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Alfred Maaß lag nach einer durchzechten Nacht noch im Bett, als seine Wirtin anklopfte und ihm zurief, draußen wären zwei Herren, die ihn zu sprechen wünschten. »Gleich,« sagte er übellaunig, »ich komme gleich!«

Dann erhob er sich mit schweren Gliedern und wüstem Schädel und dachte mit trostlosen Empfindungen an die gestrige Nacht und an das Geld, das ihn seine Kneiperei gekostet hatte.

Er war absolut nicht imstande gewesen, gestern nachmittag wieder ins Bureau zu gehen. Das Renkontre mit Marquardt hatte ihn zu sehr verstimmt. Er haßte diesen Menschen. Und obwohl seine Vernunft ihm riet, diesen im Grunde doch törichten Groll fahren zu lassen, bekam er es nicht fertig, dem Kollegen ein freundliches Wort zu gönnen, und ergriff jede Gelegenheit begierig, wo er dem andern schaden konnte.

Das alles ging ihm durch den Kopf, als es jetzt wiederum klopfte und eine ihm fremde Stimme gebieterisch Einlaß forderte.

»Machen Sie auf!«

»Wer ist denn da?« fragte Alfred Maaß verwundert.

»Sie sollen aufmachen!« wiederholte der andere sehr energisch, »wenn Sie nicht wollen, daß ich durch einen Schlosser öffnen lasse.«

Nun fuhr Alfred Maaß, der noch immer in mißmutigem Nachdenken auf der Bettkante gesessen hatte, rasch in seine Beinkleider und schob erschrocken den Riegel zurück.

Der erste der beiden Männer, die ins Zimmer traten, hielt ihm eine ovale Blechmarke entgegen und sagte:

»Ich bin Kriminalbeamter, Sie sind verhaftet.«

Alfred Maaß wurde totenbleich. Der Kater, der ihn peinigte, machte ihn unfähig, diesem ganz unerwarteten Ereignis mit Fassung standzuhalten. Seine Knie schlotterten, er lief im Zimmer hin und her und suchte an Plätzen, wo sie gar nicht lagen, seine Sachen.

Plötzlich blieb er stehen, sah den Kommissar Hartmuth, der mit ernstem Gesicht die Tür flankierte, voll an und fragte;

»Weshalb denn? Was soll ich denn gemacht haben?«

»Das werden Sie selbst wohl am besten wissen ... Übrigens machen Sie keine Umstände und ziehen Sie sich an! Sonst muß ich Sie mitnehmen, wie Sie sind.«

Nun fing Maaß, dessen ängstliches Gemüt besonders in der überreizten Stimmung, in der er sich augenblicklich befand, den Ausweg nicht fand aus dieser ihn so sehr überraschenden und bedrohlichen Situation, an zu weinen.

Der Kriminalkommissar nickte seinem Unterbeamten, dem Schutzmann Westrang, zu, als wollte er ihm sagen: Den haben wir!

Aber Alfred Maaß besann sich gleich wieder auf sich selbst, er fuhr mit dem Hemdärmel über das Gesicht und sagte, halb lachend:

»Ach, ich bin ja verdreht! ... Was rege ich mich denn da so auf! ... Ich habe doch nichts getan? ... Meinetwegen verhaften Sie mich, wenn Ihnen das Spaß macht, Sie werden mich bald genug wieder freilassen müssen!«

Und nun fand er auch seine Ruhe wieder, zog sich flink an und folgte den Beamten, die ihn in ihre Mitte nahmen, hinab zur Droschke.

Sie brachten ihn nach dem Alexanderplatz. Auf dem Präsidium, wo mittlerweile auch Kommissar Bendemann eingetroffen war, wurde er von diesem und Hartmuth sofort verhört.

Vorher hatte man ihn, als des Mordes verdächtig, in einer besonders festen Zelle untergebracht, die ein Aufseher fortwährend zu observieren hatte.

Und dem kleinen Bureaugehilfen war es eine Erleichterung, als ihm endlich mitgeteilt wurde, weswegen er sich hier befand.

Blaß, aber mit entschlossenem Gesichtsausdruck, trat er, von dem Aufseher geführt, in das Zimmer der beiden Kriminalbeamten.

»Na,« sagte Bendemann, »wollen Sie nun nicht lieber von vornherein ein offenes Geständnis ablegen, glauben Sie mir man, das Leugnen nutzt hier gar nichts, und Sie sind ja auch schon so gut wie überführt ...«

»Darf ich fragen, welchen Verbrechens?« fragte der Bureauschreiber mit großer Ruhe.

»Na, das scheint ja n' ganz Abgebrühter zu sein«, meinte Hartmuth. Aber der Kommissar Bendemann winkt ihm mit der Hand und sagte, dem kleinen Maaß fest in das pockennarbige Gesicht sehend:

»Sie stehen im Verdacht, die Frau Ihres Kollegen Marquardt ermordet zu haben.«

Alfred Maaß wäre beinahe umgefallen. Er schwankte und tastete mit den Händen nach einem Stuhl. Dann lehnte er sich an ein Regal und sagte tonlos:

»Ich? ...«

Mehr brachte er nicht heraus, der Tod der Frau, für die sein Herz heute noch so wie vor Jahresfrist schlug, hatte ihn fast niedergeworfen und sein Herz gelähmt.

Der Kommissar Bendemann nickte langsam mit dem Kopf.

»Ja, ja, darauf waren Sie wohl nicht vorbereitet, daß der Verdacht auf Sie fallen würde, aber uns täuscht man nicht, selbst wenn man einen Raubmord inszeniert, mein Lieber ... Aber nun hören Sie mir mal aufmerksam zu, was ich Ihnen jetzt sage: ich sehe das alles ganz deutlich vor mir: Gestern nachmittag haben Sie plötzlich Sehnsucht bekommen nach der armen Frau. Sie konnten es nicht mehr aushalten und gingen hin. Wer weiß, was Sie sich dabei gedacht haben. Ein Mensch, der verliebt ist, ist ja unzurechnungsfähig. Und ich glaube auch gar nicht, daß Sie von vorherein die Absicht gehabt haben, die Frau zu ermorden. Sie wollten sie wiedersehen, hofften vielleicht, sie würde ihrem Manne untreu werden, was weiß ich! ... Na, und da sind Sie hingegangen, die Frau hat Sie natürlich reingelassen, als Kollegen ihres Mannes. Sie haben angefangen, in sie zu dringen, die Frau Marquardt hat Sie in Ihre Schranken gewiesen, dann sind Sie immer heftiger geworden in Ihren Bitten und Beschwörungen, schließlich hat Ihnen die arme Person die Tür gezeigt, und da haben Sie in Ihrer Rage die unselige Tat begangen ... Nicht wahr, es ist so?«

Alfred Maaß schüttelte nur den Kopf.

»Die arme Trude! ... Die arme Trude!«

»Also Sie gestehen es ein, daß Sie der Täter sind?«

»Was, ich?« In die matten Augen des kleinen Bureaugehilfen trat plötzlich ein stechender Glanz, er reckte den Kopf vor und hob sich ganz hoch auf den Zehenspitzen:

»Sie sind wohl verrückt, was? Sie haben wohl 'n Vogel?!«

»Na, hör' mal, Bürschchen,« unterbrach ihn Hartmuth, dicht an Maaß herantretend, »erlaube dir hier gar keine Frechheiten, du! Sonst gibt's Backpfeifen wie Lehmpatzen!«

»Von Ihnen, von Ihnen?« Maaß schrie jetzt ganz laut. »Das sollen Sie sich bloß einfallen lassen! Sie! ... Mich hier aus dem Bette zu holen und mich zu beschuldigen, ich soll 'n Mord begangen haben, solche Verrücktheit! Ich wer' Sie verklagen, Sie, versteh'n Se!«

Der Kommissar Bendemann hielt den Kollegen, der schon seine Drohung zur Tat machen wollte, zurück, gab dem Aufseher ein Zeichen und sagte:

»Führen Sie den Gefangenen ab! ... Er wird gefesselt.«

Wenige Minuten später saß Alfred Maaß in einer besonders festen und zur fortwährenden Beobachtung eingerichteten Zelle, mit einer Kette gefesselt, die von seiner rechten Hand bis zum Fuß hinabreichte.

Er saß eine ganze Zeitlang auf dem dreibeinigen Holzschemel vor dem weißgescheuerten Tisch und starrte in halber Bewußtlosigkeit vor sich hin ... War das möglich, ein Mensch, der gar nichts getan hat, wird plötzlich in seiner Wohnung aus dem Bett geholt, auf die Polizei geschleppt und gefesselt ins Gefängnis geworfen?!

Mit einem Male fuhr er empor. Sich mit der freien Rechten an den Kopf schlagend, rief er ganz laut:

»Das war Marquardt! ... Der Lump, der Spitzbube, der Gauner! Also darum hat er mich gestern so angesehen ... Aber warum bloß, warum? Ich hab' ihm doch nichts getan?! ... Er mir doch, er hat sie mir doch bloß zu verdanken, die Trude! ...«

Und plötzlich fiel ihm der Mord ein.

»... Ach, sie ist ja tot!« Er sagt es leise im Tone einer tiefen und aufrichtigen Trauer. Und das Bild der Ermordeten stieg vor ihm auf und mitten in seinem eigenen, großen Unglück dachte er nur noch an sie, die gestorben war, ohne daß er noch einmal in ihr geliebtes Gesicht hatte sehen dürfen, ohne noch einen Blick oder einen Händedruck von ihr zu empfangen.

Und dann stieg es gallebitter in seiner Seele auf. »Warum hat sie mich nicht genommen? Bei mir wäre ihr das nicht passiert. Bei mir wohnte sie mit meiner Mutter zusammen, und die hätte sie behütet wie ihr eigenes Kind.« – Denn er hatte sich längst vorgenommen, wenn er einmal heirate, wollte er seine alte Mutter zu sich nehmen, die irgendwo in der Provinz von einer kleinen Witwenpension lebte.

Aber dieser Marquardt hatte ihn schön hineingelegt ... Natürlich würde er sein Alibi nachweisen, und damit würde diese ganze lächerliche Beschuldigung in nichts zerfallen! ... Aber warum hatte ihn Marquardt beschuldigt? War dieser erbärmliche Mensch es etwa selber gewesen?

Er sann und sann. Doch all sein Nachdenken führte ihn immer wieder nur an die Bahre der armen Frau zurück, die er so sehr geliebt hatte.

 

Im Betriebsbureau waren die Herren heute ausnahmsweise früh und vollzählig versammelt. Die große Sensation des Tages, die erst gestern abend, kurz vor Schluß der Bureaustunden, bekanntgeworden war, lockte sie, wie der Speckbrocken die Mäuse.

Maaß war verhaftet!

Er hatte Marquardts Frau ermordet!

Warum? ... Aber, das wissen sie nicht? Die schöne Trude hat doch schon Gott weiß wie lange ein Verhältnis mit dem Rotkopf! ... Wie, was? ... Es ist nicht wahr? Mein Gott, Sie haben's ja stets mit dem kleinen sommersprossigen Ekel gehalten! ... Verbitten! ... verbitten können Sie sich, was Sie wollen! 'n anständiger Mensch verteidigt keinen Mörder!«

Ein paar von den jüngeren Beamten hätten sich beinahe geprügelt. Und die Aufregung, die sich des ganzen Bureaus bemächtigt hatte, war so groß, daß man Marquardts Kommen beinahe übersehen hätte. Der alte Bureaudiener bemerkte ihn zuerst und machte die Herren aufmerksam.

Nun sprangen alle von den Kontorböcken, jeder wollte der erste sein, der dem Kollegen kondolierte. Und alle wunderten sich, daß der sehr blasse junge Mann so teilnahmslos, so stumm, so gar nicht »traurig« aussah.

Er wartete gar nicht, bis er die Beileidsbezeigungen aller entgegengenommen hatte, sondern fragte mittenhinein, ob der Direktor schon in seinem Bureau sei.

Und als er hörte, dieser sei soeben gekommen, machte er sich fast brutal los und ging hinein zu ihm.

Sobald die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, tadelten ihn einzelne der Kollegen, und eine leise, aber eifrige Unterhaltung beschäftigte sich nur mit Marquardt, der nach kurzer Zeit wieder an der Seite des Direktors heraustrat und sich mit stummem Gruß rasch entfernte ...

An diesem Tage war die Luft nebelig und der Himmel hing voller Schneewolken. Als Heinz Marquardt aus dem Bureau auf den sehr langgestreckten Fuhrhof trat, sah er eine ganze Weile dem Treiben der Lastfuhrwerke zu, die hochbeladen und von den oft athletischen Rollkutschern geführt, ihre Kisten und Ballen an den überdachten Rampen der Riesenspeicher abluden, um dann leer im strammen Trabe vom Hof zu rasseln. Oben auf der Fracht hockte, wie ein Äffchen, der »Rollmops«, und manchmal lief auf dem leeren Wagen ein Spitz hin und her. Dazwischen rannten die Ablader umher, man hörte das Rufen der Bodenmeister, und draußen vor dem den Hof abschließenden Eisengitter, dessen Tore jetzt weit offen standen, lungerten die in Berlin stets reichlich vorhandenen Neugierigen. –

Heinz Marquardt blickte nachdenklich ins Gewühl. All das war ihm vielleicht nie so klar und deutlich vor Augen getreten wie gerade heute! ... Aber je greller und je schärfer umrissen er die Konturen des ganzen Bildes sah, desto mehr ward er sich auch bewußt, wie wenig ihn das alles jetzt noch interessierte ... Früher war es sein stiller Traum gewesen, einst wirklicher Spediteur zu werden, nicht Schreiber im Speditionsbureau, sondern der Spediteur selbst, der Mann, der diesen ganzen, massenhaften Verkehr dirigiert und dessen Augen, während er zwischen Rollkutschern und Kollis steht, als bedeute er gar nichts, doch den Schiffsverkehr und das Eisenbahnnetz der ganzen Welt umfassen.

Der Traum war aus! Zerstoben in einer Nacht! Mochten andere in diesem Berufe glücklich sein und vorwärtskommen – er hatte mehr zu tun! ... Vorläufig wenigstens. Später, wenn seine Mission erfüllt war, wenn sein Herz wieder Ruhe hatte, dann wollte er sehen, was er anfinge. ... Jetzt galt all sein Denken der armen Trude, die sie fortgeholt hatten nach der Morgue, um durch die Sektion die Todesursache festzustellen ...

Hahaha! ... Heinz Marquardt lachte dumpf in sich hinein. Das war allerdings sehr wichtig! ... Wichtiger, wie den Hund zu fangen, der ...

Heinz setzte sich plötzlich in schnelle Bewegung. Sein grenzenloser Zorn, der ihn die Zähne aufeinanderbeißen ließ, trieb ihn vorwärts ... Seine Hilfe, natürlich, die hatte man abgelehnt, aber dafür war er heute schon zum dritten Male aufs Präsidium bestellt, um da verhört zu werden ... gestern hatte man ihn mit Maaß konfrontiert ... ha! Der arme Kerl! Der sollte es nun durchaus gewesen sein! ... Er für sein Teil glaubte nicht daran!

Das hatte er auch eben noch seinem Betriebsdirektor gesagt, der ihn mit einer fast väterlichen Anteilnahme zu trösten versuchte.

»Ich danke Ihnen, Herr Betriebsdirektor,« hatte Marquardt erwidert, »ich danke Ihnen sehr! ... Aber mich kann nur eins trösten: wenn man den Mörder findet! So lange schmeckt mir kein Bissen Brot. Ich kann nicht schlafen, und ich habe nirgends Ruhe. Ich glaube auch nicht, daß ich jetzt schon wieder arbeiten könnte.«

»Aber das sollen Sie ja auch gar nicht!« wehrte Herr Weckerlin ab, »keine Idee! Bin ich denn ein Barbar, daß ich so was von Ihnen verlangen sollte? ... Beruhigen Sie sich, lassen Sie Ihrem Schmerz Zeit, sich zu besänftigen ... und wenn Sie in acht Tagen sich wieder mal sehen lassen wollen, daß wir wissen, wo Sie sind, daß es Ihnen gut geht ... mehr verlange ich nicht! ... Nein, wahrhaftig, ich wünsche Ihnen nur, daß Sie's bald überwinden ...«

Dabei hatte ihm der alte Herr die Hände gedrückt, gar nicht wie ein Vorgesetzter ... Freilich, der Betriebsdirektor hatte stets Achtung gehabt vor ihm als seinem fleißigsten Angestellten. Und Heinz Marquardt wunderte sich selbst, daß die Devotion, von der er früher ebensowenig frei war wie seine Kollegen, dahin war, daß sich dieser krumme Rücken jetzt so gerade gezogen hatte bei ihm ... Der Schmerz, dieses tiefe, unstillbare Weh, das in solcher Stärke nur der Tod eines geliebten Menschen auszulösen vermag, und die Rache, die er wie eine harte und doch stolzmachende Pflicht auf seinen Schultern fühlte, die hatte ihn wachsen lassen und ihn frei gemacht von aller Menschenfurcht!

Er wollte auch nicht mehr weinen! Seine Augen waren trocken und sein Herz steinern geworden. Nur eins quälte ihn: er brauchte Geld, und in seinem Besitz befanden sich wenige Markstücke.

Da entsann er sich eines Vetters, der draußen in Schöneberg ein Kolonialwarengeschäft hatte ...

Zu dem wollte er gehen. Sie hatten zwar nie viel miteinander verkehrt; aber gleichviel, bei solchem Anlaß, da konnte der's ihm ja nicht abschlagen!

Er traf den Verwandten im Laden, die Kundschaft bedienend.

War es nun mehr Neugier oder wirkliches Mitleid, der Vetter lud ihn sofort ein, mit in die hinter dem Geschäft liegende Wohnung zu kommen.

Und dort in einem kleinen einfenstrigen, nach dem Hof hinausgehenden Zimmer saß des Kolonialwarenhändlers Frau und nährte ihr junges Kind.

Heinz Marquardt sah das, und das Schluchzen stieg ihm wieder in die Kehle ... Dies Glück hatte ihm das Schicksal ja auch versprochen gehabt ...

Der Vetter legte dem Trauernden den Arm um die Schulter und winkte der Mutter, die er richtig als Ursache dieses Schmerzes erkannte, der bei neuem Anlaß doch immer wieder emporquoll. Die junge Frau ging hinaus, und der Kaufmann bot Heinz etwas zu trinken an.

Der Bureaubeamte schüttelte den Kopf.

»Ich komme nicht her, um euch zu besuchen,« sagte er ganz: aufrichtig, »ich wollte dich nur fragen, ob du mir dreihundert Mark borgen willst?«

Der andere zuckte zurück.

»Wozu brauchst du denn die?«

Heinz Marquardt' setzte ihm sein Vorhaben auseinander und sprach von seinem Mißtrauen gegen die Polizei. Er, er selbst wollte dem Mörder fangen!

Der andere glaubte daran nicht, und wie Marquardt ihn zu überzeugen suchte, lenkte er ab und begann von den schlechten Zeiten zu reden und daß er ja eigentlich auch noch Anfänger sei ... Das Geld wäre ihm, sowieso knapp und er müßte sich oft genug helfen mit Wechseln ... sonst gewiß, recht gern ... Aber gerade jetzt ... zu dumm, daß Heinz nicht vor vierzehn Tagen gekommen, wäre ...

»Da lebte meine Trude noch!« sagte Heinz Marquardt mit harter, trockener Stimme.

In dem Gesicht des Vetters zuckte es. Der Mann kämpfte mit seiner Genauigkeit. Da ging die Tür wieder auf und die Frau, die wohl gehorcht hatte, kam herein und sagte leise:

»Ach, Männe, gib es ihm doch, das Geld! – Denkmal, wenn ich es wäre, die ...« Sie fing an zu schluchzen.

Der Mann stand, sich selbst mit der verkehrten Hand über die Augen fahrend, auf, ging an seinen Sekretär und holte drei blaue Scheine heraus.

»Hier,« sagte er und reichte sie Heinz, »es wird mir nicht leicht, aber meine Frau hat recht ... in solcher Lage, da ...«

Und dann umarmten sich alle drei, und das Ehepaar redete ihm gut zu, und schließlich ging Heinz, zum erstenmal etwas wie einen leisen Trost im Herzen spürend. –

 

Zu Hause war Marquardt seit jener Nacht, wo er die Totenwache bei seiner Trude gehalten hatte, nicht mehr gewesen. So graute ihm davor, wieder das Schloß aufzuschließen, in das er so oft voll froher, glücklicher Empfindungen den Schlüssel gesteckt hatte. Und ein Schauer packte ihn bei dem Gedanken, daß er weiter zwischen den Möbeln leben sollte, die Trudes weiche Glieder aufgenommen und ihre stille Schönheit umgeben hatten.

Sowie die Wohnung von der Polizei freigegeben war, sollte der Abzahlungshändler, dem das meiste gehörte, sein Eigentum wiederkriegen, den ziemlich wertlosen Rest wollte er zu Gelde machen. Und nur das Nähkörbchen der Toten, ein Bildchen und ein paar Bücher, die ihr gehört hatten, wollte er behalten.

Und die Photographie!

Das war das einzige, was in sein Dasein noch einen Schimmer von Glück werfen konnte: sie hatte sich vor knapp einem Monat zu seinem Geburtstag für ihn photographieren lassen ... Das Bild stand auf dem Vertiko. An dem Morgen hatte er natürlich nicht daran gedacht, aber jetzt, jetzt war es sein heißester Wunsch! Er wollte es bei sich tragen, immer, immer! Und wenn er müde sein würde, wenn seine Aufgabe ihn ermattete, wenn er zweifeln sollte an ihrer Durchführbarkeit, dann sollte das kleine Bild ihn wieder aufrichten! Es sollte sein Talisman sein!

Schon gestern hatte er es holen wollen. Aber da hatte er sich noch nicht überwinden können, den Ort, der solche Schrecknisse für ihn barg, wieder aufzusuchen.

Auch heute stand er lange unten auf der Straße. Aus dem Grünkramladen und nebenan hinter den Spiegelscheiben der Schlächterei sah man ihm neugierig zu, wie er vor dem Hause auf und ab ging. Aber erst wie die Kinder sich um ihn sammelten und ihn angafften, entschloß er sich hinaufzugehen.

Nur ein Polizist, in Uniform, befand sich in der Wohnung, dort Wache haltend. Von diesem erfuhr Heinz, daß die Kommissare Hartmuth und Bendemann noch heute nachmittag herkommen würden, um noch einmal die Lokalität genau zu besichtigen. Bis jetzt hätte man keine neuen Spuren, aber alles deutete darauf hin, daß Maaß der Täter sei ...

Marquardts Gesicht sah für einen Moment aus, als wollte er lächeln. Aber die Bitterkeit über sein Geschick und die Wunden seiner Seele, aus denen hier an dieser Stelle immer neues Blut quoll, verwischte das Lächeln und ließ seine Mundwinkel zucken in klaglosem, unerträglichem Weh.

Er ging an die Servante und blieb wie gebannt stehen: Das Bild war fort!

»Was suchen Sie denn?« fragte der Polizist.

»Ein Bild«, sagte Heinz Marquardt und war gleich darauf wütend auf sich selber, daß er diesem Menschen etwas preisgegeben hatte. Denn nachdem die Behörde seine Hilfe bei der Entdeckung des Mörders abgelehnt hatte, war er überzeugt, die Polizei würde, wie gewöhnlich, nichts finden. Und er hatte sich fest entschlossen, alle seine Wahrnehmungen für sich zu behalten und, was er herausfand, nur in seinem Interesse zu verwerten.

Der Polizist witterte jedoch etwas.

»Was ist denn das für ein Bild, was Sie suchen?«

»Na, 'ne kleine Photographie meiner ermordeten Frau! ...« Der Polizei rieb er dieses »ermordet« so oft er konnte unter die Nase.

»Und die stand da, auf dem Schrank?«

Heinz Marquardt zögerte. Sollte er sagen, er wüßte es nicht genau? ... Aber nein, die Polizei würde ja doch nichts ausrichten. Wahrheitsgemäß antwortete er:

»Soviel ich mich entsinne, ja!«

»Denn muß sie also der Mörder mitgenommen haben, nicht wahr, das ist doch ganz klar!«

Heinz Marquardt sah den Beamten eine ganze Weile an, ohne ein Wort zu sagen. Dann meinte er kühl:

»Wie Sie denken ... Aber ich will jetzt gehen ...«

»Einen Augenblick noch!« meinte der Polizist, »ich muß doch den Herren Kommissaren Bericht erstatten. »Also auf dem kleinen Spind im Wohnzimmer hat ein Bild von der Ermordeten gestanden ...« er schrieb eifrig in sein Notizbuch, »dieses Bild fehlt jetzt.«

Er steckte das Buch ein und sagte ernst, gewichtig und offenbar sehr befriedigt:

»Nu müßten wir bloß noch das Bild finden bei dem Kerl, dem Maaß, dann wäre alles all right ...«

Marquardt war schon draußen. Plötzlich fiel ihm ein, daß Maaß sicherlich jetzt keine sehr angenehmen Stunden verlebte im Untersuchungsgefängnis. Er wollte ihn jedenfalls nicht noch mehr reinlegen! ... Deswegen kehrte er nochmals um, klingelte wieder, und wie der Schutzmann öffnete, sagte er eindringlich:

»Hören Sie mal, ich glaube nicht, daß es Maaß war! Das sage ich Ihnen ausdrücklich, trotz der Photographie! ... Ich kann mich ja doch auch irren! ... Wie leicht kann sie jemand anders weggenommen haben! ...Die Wohnung stand ja fortwährend offen ...«

Aber der Beamte schüttelte überlegen den Kopf:

»I Gott bewahre! Wer wird sich an einer Photographie vergreifen? Die hat doch nur für den Angehörigen Wert! ... Lassen Se man gut sind, Herr Marquardt, das ist ja sehr nett von Ihnen, daß Sie keinen Unschuldigen belasten wollen. Aber die Behörde, die läßt sich so leicht nicht irre machen! ... Wenn die erst mal 'ne Spur hat, dann find't se so'n Kerl auch, dann kann er sich in 'n Rattenloch verkrauchen!«

Achselzuckend ging Marquardt fort.

Wie er über die dritte Etage hinabstieg, öffnete sich plötzlich eine Tür zu seiner Rechten.

Im Rahmen stand ein Mädchen, das eine Nachtjacke über einen roten Unterrock trug. Sein schwarzes Haar war unordentlich, als wäre es noch nicht lange aufgestanden, und an den kleinen hübschen Füßen, die in weißen, durchbrochenen Strümpfen staken, hatte es viel zu große ausgetretene Pantoffel.

Es hielt den Zeigefinger der linken Hand fest auf die vollen, ein wenig blassen Lippen gepreßt und winkte mit der Rechten dem jungen Mann, der stehen blieb und in seinem Gedächtnis suchte, wo er dieser Person schon einmal begegnet wäre.

Und plötzlich fiel es ihm ein: er sah das Zimmer wieder, in dem seine Trude auf dem blutbesudelten Bette lag, die schwelende Lampe sah er und sah diese Kleine, Dicke da hereinschlüpfen mit ihrem schwarzen Haarschopf, der ihr so tief in die Stirn hineinwuchs.

Was hatte sie doch zu ihm gesagt? ... Sie wüßte etwas ... oder? ...

»Kommen Sie doch rein!« sagte sie, sich ein wenig vorbiegend, ganz leise zu ihm, der noch immer, die Hand am Geländer, dastand.

Da trat er rasch in die Tür, die sie schnell hinter ihm ins Schloß drückte.

* * *


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