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An Georg Forster.
Erfurt, den 1. Juni 1792.
... Die ganze Zeit, seit welcher Sie ohne Nachricht von mir sind, habe ich hier ununterbrochen zugebracht. Sogar Gotha und Weimar, so nah sie auch sind, habe ich nicht besucht. Indes ist mein Aufenthalt hier auch von meinem vorigen ländlichen nicht sonderlich verschieden gewesen. Der Gesellschaften sind hier wenige, und so bin ich die meiste Zeit auf meinem Zimmer, im Kreise meiner gewöhnlichen Beschäftigungen gewesen. Der Koadjutor ist hier der einzige Mensch, den man interessant nennen kann, und den habe ich, so viel es überhaupt seinen Geschäften und seiner Lebensart nach möglich ist, genossen. Sein Umgang ist mir um so angenehmer gewesen, als unsere Gespräche meist wissenschaftlich, aus dem Fache der praktischen, vorzüglich politischen Philosophie, worin er unstreitbar am meisten bewandert ist, hergenommen sind, und als reine, auch bloß theoretische Prinzipien doch noch mehr reizen, wo ihre Anwendung so nah' liegt. Ich weiß nicht, lieber Freund, ob Ihnen ein kleiner Aufsatz von mir in der Berliner Monatsschrift, Januar: Ideen über Staatsverfassung usf. zu Gesicht gekommen ist. Es war ein wirklicher, ohne alle Hinsicht auf den Druck geschriebener Brief, der hernach zufällig, und zum Teil dieser Zufälligkeit wegen, mit allen sinnentstellenden Druckfehlern ans Licht gekommen ist. Aus diesem Aufsatz hatte Dalberg gesehen, daß ich mich mit Ideen dieser Art beschäftige, und wenige Tage nach meiner Ankunft hier bat er mich, meine Ideen über die eigentlichen Grenzen der Wirksamkeit des Staates aufzusetzen.Vgl. unsern Schriftenband S. 269-361.
Ich fühlte wohl, daß der Gegenstand zu wichtig war, um so schnell bearbeitet zu werden, als ein solcher Auftrag, wenn die Idee nicht wieder alt werden sollte, forderte. Indes hatte ich einiges vorgearbeitet, noch mehr Materialien hatte ich im Kopfe, und so fing ich an. Unter den Händen wuchs das Werkchen, und es ist jetzt, da es seit mehreren Wochen fertig ist, ein mäßiges Bändchen geworden. Sie stimmten sonst, als wir noch von Göttingen aus über diese Gegenstände korrespondierten, mit meinen Ideen überein. Ich habe seitdem, so viel ich auch nachzudenken und zu forschen versucht habe, fast keine Veranlassung gefunden, sie eigentlich abzuändern; aber ich darf behaupten, ihnen bei weitem mehr Vollständigkeit, Ordnung und Präzision gegeben zu haben. Noch jetzt also, schmeichle ich mir, würden Sie im ganzen mit meinen Behauptungen einverstanden sein. Ich habe nämlich – und ich hielt dies der nächsten Veranlassung wegen, die mich zum Schreiben bewog, für um so nötiger – der Sucht, zu regieren, entgegenzuarbeiten versucht und überall die Grenzen der Wirksamkeit enger geschlossen. Ja, ich bin so weit gegangen, sie allein auf die Beförderung der Sicherheit einzuschränken. Ich hatte die Frage, die ich beantworten sollte, völlig rein theoretisch in ihrem ganzen Umfange abgeschnitten. Ich glaubte also auch, kein anderes Prinzip zum Grunde meines ganzen Räsonnements legen zu dürfen als das, welches allein auf den Menschen – auf den doch am Ende alles hinauskommt – Bezug nimmt, und zwar auf das an dem Menschen, was eigentlich seiner Natur den wahren Adel gewährt. Die höchste und proportionierlichste Ausbildung aller menschlichen Kräfte zu einem Ganzen ist daher das Ziel gewesen, das ich überall vor Augen gehabt, und der einzigste Gesichtspunkt, aus dem ich die ganze Materie behandelt habe. Immer bleibt es doch wahr, daß eigentlich diese innere Kraft des Menschen es allein ist, um die es sich zu leben verlohnt, daß sie nicht nur das Prinzip wie der Zweck aller Tätigkeit, sondern auch der einzige Stoff alles wahren Genusses ist, und daß daher alle Resultate ihr allemal untergeordnet bleiben müssen. Auf der andern Seite ist es aber auch ebenso wahr, daß in der Wirklichkeit und fast überall, wo auf den Menschen gewirkt wird, bei der Erziehung, bei der Gesetzgebung, im Umgange, fast nur die Resultate beachtet werden, wovon sich viele Gründe aufzählen ließen, die ich nur hier, um Sie nicht zu ermüden, übergehe, und unleugbar freilich macht auch die Erhaltung der Kraft selbst große Sorgfalt auf die Resultate, als das Mittel dazu, oft notwendig. Desto mehr also muß, dünkt mich, die Theorie das, was in der Ausübung so leicht das letzte Ziel scheint, wieder an seine rechte Stelle setzen und das wahre, letzte Ziel, die innere Kraft des Menschen, in ein helles Licht zu stellen versuchen. Wenn also die Staatskunst sich meistens dahin beschränkt, volkreiche, wohlhabende, wie man zu sagen pflegt, blühende Länder hervorzubringen, so muß ihr die reine Theorie laut zurufen, daß freilich diese Dinge sehr schön und wünschenswert sind, daß sie aber von selbst entstehen, wenn man die Kraft und Energie des Menschen, und zwar durch Freiheit, erhöht, dahingegen, wenn man sie unmittelbar hervorbringen will, gerade das leiden kann, um dessenwillen sie selbst nur wünschenswert sind, indem wenigstens in vielen Fällen ein Land freilich schneller bevölkert, wohlhabend, ja sogar in gewissem Grade aufgeklärt werden kann, wenn die Regierung alles selbst tut, den Bürgern das von ihr anerkannte Gute aufdringt, als wenn sie dieselben den freilich langsameren, aber auch sicherern Weg der eigenen Ausbildung gehen läßt...
An Karoline.
Kahla, 16. Juli 1792.
Daß ich nicht mehr bei Dir bin, meine Li, und beim Wickelnarrn! Wie ist's mir so öde und leer ohne Euch! Ich habe die schöne Gegend wiedergesehen, aber ich sah sie ja nicht mehr mit Dir, wie neulich. Ich habe mich vieler Stellen erinnert, wo Du dies und jenes sagtest, wo Fräulein trank oder schlief. Erinnerst Du Dich noch, wo wir ausstiegen und zu Fuß gingen? Es war bei einer Mühle. Das Tal ist so grün und freundlich, die Berge, die es umschließen, so romantisch, und hinten ragt so feierlich die Leuchtenburg hervor. Da bin ich wieder zu Fuß gegangen, und immer war's mir noch, als wärest Du bei mir, als hätt' ich die holde kleine Li auf dem Arm.
O! teures, einziges Wesen, wie so namenlos, wie so unendlich glücklich hast Du mich gemacht, wie hast Du mir gegeben, was ich selbst, da ich Dich kannte, da Dein Besitz mir gewiß war, ach! nimmer, nimmer gehofft hätte. Wie vermag auch selbst die kühnste Phantasie zu erreichen, was Du so ewig still in das Leben verwebst, die Ruhe, diesen einfachen und so unnennbar füllenden Genuß.
An Karoline.
Coswig, 18. Juli 1792.
... Was Du in mir geschaffen, wozu Du mich erhoben hast, fühle ich so klar, weil ich mich jeder Periode der Vergangenheit so deutlich erinnere, so genau weiß, wie ich in jeder und jeder war. Aber wie oft ich bei dem einen und dem andern Bilde verweile, so steigt das Gefühl doch erst dann zur höchsten Höhe empor, wenn ich unsere Vereinigung, das Wesen denke, das diese einzige Liebe, uns beide so innig ineinanderschmelzend, gebildet hat. Jedem einzelnen von uns wäre diese Größe ewig unerreichbar gewesen. Selbst die Liebe, wie fest sie uns auch aneinandergeknüpft, hätte nicht allein diese Schönheit geschaffen, hätte nicht auch das Schicksal uns so freundlich gegönnt, ewig und ungetrennt in stiller Einsamkeit miteinander zu leben. Dies Leben – ich fühle es so klar in mir – ist es allein, das wenigstens alle die Gefühle entwickelt, mit welchen jeden die Empfindung des andern erfüllt.
Schon früh heftete ich meinen Blick mehr auf das innere Wesen der Menschen und der Natur; aber so lange mein Dasein so allein dastand, fühlte ich immer jede meiner Ansichten so mangelhaft, empfand ich wenigstens nicht den Einklang der äußeren Gegenstände und der inneren Empfindung, welcher der Wahrheit alleiniges Gepräge ist. Es fehlte mir da eigentlich das, was die ganze Natur beseelt. Ihr selbst in meinem Wesen nicht gleich, vermocht' ich nicht das Ungleiche wahr aufzufassen, denn überall ist sie ja ein wundervolles Ganzes, überall eine entzückende Harmonie, überall hallt sie von Tönen, deren keiner des ihm entsprechenden ermangelt. Und in mir fühlte ich, wenn ich's auch nicht mir zu entwickeln vermochte, alles abgerissen und halb. Manchmal, in diesem Zustand sehnsuchtsvollen Vermissens, war es wohl, als würde ich mir klarer, als empfand' ich, welches Band es sein müßte, das mich freundlich an das All der übrigen Wesen knüpfte. Aber völlig klar wurde es mir nie, bis ich Dich sah, bis ich sah, wie keinem Tone in mir nicht auch ein anderer in Dir antwortet, wie nur vereint mit Dir und wie nie sonst ich mich, selbst ein Ganzes, an das Ganze der Natur anzuschließen vermöchte. Du wirst mich verstehen, Li, wenn ich auch hier nicht weiterzureden vermag, wenn ich es nicht auszusprechen wage, wie nur Deine Liebe aus mir und dem All der übrigen Wesen ein harmonisches Ganzes geschaffen hat! Wenn ich Deine Liebe, wenn ich mein Glück denke, kann ich freilich nur Dich denken, nur empfinden, daß Du so bist, und daß Du mein bist, aber es liegt doch ewig in dem einen Gefühl alles, was ich hier in allein Dir verständlichen Lauten zu stammeln wagte. Ja, daß ich eins bin in mir, daß ich bin, wozu ich Anlage hatte zu sein, daß ich Wahrheit sehe, daß ich harmonische Schönheit empfinde, das ist Dein, einzig Dein Werk; und mein, einzig mein Werk ist es, daß auch Du bist, was Du sein solltest, daß auch Du Wahrheit siehst und Schönheit und Harmonie empfindest.
Keiner hat eigentlich dem andern etwas gegeben, o! die Liebe hängt zu süß an dem Geliebten, um von sich in ihn übertragen zu wollen und das Wesen, das zu lieben vermag, ist zu groß und selbständig, um aus dem andern für sich zu nehmen. Daß wir beide das fühlen, darum ersticken wir mit besorglichen Küssen immer die Worte des andern, wenn er Dank stammelt für das, was er empfing. Aber daß jeder dem andern sich hingab, das machte erst, was jedem eigen in sich war, vom Schattenbilde zur Wahrheit.
An Schiller.
18. August 1795.
Die Macht des Gesanges und der Tanz sind Ihnen meisterhaft gelungen, lieber Freund, und vorzüglich hat die erstere einen tiefen Eindruck auf mich gemacht. Die Idee wie die Ausführung ist die Frucht einer wahrhaft lyrischen Stimmung, und die Macht der Dichtkunst, vorzüglich das Unbegreifliche, mit einer bessern Natur Verwandte derselben ist auf eine erhabne Art geschildert. Das große und schauervolle Bild am Eingange bereitet die Seele prächtig zu der ernsten und feierlichen Stimmung vor, die das Ganze hervorbringen muß, und die gleich anfangs durch die edle Einfachheit der Anwendung des Bildes in den beiden Versen: »So strömen« usw. befestigt wird. Die gleich darauf folgenden Verse eröffnen dem Geist auf einmal eine unabsehliche Tiefe. Der Dichter steht mit den Schicksalsgöttinnen im Bündnis, und sie teilen ihre Macht mit ihm. Das geheime Leben und die innere Kraft jedes Wesens, von welcher seine sichtbaren Veränderungen nur unvollkommene und vorübergehende Erscheinungen sind, und auf deren unmittelbarem und insofern unerkanntem Wirken dasjenige beruht, was wir Schicksal nennen, diese Kraft ist es, welche die Kunst des Dichters in Bewegung zu setzen und auf die er zu wirken versteht. Aus ihr quillt im Menschen die Schönheit, die sein Gebiet ist; und da sie zugleich die erste Ursache aller Bewegung, mithin der einzige Sitz der Freiheit ist, so besitzt er nun gleichsam durch ein Einverständnis mit ihr jenes wunderbare Vermögen, der Phantasie das Gesetz zu geben, ohne ihre Freiheit zu verletzen. Seine Macht ist ein Zauber, er beherrscht das bewegte Herz, also durch die eigne Kraft desselben, und steht zwischen Ernst und Spiel in der Mitte. Die beiden letzten Verse sind unglaublich schön und malerisch. Die Leichtigkeit, welche vorzüglich in dem Ende dieser Strophe herrscht und die Furchtbarkeit einer unwiderstehlichen Macht mildert, hilft den schauervollen Eindruck vermehren, welchen die beiden folgenden Strophen machen. Man fühlt sich ganz von dem ergriffen, was Sie schildern, und jede Zeile, jeder Ausdruck verstärkt die Wirkung. Kaum erinnere ich mich, je etwas gelesen zu haben, das so das Gepräge schmuckloser Einfachheit und erhabner Wahrheit in sich trägt, als die dritte Strophe. Jedes Wort ist gediegen und voll Kraft. In der letzten Strophe ruht die bewegte Phantasie wieder aus. Die Macht des Dichters ist nicht wild und eigensinnig, sie ist eine milde Größe und hebt den Menschen nur zu den Göttern empor, um ihn einer höheren Menschlichkeit wiederzugeben. Der Versbau dieses Gedichts paßt überaus gut zum Ganzen, die Strophen sind außerordentlich wohlklingend. Was auch Goethe vom Reim sagen mag, ich wollte, Sie blieben ihm immer getreu. Wie Sie ihn behandeln, schneidet er die einzelnen Teile der prosodischen Periode so bestimmt ab, trennt die kleinern von den größern so gut und stellt die sich gleichen so passend gegeneinander, daß es nicht bloß dem Ohre sehr wohltut, sondern auch mit dem eigentlichen Vortrag, so wie er z.B. in den Göttern Griechenlands, der Resignation, und hier ist, vollkommen übereinstimmt. Ich erinnere mich keiner Stelle Ihrer Gedichte, wo der Reim dem Gedanken geschadet, aber auch keiner, wo er ihm (wie so häufig im Wieland) sichtbar geholfen hätte; er erscheint für den Inhalt als gänzlich null, aber er verbindet mit dem Wohlklang eine Symmetrie, die unserer Sprache nichts weniger als überflüssig ist. Ihre Dichtungsart scheint mir eine ganz eigne Verwandtschaft mit dem Reime zu haben, die ich wohl fühle, aber jetzt nicht deutlich machen kann...
Wenn ich mich ebensosehr für den Reim erkläre, so müssen Sie nicht denken, daß mir darum die reimfreien Gedichte Ihrer Sammlung weniger willkommen wären. Der Tanz ist vortrefflich, und es kann leicht an bloß subjektiven Gründen liegen, wenn ich ihm die Macht des Gesanges vorziehe. Er hat einen so großen philosophischen Gehalt, und das Bild der Tanzenden ist göttlich schön gemalt und voll Leben. Der Bewegung und Leichtigkeit der ersten Hälfte, die vorzüglich in einzelnen Versen (z. B. »Säuselndes Saitengetön« usf. und »Stürzt der zierliche Bau« usw.) unübertrefflich ausgedrückt ist, stellt sich die Festigkeit und der Ernst der zweiten prächtig entgegen. Auch wird es Ihnen dadurch auf eine in der Tat ganz vorzügliche Art eigen. Die Idee drückt die Individualität Ihres Geistes, der immer in dem Verwirrten das Gesetz aufsucht, und das gefundene Gesetz wieder in scheinbare Verwirrung zu verbergen sucht, sehr treffend aus, und selbst die Bilder, die Sie brauchen, gehören, wie ich mich aus Gesprächen erinnere, zu denen, die Ihnen am geläufigsten sind. Es hat meiner Phantasie, seit ich jetzt von Ihnen getrennt bin, das lebhafteste Bild von Ihnen gegeben und ist mir darum doppelt wert. Im Silbenmaß sind mir ein paar Kleinigkeiten aufgestoßen, deren ich doch erwähnen will, wenn sie auch vielleicht unbegründet, wenigstens unbedeutend sind. Im elften Vers: »Jetzt, jetzt verliert es den« usf., fällt das zweite jetzt, kurz gebraucht, ein wenig hart auf, wie es mir vorkommt. Zwar läßt sich seine Kürze dem Akzent nach verteidigen, da der Gedanke forteilt; aber die Quantität ist so sehr dawider, daß ich glaube, es findet hier eine Ausnahme statt. Vers 17:
Sprich, was | machts, daß in | rastlosem | Wechsel die | Bildungen | schwanken
glaube ich, würde wohlklingender sein, wenn er andere Einschnitte hätte. Endlich haben Sie im vierten und fünften Vers:
Wie sich der leichte Kahn schaukelt auf silberner Flut,
Hüpft der gelehrige Fuß auf des Takts melodischen Wellen usf.
ein Bild im Pentameter angefangen und im Hexameter vollendet. Dies halte ich gegen die Natur dieses Silbenmaßes. Der Pentameter gehört so genau zum Hexameter, daß in ihm nichts Neues anfangen darf, es müßte denn auch wieder in ihm schließen. Das Beispiel der Alten werde ich hierin für mich haben, und auch ohne Rücksicht auf irgendeine Regel, deren ich mich hier so nicht bestimmt erinnere, eilt meine Zunge im Lesen unwillkürlich vom Schluß des dritten Verses zum vierten über, da sie doch nun, dem Sinn nach, innehalten muß.
Der Pegasus hat mich überrascht und ist Ihnen göttlich gelungen. Ich kannte Sie in dieser Gattung noch nicht. Aber die Erzählung eilt sehr leicht und unterhaltend fort, die Schilderungen sind überaus lebendig und charakteristisch, und das Ende von den Worten an: »Kaum fühlt das Tier« usw. ist majestätisch und verrät unverkennbar Ihre Hand. Die Antike ist ein prächtiges Stück. Ihr ernster, scheltender Ton macht eine große Wirkung, und sie erregt eine Menge von Betrachtungen über die Vergangenheit und Gegenwart und die unwiderruflichen Wirkungen der Zeit, die sich in eine Art der Wehmut auflösen. An dem Weltverbesserer hat Freund Fichte etwas zum Vorschmack, bis die Romanze fertig wird. Er ist voll körnigter Weisheit, vorzüglich der Vers: »Wie du im Busen sie trägst« usf., der auch so rund gesagt ist. Der Spruch des Confucius hat mir viel Freude gemacht. Ich liebe diese Sprache in kurzen Sprüchen gar sehr, und Sie haben sie sehr gut getroffen. Unter den Kleinen sind mir für den Inhalt die zwei Tugendwege, der Sämann und das Höchste, für die Diktion die Würden am liebsten. In den letztern überrascht der epigrammatische Sinn. Unter den ersten scheint mir der Ausdruck am meisten im Sämann vollendet...
An Schiller.
Tegel, 21. August 1795.
Wie soll ich Ihnen, liebster Freund, für den unbeschreiblich hohen Genuß danken, den mir Ihr Gedicht gegeben hat? Es hat mich wohin seit dem Tage, an dem ich es empfing, im eigentlichsten Verstande ganz besessen, ich habe nichts andres gelesen, kaum etwas andres gedacht, ich habe es mir auf eine Weise zu eigen machen können, die mir noch mit keinem andern Gedichte gelungen ist, und ich fühle es lebhaft, daß es mich noch sehr lang und anhaltend beschäftigen wird. Solch einen Umfang und solch eine Tiefe der Ideen enthält es, und so fruchtbar ist es, woran ich vorzüglich das Gepräge des Genies erkenne, selbst wieder neue Ideen zu wecken. Es zeichnet jeden Gedanken mit einer unübertrefflichen Klarheit hin, in dem Umriß eines jeden Bildes verrät sich die Meisterhand, und die Phantasie wird unwiderstehlich hingerissen, selbst aus ihrem Innern hervorzuschaffen, was Sie ihr vorzeichnen. Es ist ein Muster der didaktisch-lyrischen Gattung, und der beste Stoff, die Erfordernisse dieser Dichtungsart und die Eigenschaften, die sie im Dichter voraussetzt, daraus zu entwickeln. Ich habe an einzelnen Stellen studiert, zu finden, wie Sie es gemacht haben, um mit der vollkommenen Rundung der Begriffe die höchste poetische Individualität und die völlige sinnliche Klarheit in der Darstellung zu erreichen, und nie hat sich mir die Schöpfung des Genies so rein offenbart als hier. Nachdem ich mir eine Zeitlang Gedanken und Ausdruck durch Räsonnement deutlich gemacht hatte, kam ein Zeitblitz, in dem ich es nachempfand, wie es in Ihnen mußte emporgestiegen sein. Es ist schlechterdings mit keiner Ihrer früheren poetischen Arbeiten zu vergleichen. Die »Künstler«, so vortrefflich sie in sich sind, stehn ihm weit nach, und wenn auch in den »Göttern Griechenlands«, schon durch die Natur des Gegenstandes, eine blühendere und reichere Phantasie herrscht, so stehe ich nicht an, insofern sich beide Stücke, als poetische Produktionen, überhaupt miteinander vergleichen lassen, auch hier diesem den Vorzug zu geben. Es trägt das volle Gepräge Ihres Könnens und die höchste Reife und ist ein treues Abbild Ihres Wesens. Jetzt, da ich vertraut mit ihm geworden bin, nahe ich mich ihm mit denselben Empfindungen, die Ihr Gespräch in Ihren geweihtesten Stunden in mir erweckt. Derselbe Ernst, dieselbe Würde, dieselbe aus einer Fülle der Kraft entsprungene Leichtigkeit, dieselbe Anmut, und vor allem dieselbe Neigung, dies alles, wie zu einer fremden überirdischen Natur in eins zu verbinden, leuchtet daraus hervor. Indes habe ich mich nicht durch seine hohe, überraschende Schönheit zu einem Entzücken hinreißen lassen, das die Prüfung verwehrte. Auch ist es für einen solchen Eindruck nicht gemacht, und schwerlich ergründete der seinen tiefen Sinn, auf den es so wirkte. Man muß es erst durch eine gewisse Anstrengung verdienen, es bewundern zu dürfen; zwar wird jeder, der irgend dafür empfänglich ist, auch beim ersten aufmerksamen Lesen den Gehalt und die Schönheit jeder Stelle empfinden; aber zugleich drängt sich das Gefühl auf, bei diesem Gedicht nicht anders als in einer durchaus verstandnen Bewunderung ausruhen zu können. Ich habe es ganz zu vergessen gesucht, daß es ein Gedicht ist; ich habe den philosophischen Inhalt, den Zusammenhang der Gedanken, die Übergänge von einem zum andern wie in einer Abhandlung zergliedert und geprüft, und ich fühle es deutlich, wieviel meine eigentliche Begeisterung dafür dadurch gewonnen hat. Ich bin allerdings auf Stellen gestoßen, von denen ich mir nicht sogleich deutliche Rechenschaft zu geben wußte. Aber bei wiederholtem Lesen und Nachdenken sind mir alle Zweifel verschwunden; ich glaube jetzt alles zu verstehen, und nur ob eine einzige Stelle nicht noch bestimmter ausgedrückt sein sollte, will ich Ihnen zu bedenken geben. Daß dies Gedicht nur für die Besten ist und im ganzen wenig verstanden werden wird, ist gewiß. Aber wie man es mit dieser Art Undeutlichkeit zu halten hat, darüber sind wir ja längst einig; und zu den Besten ist hier doch jeder zu rechnen, der einen guten, gesunden Verstand mit einem offnen Sinn und einer reizbaren Phantasie verbindet. Zwar haben Sie recht, daß es Bekanntschaft mit Ihren Ideen, besonders mit Ihren Briefen brauchen kann, aber es bedarf ihrer nicht, und ruht in jedem Verstande auf sich selbst. Dasjenige, wodurch die Deutlichkeit außerordentlich befördert wird, ist die Entfaltung in den ersten vier Strophen, die in der Tat zum Bewundern einfach und lichtvoll ist. Von dieser hängt doch alsdann alles übrige schlechterdings ab. Sobald einmal die Hauptidee recht gefaßt ist – und für diese haben Sie auf eine Weise gesorgt, die keinen Zweifel mehr übrig läßt – so muß es jedem leicht werden, sich an ihr durch den Gang des Ganzen durchzufinden. Denn überall ist hernach das Gebiet des Wirklichen dem Gebiet des Idealischen so bestimmt entgegengesetzt, daß bei hinlänglich verweilender Aufmerksamkeit kein Irrtum darüber stattfinden kann. Dennoch sind gerade bei dieser Entgegensetzung die Stellen, bei denen der Ungeübte stehenbleiben wird, und die auch den Geübten verweilen können. Vorzüglich scheinen sie mir in der achten bis zehnten und dann in der dreizehnten und vierzehnten Strophe vorzukommen. In der ersten Stelle bin ich überzeugt, dürfte kein Wort anders stehn, es ist eigentlich da gar keine Dunkelheit. Nicht ebenso gewiß aber möchte ich behaupten, daß dies auch mit der letztern der Fall wäre. Mein ganzer Zweifel beruht nämlich darauf, ob in der dreizehnten Strophe das Gebiet der Schönheit, das ästhetische Reich bestimmt genug angedeutet ist, oder ob die Ausdrücke, vorzüglich der Vers: »in die Freiheit der Gedanken« nicht ein wenig zu allgemein sei. Der Sinn nämlich, denke ich, kann kein andrer als folgender sein: der bloß moralisch ausgebildete Mensch gerät in eine ängstliche Verlegenheit, wenn er die unendliche Forderung des Gesetzes mit den Schranken seiner endlichen Kraft vergleicht. Wenn er sich aber zugleich ästhetisch ausbildet, wenn er sein Inneres, vermittelst der Idee der Schönheit, zu einer höheren Natur umschafft, so daß Harmonie in seine Triebe kommt, und was vorher ihm bloß Pflicht war, freiwillige Neigung wird, so hört jener Widerstreit in ihm auf. Diesen letzten Zustand, dünkt mich, haben Sie nicht bestimmt genug bezeichnet. Zwar sichert teils der Geist des ganzen Gedichts, teils die Stelle: »Nehmt die Gottheit« usw. den sehr aufmerksamen Leser, nicht in ein Mißverständnis zu verfallen; aber, und dies sollte doch sein, er wird nicht genötigt, nur allein den rechten Sinn aufzufassen, er kann sich doch bei dieser Strophe noch immer bloß das denken, was Kant in seiner Sprache »einen guten, reinen Willen erlangen« nennt, und was Sie doch hier nicht meinen. Auch haben Sie in allen andern Stellen, wo die ähnliche Gedankenfolge war (Strophe 10, 12, 16), die Schönheit entweder selbst genannt oder doch ganz bestimmt bezeichnet. Wieviel gäbe ich darum, wenn ich mit Ihnen hierüber und über das Ganze reden, wenn ich es von Ihnen vorlesen hören könnte! Auf wie viele Stellen würden wir dann noch stoßen, die eine wirklich unnachahmliche Schönheit haben und wo man es nicht satt wird zu bewundern, wie unendlich eins der Ausdruck mit dem Gedanken ist. Gleich die schöne Kürze der Exposition in der ersten Strophe: »Zwischen Sinnenglück« usw., die herrliche Anwendung der Fabel von der Proserpina, die göttliche Schilderung der Gestalt, die ganzen beiden Strophen »Wenn das Tote« usw. und vor allem die bewundernswürdige Leichtigkeit in den Versen: »Nicht der Masse« usw., die Erhabenheit in der Stelle: »Nehmt die Gottheit auf« usw. und endlich der prächtige Schluß, der den Eindruck, den das ganze Gedicht auf die Seele macht, noch einmal und doppelt stark wiedergibt. Bewundernswürdig ist es auch, wie Sie, ungeachtet des einfachen trochäischen Silbenmaßes (was aber zu dieser Gattung überaus passend ist), doch den Gedanken auf eine so ausdrucksvolle Weise mit dem Silbenfalle begleitet haben. Vorzüglich sichtbar ist dies in dem Vers: »Schweres Traumbild sinkt und sinkt und sinkt« und in der ganzen Strophe: »Wenn es gilt zu herrschen« usw. Auch auf kleinere Flecken habe ich achtgegeben, aber doch nur wenige und unbedeutende gefunden, deren ich indes doch erwähnen will, weil Sie es zu wünschen scheinen. Strophe 2: Strahlen scheibe ist wohl nicht eigentlich gebraucht. Soviel ich glaube, braucht man es nur für Flächen, und der Vollmond ist allerdings eine vollkommen erleuchtete Strahlen scheibe, wenn auch die andere Hälfte des ganzen Mond körpers dunkel bleibt. Strophe 4: eignet absolut und ohne Akkusativ des Objekts ist zwar schwerlich dem Sprachgebrauch gemäß, scheint mir aber eine sehr zweckmäßige Spracherweiterung. Die Angst des Irdischen ist ein prächtig gewählter Ausdruck. Kein andres Wort könnte alles, was Sie hier sagen wollen, so treu und unmittelbar ans Gefühl legen. Strophe 6: Skla ve, schla fe. Strophe 7: sty gschen. Strophe 8, 16: duf tgen. Strophe 11: Ner ve, unterwer fe. Strophe 13: trau rger. Strophe 17: umarmt' den; Acheront schen will gen. Daß Sie dies Gedicht den Horen geben, ist sehr gerecht. Es schickte sich nicht einmal für einen Almanach. Freilich aber ist die Armseligkeit so groß, daß, wenn man nicht auf Nachbeterei, auf den Eindruck, den der Gebrauch einiger mythologischer Figuren macht und auf die Wirkung des so wohlklingenden Rhythmus rechnen will, man sich keine außerordentliche Aufnahme eines solchen Gedichts versprechen darf. Aber auch nur auf die äußern Umstände Rücksicht zu nehmen, zeigen Sie wenigstens, daß Sie für die Horen tun, was nur irgendein Schriftsteller leisten kann. In drei verschiedenen Gestalten treten Sie nun schon im ersten Jahre auf, und mit welchen Produkten! Bleiben Sie aber ja bei dem Entschluß, in den nächsten Monaten bloß zu dichten. Es gibt doch nichts so Bezauberndes als die Werke des dichterischen Genies. Nur sie scheinen eigentliche Produktionen, nur sie Werke, die, für sich bestehend, auf die Nachwelt gelangen können. Alles Philosophierende scheint man sich eher als auf eine mechanische Weise (durch Entwicklung, Trennung, Verbindung) entstanden denken zu können; es gleicht mehr einer bloßen Übung, einer Vorbereitung des Kopfs, es ist mit einem Wort nicht so in sich vollendet, nicht so ein eignes Individuum wie ein Kunstwerk .. Leben Sie wohl, lieber teurer Freund. Die Li grüßt Sie und Lolo herzlich. Sie wird das Reich der Schatten bald auswendig wissen. Sie glauben nicht, welchen Genuß Sie uns geschenkt haben.
An Schiller.
Tegel, 31. August 1795.
Ich danke Ihnen herzlich, liebster Freund, für Ihren letzten interessanten Brief. Unser jetzt so lebhafter Briefwechsel macht mir eine unendliche Freude und knüpft mich fast allein noch an eine intellektuelle Tätigkeit an; so leer ist es hier an Menschen, die nur irgend im gedanklichen Gespräch Befriedigung gewähren könnten, und so mannigfaltig sind die Zerstreuungen, die mich vom einsamen Umgang mit mir selbst und der Li abhalten. Es hat uns sehr geschmerzt zu sehen, daß es mit Ihrer Gesundheit noch so gar nicht besser geht. Ich bewundre, daß es Ihnen möglich ist, dabei eine so schöne und fruchtbare Geistesstimmung zu bewahren, als Ihre Arbeiten durchaus verraten. Auch die letzten haben mich sehr angenehm beschäftigt, und wenn, wie Sie einmal äußern, die Freundschaft sich in mein Urteil einmischt, so geschieht es, ohne daß ich es selbst weiß. Ich weiß zu gut, daß ich mich überall in der Kritik zu leicht zum Beifall hinreißen lasse, als daß ich mich nicht jedesmal mit Fleiß zu einer größeren Strenge stimmen sollte.
Die Ideale tragen das Gepräge der Stimmung an sich, in der sie, wie Sie mir schreiben, entstanden. Eine Wehmut, die sich in Ruhe aufgelöst hat, ist über das Ganze verbreitet, und die glänzenden und lebendigen Gestalten, welche die erste Hälfte aufstellt, tun eine sehr gute Wirkung. Auch sind einzelne Stellen überaus glücklich. Dennoch hat dies Gedicht, ich weiß noch selbst nicht recht warum, nicht ganz den Eindruck auf mich gemacht als Ihre übrigen Stücke, und die Li hat mir dasselbe von sich gesagt. Ich bin es einzeln und sehr genau durchgegangen und wüßte nichts, was ich, unbedeutende Kleinigkeiten abgerechnet, tadeln könnte. Auch die strengste Kritik muß gewiß gestehen, daß es ein sehr schönes Stück ist, und ebendies sagt mir auch mein Gefühl. Nur vermisse ich die gedrängte Fülle, den Schwung, den raschen Gang, mit einem Wort den eigentümlichen Charakter, an dem ich auch unter lauter Meisterwerken doch Ihre Arbeit leicht erkennen würde. Freilich rührt dies wohl von dem Gegenstand selbst her, und insofern dies ganz der Fall ist, entspringt der Eindruck, den es auf uns machte (wie auch sehr wohl möglich ist), aus einer einseitigen Beurteilung. Nur ob jene Vorzüge auch mit diesem Stoff zu vereinen waren, darin bin ich zweifelhaft, und nur auf diese Möglichkeit gründet sich meine Kritik. Wie es da ist, scheint mir die Wirkung weniger auf seinen dichterischen Vorzügen als auf dem Interesse zu beruhen, welches eine so menschliche und das Gefühl so stark ergreifende Stimmung notwendig mit sich führt. Es hat unleugbar, wie auch der Eindruck auf Goethe beweist, etwas sehr Rührendes; ich zweifle nur, ob dies Rührende nicht auf eine zu überwiegende Weise aus dem Stoff und weniger aus der Form entspringt. Es hat einen so nahen Bezug auf Sie, die Empfindung ist so schön und natürlich, der Ausdruck so wahr, daß meinem Herzen kein anderes Stück Ihrer Hand eigentlich so wert ist. Auch unterscheidet es sich dadurch gar sehr von Ihren übrigen. Überall ist das Gefühl soviel sichtbarer als die Phantasie. Nur ob dieser Eindruck ganz rein ist, ob das Gefühl, so wie es der Kunst eigen ist, durch die reine Form oder auf einem unmittelbarern Wege zugleich rege gemacht wird, das ist die Frage, und wenn meine Kritik irgend begründet ist, so glaube ich, muß es hierin liegen. Über keines Ihrer Gedichte ist mir das Urteil so schwer geworden, und doch, wie ich selbst fühle, so mißraten. Ich stehe in einem Streit mit mir selbst; aber ich wollte Ihnen den Eindruck auf mich doch wenigstens historisch erzählen, wenn ich auch nicht davon Rechenschaft zu geben wußte. Was Sie mir von Ihrem Aufenthalt in Stuttgart sagen, bestätigt meine eigne Erfahrung an Ihnen vollkommen und hat mich darum doppelt gefreut. Gewiß ist Ihre Geistesform jetzt auf ewig bestimmt. Ich weiß niemand, auf dessen Unveränderlichkeit ich so fest bauen möchte als auf die Ihrige, aber es ist noch mehr als das. Bei jedem bringen Zeit und Umstände etwas Ähnliches hervor; bei Ihnen hat sich zu beiden der Wille gesellt, und darum ist diese Erscheinung in Ihnen so ganz aus Ihrem Charakter entstanden und so ganz auf ihn zurückwirkend. Auch glaubte ich immer seit Ihrer Zurückkunft nach Jena eine gewisse Änderung an Ihnen zu bemerken. Alles Beste von sonst fand ich wieder und erhöht; aber außerdem eine so gleichmäßige, aus Ihrem ganzen Selbst entsprungene Ruhe und Milde, daß beide außerdem, daß sie Ihre innre Zufriedenheit notwendig erhöhen, einen unbeschreiblich wohltätigen Einfluß auf den Umgang mit Ihnen verbreiten. Denn gerade das schätze ich so sehr, daß durch Ihre ernste Wahrheitsliebe weder die Milde, noch durch diese jene verliert. Die beiden letzten Strophen, und vorzüglich die letzte, schildern auf eine überaus eigentümliche Art Ihr Leben und Ihre Eigenart, diese fortwährende Geistestätigkeit, die keiner Schwierigkeit erliegt, nie ermüdet, wie langsam auch der Fortschritt sei, und endlich immer zum Ziel gelangt. Zu den schönsten und in der Tat ganz gelungenen Stellen Ihres Gedichts möchte ich die beiden Strophen von: »Wie einst mit flehendem Verlangen« usw. an, und besonders die letzte Hälfte der hernach folgenden rechnen. Sehr dichterisch und malerisch ist auch die: »Wie leicht ward er dahin getragen« usw. Ein wenig hart ist mir der Vers: »Ein reißend bergab rollend Rad« vorgekommen; statt Minne hätte ich Liebe gewählt, das erstere scheint mir mehr spielend als ernst und dem Geist dieses Stücks weniger angemessen; für Beschäftigung hätte ich ein anderes Wort gewünscht. Ist es nicht zu prosaisch und schon Tätigkeit lebendiger und mehr poetisch? Freilich aber drückt das erstere Ihren Gedanken passender aus.
Natur und Schule liebe ich sehr. Da die so natürliche Frage schon an sich so oft aufgeworfen wird und die Lage der Zeit selbst die Beantwortung noch notwendiger macht, so kann es ihr auch an allgemeinem Interesse nicht fehlen, und die Antwort ist zu einfach, um nicht ohne Mühe verstanden zu werden. Es lag wahrscheinlich nicht in Ihrem Plan, sonst hätte ich gewünscht, Sie hätten die Idee weiterverfolgt und wären auf die Fragen gekommen, ob die Dauer einer solchen natürlichen zweifellosen Unschuld wahrscheinlich oder nur möglich ist; was sie verbürgt; wozu eigentlich der Mensch als Mensch bestimmt ist? Die Behandlung wäre in einem Gedicht nicht leicht gewesen, hätte aber doch zu sehr poetischen gegeneinander stehenden Gemälden Anlaß gegeben. Die Trockenheit, die allerdings, wie Sie sagen, dem Stoff Ihres Gedichts eigen sein mag, haben Sie ihm durch die Behandlung gänzlich genommen. Die Schilderung der Natur ist sehr schön und anziehend, und auch die finstere Schule malt Ihre Hand der Phantasie in großen und prächtigen Bildern. Das Ganze paßt aber allerdings mehr für die Horen als für den Almanach.
Der spielende Knabe ist überaus schön, so lieblich und zart und so sehr charakteristisch. In der Ilias ist ein großer und sogar so historisch wahrer Gedanke sehr glücklich ausgedrückt, und ein sehr schönes Epigramm im griechischen Sinn ist das Wiegenkind. Bei diesen Ihren Kleinigkeiten ist mir die Vergleichung mit den ähnlichen Herderschen auffallend. So trefflich die letztern auch größtenteils sind, so vermisse ich doch etwas, das die Ihrigen auszeichnet. Fast nirgends ist der Gehalt so gediegen, die Diktion so rund und kurz, das Ganze so stark und vollendet.
Heliopolis hat mir viel Vergnügen gemacht, und ich begreife nicht, wie Herder den Sinn so mißverstehen konnte. Für mich liegt eine große und wichtige Wahrheit darin. Die Erfindung paßt sehr gut dazu, und die Erzählung ist sehr poetisch. Hätten Sie ihr, ohne zu großen Aufwand von Zeit und Mühe, noch den Reiz des Reims geben können, so hätte ich es freilich noch vorgezogen. Indes dient selbst dies zur Mannigfaltigkeit, die jetzt, dem Gehalt und der Form nach, unter Ihren Beiträgen sehr groß ist.
... Unter dem gleich Guten gefällt einem das Gleichartigste mit uns selbst am meisten. Mir z. B. sind die Ideale zu sehr auf die wirkliche Empfindung gerichtet, Natur und Schule zu sehr auf den Gedanken. Ich fühle darum recht gut, und ein neulicher Brief hat es Ihnen ausführlicher gesagt, das Dichterische darin und bin weit entfernt, ihm daraus den mindesten Vorwurf zu machen. Aber die Macht des Gesanges berührt gerade die Seite, auf die es mir immer eigen ist, vorzüglich gerichtet zu sein. Sie berührt die innerste und unergründliche Natur des Menschen, den unbegreiflichen Übergang und Zusammenhang des Gedankens und der Empfindung und versetzt das Gemüt in eine gewisse unruhige Spannung. Insofern es nach Ihrer trefflichen Bestimmung der Charakter des Dichterischen ist, auf die Einbildungskraft zu wirken und dieselbe in ihrer Freiheit zu bestimmen, so sind gewiß alle drei Stücke gleich dichterisch. Alle bestimmen mit Notwendigkeit, und bei allen behält sie ihre Freiheit. Aber scheinbar ist vielleicht diese Freiheit mehr und minder groß. In Natur und Schule wird die Einbildungskraft bestimmt, auf eine dem Verstand ähnliche Art zu wirken, in den Idealen auf eine der wirklichen Empfindung ähnliche, in der Macht des Gesanges aber in einem Grade, wie vielleicht der Gegenstand keines andern Gedichts erlauben würde, allein auf die ihr ausschließend eigentümliche. Denn darin besteht ja das eigentliche Wesen der Einbildungskraft, noch das Unvorstellbare vorstellen, das Unverträgliche zugleich festhalten, das Unmögliche möglich machen zu wollen. Je mehr sie aber Gedanken und Empfindungen produzieren soll, je leichter kann sie wieder frei scheinen, weil Verstand und Empfindung es sind, die ihr sonst Fesseln anlegen und ihren Flug hemmen. Sie sehn, lieber Freund, daß ich unsere Briefe wie unsere Gespräche behandle. Ich schreibe hin, was mir gerade einkommt. Sehn sie zu, ob sich aus diesen Gedanken etwas machen läßt; mir kommt es vor, als ließe sich aus einem solchen Schein die verschiedene Wirkung desselben Kunstwerks besser erklären...
An Schiller.
Tegel, 16. Oktober 1795.
... Jetzt kann ich ein Resultat ziehen: Den schönsten und Ihrer am meisten würdigen Kranz bietet Ihnen die dramatische Gattung, aber nur innerhalb gewisser Grenzen, vorzüglich in der einfachen heroischen Gattung, einen leichteren und in einem weiteren Umfange die epische dar.
Mein Wunsch kann hiernach nur die Maltheser treffen. Sie sind eine sehr glückliche Wahl für die Gattung überhaupt und für den Augenblick insbesondere. Denn an sich ist der Wallenstein freilich bei weitem größer und tragischer, und auch ganz gewiß in dem Kreise, für den Sie bestimmt sind. Auch muß ich darum dazu raten, weil ich überzeugt bin, daß die romantische Erzählung doch immer gewiß ist und uns nicht entgeht; dahingegen der erste Versuch, den Sie wieder im Dramatischen wagen, mehr Hindernisse finden muß. Im Philosophischen und Poetischen der Gattung, in der Sie jetzt arbeiten, haben Sie nun auf eine bewundernswürdige Weise gezeigt, daß Sie die Vollendung jeder Arbeit, wie ein Maler jede Zeichnung, in Ihrer Gewalt haben. Zeigen Sie es auch hier. Ihr Genie scheint Ihnen, auch den ungünstigsten Umständen zum Trotz, einmal keinen Dienst zu versagen – eine Betrachtung, die mich oft rührt. Wer ein so reges geistiges Leben hat, scheint der Erde wenig mehr schuldig zu sein. Allein freilich muß auch eben diese größere Schwierigkeit der Maltheser sehr sorgfältig mit auf die Wagschale gelegt werden. Sie müssen genau prüfen, ob Sie hoffen dürfen, genug innere Stimmung und äußere Muße zu haben, um ein so mühsames Werk, als ein solches Schauspiel ist, zu vollenden. Unterbrochen dürfte es nicht werden. Wäre dies zu fürchten, so wählte ich an Ihrer Stelle die Erzählung. Diese empföhle sich allerdings gar sehr dadurch, daß Sie damit einen gewissen Kreis vollendeten, Universalität erreichten. Aber die Erzählung bleibt Ihnen gewiß und jener Rücksicht, die mehr für das Publikum ist – denn Sie und wer Sie kennt, weiß auch, daß Sie jener Universalität fähig sind –, läßt sich auch die andre entgegensetzen, daß es des Spaßes wert wäre, durch ein neues Schauspiel die Menschen, die über Ihren dramatischen Charakter so bestimmt scheinen, ein wenig konfus zu machen ...
An Schiller.
Tegel, 23. Oktober 1795.
Ihre Elegie, liebster Freund, hat mich zu sehr gefesselt, als daß ich es mir nicht, da Sie mir kein baldiges Zurückschicken empfohlen hatten, hätte vergönnen sollen, sie länger zu behalten, um sie ganz zu studieren und mich mit jedem einzelnen Teil genau bekannt zu machen. Wohin man sich wendet, wird man durch den Geist überrascht, der in diesem Stücke herrscht; aber vorzüglich stark wirkt das Leben, das dies unbegreiflich schön organisierte Ganze beseeltDie Elegie heißt nunmehr: Der Spaziergang.). Ich gestehe offenherzig, daß unter allen Ihren Gedichten, ohne Ausnahme, dies mich am meisten anzieht und mein Inneres am lebendigsten und höchsten bewegt. Es hat den reichsten Stoff und überdies gerade den, der mir, meiner Ansicht der Dinge nach, immer am nächsten liegt. Es stellt die veränderliche Strebsamkeit des Menschen der sicheren Unveränderlichkeit der Natur zur Seite, führt auf den wahren Gesichtspunkt, beide zu übersehen, und verknüpft somit alles Höchste, was ein Mensch zu denken vermag. Den ganzen großen Inhalt der Weltgeschichte, die Summe und den Gang alles menschlichen Beginnens, seine Erfolge, seine Gesetze und sein letztes Ziel, alles umschließt es in wenigen, leicht zu übersehenden und doch so wahren und erschöpfenden Bildern. Das eigentliche poetische Verdienst scheint mir in diesem Gedicht sehr groß; fast in keinem Ihrer übrigen sind Stoff und Form so miteinander amalgamiert, erscheint alles so durchaus als das freie Werk der Phantasie. Vorzüglich schön ist die Mannigfaltigkeit der verschiedenen Bilder, die es aufstellt. Im Anfang und am Schluß die reine und große Natur, in der Mitte die menschliche Kunst, erst an ihrer Hand, dann sich allein überlassen. Das Gemüt wird nach und nach durch alle Stimmungen geführt, deren es fähig ist. Die lichtvolle Heiterkeit des bloß malenden Anfangs ladet die Phantasie freundlich ein und gibt ihr eine leichte, sinnlich angenehme Beschäftigung; das Schauervolle der darauf veränderten Naturszene bereitet zu größerem Ernst vor und macht das Erscheinen der offnen Ferne, gleichsam den Eintritt in die Welt, noch überraschender. Mit dem Menschen tritt nun die Betrachtung ein. Aber da er noch in großer Einfachheit der Natur getreu bleibt, braucht sich der Blick nicht auf viele Gegenstände zu verbreiten. Allein der ersten Einfalt folgt nun die Kultur, und die Aufmerksamkeit muß sich auf einmal auf alle mannigfaltigen Gegenstände des gebildeten Lebens und ihre vielfachen Wechselwirkungen zerstreuen. Der Blick auf das letzte Ziel der Menschen, auf die Sittlichkeit, sammelt den herumschweifenden Geist wieder auf einen Punkt. Er kehrt bei der Verwilderung des Menschen zur rohen Natur wieder in sich zurück und wird getrieben, die Auflösung des Widerstreits, den er vor Augen sieht, in einer Idee aufzusuchen. So entlassen Sie den Leser, wie Sie ihn am Anfang durch sinnliche Leichtigkeit einluden, am Schluß mit der erhabenen Ruhe der Vernunft.
Bei dem ersten Lesen ist es schwer, das Ganze zu übersehen. Sogar beim zweiten habe ich dies noch gefunden, und leicht dürften einige auch bei noch öfter wiederholtem Lesen dies Urteil fällen. Anfangs schien es mir wirklich, als läge hierin ein Fehler in Ihrer Arbeit, als wären Sie zu ununterbrochen mit Schilderungen fortgegangen und hätten nicht genug dafür gesorgt, die zerstreute Phantasie wieder zu sammeln, jedes einzelne Bild in wenige einzelne Züge zusammenzustellen. Allein bei genauerer Untersuchung muß ich dies Urteil gänzlich zurücknehmen, das bloß subjektiv war. Alles ist im höchsten Grade klar, unglaublich schön, und freiwillig fließt eins aus dem andern her, und mit der größten Deutlichkeit durchschaue ich jetzt die herrliche Organisation dieser eignen Welt. Ich wähle diese beiden Ausdrücke hier nicht umsonst, ich weiß kein Gedicht, bei dem sie so an ihrem Orte ständen. Da, wo sich die Kultur an die erste Einfachheit anschließt, ist der Übergang: »Aber wer raubt mir auf einmal« usw. allerdings abgebrochen; aber dies vermehrt, dünkt mich, sehr die poetische Bewegung und die lyrische Wirkung. Jedes einzelne Bild für sich ist äußerst charakteristisch. Nur einmal bin ich angestoßen. Es ist eine der schönsten Stellen des Gedichts, wo Sie der »länderverknüpfenden Straße« gedenken. Auch bei mir haben sich von jeher an eine Landstraße so viele Ideen gereiht, und Sie erinnern sich vielleicht, daß wir einmal auf einem Spaziergang weitläufig davon redeten. Aber gehört die Straße wohl recht in dies Zeitalter zwar nicht ganz ursprünglicher, aber doch immer sehr früher Einfalt, und hätten Sie sie nicht besser in das folgende gebracht, das erst den Handel und den Krieg kennt, die beiden vorzüglichsten Mittel der Länderverknüpfung? Mir ist es um so mehr aufgefallen, da Sie mir in dem gleich darauffolgenden Verse nicht ohne Absicht und mit großem Recht »Flöße« statt Schiffe gewählt zu haben schienen. Und doch ging die Seekommunikation der Landkommunikation noch voraus.
Die Schönheiten der Diktion im einzelnen erreichen ganz und gar die Größe der Anlage des Ganzen. Jeder Ausdruck gibt ein schönes Bild, und die meisten einzelnen Distichen laden zu einem eignen Studium ein. Vorzüglich sind mir einige Bilder und Beiwörter aufgefallen, die zugleich Neuheit und Schönheit auszeichnet, das »energische Licht«, des Schmetterlings »zweifelndem Flügel«, die Vergleichung der begrenzten Äcker mit einem Teppich Demeters, die Beschreibung der Spindel, des Brückenbogens. Andre Stellen zeichnen sich durch Tiefe des Sinns und die Wahrheit der Empfindung, welchen beiden der Ausdruck so herrlich sich anpaßt, aus. So »Enger wird um ihn usw. – Welt«. »Sucht das vertraute Gesetz – Flucht«, »es irrt selbst in dem Busen der Gott«. »Weit von dem Menschen fliehe der Mensch – besteht«. Dann die Kühnheit des Verses: »Hängt nur der Adler und knüpft an das Gewölke die Welt« und die unnachahmliche Kürze dieses: »und in der Asche der Stadt sucht die verlorne Natur«. Zweifel sind mir nur sehr wenig eingefallen ...
An Schiller.
Tegel, den 6. November 1795.
... Sie scheinen mich in meiner Vergleichung Ihrer und der griechischen Eigentümlichkeit nicht ganz richtig verstanden zu haben. Sie scheinen zu glauben, daß ich Sie von den Griechen sehr weit entfernt und diese Entfernung für einen Mangel an echtem Dichtergeist halte, und keins von beiden ist meine Meinung. Die Gründe, die Sie anführen, beweisen allerdings eine überaus große Verwandtschaft Ihres Geistes zu dem griechischen, und ich denke, wir haben auch schon sonst miteinander davon gesprochen, daß Sie vielleicht weniger fein und richtig über die Griechen denken würden, wenn Sie sie selbst griechisch zu lesen gewohnt wären. So weit bin ich entfernt, die eigentliche Sprachkenntnis auch nur zu einem sehr wichtigen Maßstab der Vertraulichkeit mit dem Geiste der Griechen zu machen, und Goethe und Herder, die beide nur sehr mäßig Griechisch wissen, sind hier redende Beweise. Das aber, wodurch Sie den Griechen so verwandt sind, ist die reine Genialität, der echte Dichtergeist. Dieser ist – dafür bedarf es keiner weiteren Zeugnisse – in Ihnen, wie in den Griechen, nur freilich auf eine ganz andre Weise und durch andre Nahrung gestärkt. In Ihnen nämlich ist außer diesem ersten und wesentlichen Bestandteil des Dichtergenies noch ein andrer mehr, den ich am kürzesten mit Ihnen Geist nennen kann, der Sie aber (wenigstens nicht notwendig, wenn auch hier und da zufällig) ganz und gar nicht hindert, zugleich ganz, nur nicht bloß Natur zu sein. Diesen Charakter, sagen Sie, teilen Sie mit allen Modernen, und hierin bin ich ganz und gar Ihrer Meinung; nur ist diese Eigentümlichkeit in Ihnen erstens stärker als sonst irgendwo, darum sind Sie, wenn ich so sagen darf, der modernste; zweitens reiner (vom Zufälligen am meisten gesondert), und darum nähern Sie allein, unter allen mir bekannten Dichtern, sich den Griechen, ohne doch, um wieder mit Ihnen zu reden, nur einen Schritt aus dem den Neuern eigentümlichen Gebiete herauszugehn.
In allen griechischen Gedichten, ohne Unterschied der Gattung und der Zeit, herrscht ein Geist. Die Abweichungen davon sind nicht bedeutend, und wir rechnen sie nicht mit, wenn wir nicht in historischer, sondern in kritischer und ästhetischer Hinsicht von griechischem Charakter reden. Diesen glaube ich vollkommen erschöpfend ausdrücken zu können, wenn ich sage: alle griechischen Dichterprodukte tragen, unbeschadet dessen, daß sie echte Früchte des Genies sind, das Gepräge und den Charakter der Empfänglichkeit an sich – wenn Sie mir erlauben, mich auf eine noch so dunkle, nur Ihnen verständliche Weise auszudrücken. Bei jeder Produktion des Genies muß die Selbsttätigkeit die Empfänglichkeit überwiegen. Es ist sonst keine Bearbeitung des Stoffes möglich, und daher leite ich es ab, daß der eigentlich weibliche Charakter, so sehr er auch vorzugsweise Genialität besitzt, doch schlechterdings seiner Natur nach das echte produktive Genie ausschließt. Dies notwendige Übergewicht der Selbsttätigkeit ist daher auch in den Griechen in einem sehr hohen Grade sichtbar. Allein außer diesem Übergewicht lassen sich mannigfaltige Modifikationen des Verhältnisses der Empfänglichkeit zur Selbsttätigkeit denken, und auf diese, glaube ich, müssen die wesentlichsten Verschiedenheiten des Dichter- und des Künstlergenies zurückgeführt werden, wenn man erschöpfend verfahren will. Bei den Griechen fällt es zuerst ins Auge, daß sie ganz und unaufhörlich den Eindrücken der äußern Natur auf sie offen waren, daß alles, was sie empfanden, sie lebendig bewegte, daß sie es aber nicht bloß zuerst treu aufnahmen, sondern auch, ungeachtet der Stärke ihrer Rührung, dennoch so angemessen darauf zurückwirkten, daß sie die eigentümliche Gestalt desselben nur sehr wenig veränderten, überhaupt hatte die Einwirkung der Natur um sie her sie gänzlich gebildet, ihre Phantasie, ihr Geist, ihre Empfindung verriet diesen Einfluß, ihr ganzes Innere war ein treuer Spiegel der Natur, und wie diese daher auf sie einwirkte, so wirkte ihre Selbsttätigkeit wieder zurück. Hieraus, vorzüglich wenn Sie zugleich an die milde und lichte, reiche und große Natur denken, die sie umgab, entspringen alle ihre Vorzüge und Mängel. Unter den ersten lassen Sie mich jetzt mit Übergehung der allgemeinen, hier der Klarheit, der Ruhe und des würdigen Anstandes gedenken, die in allem echt Griechischen überall vorwalten. Die Klarheit entfernt alles Finstere, Melancholische, Dunkle, Wilde, Verworrene; daraus und aus der Ruhe entspringt der Mangel alles eigentlich Schwermütigen, die Festigkeit in der Betrachtung auch der fürchterlichsten Schläge des Schicksals und die milde Heiterkeit, die ihren epischen und lyrischen Stücken so eigen und selbst den tragischen nicht fremd ist. Den Anstand endlich, gleichsam die Nemesis halte ich für das am meisten Charakteristische, und auf alle diese Eigenschaften zugleich wird sich der gängige Begriff griechischer Größe, Einfalt und Würde zurückführen lassen. Diese Eigenschaften nun erkläre ich nicht gerade aus eben diesen Eigenschaften in der Natur, da diese vielmehr jede Gestalt annimmt, welche ihr die Empfindung gibt; aber sie erklären sich, dünkt mich, von selbst, aus einer Geistesstimmung, in welcher das Anschauungsvermögen und die produktive Einbildungskraft herrschen, doch gegenseitig dergestalt aufeinander einwirken, daß das erstere den Stoff schon, indem es ihn aufnimmt, für die letztere vorbereitet, diese ihn aber nicht willkürlich, sondern auf eine dem erstern angemessene Weise bearbeitet; in welcher daher Wahrheit und Dichtung sich immer das Gleichgewicht halten, und wenn auch die letztere die Oberhand behält, doch immer die erstere mit ausgezeichneter Schonung behandelt. Weil aber diese Wahrheit doch nur eine sinnliche und äußere ist, und weil die Form des Geistes selbst weit mehr durch äußere Einwirkung von selbst gebildet als durch innere Tätigkeit ausgearbeitet ist, so entsteht daher unleugbar eine gewisse Dürftigkeit – der einzige, aber auch ein wesentlicher Mangel der Griechen. Sie haben Größe und Tiefe der Ideen, in späteren Zeiten (Euripides) auch Scharfsinn und Feinheit des Räsonnements; aber nicht den fruchtbaren Geistesgehalt, in dem Mannigfaltigkeit sich mit Tiefe gattet; sie haben starke und erhabne und sanfte und zarte Empfindungen, aber nicht die fein und mannigfaltig ausgebildete, die von Selbstbeschäftigung zeugt und schon im Ossian herrscht; sie haben festgezeichnete und trefflich gehaltene Charaktere, aber lauter einfache, keine von großer Eigenart. Daher tun sie auch mehr in Gruppen, als einzeln betrachtet, Wirkung, wie denn bei den Griechen sich, ebenso wie in der Natur, alles augenblicklich gruppiert. Überhaupt ist die griechische Poesie in einem noch ganz andern Sinn, als wir es gewöhnlich nehmen, sinnlich. Jedes poetische Stück muß eine Empfindung, ein Bild geben. Daher sind die noch übrigen griechischen Romane, möchten sie auch ebenso vortrefflich sein, als sie mittelmäßig sind, mit ihrer poetischen Prose in hohem Grade ungriechisch. Soviel von den Alten. Nach Ihrem Briefe zu urteilen, müssen unsre Ideen sehr übereinstimmend sein. Einen sehr wesentlichen Dienst erzeigten Sie mir aber, wenn Sie auch das Einzelne prüften. Ich setze in dieser Absicht nur noch hinzu, daß ich als Quellen und Muster des griechischen Geistes eigentlich und im strengsten Verstande nur den Homer, Sophokles, Aristophanes und Pindar anerkenne. Alle übrigen (Hauptdichter versteht sich) zeigen ihn minder einfach und rein.
Ich setze von den Neuern bloß nur so viel hinzu. In ihnen allen ist nicht jene Offenheit der Sinne, jenes ruhige Anschauen; die innere, nach mannigfaltigen Richtungen ausgebildete Geistesform ist auf eine hervorstechende Weise sichtbar. Daher ihr größerer Gehalt; daher aber auch ihre große Verschiedenheit untereinander, da diese Richtungen zufällige und nationale Gründe haben. So ist bei den Italienern und Engländern eine ausschweifende Phantasie, bei den erstern eine mehr üppige und sinnliche, bei den letztern eine mehr tiefe und schwärmende. Bei den Deutschen ist Geistes- und Empfindungsgehalt hervorstechend, und in Ansehung des letztern ist Goethe vorzüglich in seinen weder dem griechischen noch dem englischen Theater nachgeahmten Stücken, dem Egmont, Werther, Faust, Tasso, unstreitig original. In Ihnen endlich, lieber Freund, ist freilich der Gedankengehalt überwiegend, aber mit Unrecht würde man Sie darauf einschränken. Wenn ich mir Ihre Eigentümlichkeit, ohne alle die mannigfaltigen Hindernisse, welche Zeit, Gesundheit, Studium und Sprache Ihnen entgegensetzen, denke, so ist Ihre Geistesform reiner und notwendiger als irgendeine andere gestimmt, und dadurch glaube ich den paradox scheinenden Satz rechtfertigen zu können, daß auf der einen Seite Sie, da Ihre Produkte gerade das Gepräge der Selbsttätigkeit an sich tragen, das gerade Gegenteil der Griechen, und ihnen doch unter allen Modernen wiederum am nächsten sind, da aus Ihren Produkten, nächst den griechischen, am meisten die Notwendigkeit der Form spricht, nur daß Sie dieselbe aus sich selbst schöpfen, indem die Griechen sie aus dem Anblick der gleichfalls in ihrer Form notwendigen äußern Natur nahmen. Daher denn auch die griechische Form mehr dem Sinnenobjekt, die Ihrige mehr dem Vernunftobjekt gleicht, obgleich jene auch am Ende auf einer Vernunftnotwendigkeit beruht und Ihre auch natürlich zu den Sinnen spricht. Allein sich diesem Ihren Ideal zu nähern, muß Ihnen ungleich schwerer werden, und es war daher wohl keine unrichtige Idee, die uns manchmal beschäftigt hat, daß Sie gleichsam Kant und Goethe miteinander verknüpfen. Gerade durch diese Verknüpfung würde der höchste Dichterkranz zu erringen sein...
An Schiller.
Berlin, 16. Juli 1796.
... Ich fühle deutlich und bestimmt (nicht etwa bloß durch Selbstliebe oder zu günstige Urteile von Freunden verleitet), daß mir eine Art, die Dinge anzusehn, eigentümlich ist, die es interessant und heilsam wäre, an wichtigen und sorgfältig ausgeführten Beispielen aufzustellen, damit auch andre sie prüfen und beurteilen könnten. Ich fühle, daß dieser Weg, den ich für mich gehe, mich hier und da, wenngleich selten, auf neue Gedanken, öfter aber doch auf neue Verbindungen schon bekannter führt; und dennoch, so oft ich mich nun wirklich ans Werk setze, verschwindet während der Arbeit mein Mut, und ich weiß nicht genau, ob vorher oder nachher, auch die Kraft noch, die ich anfangs zu besitzen glaubte. Eben dies erfahre ich noch jetzt. Seit dem Mai lebe ich, wenn ich abrechne, daß ich sehr oft den halben Tag durch Reisen nach Tegel verliere, in einer so ungestörten Ruhe, in einer so totalen Abgeschiedenheit von allen Menschen, die wenigen ausgenommen, die zu mir kommen, daß einer meiner Bekannten, dem ich gestern zufällig begegnete, mir in allem Ernste versicherte, daß er mich schlechterdings jetzt schon in Rom geglaubt hätte. Da es mir auch an Büchern nicht fehlt, so kann ich jetzt an den günstigsten Umständen zur Arbeit nichts anders vermissen, als was zu selten ist, als daß man es zu fordern berechtigt wäre, einen Umgang wie den Ihrigen. Auch ging meine Arbeit anfangs schnell und gut vonstatten. Aber seit 14 Tagen ist wieder eine solche Mutlosigkeit, ein solches ängstliches Zweifeln an der Tauglichkeit des Hervorgebrachten zurückgekehrt, daß ich kaum habe von der Stelle rücken können. Ich befinde mich dann immer in einem schlimmen Dilemma. Gebe ich der Stimmung nach, so weiß ich schon, was geschieht: die unterbrochene Arbeit bleibt für ewig liegen; eine Zeitlang verstreicht müßig, und mit dem Anfange eines neuen Unternehmens fängt der alte Kreislauf wieder an. Suche ich sie zu besiegen, so mag der moralische Gewinn ganz groß sein, aber gewiß ist es auch ebensosehr die Gefahr für das Produkt, das unter solchem Zwange geboren wird. Ich fühle sehr wohl, woran es mir fehlt: an der Kraft, die ihren Gegenstand mit Leidenschaft angreift, die von ihm fortgerissen wird und dauernd an ihm festhängt – an Genie. Wie ist aber diese Kraft zu erlangen, wenn die Natur sie versagt hat? Ich kenne zwei Wege, ein Analogon heranzubringen: einen sinnlichen, indem man dem ermüdenden Geist durch Lektüre, Gespräch, Beobachtung, selbst Zerstreuung zu Hilfe kommt, die sinnlich reizenden Seiten seines Gegenstandes auffaßt und die Phantasie damit beschäftigt. Einen zweiten durch die Freiheit, indem man seinen Kräften mit Ernst durch den Willen Anstrengung gebietet, nicht nachläßt und lieber alles aufs Spiel setzt, ehe man nachgibt. Ich versuche beide, und sollte es mir doch noch je gelingen, ein größeres Werk zustande zu bringen, so kann ich mir dann mit Wahrheit sagen, daß der Entschluß über mittelmäßige und träge Kräfte gesiegt hat – ein Geständnis, das aber immer beschämend bleibt, da es den Willen nur ehrt, indem es die Natur herabsetzt...
Karoline an den Gatten.
Jena, 19. Januar 1797.Vor einer Entbindung.
Liebes, trautes Wesen. Es verlangt mich, Dir noch ein Wort zu sagen, und Euch, meine geliebten Kinder. Ich hoffe, wir bleiben zusammen. Blieben wir nicht, teurer Bill, so bleibe meinem Andenken hold und den süßen Kindern, auch dem kleinen Wesen, das ich erwarte. Erzähle ihnen allen etwas von der Mutter, die sie geliebt hat über alles. Verzeih mir meine Schwachheiten; ich habe Dein schönes, reines Wesen doch gewiß tief erkannt und unendlich geliebt. Lebe wohl.
Wenn Du Emilien bei den Kindern behältst, besonders meine ich bei dem jüngsten, und sie führt sich ganz nach Deinem Willen auf, so wünsche ich, daß Du ihr 300 Reichstaler schenkest, wenn das Kleine so weit ist, daß Du seiner körperlichen Pflege wegen ihrer nicht mehr bedarfst.
Ich umarme Dich tausendmal. Grüße und küsse Karolinen, wenn sie wieder herkommt, und ihr liebes Kind. Meine Kinder sind in Deinem Herzen, wie Du und sie alle ewig in dem meinen.
An Karoline.
Berlin, 16. März 1797.
...In sehr vielen Dingen bin ich durchaus anders, als ich erscheine. Oft schon habe ich bemerkt, und noch jetzt hier hatte ich Gelegenheit dazu, daß man mich fast für durchaus kalt, unfähig wärmerer und tieferer Empfindungen, auch der edlern Schwärmerei unversöhnlich feind glaubt. Ich fühle das Gegenteil lebendig in mir; ich fühle, daß ich die Welt, die ich in mir trage, noch ebenso glühend als sonst umfasse; ich weiß an dem Glück des Genusses, an dem Kummer, der Sorge, wie ich Dich liebe, und noch jetzt wäre ich jeden Moment bereit, der Höhe und Stärke der Empfindung die bloße ruhige Heiterkeit hinzugeben. Aber je länger diese Gefühle gerade dauern, je unumschränkter sie die Seele beherrschen, desto mehr scheuen sie sich anders zu zeigen, als dem Blick, der sie ganz versteht. Es ist leicht, sie zu verletzen, zu entweihen, und welche Wunde schmerzt tiefer als diese? Sie sind mächtiger und zarter, wenn sie einsamer sind, und was soll man pflegen, was hegen, als diese Blüten des Charakters, diese Keime des Schönsten und Besten, wenn ein glückliches Schicksal einmal eine Vereinigung zweier Wesen begünstigte, die sie werden ließ? Unter allem Vorübergehenden stehen eigentlich sie allein als das Bleibende da. Zwar auch sie schwinden mit der Persönlichkeit hin, und es ist eine so wahre und tiefrührende Stelle Deines Briefes, daß alles, alles vorübergeht, unsre Freude und unsre Qual, und nur noch auf kurze Dauer eine schwache Spur unsres Andenkens zurückbleibt. Aber warum auch suchen wir uns in dem flüchtigen Bewußtsein vergänglicher Geschöpfe, warum nicht in der bleibenden Wirkung, die unser Wesen zurückläßt? Mir ist es ein fester, unumstößlicher Satz: nichts von dem, was ein Mensch je Gutes und Großes wirklich war, geht jemals unter, und wäre es nur das von niemand unmittelbar erkannte Gefühl eines einzigen Augenblicks gewesen. Es prägt sich seinem Wesen, seiner Gestalt ein, es geht von ihm auf andere über, und wäre niemand je zugegen, so prägt es sich, möchte ich sagen, der toten Natur selbst ein. Das Lebendige besiegt immer das Tote und dringt durch und schafft sich Leben und Licht. Werke und Handlungen gehen unter, aber Gesinnungen und Gefühle sind ewig und pflanzen sich mit unbegreiflicher Regsamkeit fort ...
Ich erkenne sehr gut, daß es physisch unmöglich ist, daß der Mensch in jedem Augenblick sich selbst gleich ist; ich weiß, daß auch Du nicht vermagst, dies eigentliche und ursprüngliche Wesen immer ganz, nicht einmal immer durchaus rein darzustellen; aber wie ich Dich schilderte, so bist Du in Deinen besten Momenten, und noch nie sah ich in irgendeinem Menschen das ganze Leben seinen besten Momenten so gleichförmig ähnlich als in Dir. Was Du so, wie Du bist und wie ich Dich empfinde, auf mich wirktest, was sich auch durch mich in Dir entwickelte, was von uns beiden auf unsre guten Kinder, was aus uns allen auf den Teil der Welt, mit dem wir in Berührung traten, überging, das, teure Li, wird nicht vergehn, und in dem können wir sicher ruhen, wenn wir untergehn. Auch fragt es sich, ob man sich nicht, wenn auch das Bewußtsein aller Handlungen, aller Verhältnisse des ganzen Lebens aufhört, dennoch in dieser geistigen Eigentümlichkeit, die sich über unsre Person hinaus verbreitet und über unser Leben hinaus fortpflanzt, auf irgendeine, wenngleich jetzt unbegreifliche Weise, wiederfindet. Gänzliches Aufhören schien mir nie glaublich, Fortleben ohne Zusammenhang scheinen mir bloße Worte ohne verständlichen Sinn; und wie ist es möglich, dem entrissen zu werden, was uns eigen und ausschließend angehört und als etwas rein und durchaus Geistiges an keine vergänglichen Dinge geknüpft ist? ...
An Karoline.
Erfurt, 5. April 1797.
... Die Fülle meiner besten und liebsten Gedanken, alle wohltätige und fruchtbare Wärme der Empfindungen und die ganze Eigentümlichkeit meines Wesens weiß ich aus den Gefühlen hervorgegangen, die Dein schönes, liebevolles Wesen mir einflößte, und ich bin sicher, daß es Dir mit Dir selbst nicht anders erschien, da man so etwas nie anders empfängt, als indem man es wieder zurückgibt. In dieser lebendigen Jugend liegt auch gewiß allein alles Schöne und Große, was die Folge nur immer zur Reife bringen kann; sie ist es allein, welche die Kraft und die Selbständigkeit verleihen kann, die hernach für das ganze übrige Leben hin Mut und Tätigkeit gewähren müssen; aber sie gibt nicht eigentlich die Ruhe, den stillen Genuß, der sich ohne Unterbrechung immer durch sich selbst wieder belebt, und es ist ein Vorzug späterer Jahre, daß, ohne die Fähigkeit zu jenen Stimmungen zu verlieren, das Gemüt sich mehr gleichsam auf der Erde festzusetzen, dem Leben und der Bewegung, den Gedanken und Empfindungen mehr die Stetigkeit der Natur zu geben und dadurch in einem noch höheren Grade menschlich zu werden lernt. Dieser Punkt ist es, wo die Jugend und das schönere Alter sich voneinander scheiden, und nirgends erscheint dies schöner als in dem Moment, wo die Jugend und die Reife gleichsam noch miteinander streiten, wo sie noch länger oder kürzer nebeneinander fortgehen, und wo alle Vorzüge der mannigfaltigen Stufen des Alters sich auf einen Augenblick zugleich zusammendrängen. Gerade in diesen Zeitpunkt, dünkt mich, fällt die jetzige Periode unsres Lebens, und die verschiedenen Gefühle, die aus der Vergangenheit und der Zukunft entspringen, verschlingen sich unter uns um so schöner, da Du mir so offenbar mit schönerer und frischerer Jugend vorangehst. Darum sagte ich, daß ich dies den Augenblick nennen möchte, in dem wir uns einen neuen und vielleicht volleren und dauernderen Genuß als je bisher verschaffen können. Auch darum sehne ich mich so herzlich, Dich, teures, liebes Wesen, einer völligen Gesundheit zurückgegeben zu sehen; ich weiß, weiß es leider aus Erfahrung, wie sehr Du es verstehst, auch durch bedeutendere Übel gestört, Freude zu geben und selbst sogar zu empfangen; wie Du nie einen Augenblick unmutig oder verdrossen wirst, wie Du gerade die schönste und edelste Art der Geduld übst, die das Übel selbst gleichsam vergessen macht; aber das ist es eben, was ich gern auslöschen möchte, das eigentlich das Neue, was ich unsrem Leben verleihen zu können wünschte: daß nichts den vollen, reinen, heitern Genuß stören sollte. Ich fühle es lebhaft, daß unsre innere Stimmung das fordert und vorbereitet; Du kennst mich zu sehr, wie ich alles nur von selbst entstehen zu lassen gewohnt bin, um zu glauben, daß ich auch nur einen willkürlichen Wunsch in mir dulden könnte; aber Du hast es selbst, als wir ein paarmal darüber sprachen, bemerkt, daß in Deinem Innern sich leise Übergänge zu neuen und gleich schönen Entwicklungen vorbereiten; Du hast bemerkt, daß Du selbständiger, weniger gleichsam eines fremden Wesens bedürftig bist als sonst, und früher einmal – einen Nachmittag an Deinem mittelsten Fenster –, daß Du jetzt freier reden kannst, daß es Dir gelingt, Dich noch klarer und bestimmter auszudrücken; in mir selbst ist wenigstens ein lebhafteres Streben zur Produktion entstanden, als ich mich je sonst erinnere; die Bildung und Entwicklung der Kinder stimmt damit so harmonisch überein, und ich kann Dir nicht sagen, wie unendlich sich mein ganzes Wesen in Dank und Liebe gegen Dich auflöst, wenn ich an das Glück unsrer Vergangenheit diese frohe Aussicht in die Zukunft halte und nun in seiner ganzen Vollendung das unendlich schöne Dasein empfinde, das ich aus Deinen Händen empfangen habe.
An Karoline.
Weimar, 7. April 1797.
... Goethe ist unendlich gut und freundschaftlich, und es lebt sich sehr schön so nah und allein mit ihm. Zwar allein seh ich ihn gewöhnlich nur die Abende, aber die sind auch überaus hübsch. Er ist so vertraulich, spricht so leicht über die Dinge, die ihm die liebsten sind, wird so schön davon erwärmt und erscheint ganz, zugleich in der eignen Zuversicht und Bescheidenheit, die ihm so ausschließend eigen sind. Auf die Freude und den Nutzen, den ihm das Zusammenleben mit Schiller gibt, kommt er sehr oft zurück. Nie vorher, sagt er, hätte er irgend jemand gehabt, mit dem er sich über ästhetische Grundsätze hätte vereinigen können; die einzigen wären noch Merck in Darmstadt und MoritzJohann Heinrich Merck und Karl Philipp Moritz, bekannte Schriftsteller ihrer Zeit. gewesen; allein obgleich beide mit ihm in Absicht des Takts übereingekommen wären, so hätte er sich wenig mit ihnen verständigen können. Zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre hätte er also so ganz über sich allein gelebt, und daher sei es mit gekommen, daß er in einer ganzen langen Zeit so wenig gearbeitet habe. Desto rüstiger scheint er jetzt. Den Plan von Hero und Leander hat er zwar ziemlich aufgegeben; er meint, es sei ein fremdes Sujet, das sich nie recht frei würde behandeln lassen. Aber dafür hat er mir seinen andern Plan erzählt, von dem mir schon Schiller sagte. Dieser Stoff ist aus höhern Ständen genommen, und damit er doch alles Förmliche los wird und eine reine und volle Natur bekommt, hat er eine Jagdpartie gewählt. Nur bei der Jagd, meint er, zeige sich noch etwas dem Heldenalter gleichsam Ähnliches, weil doch da jeder selbst tätig sein, selbst Hand anlegen muß. Er läßt einen deutschen Erbprinzen, der mit im Kriege gewesen ist, im Winter zu seiner Familie zurückkommen. Der erste Gesang fängt mit einem Frühstück an, das nach einer beendeten Schweinsjagd genommen wird. In den Gesprächen, die bei dieser Gelegenheit entstehen, findet er Veranlassung, über den Krieg, über das Schicksal der Staaten usw. zu reden und so das Interesse auf einen weiten Schauplatz hinauszuspielen. Plötzlich kommt die Nachricht, daß in einem benachbarten kleinen Städtchen beim Jahrmarkt Feuer ausgekommen sei und bei der Verwirrung, die dadurch entsteht, wilde Tiere losgekommen wären, die man da sehen ließ. Nun macht sich der Prinz und sein Gefolge auf, und die heroische Handlung dieses epischen Gedichts ist eigentlich die Bekämpfung dieser Tiere. Der Plan gefällt mir sehr, es scheint mir ein schöner und so natürlicher Kunstgriff, die prächtigen und wunderbaren Gestalten, die Löwen, Tiger usw. auf einheimischen Boden zu versetzen. Auch das Feuer ist ein schöner Gegenstand der poetischen Schilderung. Mehr vom Detail hat er mir noch nicht gesagt. Zum Hermann wird sich dieses Gedicht schön stellen. Der Hermann ist so durchaus rührend; er hat überall den Menschen, das Schicksal, den Wechsel, dem das Privatglück unterworfen ist, zum Hintergrunde; dies wird prächtiger und feuriger, es wird weniger idyllenartig auf einzelne Lagen, friedlichen Genuß, noch mehr episch auf große Massen, Staaten und Völker, kühne Unternehmungen usw. hinweisen. Der ganze Ton von Anfang herein soll dies ankündigen und jeder Umstand dazu passen. So erscheint z. B. im Hermann die Feuersbrunst schon wie sie verglimmt und nur noch der letzte Rauch aufsteigt; in diesem neuen Gedicht schlagen die vollen Flammen noch wild übereinander. Was diesen Goetheschen Gedichten ein so schönes Leben und diese bewundernswürdige Einzigart gibt, ist, daß er nichts schildert, was er nicht ganz oder doch einigermaßen gesehen hat. Davon geht er überall aus, und da er nun auf der andern Seite den feinen und hohen Kunstsinn hat, so erkläre ich mir dadurch die unnachahmliche Haltung, in der immer Natur und Kunst bei ihm stehen, wo nie etwas anders als die volle und reine Natur, und doch nie die bloße Natur, nie etwas Materielles erscheint.
An Schiller.
Dresden, 9. Juli 1797.
... Es hat mich unendlich interessiert zu sehen, wie Ihr Geist jeder neuen Gattung, die er behandelt, eine eigne Gestalt zu geben versteht. In dem Taucher und im Handschuh ist dies über alles sichtbar, und auch im Polykrates wird es der Geübte nicht verkennen, ob es gleich da minder auffällt.
Nach den Ideen, die ich mir über Sie abgezogen habe, ist die Ballade gar sehr für Sie gemacht. Zwar ist es schwer, mit diesem zufälligen Namen einen recht deutlichen und fest begrenzten Begriff zu verbinden. Aber wenn man die besten Stücke dieser Gattung gegeneinanderhält, so muß man sich unter dieser Gattung, soviel ich absehe, epische Gedichte denken, die aber auf einen lyrischen – vielleicht auch immer schauderlich tragischen – Effekt hin gearbeitet und mehr sentimental als naiv behandelt sind. Dem Geiste nach unterscheidet sich die Ballade am meisten vom Epischen, sie ist demselben fast entgegengesetzt und beinah durchaus lyrisch. Sie ist für den Gesang gemacht, das Epos für die Deklamation. Der epische Dichter legt die Gegenstände klar, breit, sonnenhell auseinander, der Balladendichter drängt sie zusammen, deutet an, entwirft, arbeitet unmittelbar aufs Gefühl hin, und immer auf eine bestimmte Empfindung. Der epische malt dem Auge, scheint unbekümmert über den weitern Effekt, wirkt aber zugleich auf das ganze Gemüt. Man könnte, glaube ich, epische und lyrische Erzählungen recht füglich voneinander unterscheiden. Den Griechen wäre nichts möglich gewesen, was nur an die Ballade von fern grenzte. Auch wirkliche Balladenstoffe, wie Hero und Leander, behandeln sie episch. Selbst Pindar sogar in der Ode wird episch, so wie er erzählt. Diese Gattung gehört ganz eigentümlich der modernen Sentimentalität an. Aber auch hier nicht allen Nationen, nur den nordischen. Denn die Ballade unterscheidet sich wieder von der Erzählung, und ich kann Ihre Überschrift des Rings des Polykrates nicht billigen. Dies Stück scheint mir schlechterdings nur Erzählung. Die Erzählung hat nämlich nur den Zweck, zu erzählen; man soll eine Geschichte hören, um unterrichtet oder belustigt zu werden. Insofern ist sie eine der niedrigsten Dichtungsarten. Auch sind in der Erzählung die Nationen am glücklichsten gewesen, denen sonst weder die epische noch die lyrische Dichtung in hohem Grade gelingt, Franzosen und Italiener, und unter den Deutschen Wieland. Wieland wäre sicherlich der schwächsten Ballade unfähig. Zwischen der Ballade und Erzählung steht noch die Romanze. Sie hat nicht den Schwung der Ballade, aber sie ist auch nicht so schlicht als die Erzählung. Sie arbeitet auf einen einzelnen Effekt hin, der aber mehr intellektuell als moralisch ist. Sie ist kurz und schnell und hinterläßt in der Seele dadurch gleichsam einen scharfen, überraschenden Eindruck. Vielleicht könnte sie eine epigrammatische Erzählung heißen. Zu dieser Gattung rechne ich Ihren Handschuh, und ganz diesem Begriff (wenn man ihn nur in Absicht des Poetischen herabstimmt) entsprechen einige Bürgersche und Stollbergsche Stücke. Um indes auf die Ballade zurückzukommen, so müssen Sie mich ja nicht so mißverstehen, als meinte ich, sie sollte sich nach der Art eigentlich lyrischer Gedichte in Reflexionen, Ausbrüchen der Empfindung usf. verlieren. Die höchste Objektivität, als das allgemeine Gesetz aller erzählenden Dichtung, liegt ihr mehr noch als den übrigen Gattungen zu beobachten ob, und dies finde ich gerade in Ihrem Taucher so schön, daß Sie dagegen schlechterdings nicht gefehlt haben. Was aber Ihre Ballade vorzüglich so groß macht und dieser in der Tat bei uns sehr herabgesunkenen Gattung einen neuen Adel aufdrückt, ist die Art, wie Sie den der Ballade eigentümlichen Eindruck des Großen, Schauderlichen und Tragischen hervorbringen. Sie haben alle die Ausgeburten der Phantasie, die man noch dazu bisher immer nur so brauchte, daß sie auch als Ausgeburten erschienen, durch die man gewöhnlich allein alles auszurichten glaubte, gänzlich verbannt. Sie haben ein einfaches, simples, natürliches, ich glaube sogar historisches Faktum gewählt und nur alles, was Ihnen dieses darbot, so genievoll benutzt. Aber darum gerade sagte ich, daß die Ballade so eigentlich für Sie gemacht sei, weil das Große, Erhabene und Tiefe, was die Ballade fordert, Ihnen so eigen ist, daß es alles bezeichnet, was von Ihnen kommt. Dadurch erscheint nun Ihr Taucher so edel und erhaben; dadurch haben Sie die Ballade auf eine so hohe Stufe gehoben, daß sie ganz den barbarischen Anstrich verliert, der mir sonst doch immer anstößt.
Ich habe eines Kennzeichens der Ballade nicht gedacht: daß die Ballade ein Volkslied sein soll. Indes ist es doch dies, wodurch Bürger z. B. so gemein und niedrig geworden ist. Sie haben auch hierin den Ton vortrefflich gehalten. Ihr ganzer Taucher muß durchaus die menschliche Natur in ihrem Innersten berühren und kann also auf niemanden seinen Eindruck verfehlen. Die Versetzungen der Sprache, die Sie gebraucht haben, gehören wohl auch hierher. Sie geben etwas Altertümliches und Abenteuerliches, dessen die Ballade nicht füglich entbehren zu können scheint.
Eine große Kunst bei Ihrem Taucher liegt, dünkt mich, in der Verteilung der Handlung in ihre verschiednen Momente. Sie haben gerade nur da verweilt, wo es der Leser erwartet, und eilen da schnell, wo er selbst auf die Folge begierig ist. Eine sehr schöne Modifikation der Empfindung beginnt mit dem Erscheinen der Königstochter, und überaus rührend ist der Schluß. Einzelne Stellen sind über allen Begriff groß. So vor allem die Beschreibung dieser untern Regionen, der Vers: »Lang lebe der König usw.« und dann »Unter Larven die einzige fühlende Brust usw.« Man fühlt mit unwiderstehlicher Gewalt die Entfernung von allen menschlichen, sprechenden, empfindenden Wesen. Prächtig ist auch die Schilderung des Strudels selbst und sehr malerisch das Emporkommen des Jünglings. Oft haben Sie schon durch die Wahl eines passenden Beiworts einen so großen Effekt hervorgebracht. So das »rosigte Licht«, »mit emsigem Fleiß«, »die Tochter mit weichem Gefühl« usf., »die lebende Seele«. Das Silbenmaß ist vortrefflich und sehr passend behandelt. Selbst wo die Daktylen (da Sie dies Silbenmaß so skandieren, ob man gleich sonst es wohl richtiger als Anapästen mißt) manchmal eine zu lange Silbe unter den Kürzen haben, verstärkt es hier noch die Wirkung, wo alles mehr auf den Effekt als auf eine kalte Schönheit berechnet ist.
Da alle Schilderungen in Ihrem Taucher eine so große Wahrheit haben, so wollte ich, daß Sie die Molche und Salamander aus dem Grunde des Meers wegbrächten. Sie sind zwar Amphibien, wohnen indes nie in der Tiefe und mehr nur in Sümpfen. Mit den Drachen kann man schon liberaler umgehn, da sie mehr ein Geschöpf der Fabel und der Phantasie sind.
Dem Handschuh, der unter den Händen jedes andern Dichters nur hübsch und artig geworden sein würde, haben Sie etwas Großes gegeben durch die prächtige Beschreibung der Tiere. Sie haben darin Ihrem Liebling, dem Löwen, ein Denkmal gestiftet. Außerdem ist das Silbenmaß unnachahmlich schön, und die Abwechslung der ganz kurzen und längern Verse tut eine vortreffliche Wirkung.
Der Ring des Polykrates ist sehr leicht und lebendig erzählt. Auch verfehlt die Nemesis, die durchaus darin waltet, ihre Wirkung nicht. Indes macht er doch in der Zusammenstellung mit den beiden andern Stücken einen weniger tiefen Eindruck ...
Schiller an Körner.
6. August 1797.
... Es hat mich erfreut zu hören, daß Du Dir im Umgang mit Humboldten so wohl gefallen hast. Zum Umgang ist er auch recht eigentlich qualifiziert: er hat ein seltenes reines Interesse an der Sache, weckt jede schlummernde Idee, nötigt einen zur schärfsten Bestimmtheit, verwahrt dabei vor der Einseitigkeit und vergilt jede Mühe, die man anwendet, um sich deutlich zu machen, durch die seltene Geschicklichkeit, die Gedanken des andern aufzufassen und zu prüfen. So wohltätig er aber auch für jeden ist, der einen gewissen Gedankenreichtum mitzuteilen hat, so wohltätig, ja so höchst notwendig ist es auch für ihn, von außen ins Spiel gesetzt zu werden und zu der scharfen Schneide seiner intellektuellen Kräfte einen Stoff zu bekommen; denn er kann nie bilden, immer nur scheiden und kombinieren. Ich fürchte, die Anstalten, die er macht, um sich der neuen Weltmasse, die ihn in Italien erwartet, zu bemächtigen,Die beabsichtigte Reise nach Italien kam wegen der unruhigen politischen Verhältnisse nicht zur Ausführung. Vielmehr entschloß sich Humboldt in Wien, zunächst auf den Süden zu verzichten und durch die Schweiz nach Paris zu gehen, wo er mit den Seinigen im November 1797 zu mehrjährigem Aufenthalt anlangte. Hier schrieb er in den ersten Monaten 1798 sein Buch über »Hermann und Dorothea«. werden ihn um die eigentlichste und höchste Wirkung bringen, die Italien auf ihn machen sollte. Er versieht sich jetzt schon im voraus mit Zwecken, die er dort verfolgen, mit Sehorganen, durch die er jene Welt betrachten will, und so wird er machen, daß er auch nur darin findet, was er mitbringt, und über dem ängstlichen Bestreben, viele einzelnen Resultate mit nach Hause zu bringen, wird er, fürchte ich, dem Ganzen nicht Zeit und Raum lassen, sich als ein Ganzes in seine Phantasie einzuprägen. Italien könnte ihm sehr nützlich werden, wenn es seiner Einbildungskraft, die von seinem Verstande wie gefangengehalten wird, einen gewissen Schwung geben, eine gewisse Stärke verschaffen könnte. Dazu gehört aber, daß er nicht hineinzöge wie ein Eroberer mit so vielen Maschinen und Gerätschaften, um es für seinen Verstand in Besitz zu nehmen. Es fehlt ihm zu sehr an einer ruhigen und anspruchslosen Empfänglichkeit, die sich dem Gegenstande hingibt; er ist gleich zu aktiv und dringt mir zu unruhig auf bestimmte Resultate. Doch du kennst ihn genug und wirst wahrscheinlich hierin meiner Meinung sein.
An Schiller.
4. September 1797.
... Wohl ist es außerordentlich wahr, Mangel an Lebendigkeit und vorzüglich an Unabhängigkeit der Phantasie ist leider nur zu sichtbar in mir. Allein im Grunde ist damit auch die Unvollkommenheit meines ganzen Wesens und, wie ich aus einer sehr tief eingehenden Erfahrung weiß, das eigentliche Unglück meiner Existenz ausgesprochen. Es ist eigentlich ein doppelter Mangel: die Einbildungskraft ist nicht unabhängig und der Verstand nicht alleinherrschend. Dieser im eigentlichsten Sinn tantalische Zustand quält mich schlechterdings unaufhörlich. Unternehme ich eine Verstandesarbeit, so bin ich im Abstrahieren nicht tief, im Analysieren nicht streng, im Räsonnieren überhaupt nicht systematisch und trocken genug; wage ich an etwas Poetisches zu denken, so sind mir die Flügel gelähmt und die Sehnen wie zerschnitten. Solange ich nun bloß lebe, empfange, zurückgebe, genieße und wirke, so geht es ganz gut; vielmehr unterstützt mich diese Zwitterhaftigkeit, ich kann andern eben dadurch manchmal viel sein und werde immer mehr im Ganzen, und wirklich auch nicht mit Unrecht, scheinen, als ich im Einzelnen bewähren kann. Allein wenn ich daran denke, etwas hervorzubringen, so sehe ich mich in einem wirklich sehr unangenehmen Gedränge. Wo ich zu diesem Endzweck beobachte, verliere ich über der Genauigkeit die Anschaulichkeit und über diese jene, und ebenso geht es da, wo ich das Beobachtete hinstellen will. Zwar bin ich gewiß, daß es eine Manier für mich gibt, und daß dies die einzige ist, durch die ich je dahin gelangen könnte, in meiner Zeit auch für eine spätere zu zählen – aber ich verzweifle, diese mir eigen machen zu können. Ich müßte mein Objekt nämlich nie anders als zugleich mit meinem Subjekt, aber doch so darstellen, daß es darin nicht verlorenginge – und darin sitzt eben der Knoten. In allem, was ich noch bisher geschrieben habe, habe ich das wirklich getan, aber so, daß selbst meine Freunde nur kaum alles sahen und die andern weder lernten, was ich sagen wollte, noch was ich selbst bin. So z.B. gibt es niemanden, der eine größere naturhistorische Treue, eine trocknere Wahrheit suchen kann, als ich bei Beobachtung und Schilderung des Menschen. Eigentlich ist mir kein Unrecht geschehn, wenn man mich schwärmerisch, dunkel, verwirrt genannt, wenn man selbst geglaubt hat, es sei nur ein Haschen nach originell klingenden Phrasen. Die Sache ist nur die, daß ich die Dinge nicht so hinschreiben konnte, wie sie sich in meinem Kopfe gestalteten, und es doch nicht über mich gewinnen konnte, sie anders darzustellen. Auch liegt das nicht bloß im Stil, es liegt vielmehr daran, daß mir noch Grundgedanken fehlen, solche, bis auf die ich in allem meinem Denken nur immer komme, die ich aber selbst noch nicht durchschaut habe. Bin ich dieser einmal Meister, oder vielmehr werde ich es je, dann, und nur dann erst kann etwas mit mir werden. Dies ist es eigentlich, was mich tröstet. Das Talent des Stils, wenn ich auch dahin kommen sollte, manches gut zu schreiben, werde ich nie erlangen; dies fehlt mir einmal. Ich habe keine Leichtigkeit, sobald ich schreibe; nicht einmal immer – so wenig das auch vielleicht selbst Sie bemerkten –, wenn ich spreche. Schon in Geschäften habe ich das ehmals gefühlt. Immer fand ich Schwierigkeit, einer Sache einen Ausdruck, eine Form zu geben, und immer am meisten, je leichter die Sache war. Läge es also recht eigentlich am Stil, so würde ich geradehin verzweifeln. Da aber der Fehler noch in den Sachen ist, so hoffe ich eher ...