:
»Der da war's, Herr Kommissar!«
»Komm vor!« befahl der Beamte mit einer winkenden Bewegung seines energischen Kopfes.
Zögernd trat Alex, der Klavierspieler, aus dem Hintergrunde hervor.
Aber er war noch nicht bei dem Beamten, als plötzlich alle Gasflammen erloschen. Gleichzeitig ging ein Pfeifen durch den Raum, als erhöbe sich ein scharfer, sausender Wind.
Ein drohender Tumult! Für Sekunden war es stockdunkel. Dann aber flammten die elektrischen Taschenlaternen der Beamten hell auf, und in ihrem Scheine sah man die sämtlichen Schutzleute mit gespannten Revolvern dastehen.
Am Boden, neben dem Kommissar, kniete der Adlige auf dem Klavierspieler, der ihm in der Finsternis sein Messer hatte in den Leib rennen wollen. Der Graf hielt die Kehle des Verbrechers mit seiner schmalen, weißen Hand wie mit einer Zange umklammert; auf seiner bleichen Stirn schwollen die Adern, und die erst so matten Augen funkelten plötzlich wie blauer Stahl. Man mußte ihm sein Opfer entreißen, sonst hätte er's erwürgt.
»Das Lokal ist mit dem heutigen Tage geschlossen«, sagte der Kommissar, dessen Ruhe durch nichts zu erschüttern schien.
»Der Wirt und dieser hier,« er deutete auf Alex, »und der dort – Husarenwilhelm, nicht wahr? – die werden gefesselt! Sollte sich außerdem jemand hier oder auf der Straße der Verhaftung durch die Flucht entziehen wollen, so sind die Beamten angewiesen, von ihren Revolvern Gebrauch zu machen! Wir wollen mal gründlich aufräumen mit der Bande hier! Und Sie, Petersen, Sie haben doch Verbandzeug bei sich? ... Sehen Sie mal zu, ob mit dem Mann da noch was zu machen ist! ...«
Der Schutzmann Petersen beugte sich über Marquardt, der regungslos dalag, und legte sein Ohr an die Brust des Verwundeten.
»Das Herz schlägt noch, Herr Kommissar!«
»So, na denn machen Sie mal seine Kleider auf und sehen Sie nach den Verwundungen«, erwiderte der Kommissar, der inzwischen selbst den gefesselten Alex visitierte.
»Es ist, wie ich dachte, Herr Graf,« wandte er sich an den Aristokraten, »der Gauner hat die Kette inzwischen schon wieder weiter verschoben!«
»Aber ich glaube, wir haben da gar nicht nötig, weit zu suchen ... nicht wahr, Freund Theodor, wir wollen mal bei dir anfangen, mein Junge! ...«
Der sträubte sich gegen die Visitation. Aber einige wohlgezielte Backpfeifen, die den Wirt vor Wut laut aufheulen ließen, machten ihn schließlich gefügiger.
»Setz dich!« befahl der Kommissar, nachdem die Durchsuchung der Taschen resultatlos verlaufen war, und drückte den noch immer Widerstrebenden, der mit seinen Fesseln um sich schlagen wollte, auf den Fußboden nieder.
Einer der anderen Beamten mußte erst eingreifen, aber dann lag der »Vabubanzte« auch am Boden, daß die Dielen dröhnten.
»Muß man solchem Menschen noch die Stiefel ausziehen«, schalt der Kommissar.
Gleich darauf ein leiser, klirrender Klang.
»Da! Da ist die Kette!« Der Kommissar nahm das Schmuckstück vom Boden und wollte es dem Grafen reichen, der jedoch streckte nur zögernd seine Hand aus, und noch ehe seine Finger das Gold berührt hatten, zog er die Hand zurück und sagte: »Darf ich Sie bitten, Herr Kommissar, die Kleinigkeit von mir als Andenken an diese denkwürdige Nacht entgegenzunehmen? ... Ich selbst, muß ich gestehen, könnte mich jetzt nicht mehr dazu entschließen, die Kette zu tragen!«
Der Kommissar lachte gutmütig:
»So heikel können wir in unserem Beruf nicht sein, Herr Graf! ... Im allgemeinen ist es uns Beamten aber nicht gestattet, für das, was doch nur unsere Pflicht ist, ich meine für die Ausübung unserer Beamtentätigkeit, Geschenke anzunehmen. Aber ich werde meine vorgesetzte Behörde um Erlaubnis fragen. Wenn die ihre Genehmigung erteilt, mach' ich meiner Frau damit ein Geburtstagsgeschenk ... ich selbst trage nämlich keine Armbänder ... und,« fügte er lustig hinzu, »sie würden mir auch wohl zu bald gestohlen werden ... Aber vor allen Dingen wollen wir jetzt mal sehen, was der arme Kerl da macht ...«
Er trat rasch an Heinz Marquardt heran, der noch immer kein Lebenszeichen von sich gab.
»Wie ist es, Petersen, hat er viel abbekommen?«
»Ich kann's nicht recht sagen,« meinte der Beamte, »wenn das Frauenzimmer da immer wieder mit ihrem dummen Jeheul anfängt, kann man ja jar nichts von der Atmung hören.«
Er meinte Aprikosenjuste, die den Kopf des Bewußtlosen in ihrem Schoß hielt und weinend und schluchzend allerlei unverständliches Zeug vor sich hinmurmelte.
»Na, wie kommt der Mann denn zu der?« fragte der Kommissar, »ich hatte den Eindruck, als gehörte er nicht zu den übrigen, aber nun scheint er mir doch auch weiter nichts als ein Zuhälter zu sein.«
»Det is nich wahr!« Aprikosenjuste kreischte wütend auf. »Det is 'n janz anständiger Mensch, der da! Un ick hab 'n heute abend hier erst kennenjelernt ... Sie! ... Vastehn Se!«
Der Kommissar schüttelt sehr skeptisch den Kopf, aber der Graf sagte leise:
»Ich glaube, das Mädchen hat recht. Die Dame, mit der wir vorhin hier waren, die Dame erzählte mir nachträglich, sie hätte mit ihm gesprochen, und da hätte er ihr gesagt, es ...«
Der Graf beugte sich näher zum Kommissar hin und flüsterte so leise, daß keiner der Umstehenden etwas verstand.
»So, so ... Der Kommissar nickte nachdenklich, »also der ist es! Ja, von dem hab' ich gehört! Aber das kommt davon, wenn solch Mensch glaubt, daß er ohne uns was erreichen kann!
Na, jedenfalls wollen wir den armen Kerl nach der Sanitätswache schaffen ... Petersen! Sie und Müller II tragen ihn in eine Droschke und fahren ihn zur nächsten Unfallstation ... verstanden! Und nicht eher weggehen von dort, bis Sie mir genauen Rapport abstatten können, was mit ihm los ist ..., also dalli!«
Die Beamten trugen den Leblosen, hinter dem Aprikosenjuste noch immer herheulte, hinaus.
Dann ließ der Kommissar die Arrestanten sich zur Kolonne formieren, und die ganze Gesellschaft verließ das Lokal, das der Oberbeamte persönlich abschloß.
Draußen stieß noch eine Abteilung Uniformierter zu den anderen. Diese flankierten die Seiten des ziemlich langen Zuges, während vorauf und hinterher die Kriminalbeamten gingen.
So zog der Zug durch die schweigende, feuchtkalte, von dickem Nebel erfüllte Nacht.
Als man auf dem Alexanderplatz war, hörte man plötzlich einen wütenden Laut, einer der uniformierten Schutzleute flog zu Boden und über ihn fort stürmte trotz seiner Handfesseln der vabubanzte Theodor, der im Nebel verschwand und trotz sofortiger Verfolgung nicht wieder ergriffen wurde ...
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