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Wilhelms von Humboldts Sterben entsprach in der Ruhe und Klarheit, mit der er dem Tode entgegensah, völlig seinem ganzen Leben, und man könnte keinen besseren Stern dafür finden als die Worte Schillers in den »Künstlern«, für die auch Humboldt immer eine ganz besondere Vorliebe gehabt hat:
Mit dem Geschick in hoher Einigkeit, Gelassen hingestürzt auf Grazien und Musen, Empfängt er das Geschoß, das ihn bedräut. Mit freundlich dargebotnem Busen Vom sanften Bogen der Notwendigkeit. Karoline und Hedemann haben über die letzten Tage einige Aufzeichnungen gemacht, auch in Gabrielens Tagebuch finden sich solche. Unter dem 2. April:
... Den Vormittag sagte er wie im Schlaf: »Ich glaube nicht, daß alles mit diesem Leben vorbei sei. Wenn man sich überhaupt wiederfindet, dann werde ich sie gewiß gleich finden und von Euch grüßen.« Als er erwachte, ließ er sich die Zeichnung der Mutter geben, sah sie an und sagte mehrmals: »Ein gutes Gesicht, ein recht gutes Gesicht.« Zu uns: »Ihr seid alle so liebevoll gegen mich und so tätig, ich könnte gar nicht besser besorgt sein... Alexander glaubt, daß wir selbst nach dem Tode nicht mehr von der ewigen Weltordnung erfahren werden; ich aber glaube, daß der Geist doch das Höchste ist und nicht untergehen kann.« (Auf die Frage: Und mit Bewußtsein von diesem Leben?) »Jawohl. Ich glaube auch, daß die wahre Liebe zusammenhält, und daß sie wieder vereinigt und daß man nicht getrennt werden kann«...
Nach zwei Uhr wurde der Zustand ruhiger, der Vater verfiel in tiefen Schlaf, zwischendurch in einen halbwachen Zustand, in dem er viel vor sich hin sprach, Französisch, Englisch, Italienisch, aber ganz zusammenhängend, meistens griechische Hexameter, aber auch auf Deutsch die schönen Worte:
»Erloschen sind des Lebens Triebe – nichts bleibt – Zu ihr die ew'ge Liebe.«
Gegen sieben Uhr fing er sehr vernehmlich an zu sprechen, und wir verstanden die Worte:
»Es muß sich doch etwas daran anschließen – es muß doch noch etwas kommen – sich erschließen – werden –«.
Wir näherten uns seinem Lager, da erwachte er gänzlich und rief uns: »Kinderchen!« Dann fing er an, auf das Bewußtvollste mit uns zu sprechen und Abschied von seinem Bruder und uns jedem einzelnen zu nehmen. Zu uns sagte er:
»Gedenket meiner nicht in Trauer, sondern in Heiterkeit. – Haltet mir die Gipse rein, denn das ist die Hauptsache.«
Zu Adelheid: »Mein Kind, rechne nicht so viel, laß Herrn B. rechnen. Ich habe Euch doch immer amüsiert im Leben und bis in den Tod.«
Zu Gabriele: »Grüße Bülow und alle deine lieben Kinder von mir. Es ist doch gut, mein Kind, daß wir uns nun nicht zu trennen brauchen.«
Zu mir: »Du gutes Linchen!«
Zu Hermann: »Wenn du heiratest, so sprich deiner Frau von mir, und du wirst bald heiraten, das ist auch gut. – Sagt auch Theodor, daß ich keinen Haß gegen ihn habe, er ist unglücklich genug ohne meinen Haß. Grüßt Rust, Rauch, Tieck, Prinzeß Luise und die Kronprinzeß. – Daß ich ruhig gestorben bin, könnt ihr mit Wahrheit sagen. Aber ich sterbe jetzt noch nicht, ich kann noch bis in die Haare der Venus sehen.« (Man hatte ihn in sein großes Arbeitszimmer gebracht, wo die Venus von Melos stand.) Am 3. April empfing der Kranke noch die Besuche des Kronprinzen und des Prinzen Wilhelm, dann aber erreichte die Krankheit ihren Höhepunkt. In glühendem Fieber erschöpften sich seine letzten Kräfte. Aderlässe und eiskalte Sturzbäder wurden angewandt, um die Gewalt der Krankheit zu brechen. Immer wieder rang der klare Geist sich frei von den Fieberphantasien, und was ihm das höchste im Leben gewesen: die Liebe zu seiner Frau, triumphierte auch noch im Sterben. An seinem Todestage, dem 8., sagte er zu Gabriele: »In mir ist es ganz still, hell und besonnen, so daß ich nicht klagen kann.« Umgeben von den Töchtern, die er hatte zum Abschied rufen lassen, ließ er sich noch einmal die Zeichnung der Mutter geben. Sie hielten sie ihm hin. »Eine Zeitlang sah er sie an, drückte mit dem Finger einen Kuß darauf und sagte mehr zu ihr als zu uns: ›Adieu! Nun hängt sie wieder fort‹. – Es waren seine letzten Worte, er schloß die Augen und hat sie auch im Sterben nicht geöffnet.« Nach einigen Stunden mußte sie die anderen eilig herbeirufen, das Ende war nahe. Als die scheidende Sonne ihre letzten Strahlen in das Zimmer warf, kehrte der edle große Geist zu seinem Schöpfer zurück. –
Am Palmsonntag wurde er zu Grabe getragen. Er ruht in kühler Erde aus neben seiner teuren Li.
Ferdinand Gregorovius in seiner Einleitung zu den Briefen Alexander von Humboldts an seinen Bruder Wilhelm: »Über Wilhelm von Humboldt steht schon heute das Urteil fest, daß er zu den unabhängigsten, wahrsten und großartigsten Charakteren Deutschlands seiner Zeit gehört: ein Mann vom höchsten Adel der Bildung überhaupt. Ihr Problem, welches ihn von Jugend an beschäftigte, hat er an sich selbst so durchaus gelöst, daß, wenn je ein moderner Mensch der Antike nahegekommen ist, dies Wilhelm von Humboldt war. Sein Leben war sein persönliches Kunstwerk. Gebiete des Geistes, die selten ein einzelner zu vereinigen vermag, hat er in Klarheit zusammengefaßt; Kenntnis antiker und neuer Literatur, die Altertumswissenschaft, Philosophie, die Künste, die Sprachen, die Wissenschaft vom Staat. Er war Gelehrter, Dichter, Forscher und Staatsmann, aber das alles in solcher geistigen Höhe und Freiheit, daß nichts zum Beruf in ihm ward, alles nur zum Stoff für ein höchstes, ideales Gepräge der Humanität. Das handwerkmäßige Treiben, die gewöhnlich machende Gewohnheit war ihm unbekannt, seine vielseitige Tätigkeit nur bildungsgemäßer Ausdruck der Individualität. Deshalb blieb er gleichgültig gegen die Wirkung auf die Außenwelt. Er hatte keinen Ehrgeiz als diesen, groß zu denken und zu sein und alles fragmentarische Leben und Tun an eine höchste Feier des Kultus der Idee zu knüpfen. Gerade weil er sein Wesen im Äther der Ideen unabhängig erhielt, konnte er dieses wie ein Objekt der Forschung mit vorurteilsloser Wahrheit zergliedern, wovon seine Briefe merkwürdiges Zeugnis geben. Sich selbst nannte er einen Skeptiker. Die Macht seiner Geistesart beruhte nicht auf der großen Stofflichkeit seines Wissens, sondern auf der philosophischen Kraft, dieses zu allgemeinen Gesetzen und Ideen zu vereinfachen, und das macht die Größe des Denkers aus. Wenn man sagen darf, daß das Jahrhundert, welchem er angehört hat, auf die Entdeckung des Menschen ausgegangen ist, so hat er diesen in jenem Gebiet entdeckt, wo die Natur durch die Sprache sich zur Persönlichkeit und Unendlichkeit erhebt und damit geschichtlich wird.
Sein geistiges Gesamtbild hat sein Bruder Alexander mit diesen monumentalen Worten gezeichnet: »Ich glaube, daß nichts mehr den Verewigten charakterisierte als die Tiefe, mit der er in Geist, Anmut der Sitten, Heiterkeit des Gemüts, Stärke und Würde des Charakters, Freiheit des Sinnes, Unabhängigkeit von den einseitigen Bedrückungen der Gegenwart, von dem Geiste des Altertums als Staatsmann, als Gelehrter, Freund und Verwandter durchdrungen war. Er erschien mir immer als der Reflex von dem, was in der höchsten Blüte der Menschheit uns aus vergangenen Jahrhunderten entgegenstrahlt.«