Wilhelm von Humboldt
Wilhelm von Humboldt im Verkehr mit seinen Freunden
Wilhelm von Humboldt

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An Karoline.

Wien, 5. Mai 1815

Ich schrieb Dir heute um 2 Uhr schon einige Zeilen, liebe Li, und glaubte, ich würde nichts mehr hinzufügen können. Ich höre aber jetzt (es ist 8), daß der Kurier erst morgen weggeht, und so schreibe ich Dir noch einmal.

In dieser Zwischenzeit bin ich genötigt gewesen, etwas vorzunehmen, über das Du Dich nicht genug wirst verwundern können, was ich Dir aber nur unter dem Siegel des größten Geheimnisses anvertraue. Sage es bloß Augusten, den es interessieren wird; wir wollen sonst nicht davon sprechen.

Stelle Dir vor, daß ich in meinem 48. Jahre als Minister und während des Kongresses mich habe schießen müssen, und mit wem? Mit dem Kriegsminister Boyen, den Du kennst. Da wir beide wohlbehalten zurückgekommen sind, so hat die Sache nichts Tragisches gehabt. Ich will es Dir von Anfang an mit aller möglichen Offenherzigkeit erzählen.

Es war vorgestern, am 3., um 2 Uhr eine Konferenz bei Metternich über die Verpflegung der Armeen im großen, und außer den gewöhnlich anwesenden Gesandten war der einzige Boyen als Nichtgesandter, sonst St. und M. dabei.

Als der Gegenstand, der Boyen interessierte, vorüber war, und man noch ein paar andere abgemacht hatte, kommt Nesselrode an mich heran und sagt mir, Metternich habe uns eine ganz geheime Mitteilung über einen Brief Napoleons an den Kaiser zu machen, ob ich nicht Boyen entfernen könnte. In diesem Vorschlag lag mir gar nichts Beleidigendes für Boyen; ich hätte indes freilich mich nicht darein mischen, sondern es dem Kanzler sagen sollen, ich hätte ferner Boyen die gerade Wahrheit sagen sollen. Wie es aber einem manchmal unglücklich geht. Kurz, ich stand, ohne mich zu bedenken, auf, sprach mit Boyen, nahm ihn unter einem Vorwand mit aus der Tür und begleitete ihn durch den langen Saal Metternichs. Das einzige fiel mir einen Augenblick ein, daß ich auch weggehen könnte. Allein, da ich immer die Briefe dieser Art fürchte, hielt ich das nicht für ratsam.

Wie ich Boyen verließ, sagte er, ich habe ihn etwas ungeschickt wegkomplimentiert, was in Rücksicht auf ihn wahr sein mochte, aber es übrigens nicht war; denn selbst der Kanzler hatte geglaubt, er sei freiwillig weggegangen.

Ich hielt die Sache mit seinem Spott abgemacht; da mir aber einfiel, er könne doch böse sein, und mir, da ich ihn sehr liebe, das sehr leid tat, ging ich, wie er zum Mittagessen beim Kanzler hereinkam, auf ihn zu und fragte ihn, ob er böse sei. Er ließ mich gar nicht ausreden, sondern sagte gleich, wir würden uns sprechen. So gingen wir an Tisch. Nach Tisch suchte ich ihn auf, fand ihn aber in solcher Heftigkeit, daß ich ihm gleich sagte, es sei gut, mir tue die Sache leid, ich verteidige sie als eine Übereilung nicht, indes geschehen sei geschehen; ich sei aber bereit, mich mit ihm zu schlagen. Er sagte, das habe er nur gewollt, und nun gewann unsere Unterredung wenigstens mehr Ruhe. Ich machte mir zur Bedingung, daß wir niemandem etwas sagten und keine Sekundanten hätten, die uns nur auseinanderbringen und eine schale Szene aus der Sache machen würden. Da ich auch gar nicht einsah, warum ich mir bei vielen Geschäften sollte die Pein mit der Besorgung der Pistolen machen, trug ich ihm auf, daß er die anschaffen sollte, ich wollte dagegen für ein ruhiges Plätzchen sorgen. Er fand es zwar sehr poetisch, daß ich mich mit seinen Pistolen schießen wollte, ohne mich selbst um etwas zu bekümmern; allein er übernahm es, und seine Hitze mäßigte sich bedeutend. Er machte mich darauf aufmerksam, daß die Leute in der Stube (wir standen auf dem Balkon im zweiten Stock) auf uns acht gäben. Ich sagte ihm, das sei seine Schuld, da ich ihm angeboten, mit mir in meinem Wagen, der vor der Tür stand, spazieren zu fahren; er meinte, diese Gemeinschaft gehe doch, wenn man sich schlagen wolle, zu weit. Ich zitierte ihm, daß im Ariost zwei Ritter in solchem Fall sogar auf demselben Pferde ritten, und wir schieden so auseinander.

Wir hatten uns übrigens auf heute um 11 Uhr verabredet, und meine Idee war, in den Prater zu gehen. Gestern früh wollte der Zufall, daß er zu einer früher verabredeten Konferenz zu mir kommen mußte. Nach der Konferenz sagte er mir, sein Pistoleneinkauf sei noch nicht fertig, und er könnte mir nicht für heute um 11 einstehen. Ich sagte ihm, mir schiene auch der Prater für den Kampfplatz zweier Staatsminister bedenklich; wir täten besser, eine Nachmittagsfahrt an einem gelegenen Tage zu machen, und so ließen wir also die Zeit unbestimmt.

Gestern mittag aß ich mit ihm beim Kanzler, und Hardenbergen, der mit seinen Luchsaugen unser Gespräch bemerkt hatte, sagte ich und dem ersten auch Boyen, wir hätten uns verständigt.

Heute ging der Kanzler nach Laxenburg, ich war einmal gefordert; so fatal mir auch die Sache wegen des immer möglichen Aufsehens war, so konnte ich sie nicht sitzen lassen. Ich schrieb also Boyen heute früh, eine so gute Gelegenheit komme nicht wieder, und ich würde um 3 Uhr bei ihm sein. Ich hatte die Idee, auf den kalten Berg zu fahren. Von 11 bis 2 hatte ich Konferenzen, um 2 schrieb ich Dir die Zeilen, die Du bekommen haben wirst, aß dann, was ja auch die homerischen Helden immer vor dem Kampf taten, und fuhr zu Boyen. Ich fand ihn allein; er sagte mir aber, er hielte es doch nicht für gut, ohne jemand zu sein, wir wollten Wolzogen, den Major, mitnehmen. Ich hatte natürlich nun nichts dagegen. Er wurde also geholt. Die Verwunderung und den Schrecken des armen Wolzogen kannst Du Dir nicht denken. Er wollte uns zureden, wir brachten ihn aber bald zur Ruhe und fuhren weg. Boyen war freundlicher als die vorigen Tage, aber doch noch sehr ernst und finster; ich wie Du mich kennst; ich bin in meinem Leben auf niemand böse.

In meiner Morgenkonferenz hatte ich von C. gehört, daß seine ganze Familie nach dem kalten Berg gegangen sei; ich änderte also die Disposition und ließ nach dem Spitz zu fahren. Zwischen der ersten und der letzten Brücke schlug ich vor, auszusteigen und gegen die Donau zu ins Gebüsch zu gehen. Wir taten es, mußten aber entsetzlich weit herumwandern, ehe wir ein einsames Plätzchen fanden, eine hübsche Wiese dicht am Walde.

Boyen wollte, daß ich zuerst schießen sollte; allein da er der Beleidigte war, brauchte ich es nicht, und ich hatte meine guten Gründe, es nicht zu tun.

Er schoß also zuerst. Ich bin ganz offenherzig, bis er geschossen hatte, im Zweifel gewesen, ob er wirklich auf mich schießen wollte oder nicht. Auf der einen Seite war es zwar klar, daß die größte Unannehmlichkeit bei diesem Duell für den Verwundenden war. Denn, da wir beide jetzt nötig sind, so würde der Verdruß und Vorwürfe gehabt haben. Aber auf der anderen Seite war er in so wahrem Zorn gewesen und auch geblieben und schien doch an sich so ernsthafte Ideen über die Sache zu haben, daß es auch anders sein konnte. Er zielte wirklich lange und gerade auf mich; aber ich sah, daß im Augenblick des Abdrückens er der Pistole eine andere Richtung gab. Mir versagte die Pistole. Da ich aber sichtbar von der Seite gehalten hatte, wollte Boyen den Schuß nicht gelten lassen. Ich versicherte ihn erst, daß es, wenn ich gerade auf ihn hielte, nicht anders sei, da ich so nur um so eher fehlte. Als er aber ernsthaft weiter in mich drang, sagte ich ihm, es könne mir nicht in den Sinn kommen, ihn, nachdem ich schon Veranlassung zur Sache gegeben hatte, noch zu verwunden, und so zu tun, als schösse ich, wie er getan hätte, könnte ich auch nicht, weil ich dazu meines Schusses gar nicht mächtig genug sei. Übrigens möge er sagen, ob er die Sache für ausgemacht halte oder nicht. Er sagte ja, und so gingen wir auf die Donaubrücke, wo wir viel und sehr gut miteinander sprachen, fuhren nach Hause und schieden in voller Freundschaft.

Der arme Wolzogen schien vorzüglich froh; denn es war ihm deutlich anzusehen, daß er auf dem ganzen Wege in Angst war und gar nicht wußte, wie er daran sei.

Ich habe übrigens diesen Kampf sehr unkriegerisch bestanden; denn die paar Sekunden ausgenommen, wo ich die Pistole hatte, habe ich alles mit meiner Baguette abgemacht.

Daran, daß die Sache auch sehr ernsthaft werden könnte, habe ich freilich wohl gedacht und vor allem Deiner und der Kinder, wenn Du es auch dem kleinen Zettel nicht ansiehst. Aber es kam mir, wenn es auch sonst nicht in meiner Natur gelegen hätte, gerade Deiner besonders unwürdig vor, Ausflüchte zu suchen, da Boyen einmal die Sache ernsthaft nahm, und Du glaubst gar nicht, wie tief er sich beleidigt glaubte. Mir ist es in hohem Grade merkwürdig gewesen, und ich habe daran Erfahrungen gemacht, die ich nicht weggeben möchte. Auch bin ich überzeugt, daß ich jetzt auf immer mit Boyen im reinen bin, was, wenn ich auch auf die beste und anständigste Weise das Duell vermieden hätte, nie der Fall gewesen sein würde.

Ich habe vergessen, Dir von Napoleons Brief zu sagen. Er ist durchgekommen, weil er ihn einem Belgier anvertraut hat, der zugleich österreichischer Kammerherr ist. Er war sehr listig geschrieben, denn er roulierte ganz darauf, daß der Kaiser Franz die Marie Louise als Frau nicht ihrem Mann und den Kleinen nicht den Vater vorenthalten werde. Es war auch sehr gut, daß ich nicht mit Boyen weggegangen war. Lebe innigst wohl, geliebtes, einziges Herz.

Wien, 4. Juni 1815.

Von Rußland habe ich für die Unterzeichnung des Allianztraktats den Annenorden in Brillanten bekommen, vermutlich eine Art Rache des Kaisers Alexander dafür, daß ich mich gar nicht um seine Gunst und seinen persönlichen Beifall bekümmere und eben nicht mehr russisch bin, als ich sein muß. Darum ist es mir fast lieb. Sonst ist es recht wie mit Fleiß erdacht, mich zu ärgern. Denn als Orden ist die Sache für mich fast unschicklich, und als Geschenk sind die Orden mit Brillanten immer nicht viel wert, weil sehr viel kleine Steine darin sind. Ich werde ihn gleich verkaufen und nie tragen. Damit ist's abgemacht. Um seine Gunst bekümmere ich mich übrigens nicht mehr, nicht weniger. Wenn wir je in Geschäften miteinander zu tun hätten, wird er mich mehr brauchen als ich ihn.

Ein sehr großes Geschenk habe ich gestern ausgeschlagen. Seit dem Anfang des Kongresses suchten die Juden bestimmte bürgerliche Rechte in Deutschland zu erhalten. Ich bin dieser Sache immer geneigt gewesen. Ich weiß zwar, daß Du anders denkst, süßes Herz; aber ich habe viel in verschiedenen Zeiten darüber nachgedacht und bleibe meiner alten Meinung getreu. Es ist überdies eine Jugendidee bei mir; denn Alexander und ich wurden noch, wie wir Kinder waren, für Schutzwehre des Judentums gehalten. Ich ließ mich auch hier um so mehr ein, als, da einmal im Preußischen die Juden fast alle Rechte haben, es nun für uns besser ist, daß diese Gesetzgebung allgemein sei, indem sonst alle Juden zu uns hinströmen. Seit einigen Wochen bemerkte ich, daß die Gönner des Judentums wuchsen, und da Gentz an der Spitze stand, so war die Ursache bald klar. Vom Hannoverschen Hardenberg erfuhr ich mit Gewißheit, daß dieser sogar einen schriftlichen Kontrakt gemacht hatte! Mir geschahen indes keine Anträge; aber ein alter Mann aus Prag, dessen Wesen mir ganz gut gefiel, da er nicht zu den neumodischen Juden gehört, kam ein paarmal zu mir und empfahl mir die Angelegenheit. Ich machte nun einen Artikel meiner Überzeugung nach; in den jetzigen Konferenzen ward dies eine Hauptdebatte; nicht daß es nicht wichtigere gäbe, aber weil man über diese wichtigeren fast gar nicht diskutieren kann, weil man schon weiß, daß man sonst auseinandersprengt, statt zu verbinden. Es kam in zwei Sitzungen vor, Metternich gab seiner Sitte nach die Sache fast auf; aber ich hielt sie, gab ihr neue Wendungen und machte sie doch unschädlich, so daß ich sie nur auf die künftige Bundesversammlung verwies, aber die schon erworbenen Rechte den Juden erhielt. Es wurde sehr viel von der Sache gesprochen; jeder weiß, daß ich nur den Artikel gemacht und durchgesetzt hatte.

Gestern kam nun der alte Mann wieder, dankte mir unendlich und bot mir zum Geschenk drei Ringe, Smaragden mit großen Brillanten besetzt an mit dem Zusatz, daß, wenn ich sie nicht wollte, ich über 4000 Dukaten auf seine Kasse disponieren sollte. Ich schlug sie natürlich ebenso wie das Geld aus, und Du kannst Dir die Verwunderung des Mannes gar nicht denken, wie ich ihm ohne alle Affektation und Ziererei sagte, daß ich, was ich getan, bloß den Juden zuliebe getan hätte, daß ich nichts dafür nehmen würde, daß aber, wenn ich je in einen Fall kommen sollte, wo er mir einen Gefallen erzeigen könnte, ich ihn gern annehmen würde.

Ich habe den Vorfall niemandem als dem Kanzler und Hardenberg erzählt. Allein ich weiß durch Gentz, daß es doch bekannt worden ist und großen Eindruck gemacht hat. Der alte Jude will sich nicht zufrieden geben und hat nun das Projekt, mir ein silbernes Service machen zu lassen, um es mir in einem Jahre zu schicken. Ich habe Gentz gesagt, daß ich auch in zehn Jahren nichts nehmen würde, und tue es gewiß nicht. Gentz hat aber so gar keinen Begriff davon, daß es möglich sei, so etwas nicht zu nehmen, daß er mir heute weitläufig auseinandergesetzt hat, daß ihm das ein Rätsel und ein unauflösliches in mir sei, da die Sache weder unrecht noch undelikat sei, und ich es auch nicht aus Ostentation, um damit zu prahlen, oder aus Stolz, um nicht von einem Juden Geschenke zu nehmen, tue. Das sagte er wirklich ganz ernsthaft, und im Grunde sind diese Maximen unter den Menschen, die die Geschäfte machen, allgemein. Ich habe ihm bloß gesagt, daß, wenn man sich der Dinge, die man einmal betriebe, so warm als ich annähme, die erste Bedingung ein reines Bewußtsein sei. Ich in mir kenne nichts so Unedles, in Geschäften nicht rein und lauter wie Gold zu sein.

Wien, 9. Juni 1815

... Mein Hauptgeschäft bleibt nur hier, an die Redaktion des großen Kongreßinstruments die letzte Hand zu legen, es abschreiben zu lassen und dann zu unterzeichnen. Es ist eine Art Buch. Dennoch hoffe ich es in acht Tagen zustande zu bringen. Ich behalte zwei gute Kanzlisten hier. Wenn ich irgend kann, gehe ich am 17. von hier ab. B. lasse ich mit meinen hiesigen fünf Pferden ins Hauptquartier gehen. W. nehme ich mit und schicke ihn von unterwegs nach Rudolstadt, meine anderen dort stehenden sechs Pferde abzuholen und weiterzuführen. Ich komme allein mit dem Jäger an. Bei Dir bleibe ich auf jeden Fall acht Tage, dann gehe ich über Burgörner und Auleben dem Kanzler nach. So sind meine Pläne.

Wie ich mich freue, Dich wiederzusehen und die lieben Mädchen, davon, süße, teure Seele, hast Du keinen Begriff. Ich verlasse mich darauf, daß ich bei Dir wohnen kann, bestes Kind. Ich brauche bloß einen Winkel und nehme gewiß wenig Platz ein, und es ist so süß, Dir nahe zu sein. Ich denke niemand bei mir des Morgens anzunehmen, nur die, welche abends vielleicht auch zu Dir kommen. Aber Dich so bald wieder zu verlassen, schmerzt mich sehr.

Überhaupt kann ich nicht sagen, daß mich die Zukunft freut. Der vorige Krieg war das eigentlich Große und Schöne, und er ist wie ein junger und kräftiger Baum plötzlich ins Welken gekommen. Der Pariser Friede verderbte ihn zuerst, der Kongreß nachher, und die Ursache des einen und anderen Verderbens war, daß das, was der Krieg schön und groß gemacht hatte, einzeln da stand, daß es sich nicht eigentlich durch alle Klassen und Stände, noch weniger durch alle Nationen gleich verbreitete; daß es an einem großen Menschen fehlte, der an der rechten Stelle das Unharmonische durch sich zusammengehalten und geleitet hätte; daß vielmehr gerade bei den beiden, die abwechselnd leiteten, dem Kaiser und Metternich, Persönlichkeiten und Kleinlichkeit vorwalteten, und im englischen Kabinett zu große Mittelmäßigkeit herrschte, um diese Fehler zu verbessern. Jetzt, und nach dem Kriege wird es sich erst recht zeigen, ist überall Mißverhältnis, und dadurch wird das Gute selbst minder heilsam, ja bekommt selbst vielleicht eine schädliche Richtung. Ich habe in keiner Zeit meines Lebens mehr besonnene Kraft besessen, aber auch in keiner so lebendig den Wunsch gefühlt, von allen Geschäften zurückzutreten. Ich weiß, daß ich es nicht kann und nicht werde, und das macht mich weder mißmutig noch traurig. Paris, 5. August 1815.

... Meine Lage hier ist in wenigen Worten die: Ich halte beständig fest an allen ebenso richtigen als natürlichen Grundsätzen. Ich streite für einen Frieden, der die Grenzen sichere; ich streite für eine Benutzung Frankreichs, die unseren Bedürfnissen entspreche. Ich habe gegen mich Rußland aufs äußerste, England fast ebensosehr, und sehr schwache Hilfe, höchstens noch für den letzten Punkt, an Österreich. Der Kanzler ist eines Sinnes mit mir, aber es ist nicht mehr die gewohnte Kraft. So setze ich bei weitem nicht durch, was ich möchte, und mache mich doch gewissermaßen verhaßt, natürlich auch bei den Franzosen, wie höflich sie auch jetzt und äußerlich sind. Diese Rolle wäre nun noch immer einigermaßen zu spielen, wenn bei uns selbst die Dinge gut ständen. Aber bei der Armee geht man sehr, sehr oft zu weit; in unserm eigenen Innern ist Verwirrung, Vielfachheit der Köpfe. So muß man oft verteidigen, was man, wenn man die Kraft dazu hätte, lieber hinderte. Ich bin mir bewußt, daß ich mich mit soviel Vorsicht und Klugheit benommen habe, wie in dieser ungeheuer schwierigen Lage möglich war. Aber ganz reicht sie nicht hin. Nur eins habe ich erreicht: mit den zugleich ganz Gutgesinnten und Gemäßigten, wie Gneisenau, bin ich vollkommen eins. Er billigt mich, mein Betragen, hat Vertrauen. Auch mit Blücher, Grolman und Boyen bin ich gut. Sie haben Achtung, und ich kann auf sie wirken. So, teures Wesen, steht es mit mir. Du siehst, daß es ein ziemlich freudenloses Leben ist. Aber ich suche die Freude selten außerhalb, und den Genuß meiner selbst und meiner Einsamkeit, die ich sogar in der Gesellschaft wiederzufinden weiß, habe ich auch hier, und so bin ich gesund und immer heiter. Paris, das bloß Materielle, gefällt mir diesmal mehr wie je, und ich kann Dir nicht sagen, wie gern ich manchmal des Abends, wenn ich aus einer Gesellschaft komme, auf den Brücken oder an den Kais zu Fuß verweile.

Lebe wohl, meine liebe, einzig gute und teure Seele.

Frankfurt, 1. Dezember 1815.

... Für mich habe ich die Dotation in Erinnerung gebracht. Da mir eben so viel als an der Dotation selbst an der Art liegt, wie sie mir gegeben und im Publikum aufgenommen wird, so habe ich vorzüglich das ins Licht gestellt. Ich habe dem Kanzler gesagt, daß nur mein Wirken zum Beitritt Österreichs zur Allianz mir, meiner eigenen Empfindung nach, einen Anspruch auf eine solche außerordentliche Auszeichnung geben könnte. Da aber glaube ich ohne Anmaßung sagen zu können, daß ohne mich der Beitritt nicht oder minder gut erfolgt wäre. Mir ist es wirklich wichtig, daß die Sache von der Seite angesehen werde; denn über die Unterhandlungen – was ich natürlich dem Kanzler nicht gesagt habe, da es wahrhaftig nicht seine Schuld ist – hat, und nicht mit Unrecht, genug Unzufriedenheit geherrscht, so daß ich für diese keine Dotation einmal haben möchte. Ich habe sie mir dann, wenn man sie in den alten Provinzen geben wollte, im Mansfeldischen oder Schlesien, wenn es in neuen sein sollte, auf der Insel Rügen oder in Schwedisch-Pommern erbeten. Auf Rügen besäße ich sehr gern etwas. Des Betrags habe ich natürlich nicht erwähnt. Unter 4000 Taler wird es nicht sein, und damit bin ich sehr zufrieden. Ich dächte, wir müßten dann 10 000 Taler Einkünfte haben, und damit könntest Du mit den Kindern nach meinem Tode sehr anständig leben.

Wie ich dem Kanzler die beiden Sachen brachte, antwortete er gleich: »Und vorzüglich muß man etwas für Sie tun.« Er kam mir so selbst zuvor, und ich denke, die Sache soll gehen. Ist das gemacht, so bin ich für unsere äußere Lage am Ziel meiner Bestrebungen. Schuldenfreiheit, eine Dotation und vermutlich auch noch eine bessere Mobiliareinrichtung sind dann erreicht, und ich habe Dich in eine wirklich dauernd gemächliche Lage versetzt. In der Tat denke ich dabei fast nur auf Dich und die Kinder. Ich werde, was ich auch manchmal für Pläne daraus mache, doch schwerlich, solange ich lebe, aufhören zu dienen, und so bin ich durch meine Besoldung immer gesichert ...

Frankfurt, 17. Dezember 1815.

... Nur von der alten Zeichnung des Kölner Domes, weiß ich gewiß, schrieb ich Dir nichts Es hat sie ein Architekt Moller, dessen Du Dich vielleicht von Rom aus erinnerst. Er ist ein sehr ausgezeichneter Mensch. Von der Schönheit dieser Zeichnung und dieses Turmes hast Du kaum einen Begriff. Es ist die reinste Ausführung gotischer Baukunst, die man sich denken kann. Überall bis ins kleinste hin wiederholen sich dieselben Glieder, alle ruhen aufeinander und entfalten sich für sich wie in einem organischen Leben; der ganze Turm gleicht einer still und reich aufstrebenden Pflanze und endigt sich oben, wo er nun durchaus dünn wird, in einer luftigen, schönen Blume. Man muß gestehen, daß nur der gotischen Baukunst eine solche ungeheure Höhe natürlich ist. Das Aufeinandersetzen von Säulen und Kuppeln hat nie dieselbe Einfachheit und Erhabenheit.

Ich bin auf den Gedanken gekommen, daß der König den Dom vollenden, d. h. die Kirche ausbauen und die Türme aufführen lassen sollte. Es wäre das schönste Monument, was die preußische Herrschaft über den Rhein sich selbst setzen könnte; schon das Unternehmen würde Enthusiasmus in der ganzen Gegend hervorbringen, und auf ein Menschenalter hin wäre der Stadt Köln und der Gegend durch den Bau Nahrung gegeben. Man zerbricht sich den Kopf jetzt um Pläne zu Kunstwerken: hier hat man ein im Entwurf bis auf das kleinste Detail gegebenes vor sich, das man nur in Wirklichkeit zu setzen braucht. Dann läge auch etwas Hübsches darin, daß ein Künstler, der, wie der alte Baumeister des Doms, seine Idee niederlegt, einen Monarchen findet, der ihr nach Jahrhunderten Dasein gibt. Allerdings wäre der Bau sehr kostbar. Zusammen könnte er wohl acht Millionen Gulden und mehr kosten. Allein warum müssen wir ihn gerade noch vollendet sehen? Man pflanzt auch die Bäume für seine Enkel, und solch ein Bau ist wie ein Naturwerk. Wendete man nur 200 000 Gulden jährlich daran, und gewiß hat Friedrich II. oft mehr in elende Häuser in Berlin und Potsdam verbaut, so käme es doch am Ende zustande. Denn läge auch wohl manchmal der Bau bei Krieg oder andern Hindernissen, man finge ihn eben wieder an, und endlich würde er doch fertig und trüge noch in seinem Entstehen die Geschichte der Zeit in sich. Ich habe dem Staatskanzler weitläufig darüber geschrieben. Sprich Du ihm und anderen in Berlin auch davon, besonders dem Kronprinzen. Wenn ich König wäre, täte ich das, und zugleich ließe ich die Pferdebändiger in Bronze gießen und an den Anfang der Linden vor dem Universitätsgebäude hinstellen. So hätte ich das schönste Antike und Moderne verpflanzt und dem Lande zu eigen gemacht; dann sollte mir aber auch niemand mehr von Kunstwerken reden – das reichte für eine Negierung und für Bewunderung und Studium auf lange hin.

Frankfurt, 26. März 1816.

... Die IlgenKarl David Ilgen, der Gatte (1764-1834), war Rektor der Schulpforta bei Naumburg a. S. hat mich, liebes Kind, in diesen Tagen fast toll gemacht. Sie ist geadelt mit ihrem Mann, oder bildet es sich ein; aber das versichere ich Dir, der Verstand geht dem kleinen Dinge um darüber. Ich las vor einiger Zeit in der Zeitung, daß ein v. Ilgen Schulrat in Magdeburg geworden sei. Es fiel mir zwar auf; aber ich hielt es für einen Menschen, der zufällig denselben Namen führt. Bald darauf sah ich aus einem Brief der Ilgen, daß die Sache da viel Sensation machte. Ganz Naumburg schien in Rumor und sich nach der Schulpforta zu begeben, um zu hören, wie es sei. Es war natürlich, daß die armen Leute wissen wollten, ob sie in ihrer alten Lage bleiben oder nicht. Gleich darauf kam wieder ein Brief mit einer bestimmten Anfrage; kaum aber hatte ich geantwortet, so erschien ein ganz verrückter und konfuser, das Diplom sei angekommen, Ilgen sei zu hohem Stand und Würden gekommen; nun eine Menge Fragen: wem man alles Dankschreiben senden müsse; ob der Sohn auch von heißen könne? Ob sie selbst das Wappen bestimmen müßten? Ob man eine Lilie hineinnehmen könne, weil Ilgen auf Altdeutsch eine Lilie heiße? Alles unterschrieben Johanna von Ilgen. Was das aber für ein Diplom sei, ob Ilgen Schulrat sei, ob er Naumburg verlassen müsse, darüber war kein Wort im Briefe. Ich habe sehr gratuliert, habe versichert, daß alle Ilgen bis zum jüngsten Tag sich von schreiben könnten, daß sie ein großes Lilienbeet ins Wappen nehmen könnten, soviel hineinginge – aber am Ende doch gefragt, wie es nun mit den viel menschlicheren Dingen, nämlich dem Gehalt und der Arbeit sei. Du, süßer Engel, wirst alles wissen. Mir tun die armen Leute wirklich leid. Ist er Schulrat geworden und muß er nach Magdeburg gehen, so ist es sein Verderben, denn er kann nicht so gut dastehen als in der Pforta; dabei ist es keine gute Wahl. Er wird als Schulrat gar nicht nützlich sein, ist schon zu heftig, geradezu zu grob zu vielen Verhältnissen mit anderen Menschen. Hält man ihn zum Rektor nicht gut, so will ich nichts darüber sagen, bessere könnte es freilich geben. Allein dann ist es schlimm, und das wäre noch immer kein Grund, ihn zum Rat zu machen. Ich hoffe noch immer, der Schulrat ist nur ein Titel, und er bleibt ruhig in der Pforta sitzen. Der Adel ist nun gar wunderbar. Da ich nirgends die Erhebung gesehen habe, so hege ich noch die heimliche Angst, daß dies sich gar nicht so verhält, sondern daß vielleicht bloß aus Irrtum im Ratsdiplom von steht und daß auf dies Wort das ganze Luftschloß gebaut ist; es kommt mir gar zu kurios vor, Ilgen ohne allen Grund auf einmal zu adeln.

Frankfurt, 18. April 1816.

...Eben bekomme ich lange Briefe von Ilgen und ihr. Das Unglück ist nun hereingebrochen. Es ist ein Schreiben Schuckmanns angekommen, das die adlige Adresse für einen Schreibfehler erklärt. Sie halten Ilgens Ehre beleidigt, an den Pranger gestellt; er will gleich den Abschied nehmen, außer Landes gehen, kurz, alle die Heftigkeit jetzt wie vorher die Lebhaftigkeit der Freude. Ich habe schnell Nicolovius geschrieben. Man muß suchen, ihn durch ein eigenes Schreiben des Ministers zu heben. Ihm werde ich ernstlich schreiben, daß das Abschiednehmen Torheit sein würde, ihm zu verstehen geben, daß alle Unannehmlichkeit nur entstanden sein kann dadurch, daß er zu große Genugtuung über den Adel öffentlich bewiesen hätte, und also ein so öffentlicher Schritt als sein Abschiednehmen ihm noch mehr Blöße geben würde, und werde ihn ermahnen, mit einiger Männlichkeit eine sehr unbedeutende, wenn gleich allerdings unangenehme Sache zu ertragen. Es ist unbegreiflich, wie Mann und Frau haben in den Irrtum fallen können. Es war bloß die Adresse und hochwohlgeboren im Brief. Daß ihnen nicht eingefallen ist, daß, wenn man sie geadelt hätte, man doch dessen im Brief erwähnt haben würde! Sie müssen ganz blind gewesen sein. Immer aber tun sie mir leid; denn gewiß ist es, daß Neider und Feinde, mit denen sie in den kleinlichsten Verhältnissen zusammen wohnen, entsetzlich triumphieren werden.

Frankfurt, 10. Mai 1816.

... Danke Nicolovius sehr herzlich, teures Kind, für den sehr hübschen und außerordentlich freundschaftlichen Brief, den er mir geschrieben hat. Mit Ilgens ist die Sache jetzt ziemlich verblutet. Sie schreibt mir wirklich hübsch, daß sie das von abgelegt hätte, wie ein neues Kleid, das einem noch nicht recht sitzt. Mich hat das sehr frappiert und lachen gemacht. Es ist eigentlich das, was den Neugeadelten immer und ewig ein Geheimnis bleibt. Sie kommen nie dahinter, daß das neue Kleid ihnen nie paßt, wenn sie auch Methusalems Alter erreichten. Ich halte auf den Adel politisch gar nicht viel und bin darin sehr auseinander mit Stein und Karolinen; allein gesellschaftlich behaupte ich ewig fort, daß, wer nicht adelig geboren ist, beim größten Talent, entschlossensten und liebenswürdigsten Charakter immer in gewissen Gelegenheiten gewisse Inkonvenients behält, und daß seine Klugheit, die meist Einfachheit sein kann, nur darin bestehen kann, diese Gelegenheiten zu vermeiden. Darüber bin ich wieder im größten Streit mit der K., die immer gegen den Adel in dieser Art ist.

Frankfurt, 31. Mai 1816.

... Ich habe gestern einen himmlischen Brief von Ilgen bekommen. Er ist nunmehr wegen des Adels getröstet, da Nicolovius gemacht hat, daß ihm der Minister eine Art Entschuldigung darüber geschrieben hat. Allein es ist nun ein neues Unglück über ihn hereingebrochen. Der Tanzmeister der Schulpforta ist auf einmal der Menuetts überdrüssig geworden und will klettern und springen. Er hat an das Departement in Berlin geschrieben, um eine Turnübung bei der Schule anzulegen, und das Departement hat es bestätigt. Nun solltest Du Ilgen hören; es ist, wie wenn eine Pute um den Teich geht, auf dem die ausgebrüteten Enten schwimmen. Er sieht den Untergang der Schule voraus, sagt, daß er es der Schule, dem Vaterlande, der Nachkommenschaft, seinem Gewissen und Gott schuldig sei, das Turnunwesen von der Schule abzuhalten; die köstlichste Perle der preußischen Nation gehe damit verloren; seit 280 Jahren habe die Schule ohne Turnen die tüchtigsten Männer geliefert; die Blücher, die Wellington, die Bülow, die Gneisenau hätten wohl schwerlich auf einer Kletterstange gesessen, kurz, man müßte es drucken lassen. So albern das ist, so begreife ich freilich auch auf der anderen Seite, wie das Turnwesen auf einmal mit der klösterlichen Frucht der Schulpforta kontrastieren muß, und bewundere auch die Kühnheit des Departements, so bloß auf die Eingabe eines Tanzmeisters und ohne alle weitere Veranstaltungen die Jugend loslassen zu wollen. Es hat nie eine Epoche gegeben, wo überall und auf allen Punkten die alte und neue Zeit in so schneidenden Kontrast getreten sind. In die Schulpforta, in die selbst die ganz gewöhnliche Sonne, die so alt wie die Welt ist, nur eben 90 Tage im Jahr eindringen kann, hatte nun die neue noch nie geschienen, und es ist überkomisch, daß der Tanzmeister nun die Neuerungen so mit einem Saltomortale hineinbringen will.

An Goethe.

Frankfurt a. M., 16. Juli 1816.

Ihr Brief und Ihr Andenken haben mir, teuerster Freund, eine unendliche Freude gemacht... Wohl haben wir in undenklichen Zeiten nicht voneinander gehört. Aber ich lebe in einer Abgeschiedenheit, die einem selten sogar möglich wird. Mir ist sie seit den Kampagnen, mit dem Wiener Kongreß, wo ich unter der Ursache und dem Vorwande der Geschäfte jede Gesellschaft mied, seit meinem Hiersein, wo ich kaum mein Zimmer verlasse, zur andern Natur geworden. Ich habe einen so unwiderstehlichen Hang zur Einsamkeit, daß ich sie mir auch mitten unter Menschen zu schaffen weiß, und ich kennte mir jetzt nichts Reizenderes, als mich allein auf ein recht entferntes Landgut zurückziehen zu können. Ob es mir werden wird, weiß ich nicht.

Handschriften, liebster Freund, kann ich Ihnen nicht schicken. Aber meinen AgamemnonHumboldts Verdeutschung von Äschylos' Agamemnon, das Werk vieljähriger metrischer Kleinarbeit. sollen Sie bald haben. Man druckt an den letzten Bogen. Ich denke, er soll Ihnen eine freundliche Erscheinung aus der Vorzeit sein... Ich habe ihn in den beiden Feldzügen, auf denen er mich immer begleitete, ganz umgearbeitet, und was, glaube ich, der wahrste Ausspruch über ihn sein wird, ist, daß es wohl leicht bessere Übersetzungen geben kann, aber daß er das Übersetzen schwer gemacht hat, weil er zu strenge Forderungen aufstellt. Die ziemlich ausführliche Einleitung empfehle ich im voraus Ihrer gütigen Aufmerksamkeit. Sie geht ziemlich tief in die Metrik und die Übersetzungskunst ein. Ich habe mich hier viel mit Wissenschaft beschäftigt, obgleich nicht viel selbst gearbeitet, aber so recht wieder die Gewalt gespürt, die das Altertum immer an mir ausgeübt hat. Alles Neue ekelt mich an, indes mich einer der alten Verse, so aus der frühesten Griechenzeit, schon durch seinen Klang in eine wundervolle Stimmung versetzt. Das erklärt Ihnen denn auch meine Abgeschiedenheit; denn rund um sich herum sieht man ja nur christlich gotische, oft fratzenhafte Modernität. Wie gerne spräche ich über das alles mit Ihnen wieder einmal. Aber Sie sagen, Sie kommen nicht in diese Gegend. Ich hoffe es gewiß!

Nun leben Sie herzlich wohl! Erhalten Sie mir Ihre Liebe und Ihr Andenken. Ich bin mit ewig unwandelbaren Gesinnungen Ihr Ihnen ganz eigner

Humboldt.

An Karoline.

Frankfurt, 7. September 1817.

Ich habe mich gestern auf die entsetzlichste Weise, über die ich selbst habe hernach lachen müssen, dahin bringen lassen, zehn Karolinen zu verleihen, liebe Li. Stell' Dir vor, gestern morgen läßt sich Frau v. KalbCharlotte v. Kalb, geb. Marschall v. Oftheim, geb. 1761, gest. 1843, Schillers Freundin. Verarmt durch Kohlen- und Salinenspekulationen ihres Schwagers. Beschloß ihr Leben im königlichen Schloß zu Berlin bei ihrer Tochter Edda, Hofdame der Prinzessin Wilhelm. melden und ist schon im Hause. Denke Dir meinen Schrecken! Aber sie hatte dem Jäger ausdrücklich zweimal nachgeschrien, sie hätte mich notwendig zu sprechen, und ich bin, wie Du weißt, im Annehmen groß. Ich setzte mich also ihr gegenüber, sie fing an, ihre alte Salzgeschichte zu erzählen, und hatte einen Arbeitsbeutel vor sich, von dem ich gar nicht einsah, was er Gefährliches in sich enthielt. Sie setzte mir nun breit auseinander, wie, vorzüglich durch den Prinz Solms, der in Paris war, ihre Sache dort vortrefflich ginge und so gut als gewonnen sei. Ich war heilfroh, sagte immer Ja zu allem, bewunderte alles und dachte, der Strom der Rede würde so abfließen und sie dann gehen. Aber weit gefehlt! Dies, sagte sie plötzlich, ist nun gut; aber jetzt ist eine andere Sache. Ich habe – das erzählte sie nun mit tausend Umschweifen – ein Gedicht gemacht, und nun kam, wie dies Gedicht gedruckt werden sollte, wie Prinz Christian in Darmstadt Geld zum Druck gäbe, wie ihr aber noch zehn Louisdor fehlten. Indem sie dies sagte, griff sie nach dem Strickbeutel und ich entdeckte, daß darin wirklich das leibhaftige Manuskript lag. Ich nahm mir gleich vor, es lieber aufs äußerste ankommen zu lassen, als nur einen Vers anzuhören; wie sie also nun schon die Blätter auseinandermachte und ich die Gefahr ganz unmittelbar drohen sah, sagte ich hastig, ob sie gleich gar nichts von Vorlesen erwähnt hatte, mit einer vortrefflichen Ellipse: Nein, meine gnädige Frau, lieber will ich Ihnen die zehn Karolinen leihen! Kaum hatte sie das Wort gehört, ließ sie wirklich gleich die Papiere fahren, lobte mich sehr und war außer sich vor Freude. Ich wollte ihr das Geld schicken; sie bestand aber darauf, ich sollte es ihr gleich geben. Da ich es nicht hatte, schrieb ich ihr eine Anweisung auf Rothschild, und in zehn Minuten war sie aus der Stube. Ich schwöre Dir, es war eine höchst komische Szene. Wer dabei gewesen wäre, hätte sich totlachen müssen. Ich halte es für sehr zweifelhaft, ob sie je wieder bezahlt und misse das Geld gar nicht gern; aber die Verse zu hören, des Morgens, wenn man noch fast nüchtern ist, das wäre einem geradezu an den Leib gegangen. Nun habe ich strengen Befehl gegeben, mich für sie immer zu verleugnen.

London, 6. Oktober 1817.

Wir sind seit gestern früh hier angekommen, liebe Li, und ich sitze schon recht leidlich eingerichtet, obgleich im Wirtshaus, in einem kleinen Kabinett mit einem guten Feuer. Ich schrieb Dir zuletzt aus Rotterdam, mein süßes Kind, und habe seitdem mancherlei Schicksale, aber einen Tag auf See gehabt, den ich um vieles nicht weggeben möchte. WirHumboldt nahm seinen künftigen Schwiegersohn, Heinrich v. Bülow, als Legationssekretär nach London mit. schifften uns in Rotterdam am 30. auf einer eigenen Jacht, die ich gemietet hatte, ein, auf der Maas, die von da an sehr breit und selbst an schmalen Orten wohl dreimal so breit als die Elbe ist. Unser Schiff war sehr bequem, wir hatten eine hübsche Stube mit Fenstern, und jeder noch außerdem eine Schlafkammer. Das Wetter war den Tag trübe und der Wind sehr schwach, so daß es nicht schnell ging; aber am Abend kam der Mond hervor. Wie es sehr dunkel wurde, legten die Leute vor Anker, mitten im Strom, weil sie sich fürchten, des Nachts zu fahren; aber am Morgen war der Wind lebhafter geworden, und wir kamen um 5 Uhr in Hellevoetsluis an. Dies ist ein sehr kleiner, ziemlich elender Ort, doch mit einem gar nicht schlechten englischen Wirtshaus, und gegen das Meer zu geht auf beiden Seiten die Mole, auf der eine hübsche, aber doch nicht vorzügliche Aussicht ist, weil man nur in der Ferne die hohe See sieht und rundum die freilich ebenso breite Mündung des Stromes ist, daß mein Gesicht das Ufer nicht erreichte. Ich hatte auf dem Paketboot eine Stube für uns besonders genommen, die sechs Betten hatte, weil keine kleinere da war; es schien mir nicht schicklich, mich mit allen Passagieren zusammen zu begeben. Gegen 2 Uhr kam unsere übrige Reisegesellschaft an, einige zwanzig Menschen, lauter Engländer, einen Hamburger Juden ausgenommen, der immer von der »scheinen Stadt London«, die 1800 Kirchen habe, sprach, recht artige Leute, die auf eine wirklich hübsche Weise, ohne sich etwas zu vergeben und ohne zudringlich zu sein, alle möglichen Aufmerksamkeiten für mich hatten. Es waren drei Frauen darunter, alle häßlich; eine war in erster Ehe auf den Antillen mit einem Graf Haugwitz, einem Verwandten des Ministers, verheiratet gewesen und lebt jetzt in England auf dem Lande.

Gegen 3 fuhren wir ab; allein der Wind war so schwach und ungünstig dabei, daß der Kapitän nicht hoffen konnte, bei Tage aus der Flußmündung zu kommen, und bei Nacht ist die Ausfahrt wegen der Sandbänke gefährlich. Er kehrte also, nachdem wir einige Stunden gesegelt hatten, zurück, und wir zogen uns wieder jeder in unser Kämmerchen im Wirtshaus zurück. Den anderen Tag wurden wir um 6 ins Schiff beschieden; der Wind war aber so ungünstig und heftig zugleich, daß der Kapitän nicht einmal die Anker lichtete, sondern uns nach einer halben Stunde wieder zum Wirtshaus entließ, wo wir den ganzen Tag und die Nacht bleiben mußten. Gegen Abend ging ich mit Bülow an dem Hafen spazieren, die Sonne zeigte und verbarg sich wunderbar abwechselnd zwischen den dicken und dunklen Windwolken, und endlich trat sie in einer Flut von Glanz unter der schwärzesten hervor und ging so, an der Seite des Wassers, wo man kaum ein Ufer sah, in himmlischer Pracht unter. Ich habe Deiner mit großer Lebhaftigkeit gedacht, seit Italien hatte ich die Sonne nicht im Meer untergehen sehen; wie ich in Marino wohnte, fehlte mir immer etwas, wenn ich das verfehlen mußte. Wir waren damals auch getrennt, und ich gedachte Deiner wie jetzt. Die Gestirne vereinigen ja allein die Getrennten.

Den nächsten Morgen waren wir wieder im Schiff. Es stürmte stark und entgegen, indes begünstigte uns die Ebbe, und wir fuhren ab. Wohl zwei Stunden lang schien es noch immer, als müßten wir wieder zurück; allein der Kapitän setzte es durch, und wir kamen in die See, wo nun nichts mehr zu fürchten war, und wir gewiß weiter kamen. Kurz darauf wandte sich auch der Wind; aber die See war, wie mir der Kapitän erklärte, noch in der vorigen entgegengesetzten Bewegung, und der nunmehr geänderte Wind kämpfte gegen sie wohl zwei Stunden, ehe er ihrer Herr werden konnte. Es war ein himmlisches Schauspiel. Das Meer war anfangs recht schön grün, nun wurde es ganz schwarz, und nah und fern sah man Schaum; die Wellen türmten sich in recht hohe Hügel, und das Schiff, das man mit den Segeln ganz auf eine Seite gelegt hatte, fuhr bald vorn, bald hinten sehr tief zwischen hin. Einige Male tauchte, was besonders schön aussah, der Bugsprit (die vorstehende Maststange) in die Flut. Kurz, man hatte ohne die mindeste Gefahr einen Sturm, gerade so, wie er sein muß, um noch malerisch bleiben zu können. Schauer von Sonnenschein und Regen wechselten ab, die zwar machten, daß das Schiff bald auf diese, bald auf jene Seite gelegt werden mußte, aber auch göttliche Erscheinungen hervorbrachten. So waren zwei Regenbogen, von denen der eine über den ganzen Himmel und in ununterbrochener Klarheit sogar den zweiten reflektierten Bogen bei sich hatte und nun an den Enden die Farben im schwarzen Meer schimmerten. Gegen Abend war der Wind Herr der See geworden und nahm zu. Es waren nun lange prächtige Wellen, die manchmal hineinschlugen; wir segelten sehr schnell, und das Schiff konnte auf einer Seite liegend gelassen werden. Ich bin von 8 bis 11 den Abend nicht vom Verdeck gekommen, als soviel zum Essen nötig war, und habe recht eigentlich das große Schauspiel genossen. Wie es Nacht wurde, traten die Sterne und zuletzt der Mond hervor. Den Mars sah ich in diesem Jahre zum erstenmal. Die Gesellschaft um mich her war von der Sache nicht so ergötzt. Fürchten zwar tat sich niemand, weil auch nicht die mindeste Gefahr war. Bloß Friedrich meinte, es sei doch, selbst mit wilden Pferden, auf einem Bock besser. Aber alle, der Kapitän, die Seeleute und mich allein ausgenommen, waren krank und übergaben sich. Den Anfang machte eine Dame und bald darauf brach alles, und es war sehr begreiflich. Denn das Schiff schwankte so, daß, ob ich gleich stark in den Füßen bin, man nie gehen oder nur stehen konnte, ohne sich anzuhalten. Ein eigen zur Aufwartung bestimmter Matrose lief ewig mit Eimern und Waschleder herum, und der Schiffsjunge mit dem Besen hinterher. Bülow wird seine Geschichte Gabrielen wohl selbst erzählen. Es waren einige auf dem Schiff, die in Ostindien und Amerika gewesen waren, allein auch sie waren krank. Mich hat es sehr gefreut, es nicht zu werden. Ich hätte das Meer gar nicht genossen, und ich schwöre Dir, daß ich Dich tausendmal an meine Seite gewünscht habe. Du wärest gewiß auch nicht krank gewesen, und es würde Dir unendlich gefallen haben. Ich habe übrigens getan, was ich immer zu Haufe tue: vor dem Mittagessen nichts genommen, mit vielem Appetit gegessen, Kaffee und Tee getrunken und am Ende noch Brot und Käse gegessen. Bei der letzten Operation waren nur noch der Kapitän und ich übrig, beim Mittagessen waren noch drei Personen mehr, die es aber auch nicht zum Roastbeef brachten. Man mußte hierzu wirklich einige harte Eingeweide haben; denn wir aßen in der gemeinschaftlichen Stube, wo rundherum alles von Leuten in und außer den Betten lag, die sich übergaben, und der Aufwärter trug sehr oft, wie Leben und Tod, zugleich was man erst zu sich nehmen sollte, und was nun schon zu oft zu sich genommen worden war, in seinen Händen. Dabei wackelte der Tisch so, daß, um die Suppe aufzusetzen, man erst den rechten Windstoß abwarten mußte. Ich habe es aber bis zum Ende ausgehalten und noch vorgelegt. Eine der Damen hat mir am andern Tag sehr hübsch erzählt, daß sie sich ordentlich geärgert habe, wie sie gehört, daß ich am Abend noch Käse gefordert hätte, und Friedrich teilte die gleichen Gesinnungen; denn er hat, da er zu Bülow einmal heruntergekommen ist, in den Bart gebrummt: Was der Minister für eine Natur hat, weiß Gott! Mich hat es indes sehr gefreut; ich wäre um alles schöne Meeresschauspiel gekommen, und es ist das Höchste, was einem die Natur gewähren kann: körperliche Kraft und inneren Sinn, sie zu genießen und zu bewundern. Bülow hat mir sehr leid getan, aber die Jugend ist gar nicht mehr stark. Ich habe dem Kapitän erzählt, daß weder Alexander noch Du je seekrank würden, was den Glanz unserer Familie sehr bei ihm zu heben schien.

Heute steht auch schon meine Geschichte im Times gedruckt, daß ich nicht seekrank gewesen und mich sehr gütig gegen alle Seekranke bewiesen. Ich hatte nämlich einem einen Platz in meiner Stube eingeräumt und einem Oxforder Studenten, einem hübschen jungen Menschen, den man wohl zum Sohn gehabt hätte, der ungeheuer brach und doch immer oben sitzen blieb, gab ich Bülows Mantel, da dieser im Bett lag, und hielt ihm, wenn es regnete, seinen Regenschirm über uns beide, indem er den Kopf an mich anlegte. Wir gewannen so beide, und er war ungemein dankbar. Nach 11 ging ich zu Bett und schlief recht gut, und beim Aufwachen um 6 waren wir im Angesicht des Hafens. Es war die Nacht zwar starker Wind, das Schiff bewegte sich sehr, und es war über einem ein schrecklicher Tumult der Leute, die an den Segeln arbeiteten, aber es ging glücklich und schnell. In 22 Stunden waren wir am Lande. Der Kapitän war ein nicht mehr junger, aber schöner, artiger und höflicher Mann; wie er hörte, daß Du doch auch nach England kommen würdest, versicherte er, daß er Dich überfahren müsse, und daß er dann niemand sonst in das Schiff nehmen wolle. Das möchte aber eine teure Partie werden, denn wohlfeil war er allerdings nicht. Ich habe, da ich eine eigene Stube hatte, mit Trinkgeld 42 Pfund Sterling geben müssen. Dies zahlt freilich der König.

Überhaupt ist das Reisen hier lächerlich teuer. Ich hatte acht Pferde für meine beiden Wagen, und die letzte Station, die noch nicht von drei deutschen Meilen ist, hat mich an sieben Pfund gekostet. Da mein gelber Wagen eine höchst wunderbare Figur bildet, so hatte ich gesucht, bei frühem Morgen nach London zu kommen, und glücklicherweise war es noch außerdem ein Sonntag, wo hier wenig Leute auf der Straße sind. Das Wundern, was aber die gehabt haben, die ihn gesehen, ist nicht zu beschreiben. Alle blieben stehen, riefen sich zu, und wo man einen Augenblick hielt, war gleich ein kleiner Haufe. Am erstauntesten waren aber die Gesichter, wenn er nun wieder vorwärts ging... Von London habe ich Dir noch nichts gesagt; aber was soll man von zwei Tagen sagen? Sie waren wenigstens so sonnig, als sie hier sein können. Wir wohnen jetzt an einem der größten Plätze, der die gerühmten kleinen Gartenpartien in sich hat. Meine bonmots gegen London sind alle vor mir hierher gedrungen, und es ist ordentlich hier Sprichwort geworden, daß das Gras kein Verdienst hat, hier grün zu sein, weil der Himmel so schwarz ist. Ich bin gestern gar nicht ausgegangen; aber Palmella,Pedro de Soufa, Herzog von Palmella, geb. 1781, gest. 1850, portugiesischer Gesandter in London. Lord Burghers, der Gesandter in Italien ist, und EsterhazyPrinz Paul Esterhazy, geb. 1786, gest. 1866, österreichischer Botschafter in London von 1816–1842. kamen zu mir. Heute aß ich bei Palmella, der sehr liebenswürdig ist, und den Abend nahm er mich mit in seine Loge in Drurylane, wo Kean, der größte Schauspieler hier, in »Richard III.« nach langer Zeit zuerst wieder auftrat. Es war eine sehr gute Loge, die eigene des Prinzregenten,Georg IV., König von Großbritannien und Hannover, geb. 1762, gest. 1830, führte für seinen geisteskranken Vater von 1811 bis zu dessen Tod (1820) die Regentschaft. die er ihm geliehen hatte, so verstand man leidlich. Das beste Spiel hier ist nicht so gut wie das bei uns; aber dem französischen ziehe ich es weit vor. Es geht wohl über die Natur, aber doch nicht ihr entgegen.

Erst um ein Viertel auf 1 war es aus. Es schlägt eben 2 Uhr. Das Leben ist hier etwas wunderbar. Um 8 Uhr stehe ich auf, um 7 esse ich zu Mittag, und die Nacht ist unbestimmt.

London, 8. November 1817.

... Du kennst Alexanders Ansichten. Sie können nie, so sehr ich ihn liebe, die unseren sein. Unser Umgang ist wirklich oft komisch. Ich lasse ihn immer sprechen und gewähren; was hilft das Streiten, wo die ersten Basen aller Grundsätze verschieden sind? Alexander ist nicht bloß von einzig seltener Gelehrsamkeit und wahrhaft umfassenden Ansichten, er ist auch überaus gut von Charakter, weich, hilfreich, aufopfernd, uneigennützig – aber es fehlt ihm nun einmal das stille Genügen an sich und dem Gedanken, und daraus entspringt alles übrige. Darum versteht er nicht die Menschen, obgleich er immer mit ihnen lebt und sich sogar Vorzugsweise mit ihren Empfindungen beschäftigt; nicht die Kunst, obgleich er alles Technische daran recht fertig versteht und ganz leidlich selbst malt; nicht, so kühn und schrecklich das zu sagen ist, die Natur, in der er täglich Entdeckungen macht. Von Religion wird es weder sichtbar, daß er eine hat, noch daß ihm eine mangelt. Sein Kopf und sein Gefühl scheinen nicht bis an die Grenze zu gehen, wo sich dies entscheidet. Dabei ist nichts mehr über diese Hauptsachen der Menschheit beweglich in ihm, sondern alles wie mit eisernen Schranken abgeschieden und eingezwängt. Jetzt ist nun sein Steckenpferd, zwar durchaus monarchische, allein lauter konstitutionelle Ideen zu haben; sich zwar in nichts Politisches zu mischen, allein in Paris mit den Liberalen, hier mit der Opposition zu harmonieren. Alle Augenblicke erwähnt er seine Grundsätze darin. Allein er hat auf keine Weise tief darüber gedacht; die schwachen und erbärmlichen Begriffe, die darüber in Frankreich kursieren, genügen ihm vollkommen, und wenn er mich je nötigte, mich über meine Meinung in dieser Rücksicht zu erklären, wüßte ich gar nicht, wie ich es machen sollte, sie ihm nur zu erklären. Glücklicherweise tut er das aber nicht, sondern sieht mich eigentlich als einen durch mich selbst und meine Stelle Andersdenkenden an, was denn auch recht gut ist. Er erzählt mir stundenlang von den Menschen in Paris, ihrem persönlichen Treiben, und ich sitze ruhig dabei und denke nur immer und ewig das, daß keiner von allen, die er da nennt, und keine mir auch nur das leiseste Interesse, selbst nicht einmal der Neugierde des Verstandes einflößen. Dagegen ist er höchst interessant, wenn er von seinen Studien spricht, und da immer an der rechten Stelle. Das letzte, was ich gewöhnlich, wenn er lange Zeit bei mir gewesen ist, denke, ist, daß es eine der wundervollsten Erscheinungen in der moralischen Welt ist, daß mein Vater und meine Mutter nur zwei Kinder und gerade zwei gehabt haben, die, indem sie doch im ganzen durchaus dieselbe Richtung haben, eigentlich bloß in Gedanken und im geistigen Beschauen der Dinge zu leben, dann auf einmal in allem in größere Verschiedenheit und Gegensätze ausgehen, als Menschen in verschiedenen Weltkörpern sein könnten. Und im Grunde ist Alexander nicht so geworden, er ist von jeher so gewesen; das Ausland hat ihn nicht verändert, sondern er hat das Ausland gesucht, weil ihm in Deutschland, soviel vorzüglicher er auch als die meisten Deutschen ist, nicht heimisch sein konnte. Sogar hier ist er nicht recht gern und nicht in seinem eigentlichen Wesen.

London, 29. November 1817.

... Du fragst, wieviel Leute ich habe. Folgendes ist mein Hofstaat: ein Koch, ein Haushofmeister, mein Jäger, zwei Livreebedienten, zwei Hausmädchen, ein Küchenmädchen. Weniger ist unmöglich zu haben. Ich hatte anfangs noch einen Bedienten mehr, als Portier gerechnet, allein ich habe ihn gestrichen. Zwei Hausmädchen wird Dir viel scheinen und wäre bei uns sehr viel, vorzüglich, da sie gar keine Arbeit mit Nähen usf. machen, vielleicht nicht einmal machen können. Allein einmal trinken sie sehr oft und langsam den Tag Tee, und dann hast Du keinen Begriff von dem Kampf, den man hier mit dem Kohlendampf vom Morgen bis zum Abend kämpft. Die Reinigung ist hier eine Geschichte, die monatlich bloß an Materialien und verbrauchten Utensilien mehrere Pfunde kostet, und wo die Damen doch ziemlich den ganzen Tag beschäftigt sind. Sie haben fünf, sechs Arten von Bürsten, weiße Farbe, die Treppe anzumalen, schwarze, die Kamine, rote, den Küchenherd, Papiere, die Stahlsachen zu reiben; dabei muß man den Damen Handschuhe kaufen, damit sie die Hände nicht verderben. Alle Wochen wenigstens zweimal wird das ganze Haus gescheuert, und so versicherten mir alle, daß ein Hausmädchen eine Unmöglichkeit sei. Ich habe sehr häßliche (Du wirst mich auslachen, aber ich versichere Dir, daß man mit einem Haushofmeister und Bülow gar nicht Herr im Hause ist, ich für mich würde es besser machen), aber sehr gute Mädchen. Man hört sie nicht im Hause, und alles ist blank wie ein Spiegel. Dabei machen sie tiefe Knickse, wie sie sich blicken lassen. Wenn Du mich einmal den Morgen sehen könntest, Du lachtest Dich tot. Die erste (denn hier ist Rang in allem) kommt um ½ 8 in mein Zimmer, eine lange, hagere, obgleich junge Person. Dann macht sie mir die Gardine vom Bett zurück, und da ich weiß, daß darauf der Knicks folgt, so setze ich mich schon aufrecht, um mich zu bedanken. Wenn die Gardine beseitigt ist, macht sie nun ihre stumme, langsame Verbeugung; ich nicke mit dem Kopf, und so scheiden wir auseinander. Ich lege mich herum, weiter zu schlafen, und sie geht, den Kamin zu putzen und Feuer zu machen, was über eine Viertelstunde dauert. Wenn Du, liebe, süße Seele, erst hier schläfst, mußt Du es ebenso machen, darum nimm immer ein Beispiel daran...

London, 13. Dezember 1817.

...Gestern hatten wir nach ziemlich starkem Frost den ersten eigentlichen Nebeltag, wo der Nebel ganz dick und undurchsichtig und von Zeit zu Zeit gelb ist. Ich ging gar nicht aus, sondern arbeitete von 9 bis 6. Wie ich einmal eine halbe Stunde nicht vom Blatt aufgesehen hatte, blickte ich nach dem Fenster und leugne Dir nicht, erschrak und fürchtete mich ordentlich. Auch nicht der mindeste Gegenstand war zu sehen, nur die dicke, nicht feuer-, sondern blaßgelbe Masse, die wie ein giftiger Dunst das Fenster durchdringen zu wollen schien. Bald darauf wurde es noch ärger, und nun zog der Nebel durch den Kamin in die Stube. Denn das tut er und lagert sich um einen herum, daß man ihn deutlich in der mittleren Höhe des Zimmers sieht. Manchmal sollen sogar die Lichter einen Schein um sich haben. Ich bin überzeugt, er würde auch Dir sehr bange machen; es ist, als engte es einem das Herz ein, ehe man es gewahr wird. Wie Dir, die Du in der heiteren Sonne thronst, diese Nachrichten aus dem Nebeltal vorkommen müssen! ...

London, 19. Mai 1818.

... Ich habe immer vergessen, Dir zu sagen, daß ich schon seit etwa drei Wochen die hübsche Bibel, die Du mir geschenkt hast, ganz durchgelesen habe, vom ersten Vers des Alten Testaments bis zum letzten der Offenbarung Johannis. Es bleibt ein sehr wunderbares Buch, und es hat mich geschmerzt, wie ich gegen das Ende kam. Ich sah jeden Morgen, wenn ich aufstand, Deine Handschrift darin und küßte sie oft.

Hermann scheint jetzt mehr Unterricht als bisher und wirklich für sein Alter genug zu haben. Es ist mir sehr lieb gewesen zu sehen, daß Türk jetzt auch auf die Religion gekommen ist. Voriges Jahr, als ich mehrere Male mit ihm davon sprach, machte er immer Einwendungen, und ich bin gar nicht der Meinung, daß man mit Religionseindrücken so lange warten muß. Man sagt zwar, daß die Kinder es nicht verstehen, und daß sie die Übungen, die man mit ihnen zu früh anstellt, ohne lebendigen Sinn, wie eine bloße Gewohnheit behandeln. Aber ein Verstehen durch bloße Begriffe gibt es in der Religion auch für den Erwachsensten nicht, man müßte denn unter Religion einen gewissen vorräsonnierten kraft- und geistlosen Deismus verstehen, mit dem man sich eine Zeitlang unseligerweise herumtrieb; und ein gewisses, sehr einfaches Verstehen ist, möchte ich behaupten, dem kleinsten Kinde möglich. Daß die Beschäftigung mit diesen Dingen zur Gewohnheit wird, schadet gar nicht; werden nicht unsere liebsten und tiefsten Gefühle Gewohnheit, ohne irgend dadurch zu verlieren? Nur tote Gewohnheit braucht es nie zu werden. Das kommt nur auf die Art an, wie man es macht und treibt. Man versäumt wirklich das Einfach-Gute, indem man ein Höheres und angeblich Besseres vergebens sucht, und es ist schlechterdings notwendig, daß Geist und Herz, auch ganz eigentlich mit fremder Anleitung sich mit religiösen Ideen und Gefühlen beschäftige und an ihnen prüfe. Das hindert gar nicht, daß der Mensch später seinen eigenen, vielleicht auch sehr verschiedenen Weg gehe; aber es hindert, daß er es auf eine inkonsequente oder leichtsinnige Weise tue oder gar allem Unterwerfen unter unsichtbare Mächte fremd bleibe. Wie der Mensch sich gegen diese stellt, davon und davon allein hängt sein ganzes inneres Schicksal ab, alles, was ihm Ruhe gegen die Welt, Fülle für die Einsamkeit und Stärke gegen Unglück und Beschwerde gibt. Es ist der Knoten, in dem Leben und Tod, Zeit und Ewigkeit in eins geschürzt sind und dessen Festigkeit erst sich bewährt, wenn man im letzten Augenblick allein jenen unsichtbaren Mächten gegenübersteht und den Fuß über die Schwelle setzt, über die niemand einem nachfolgt...

London, 16. Juni 1818.

...Ich trage eigentlich einen zwiefachen Menschen in mir: einen, der immer von der Welt ab nach der Einsamkeit gerichtet ist, und einen, der sich durch die Umstände und manchmal zu leicht auch durch die Lust, sich in einer Lage zu versuchen, nach der Welt hinstoßen läßt. Daraus entsteht ein sonderbares Gemisch in mir, das die Menschen allerdings nicht begreifen mögen, das ich auch weit entfernt bin, eigentlich und durchaus zu billigen, an das ich aber einmal gewöhnt genug bin, um dabei das nötige Gleichgewicht zu bewahren. Dabei habe ich das Glück gehabt, in den beiden entscheidendsten Epochen des Lebens Einsamkeit genossen zu haben oder erwerben zu können, in der späten Jugend bis lange ins reife Alter hinein (denn wie wir uns heirateten, waren wir doch gerade in den Jahren, die einem die besten der Jugend scheinen) und im letzten Teil des Lebens; das Zusammentreten mit der Welt fiel nur in wenige und gerade die Zeit, wo es am wenigsten aus der ursprünglichen Eigentümlichkeit entfernt und am wenigsten das ganze Wesen in Anspruch nimmt. Überhaupt ist, wenn man auf die innere Bildung sieht, nie ein Mensch durch die Umstände, unter denen sie gedeihen kann, so vom Schicksal begünstigt worden als ich, und es wird daher auch nie einer, in welchem Moment und auf welche Weise es ihn treffen kann, gleich dankbar sterben. Ich möchte nichts von meinem Leben wegwünschen als die schmerzlichen Verluste der lieben Kinder und ein paar Zeitpunkte, wo ich Dich hätte glücklicher machen können, als Du gewesen bist. Aber das erste darf die Versöhnung mit dem Geschick nie hindern, und über dem letzten waltet Dein sanftes und mildes Verzeihen. Das Andenken an Wilhelms und Gabrielens Geburtstag, beide so jetzt in L'Ariccia zusammentreffend, führen mich mehr als ich Dir beschreiben kann in jene Zeit und jenen Morgen zurück. Die Vorgebirge lagen, wie ich die Höhe hinanfuhr, so heiter in der Frühluft da, und ich wagte nach dem, was ich ahnen mußte, doch nicht zu hoffen, und als ich in den Garten hineinging, wurde mir Gabriele eben entgegengetragen, als ich an der Gartentür von dem italienischen Bedienten, was vorgegangen war, mit dem Ausdruck gehört hatte, den ich sehr liebe, weil er nie das Bild des Lebens verläßt: è passato all' altra vita...

London, 23. Juni 1818.

... Es ist unglaublich, was dem Menschen entgeht, wenn ihm die Alten nicht nah und immer zugänglich sind. Wer es nicht kennt, fühlt es freilich nicht. Aber man fühlt es an ihm, und wenn ihm der Sinn auf einmal aufgehen könnte, so würde er wie ein neues Leben empfinden. Man hat eine ganz andere Kraft, dem Schicksal zu begegnen, und eine ganz andere Lust, ihm durch seine Höhen und Tiefen zu folgen. Wem es fehlt, dem mangelt auch, je nachdem er gebildet ist, bald Zartheit, bald Freiheit, und kein anderes Studium, keine andere Neigung des Geistes kann es ersetzen, da hingegen es selbst sich mit allen friedlich vereinigt. Es ist gar darum nicht nötig, viel Lateinisch und Griechisch zu wissen, man kann selbst beide gewissermaßen entbehren. Aber in einem Manne kommt das, was einem nicht fehlen darf, selten hervor, als wenn er durch das Studium hindurch geht, und darum vorzüglich ist dieses so unentbehrlich.

London, 20. Oktober 1818.

... Bülow behauptet, daß ich eine Passion für Perspektive habe. Man kriegt aber hier bei dem Nebel auch eine solche Lust, durch den Nebel hindurchzusehen, daß man immer, wenn einmal ein heiterer Augenblick ist, ihn bis ins letzte Sichtbare verfolgen möchte. Ich habe jetzt ein ganz wundersames Perspektiv gekauft. Es ist nur sehr wenig länger als eine Lorgnette, hat einen Stand zum Einlegen, man kann es also als Teleskop und ohne den Stock als Lorgnette brauchen. Es hat viel Vergrößerungen, die man abwechselnd, wie man will, hervorbringen kann, und ein schwarzes Glas für die Sonne. Die größeste Vergrößerung zeigt die Jupiter-Trabanten. Braucht man nun dies im Theater, so sieht man einem unglücklichen Akteur mit diesem Trabanteninstrument fast bis in die Eingeweide hinein. Er kann kein Härchen im Gesicht haben, das nicht lebendig vor mir steht, und ganz tief in dem Mund kann man die hohlen Zähne erkennen. Das Unglück ist nur, daß das Feld so klein ist, daß ein Akteur mit seinem Kopf es ganz füllt, und daß man nach ihm sehen muß wie nach einem Stern. Zum Genuß im Theater oder in Galerien ist so ein Glas nicht, aber der Mond sieht allerliebst dadurch aus. Außerdem habe ich mir auch eine Lupe gekauft, durch die ich Deine hübschen Siegel ansehe. Vor allen Dingen aber bedenke ich immer, wie gut Dir die Lupe sein müßte, um meine Briefe zu lesen. Wüßte ich nur einen Reisenden, schickte ich sie Dir wirklich. Manchmal untersuche ich selbst meine Schrift damit, finde aber dann zu meinem großen Erstaunen, daß, wie groß auch das Gekritzel wird, die Buchstaben doch nicht dastehen, die ich ausgelassen habe. Nun habe ich aber auch alles von Gläsern, was ich fürs Leben brauche, und es muß höchst amüsant sein, in Burgörner aus dem Fenster Deine Pflanzungen auf dem Lindenberg zu betrachten. Kein Käfer kann einem entgehen...

Frankfurt, 1. Januar 1819.

... Wie gesagt, sie fürchten, und sie müssen doch auch einen Halt haben. Die jetzigen Minister sind wie die indischen Götter, die die Welt tragen. Einer ruht immer auf dem andern, aber keiner auf etwas endlich Festem. Der neue sagte ja, wo man es hören wollte, daß, wenn er mich nicht als Stütze hätte, er auch nicht bleiben könne. Es ist sehr närrisch, daß sie alle auf mich fallen, aber das ist nun einmal bei uns so. Wenn sie eines Namens habhaft werden, so lassen sie ihn nicht los; er muß dann zu allem passen, und ich bleibe noch dabei, daß ich zu vielen Dingen besser tauge als zum Regieren, und viele andere dazu besser als ich. Allein ich habe Liebe und Interesse am Lande, Ernst und Willenskraft, und setze, wenn die Sache bedeutend ist, gewiß meine ganze Existenz daran ...

Frankfurt, 7. Januar 1819.

... Schrieb ich Dir, daß ich Adelheid amarantenen Samet habe kaufen lassen, genug zu einem Schleppkleid? Der Major Martens, der hier mit seiner eben geheirateten Frau durchging, hat ihn mitgenommen. Die neue Dame finden einige Leute hübsch, weil sie lebhafte Augen hat. Wie es aber immer geht, wenn man nichts als Augen hat – wenn sie sie zumacht, sieht sie geschworen wie eine Katze aus. Ich weiß wohl die Augen zu schätzen und habe ja Deine so unendlich lieb; aber wenn die Augen so das einzige in einem Gesicht sind, sind es nie die wahren und eigentlichen, und dann müssen die Augen auch keinen eigentlichen Teil der Schönheit ausmachen, sie müssen nur so auf die außer ihnen und ohne sie bestehende Schönheit den Glanz ausgießen, wie der Himmel auf die Erde. Sie sind ganz etwas anderes als die Schönheit, ein unmittelbares Ausstrahlen der Seele, ein unmittelbares Zusammenknüpfen von Körper und Gemüt auf unbegreifliche Weise. Darin haben nur die Lippen etwas Ähnliches, um die es bei geistvollen Menschen, die gerade diesen Ausdruck besitzen, auch ist, als umschwebte sie der Hauch des Seelenvollen der Rede, die sie gewohnt sind zu empfangen, und als hinge er in einem Ausdruck, der sich nicht schildern läßt, unaufhörlich an ihnen. Ich habe nur zwei Menschen gefunden, die das in sehr hohem Grade hatten, Dich und Schiller. Bei ihm ist es fast noch in der Danneckerschen Büste sichtbar geblieben, obgleich er in ihr, wie in der Natur, eine etwas zu stark ausgedrückte männliche Schärfe in der Oberlippe hat.

Dies ist meine Theorie über die Augen, und wenn ich vor anderen manchmal im Scherz von dem Zumachen rede, so behalte ich die innerliche Lehre für mich. Solche innerlichen Lehren kann man bei sehr vielen, ja, ich möchte sagen, bei allen Dingen haben, und es wird dadurch möglich, indem man sich bloß mit dem Äußeren und mit anderen zu beschäftigen scheint, ein recht durch und durch inwendiges Leben zu führen. Das hat mein Glück von der frühesten Jugend, ja von der Kindheit an gemacht. Alles in der Natur und im Treiben der Welt selbst läßt sich als Hieroglyphe ansehen, und ist es vielleicht, und jede innere Gedankenzeugung schmiegt sich wieder einem Bilde an. Es ist dies das ewige Band, was die Welt und die Geister zusammenknüpft. Das gering Scheinende wird dadurch bedeutend, und manches, was man als bloß irdisch ansieht, ehrwürdig und heilig. Eine leichte Pforte scheidet dann zwei ganz verschiedene und doch verwandte Gebiete, und wer des Weges durch sie gewohnt ist, geht vom Glanz heiterer Bilder zum besänftigenden Dunkel von Ideen über, und kehrt zurück und kommt wieder, und wiederholt so in einem Sinnbild, das immer zugleich tiefer ins Wesen führt, den letzten Weg vom Lichte zur Erde...

Frankfurt, 28. Januar 1819.

... Alles im Menschen kommt auf die Mischung und das Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Ideen in ihm an. Darin liegt das Geheimnis des Charakters, und das allein ist es, was dem Gemüt Farbe und Ton gibt. Die Menschen, die sich sonst in allem fast gleich sind, gehören dadurch wie in zwei verschiedene Massen, und dies selbst bewirkt wieder die Phantasie, die nur gewöhnlich in einem viel beschränkteren Sinne genommen wird.

... Es ist mir, als stünde ich an einem Scheidewege des Lebens. Die Außenwelt hat mich nie so ernsthaft ergriffen, ich möchte sagen, so unausweichlich. Auch war der Abend, an dem ich die Kabinettsorder bekam, einer der wunderbarsten meines Lebens und gewiß einer der wehmütigsten. Indes bin ich festen und auch guten Muts, wenn Du, liebe Seele, bei mir und gütig und nachsichtig mit mir bist. Daran hängt, darauf ruht alles. Ich habe ein inneres Sein, das keiner äußeren Mittel, keiner Zeit zur Beschäftigung bedarf, das, wie der Boden, über den die Welle geht, immer dasselbe bleibt und nur in sich immer wächst, sich mit jedem Gedanken, jedem Gefühle, jeder Sorge vermischt, das mich nie sinken läßt, und mit dem ich alles gewöhnlich so genannte Unglück verachte, mit dem ich noch glücklich sein würde in der Enge eines Grabes, und das auf eine sehr wunderbare Weise mit der Phantasie vermischt ist. Ich lebe und webe darin, seit ich mir meiner selbst bewußt bin; alles Gute in mir stammt davon her und kehrt dahin zurück, und seit ich Dich besitze, ewig teures Herz, bist Du so darin verwebt, machst Du allein es eigentlich so ganz aus, daß ich mit Wahrheit sagen kann, daß ich vom Leben, ohne Dich auch lebend zu wissen, keinen Begriff habe. Bloß getrennt von Dir, leide ich am Innersten und Höchsten. Wenn ich also Dich wieder besitze, wenn Du mir bleibst und, soviel Du kannst, bei mir bleibst, habe ich eine Zuversicht, die wenig Menschen in diesem Grade kennen. Stein hat mir ein paarmal wiederholt, daß er sehr wünschte, daß Du ja bald mit dem Sommer kämst, weil ein Mann in einer bedeutenden Tätigkeit gar nicht ordentlich sein könnte als mit der, die jedes Leben mit ihm teilt. Diese Übereinstimmung bestätigt mir meine eigene Empfindung. Es ist im einzelnen Menschen nichts recht wahr und gediegen, was nicht, wenn auch in anderer Form, in allen und im ganzen Geschlecht liegt. Der Mensch ist überhaupt nichts, als nur durch die Kraft des Ganzen und indem er mit ihm zusammenzustimmen strebt. Dadurch nur läßt sich das Geheimnis der Sprache enträtseln, das sichere Kriterium der Wahrheit in aller Wissenschaft finden, und es ist der höchste Punkt, an den man alles Wirken nach außen hin anknüpfen muß. In sich aber ist dies selbst das Geheimnis des Lebens, das große Rätsel, das die Seele im Tode, solange man noch klares Bewußtsein haben kann, gespannt halten wird; was aber selbst der Tod vielleicht nicht ganz löst, wie der Mensch etwas für sich und doch nichts ohne den andern, ohne sein Geschlecht sein kann. Wenn ich bedenke, wie ich ins Leben hineingezogen worden bin und noch werde, so kommt es mir oft wie eine wunderbare Fügung des Schicksals vor. Ich ging hinein, bloß damit wir in Italien sein könnten; der Zufall führte mich fort, ich machte mich wieder los, um Geschäften und Verwickelungen zu entgehen, und kam in Wien gerade in neue und größere; an dies spann sich alles andere an. Nachher suchte ich wieder ein einfaches und ruhiges Verhältnis, verließ es ohne alle Absicht, nur um mit Dir zu sein, und stehe nun an dem Punkt, nach dem ich nie getrachtet habe. Die anderen wollen mich auch nicht da und ziehen mich wider meinen Willen hin. Sie werden es bereuen; ich hoffe, ich nicht. Der große Fehler des Staatskanzlers und der alles Schlimme, alles Halbe hervorgebracht hat, ist, daß er nicht Sinn und Charakter dazu hat, ein großes Geschäft frei mit anderen gleich Freien zu führen. Statt sich Leute zu suchen, die neben ihm an der ersten Stelle stehen konnten, raffte er immer neue Untergeordnete auf, behandelte noch die andern wie Werkzeuge und entfernte sie, wenn es nicht ging. Jetzt richtet ihn, und fast ohne daß sie sich ausspricht, die öffentliche Meinung, und er tritt ab, ohne daß man ihn nur vermißt. Bloß durch reines und uneigennütziges Verfolgen des entgegengesetzten Weges muß man im jetzigen Augenblick viel ausrichten.

Frankfurt, 26. Februar 1819.

Nun fängst Du auch an, mir die Hände zu küssen. Das ist wirklich göttlich! Ich bleibe aber doch dabei, daß das Händeküssen nicht bloß eine Sache der Zärtlichkeit, sondern immer zugleich das Anerkennen des Höheren ist; darum paßt es nur von Mann zur Frau, weil wirklich Frauen immer etwas Geheimnisvolles, Hohes in sich tragen, was man ehrt und anbetet, ohne es recht zu begreifen, und ohne daß es sich je begreifen läßt und auch ihnen selbst nicht klar ist. Ich habe auch gewiß tausendmal öfter Deine lieben Hände geküßt und werde es noch tun, wenn die süße Zeit zurückkehrt, als Du meine, ob sie gleich weiß wie Schnee und wieder viel hübscher als in London sind. Das kommt aber auch daher, weil Du zwar ein unendlich liebes, gutes, sanftes, nachsichtsvolles Wesen bist, aber ich viel zärtlicher. Ich gehe nie aus der Stube, ohne erst Dir den rechten und dann den linken Arm zu küssen, dann den Mund, und dann mache ich noch in der Tür, indem ich mich umdrehe, ein tiefes Kompliment, daß der Puder herunterfällt. Wenn die liebe Zeit nur erst wieder da wäre! Ich sehe noch Gabrielens Gesicht, wie sie die Augen zusammenzieht und die Stirn runzelt, wenn der Puderregen herunterkommt, und wie sie sagt: oh, lieber Vater! Erinnere sie nur daran.

Frankfurt, 17. Mai 1819.

... Unser Burgörnerscher Nachbar war immer ein höchst leerer, flacher, in allem Wesentlichen und Besseren unbedeutender Mensch. Was Du darüber sagst, daß solche Menschen gerade dieselben Worte brauchen, die man von denen hört und gewohnt ist, an die einen wahre und tiefe Empfindungen knüpfen, ist sehr schön und unendlich wahr, überhaupt ist das an den Wörtern am meisten zu bewundern, daß sie manchmal nur wie eine leere Hülle sind, in die nichts oder etwas ihnen ganz Unähnliches gekleidet wird, und daß sie manchmal einen Sinn und Gehalt haben, den sonst niemand in ihnen ahnet und fühlt. In dieser Art sprechen recht selten zwei Menschen dieselbe Sprache, und der meiste menschliche Umgang besteht bloß darin, daß die Menschen sich einbilden, einander zu verstehen. Es ist schon recht viel, wenn zwei Menschen nur dahin kommen, die Grenzen zu erkennen, innerhalb welcher ein anderer den Begriff fetzt, den er ausdrücken will. Die Sache selbst, dahin kommt es fast nie. Das wahre Verstehen in diesem Sinn muß wirklich aller Sprache vorausgehen; es ist nie durch den Verstand, immer nur durch die Empfindung und die angeborene Gesinnung möglich. Allein um auf den Fall zurückzukommen, von dem Du schreibst, so ist darin die Welt viel schlimmer geworden. Noch in unserer Jugend war wenigstens das hübsch, daß eine ganze Menge von Menschen, alle frivolen, alle sehr vornehmen, alle trockenen Geschäftsleute, alle bloß derb und roh an der Wirklichkeit Hängenden eine ganze Menge von Wörtern in der Sprache niemals brauchten, und der Umgang mit diesen Wörtern einem Kreise vorbehalten blieb, in den man doch durch irgendetwas eingeweiht sein mußte. Man riskierte gar nicht, daß der, welcher doch den Begriff nicht fassen kann, das Wort aussprach, und man hütete sich auch sehr, es gegen ihn zu brauchen. Aber durch das Abkommen des Französischen und die lateinischen Brocken im Deutschen, durch das viele Lesen und Hören auf der Bühne von Schiller und Goethe ist die Sprache gemein geworden und man muß erleben und dulden, daß das Sprechen von Menschen, die mit einem nichts Ähnliches haben, als daß sie auf zwei Beinen gehen, ebenso klingt, als wenn man selbst spricht. Es gibt aber nichts Schrecklicheres, als wenn ein Fremdartiger in den eigengeweihten Kreis tritt. Viel eher kann man selbst daraus hinausgehen. Ich habe noch jetzt eine ordentlich kindische Scheu, mit den Leuten von Dingen zu reden, die über ihren Begriff gehen, und es wirkt bei mir immer als Scham, und als wenn ich unrecht hätte ... Die Unwissenheit, Einfalt und Beschränktheit als eine Vornehmheit zu behandeln, die man über sich in stiller Ruhe und Sicherheit sitzen läßt, hat mir immer nicht nur eine bequeme Lebensansicht geschienen, sondern auch eine geschmackvolle. Denn wenn man diese Dinge nicht mit einer Art willkürlichem Glanze bekleidete, fielen sie ja ganz platt zu Boden. Nur sollten sie sich dann freilich auch aller tiefen menschlichen Ausdrücke enthalten.

Stein schreibt mir von Zeit zu Zeit, vielleicht gehe ich noch diese Woche auf ein paar Tage zu ihm. Es muß sehr hübsch mit ihm allein in Nassau sein, noch dazu da das Wetter merkwürdig heiter ist.

... Bei Gelegenheit meiner Lebensweise wollte ich noch sagen, daß, solange Stein hier war und ich fast alle Abend zu ihm ging, ich selten viel vor Mitternacht zurückkam, und es ist sonderbar genug, daß Stein, der auch am liebsten um 10 zu Bett geht, mich verführte. Aber es liegt an der Frau. Sie ißt immer abends, und erst nach 10. Nach 9 auch gingen erst die anderen Menschen, die etwa hinkamen, weg, und so fing das hübsche Zusammensein erst spät an.

Es ist überhaupt, und ich werde es Dir mündlich erst recht erzählen können, wunderbar, wie verschieden in allen kleinen Lebensgewohnheiten selbst die beiden sind; aber wie gutmütig, liebevoll und zart er dies Verhältnis behandelt. Ich habe es erst in Nassau, wo wir freier miteinander darüber gesprochen, recht einsehen gelernt. Er ist wirklich einer der trefflichsten Menschen, von einer Schärfe und Bestimmtheit der Grundsätze, wie es ungemein selten ist, und von einer Billigkeit und Gutmütigkeit, die man ebensowenig leicht findet. Dann tut es einem wohl, einen Mann dieser Art im Hafen zu erblicken, seiner eigenen Meinung nach am Ende dessen, was er hat tun und leisten können, und nun nur noch in Ruhe, Betrachtung und Teilnahme lebend.

Nassau, 21. Mai 1819.

... Stein fand ich im Turmzimmer, wo er sein Arbeitszimmer eingerichtet hat. Der Turm ist nun fertig, und soviel er einmal sein kann, ist er recht hübsch. Von außen schön sich ausnehmen kann er nie, da er weder zum Gebäude paßt noch hoch ist. Er kostet, wie er mir sagt, die innere Einrichtung des oberen Teils, die noch nicht gemacht ist, nicht gerechnet, etwa 50 000 Gulden. Wir sind nach dem Essen bis zum Abend immer draußen gewesen und haben einen sehr schönen Spaziergang gemacht. Das Gespräch mit Stein geht nie aus; es finden sich unaufhörlich eine Menge Vorfälle und Dinge, an die es sich anknüpft, ohne dabei stehen zu bleiben. Er hat ganz unstreitig die klarste und parteiloseste Ansicht der Dinge, wie sie sind, was vielleicht nicht einmal immer so sein Fall war, es aber gewiß jetzt ist. Er fühlt am meisten, was geschehen müßte, und ist selbst noch milde und vorsichtig in der Art, es herbeizuführen. Seine Unparteilichkeit sieht man besonders in allen seinen Räsonnements über den Adel und jetzt auch über die französische Angelegenheit, den Zustand Frankreichs im jetzigen Augenblick. Ich wollte sehr, Du sähest ihn noch, er spricht immer davon und hat sich mit dem größten Anteil nach Dir erkundigt. Er hat eine ordentlich kindische Passion der Erhaltung der Geschlechter. Er will auch schlechterdings, daß wir ein Majorat machen, die Töchter mit sehr wenig abfinden sollen; das ist, bei allen Adligen und die er von Vermögen glaubt, eine Lieblingsidee bei ihm. Ich bin nun gar nicht dafür und Du vermutlich auch nicht. Mir ist schon öfter in mir davor bange gewesen, daß mit der ständischen Verfassung eine Gelegenheit kommen könnte, wo es gewissermaßen nötig wäre. Denn wenn, wie es doch sehr wahrscheinlich der Fall sein wird, eine Erste Kammer wäre, so würden bei dieser natürlich Majorate sein müssen. Nun wäre ich zwar nie gern in der Ersten Kammer, sondern immer lieber, wenn man einmal, auch künftig außer Dienst, daran teilnähme, in der Zweiten, die lebendiger und wichtiger ist. Allein der König könnte es wollen, und dann wäre es schwer auszuschlagen.

Du siehst hieraus, um welche Dinge hauptsächlich sich meine Unterredungen mit Stein drehen. Dem Staatskanzler können auch die Ohren klingen. Es wird seiner nicht immer zum angenehmsten gedacht. Von dem Häuserkauf in Berlin für mehrere Minister hat Stein hier auch gehört. Er wünscht, daß ich mich dagegen erkläre, daß man für mich eins kaufe. Ich habe ihm gesagt, daß ich das allerdings tun würde, allein, daß es gar nicht nötig sein dürfte, da man für mich solche Zärtlichkeit gar nicht haben wird.

Fulda, 14. Juni 1819.

... Da ich Naumburg so nahe war, wollte ich doch auch Ilgens besuchen. Er hatte mich schon seit dem Winter ordentlich darum gequält, weil er allerlei Zänkereien mit der Regierung in Merseburg hat, über die er meinen Rat wünschte. Ich fuhr also am 7. dorthin. Ich kam Ilgens ganz unvermutet, er war in seinen Lehrstunden, sie im Garten; Du kannst Dir nicht genug ihre Freude vorstellen. Er sieht allerdings sehr verändert aus und man sieht, daß seine Gesundheit zerrüttet ist; allein so schlimm, als sie ihn mir früher in Briefen gemacht hatte, fand ich ihn nicht. Sie meinte, es wäre die Freude, mich zu sehen, die ihn so erheitert hätte. Alle Haare hat er allerdings verloren, er trägt aber keine Perücke, sondern eine schwarze Kappe. Dies denke ich auch künftig nachzuahmen. Noch aber bin ich nicht so weit. Du wirst Dich vielmehr über den Wald von Haaren wundern. Sie, nämlich die Ilgen, ist ganz unförmlich dick geworden, es läßt kaum eine Beschreibung zu. Sonst sind Gesicht und Augen wie sonst. Ich blieb die Nacht dort, und den Abend hatten sie den Oberlandesgerichtspräsidenten Gärtner eingeladen, was mir lieb war. Außer diesem Besuch habe ich alle Zeit mit Gesprächen über jenen Streit mit der Regierung zubringen müssen. Die Regierung hat nämlich Ilgen eine Kommission zur Untersuchung über eine Geschichte geschickt, die einige Schüler, eine große Anzahl Läuse und ein Krebs miteinander gehabt haben. Im Hintergrunde alles Gesprächs darüber stand, wie ein wahres Medusenhaupt, ein 24 Bogen langer Bericht, der mir vorgelesen werden sollte. Ich entging diesem den ersten Tag durch die verwickeltsten Kunstgriffe. Wie ich im Bett lag, glaubte ich, gerettet zu sein. Aber da ich aus besonderer Höflichkeit, weil ich um 9 Uhr wegfahren wollte, schon um 5 Uhr aufstand und zum Frühstück ging, und wir kaum in einer recht hübschen Laube (an dies Biwakieren im Freien habe ich mich nun schon bei Stein in Nassau gewöhnt und bin ganz abgehärtet dagegen, und mache, wenn ein kalter Wind kommt, ganz geduldig meine bekannten Armbewegungen), dem sehr hübschen altgotischen Portal der Klosterkirche gegenüber, beim Kaffee saßen, so kam Ilgen mit der schrecklichen Frage hervor: »Nun, wann lesen wir denn meinen Bericht?« Ich sagte in der Angst: »Wenn es sein muß, lieber gleich!« wie man sich einen Zahn ausziehen läßt. In der Minute darauf ging es auch an. In dem ungeheuren Bericht waren auch Anmerkungen. Die wollte erst Ilgen selbst lesen. Aber die Frau schlug vor, daß sie immer mit den Anmerkungen gehörig einfallen wollte, und ich unterstützte das sehr. Denn so wurde die Sache doch einigermaßen dramatisch. Ich stellte mir die Läuse und den Krebs als stumme Personen vor, und es kam so recht gut in Gang. Die Läusegeschichte hätte im Grunde interessanter sein können. Sie bestand bloß, wenn man einige Episoden abrechnet, darin, daß zwei Schüler, die von Läusen gestarrt hatten, von den anderen Läusejungen genannt wurden. Aber der Krebs war höchst wunderbar und wirklich poetisch. Denn ein Schüler hatte den anderen gezwungen, einen großen lebendigen Krebs zu verschlingen. Wie es nun zugegangen sei, daß der Verschlingende sich wohl befunden hatte und nicht vom Krebs zerkniffen und zerbissen worden war, blieb, bis wenigstens zum 20. Bogen, unerklärt. Endlich löste sich alle Verwirrung und es zeigte sich, daß der verschlungene Krebs ein Butterkrebs gewesen war, nämlich, da Du vermutlich wie ich den Ausdruck nicht kennst, ein Krebs, der eben die Schale wechselt und also keine hat. Das Merkwürdigste war aber, daß nun erst eine neue Verwickelung anging. Der Schüler, dem die Untat geschehen war, hatte seinem Vater, einem Major, geschrieben, daß er von einem Obersten genötigt worden sei, dies zu tun. Er hatte damit einen der obersten Schüler gemeint, da sie so abgeteilt sind. Der Vater aber hatte einen Regimentsobristen verstanden und antwortete: wenn dem so sei, so müsse er, um diesen Schimpf seines Sohnes mit dem Krebs zu rächen, sich als Edelmann und Major mit dem Obristen schlagen. Glücklicherweise wurde denn auch dieses Duell verhütet, die Läuse abgekämmt, der Krebs verdaut, und so endigte sich alles ganz bürgerlich und moralisch. Die Lektüre aber, das schwöre ich Dir, dauerte gute drittehalb Stunden. Ich kam den Abend in Burgörner an.

Berlin, 16. August 1819.

... Über Goethe schreibst Du sehr schön und richtig. Liebe hat ihm immer gefehlt, er hat sie schwerlich empfunden, und die rechte ist ihm nicht geworden. Allein der wahre Grund dazu ist doch wohl das früh in ihm waltende, schaffende Genie und die Phantasie gewesen. Wo sich die Natur einen solchen eigenen und inneren Weg bahnt, da wird es wohl unmöglich, sich einem anderen Wesen in der Wirklichkeit uneigennützig hinzugeben, und ohne das ist keine Liebe denkbar. Man muß sich immer erst verlieren, um sich schöner und wieder reicher zu empfangen. Aber eine Leere läßt es dann freilich im Leben zurück, und ich glaube nicht, daß außer den Stunden und Zeiten des glücklichen Hervorbringens Goethe eigentlich glücklich oder reich in sich beschäftigt ist ...


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