Victor Hugo
Notre Dame
Victor Hugo

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XVII.

Geschichte eines Fladens

Zu der Zeit, wo diese Geschichte vorging, war die Zelle im Rolandsthurm besetzt. Wenn der geneigte Leser wissen will von wem, so darf er nur die Unterhaltung der drei Gevatterinnen anhören, die zu dieser Stunde längs des Flusses, vom Châtelet gegen den Grèveplatz heraufkamen. Zwei dieser Frauen waren, nach ihrem Anzuge zu urtheilen, gute Pariser Bürgersweiber; die Dritte schien, ihrer Kleidung nach, vom Lande zu sein. Die Letztere führte einen derben Jungen von etwa sechs Jahren an ihrer Hand, der einen großen Fladen in der seinigen hatte. Er betrachtete ihn von Zeit zu Zeit mit zärtlichen Blicken; ein sehr wichtiger Beweggrund schien ihn abzuhalten, das Stück Kuchen anzubeißen.

»Sputen wir uns, Frau Mahiette,« sagte die Jüngste zu der Frau, die ihrem Anzug nach aus der Provinz war »Ich fürchte, wir werden zu spät kommen, denn man sagte mir im Châtelet, daß man ihn sogleich auf den Driller führen werde.«

»Bah, Frau Oudarde Musnier,« erwiederte die andere Pariserin, »er bleibt ja zwei Stunden auf dem Driller. Wir haben alle Zeit. Habt Ihr auch schon drillen sehen, meine liebe Mahiette?«

»Ja,« antwortete die Frau aus der Provinz, »zu Rheims.«

»Bah! Was will das heißen, Euer Driller zu Rheims! Ein ärmlicher Käfig, wo man nur Bauern herumdreht! Das ist etwas Rechtes!«

»Nur Bauern! Auf dem Tuchmarkte zu Rheims!« erwiederte Mahiette etwas gekränkt. »Wir haben schon recht ordentliche Verbrecher gehabt, die Vater und Mutter getödtet hatten. Bauern! Wofür haltet Ihr uns, Gervaise?«

Die Frau aus der Provinz war im Begriff, für die Ehrenrettung ihres Drillers in Eifer zu gerathen, als die gutmüthige, dicke Frau Oudarde Musnier zu rechter Zeit der Unterhaltung eine andere Wendung gab.

»Ei, Frau Mahiette, was sagt Ihr denn auch von unseren flandrischen Gesandten? Habt Ihr auch so schöne Gesandte zu Rheims?«

»Ich muß selbst gestehen,« versetzte Mahiette, »daß man nur zu Paris solche Flamänder sehen kann.«

»Habt Ihr auch den großen flandrischen Gesandten gesehen, der ein Strumpfweber ist?« fragte Oudarde.

»Ja,« sagte Mahiette, »er sieht aus wie ein Saturn.«

»Und was sie für schöne Pferde haben!« sprach Oudarde.

»Oh,« entgegnete Mahiette, »das ist nichts gegen die Pferde des Königs und der Prinzen, die ich vor achtzehn Jahren bei der Krönung zu Rheims gesehen habe.«

»Das mag sein,« antwortete Oudarde, »aber darum bleiben die Pferde der flämischen Gesandten doch schön; und gestern haben sie bei dem Herrn Prevot auf dem Rathhause ein prächtiges Nachtessen gehalten, und man hat ihnen süßen Wein, Gewürz und andere Seltenheiten vorgesetzt.«

»Was sagt Ihr da, Frau Nachbarin!« schrie Gervaise. »Bei dem Herrn Kardinal Bourbon haben die Flamänder gespeist!«

»Nein, bei dem Herrn Prevot!«

»Ja, bei dem Herrn Kardinal Bourbon!«

»So gewiß auf dem Rathhause,« erwiederte Oudarde mit Bitterkeit, »als der Doktor Scourable eine lateinische Anrede an sie gehalten hat, die ihnen viel Vergnügen machte, und mein Mann, der geschworener Buchhändler der Universität ist, hat es mir selbst gesagt.«

»So gewiß im Palaste Bourbon,« entgegnete Gervaise nicht minder lebhaft, »als ich Alles weiß und aufzählen könnte, was sie gegessen und getrunken haben; und mein Mann hat es mir selbst gesagt, und hat die flämischen Gesandten mit denen des Kaisers von Trapezunt verglichen, die unter dem letzten König aus Mesopotamien nach Paris gekommen sind und goldene Ohrenringe getragen haben.«

Der wichtige Streit, ob die flandrischen Gesandten bei dem Prevot der Stadt Paris oder dem Kardinal Bourbon gespeist hätten, dauerte noch eine Zeitlang zwischen den beiden Frauen fort und wurde zuletzt so hitzig, daß er vielleicht in Thätlichkeiten übergegangen wäre, wenn ihn nicht Frau Mahiette durch den plötzlichen Ausruf unterbrochen hätte: »Was gibt es denn dort unten auf der Brücke? Es stehen viele Leute herum und sehen Etwas zu.«

»Wahrhaftig,« sagte Gervaise, »ich höre ein Tambourin; es wird wohl die kleine Smeralda sein, die mit ihrer Ziege Mummereien macht. Geschwind, Mahiette! In Paris gibt es immer Etwas zu sehen, gestern die flandrischen Gesandten, heute die Zigeunerin.«

»Die Zigeunerin!« rief Mahiette aus, indem sie zurückfuhr und ihren Knaben fester am Arme faßte, »Da soll mich Gott behüten! Sie würde mir mein Kind stehlen. Komm, Eustach!«

Mit diesen Worten lief sie davon, bis sie die Brücke weit hinter sich hatte. Ihre Gefährtinnen würden sie nicht eingeholt haben, wenn nicht der Knabe, den sie nach sich schleifte, gefallen wäre.

»Diese Zigeunerin Euch Euer Kind stehlen?« sagte Gervaise, »das ist sonderbar von Euch.«

Mahiette schüttelte nachdenklich den Kopf.

»Es ist doch sonderbar,« bemerkte Oudarde, »daß die Büßerin im Rolandsthurm die nämliche Meinung von den Zigeunerinnen hat.«

»Wer ist denn diese Büßerin?« fragte Mahiette.

»Nun, die Schwester Gudula.«

»Wer ist die Schwester Gudula?«

»Man sieht wohl, daß Ihr aus Rheims seid. Es ist die Klausnerin im Rattenloch.«

»Wie,« fragte Mahiette, »das arme Weib, der wir diesen Fladen bringen?«

»Die Nämliche. Wenn wir auf den Grèveplatz kommen, könnt Ihr sie unter der Oeffnung des Rolandsthurmes sehen. Sie hat die nämliche Meinung von diesen ägyptischen Landstreichern, wie Ihr, und verabscheut sie. Aber warum rennt denn Ihr so davon bei ihrem bloßen Anblick?«

»Oh!« sagte Mahiette, und faßte den dicken Kopf ihres Knaben in beide Hände, »ich möchte nicht erleben, was der armen Paquette Chantefleurie begegnet ist.«

»Ei!« fiel Gervaise neugierig ein, »erzählt uns doch diese Geschichte.«

»Recht gerne, und es wundert mich nur, daß man in Paris nichts davon weiß. Ihr müßt also wissen, daß Paquette Chantefleurie ein schönes Mädchen von achtzehn Jahren war, als ich auch achtzehn Jahre alt war, und das sind jetzt achtzehn Jahre, denn ich bin sechsunddreißig alt, und wenn die Paquette jetzt keinen Mann und keinen Knaben hat, so ist sie selbst schuld daran. Aber daß ich weiter spreche: diese Paquette Chantefleurie war also die Tochter Guybertaut's, Minstrels der Schifferzunft zu Rheims, und dieser Guybertaut war der Nämliche, der vor König Karl VII. bei seiner Krönung, als er die Vesle herabfuhr, von Sillery bis Maison gespielt hat, und die Jungfrau von Orleans war auch in dem Schiff. Der alte Vater starb, als Paquette noch ein kleines Kind war. Die Mutter war ein gutes Weib, von der Paquette nichts lernte, als ein wenig Goldsticken, wobei sie groß wurde und arm blieb. Im Jahre 1461, als man unsern König Ludwig XI., den Gott erhalten wolle, zu Rheims krönte, war Paquette so schön und munter, daß Jedermann sie Chantefleurie nannte. Sie hatte schöne Zähne und lachte gerne, um sie sehen zu lassen. Ein Mädchen, das gerne lacht, ist auf dem Wege zum Weinen, und schöne Zähne haben oft schöne Augen verderbt. Paquette und ihre Mutter mußten ihr Leben sauer verdienen, denn der Ertrag ihrer Goldstickerei gewährte ihnen nur dürftigen Unterhalt. In dem kalten Winter von 1461 hatten die beiden armen Geschöpfe kein Scheitchen Holz und es war sehr kalt; aber die Chantefleurie blühte wie eine Rose. An einem Sonntag kam sie mit einem goldenen Kreuz am Halse in die Kirche, und da merkte gleich Jedermann, daß es mit ihr nicht richtig war; sie zählte erst vierzehn Jahre! Da kann man sehen! Zuerst war es der junge Viscomte Cormontreuil; dann Henri de Priancourt, Stallmeister des Königs; dann immer weiter herab, Chiard de Beaulion, Wappenherold; dann Guery Aubergeon, Vorschneider des Königs; dann Macé de Frépus, Barbier des Dauphin, und so fort immer weiter herab, bis sie endlich Jedermanns wurde, und, was will man sagen, es verging kein Jahr, so machte sie das Bett des Königs der Hurenjäger. Ehe ein Jahr verging! Arme Paquette Chantefleurie!« Die gute Mahiette seufzte und trocknete sich die Augen.

»Das ist keine besondere Geschichte, und so hat man schon viele erlebt,« sagte Gervaise, »und es kommt ja nichts von Zigeunerinnen und Kindern darin vor.«

»Nur Geduld!« fuhr Mahiette fort, »es wird schon Alles kommen, und was das Kind betrifft, so wurde im Jahre 1466, an St. Paul wird es sechzehn Jahre, Paquette Chantefleurie von einem Mädchen entbunden. Die Unglückliche! Sie war vor Freuden außer sich, denn sie wünschte sich schon lange ein Kind. Ihre Mutter war todt, und Paquette hatte Niemand mehr auf der Welt, den sie liebte, Niemand, von dem sie geliebt wurde. Sie war ein armes Geschöpf, einsam und verlassen in diesem Leben; man zeigte mit Fingern auf sie, schrie ihr in den Straßen nach, die Gassenjungen zischten sie aus, und die Büttel schlugen sie. Sie hatte gealtert, und das ausgelassene Leben trug ihr jetzt nicht weiter mehr ein, als ehedem die Goldstickerei; der Winter wurde ihr wieder hart, das Holz in ihrem Holzstalle war so klein beisammen, als das Brod in ihrer Tischlade. Sie konnte nicht mehr arbeiten, denn als sie wollüstig wurde, war sie faul geworden, und sie hatte viel mehr zu leiden, denn, indem sie faul geworden, war sie wollüstig geworden. So erklärt es wenigstens unser Herr Pfarrer von Saint-Remy, warum diese Weiber mehr Hunger haben und empfindlicher für die Kälte sind, als andere arme Weiber, wenn sie alt werden.«

»Wohl,« sagte Gervaise, »aber die Zigeuner?«

»Geduld doch, Gervaise!« mahnte die wohlbeleibte geduldige Oudarde. »Man muß auch Etwas für das Ende aufheben und nicht gleich Alles im Anfang sagen. Fahrt nur fort, Mahiette! Die arme Chantefleurie dauert mich!«

Mahiette fuhr fort: »Paquette war also sehr unglücklich und sehr betrübt, und ihre Wangen waren von Thränen gefurcht. In ihrer Schmach und Verlassenheit schien es ihr, daß sie weniger schmachvoll und weniger verlassen sein würde, wenn es irgend ein Wesen auf der Welt gäbe, das sie liebte und von dem sie geliebt würde. Dieses Wesen konnte nur ein Kind sein, denn nur ein Kind war unschuldig genug, sie zu lieben. Sie hatte den letzten Versuch mit einem Diebe gemacht, aber sie mußte bald zu ihrer Kränkung erfahren, daß auch dieser Dieb sie verachte. Weiber solchen Schlages müssen einen Liebhaber oder ein Kind haben, ihr Herz auszufüllen, sonst sind sie sehr unglücklich. Da nun Paquette keinen Liebhaber mehr haben konnte, so wendete sie ihre ganze Sehnsucht einem Kinde zu, und betete zu Gott Tag und Nacht darum; denn sie war trotz ihres lasterhaften Wandels eine gute Christin geblieben. Deßhalb erbarmte sich der Herr ihrer und schenkte ihr ein kleines Kind. Ihre Freude war unbegrenzt; sie übergoß das kleine Geschöpf mit einem Strom von Thränen, Liebkosungen und Küssen. Sie säugte ihr Kind selbst, machte ihm aus ihrer Bettdecke, der einzigen, welche sie besaß, Wickelbänder, und fühlte weder Kälte noch Hunger mehr. Sie wurde wieder schön, denn aus einem alten Mädchen wird eine junge Mutter. Das alte Unwesen fing wieder an, man besuchte Chantefleurie, und von dem Sündengeld, das sie verdiente, schaffte sie nichts Anderes an, als Spielsachen, Zuckerwerk und Putz für ihr Kind; an sich dachte sie nicht, und kaufte sich nicht einmal eine Bettdecke. Die kleine Agnes war aber auch ein schönes Kind und herausgeputzt wie eine Prinzessin. Unter Anderem hatte sie niedliche Schühchen, wie der König selbst sie nicht schöner haben kann.

»Ihre Mutter hatte sie selbst gestickt und allen Fleiß darauf verwendet. Es waren die niedlichsten rosenfarb'nen Schuhe, die man nur sehen kann, nicht größer als mein Daumen. Die junge Agnes hatte aber nicht nur einen niedlichen Fuß, sondern war auch das niedlichste Geschöpf von der Welt. Ihre Mutter wurde täglich toller in sie vernarrt, und konnte nicht aufhören, mit ihr zu spielen, zu kosen, sie aus- und anzukleiden, sie zu bewundern und zu loben.«

»Die Geschichte ist recht artig,« sagte Gervaise, »aber wo bleiben die Zigeuner?«

»Jetzt kommt es,« erwiederte Mahiette. »Eines Tages kamen Reiter von ganz besonderer Art zu Rheims an. Es waren Landstreicher und Diebe, die unter der Anführung ihres Herzogs und ihrer Grafen das Land durchzogen. Sie waren schwarzbraun, hatten krause Haare und trugen silberne Ringe in den Ohren. Die Weiber waren noch häßlicher als die Männer. Ihr Gesicht war noch schwärzer, und ihre gezöpften Haare hingen wie Roßschweife über den Rücken hinab. Ihre Kinder, wenn sie ihnen zwischen den Beinen herumkrochen, glichen wahren Affen. Und kurz, es war ein Heidenvolk. Sie kamen schnurgerade aus Aegypten und waren über Polen nach Rheims gekommen. Der Pabst hatte sie Beichte gehört und ihnen zur Buße auferlegt, sieben Jahre lang hinter einander durch die Welt zu ziehen, ohne je in ein Bett zu liegen. Sie nannten sich auch büßende Brüder und stanken. Es scheint, daß sie ehedem Sarazenen waren und an Jupiter glaubten. Sie kamen nach Rheims und sagten: Gut Glück im Namen des Königs von Algier und des Kaisers von Deutschland! Da man sie nicht in die Stadt ließ, lagerten sie sich vor dem Thor, und ganz Rheims strömte hinaus, sie zu sehen. Sie blickten einem in die Hand und wahrsagten wunderbare Dinge. Sie waren im Stande gewesen, dem Erzverräther Judas zu prophezeien, daß er Pabst werden würde. Es gingen auch allerlei Gerüchte über diese Leute, daß sie Kinder gestohlen und Menschenfleisch gegessen hätten. Ueberhaupt war es ein Diebsgesindel; aber das ist wahr, daß sie Einem Sachen sagten, die einen Kardinal in Verwunderung setzen könnten. Die Mütter brüsteten sich mit ihren Kindern, seit die Zigeunerinnen aus ihrer Hand alle Arten von Wundern entziffert hatten, die auf heidnisch und griechisch hineingeschrieben waren. Die Eine bekam einen Kaiser, die Zweite einen Pabst, die Dritte einen Kapitän zum Mann. Die arme Chantefleurie war auch neugierig; sie hätte gerne gewußt, ob ihre schöne, kleine Agnes nicht eines Tages Kaiserin von Armenien oder etwas dieser Art werden würde. Sie trug daher das Kind zu den Zigeunern; diese bewunderten, liebkosten, küßten es mit ihren schwarzen Lippen und hatten besonders eine große Freude an seinen kleinen Händchen und Füßchen. Das Kind fürchtete sich vor den schwarzen Gesichtern und weinte. Um so vergnügter war die Mutter über das Glück, das die Zigeunerinnen ihrer Agnes prophezeit hatten: sie sollte eine der schönsten und tugendhaftesten Königinnen werden. Sie kehrte ganz stolz mit der kleinen Königin in ihre Hütte zurück. Am anderen Morgen schlich sie sich, als das Kind noch schlief, zu einer Nachbarin, um ihr zu erzählen, daß eines Tages ihre Agnes von dem König von England und dem Erzherzog von Aethiopien bei Tafel bedient werden solle. Als sie zurückkam, fand sie die Thüre offen und das Kind war verschwunden; einer seiner kleinen niedlichen Schuhe lag auf dem Boden. Sie stürzte aus dem Hause, rannte mit dem Kopf gegen die Mauer und jammerte laut: Mein Kind! Mein Kind! Wer hat mir mein Kind geraubt? Die Straße war einsam, ihre Hütte stand vereinzelt; Niemand konnte ihr etwas sagen. Sie durchrannte alle Straßen der Stadt, außer sich, rasend, schrecklich, wie ein Raubthier, das seine Jungen verloren hat. Keuchend, athemlos, ein irres Feuer in den Augen, das ihre Thränen trocknete, furchtbar anzuschauen, klopfte sie an Thüren und Fenster und forderte ihr Kind. Sie hielt die Vorübergehenden an und schrie: Mein Kind! Mein Kind! Mein schönes kleines Kind! Wer mir mein Kind wiedergibt, dessen Magd will ich sein, die Magd seines Hundes, er soll mir das Herz aus dem Leibe reißen! Sie begegnete dem Pfarrer von Saint-Remy und rief ihm zu: Bist Du ein Mann Gottes, so gib mir mein Kind wieder und ich will Dein Feld mit meinen Nägeln pflügen! Es war ein herzzerreißender Anblick, und ich habe einen sehr hartherzigen Mann gesehen, Meister Pouce la Cabre, den Prokurator, der weinte. Ach! die arme Mutter! Am Abend kehrte sie in ihre verlassene Hütte zurück. Während ihrer Abwesenheit hatte eine Nachbarin zwei Zigeunerweiber hineinschleichen sehen, die einen Pack unter dem Arme trugen; sie kamen bald wieder heraus, schlossen die Thüre und flohen eilends davon. Später hatte man in dem Hause eine Art Kindergeschrei gehört. Freudigen Muthes eilte die Mutter die Treppe hinauf, stürzte in das Zimmer und fand, statt ihres niedlichen Kindes, ein kleines, häßliches, hinkendes, buckliges und einäugiges Ungeheuer, das auf dem Boden kroch. Sie wendete ihre Augen mit Abscheu weg und rief: Oh, die garstigen Zauberer haben mein armes Kind in diese scheußliche Mißgeburt verwandelt! Man mußte den kleinen Zwerg schnell aus ihren Augen entfernen, um sie nicht wahnwitzig zu machen. Das Kind war ein junges Ungeheuer, das der Teufel mit einer Zigeunerin erzeugt hatte; es war etwa vier Jahre alt und stammelte eine Sprache, die keine menschliche war. Die Chantefleurie hatte sich auf den kleinen Schuh geworfen, das Einzige, was ihr von ihrem Kinde übrig geblieben war. Sie blieb lange unbeweglich, stumm, ohne einen Lebenshauch, so daß man sie für todt hielt. Plötzlich zitterte sie am ganzen Körper, bedeckte ihre Reliquie mit wüthenden Küssen und brach in einen Strom von Thränen aus. Oh, mein Kind! Mein schönes kleines Kind! Wo bist du? rief sie jammervoll aus und rang die Hände. Wir weinten Alle mit, und ich muß noch weinen, wenn ich nur daran denke. Plötzlich erhob sie sich und lief durch die Gassen der Stadt unter dem gräßlichen Geschrei: In das Lager der Aegypter! In das Lager der Aegypter! Laßt uns die Zauberer verbrennen! Die Zigeuner waren über alle Berge, es war stockfinstere Nacht und man konnte sie nicht verfolgen. Am andern Tage fand man, zwei Stunden von Rheims, in einem Gehölze die Reste eines großen Feuers, einige Bänder, die der kleinen Agnes gehört hatten, Blutstropfen und Bollen von einem Bock. Es war gerade eine Samstagnacht gewesen, und man zweifelte nicht, daß die Zigeuner hier ihren Sabbath gehalten und in Gesellschaft des Teufels das Kind verzehrt hätten. Als die Chantefleurie diese furchtbaren Dinge erfuhr, weinte sie nicht; sie bewegte ihre Lippen zum Sprechen, vermochte es aber nicht. Am anderen Morgen waren ihre Haare grau, den Tag darauf war sie verschwunden.«

»Das ist in der That eine schreckliche Geschichte,« sagte Oudarde, »die einen Burgunder zum Weinen bringen könnte.«

»Ich wundere mich nicht mehr,« fügte Gervaise hinzu, »daß Euch vor den Zigeunern so bange ist!«

»Und Ihr habt wohl gethan,« fügte Oudarde hinzu, »mit Eurem Eustach davonzulaufen, denn diese Zigeuner da kommen auch aus Polen.«

»Nicht doch,« verbesserte Gervaise, »aus Spanien und Catalonien kommen sie.«

»Catalonien! Das ist auch möglich, und so viel ist gewiß, daß sie Zigeuner sind.«

»Und ihre Zähne sind scharf genug, um kleine Kinder zu fressen; und ich würde mich nicht wundern, wenn auch die kleine Smeralda ein wenig davon äße, denn sie ist doch auch nur eine Zigeunerin, und ihre weiße Ziege macht Kunststücke, die mir nicht recht gefallen wollen.«

Inzwischen war Mahiette stillschweigend vorwärts geschritten, gleichsam noch vertieft in die unglückliche Geschichte, welche sie so eben erzählt hatte.

»Und,« fragte Gervaise, »hat man nicht erfahren, was aus der Chantefleurie geworden ist?«

»Man hat sie niemals wieder gesehen. Die Einen sagten, sie sei zu diesem, die Andern, sie sei zu jenem Thore hinausgegangen; Andere wollten sie barfuß auf der Straße nach Paris erblickt haben; ein Bauer hatte auf seinem Acker ihr goldenes Kreuz gefunden, und man glaubte allgemein, daß sie sich in's Wasser gestürzt habe.«

»Arme Chantefleurie!« seufzte Oudarde.

»Und was ist aus dem kleinen Schuh geworden?« fragte Gervaise.

»Er ist mit der Mutter verschwunden,« antwortete Mahiette.

»Armer kleiner Schuh!« seufzte Oudarde.

»Und die Mißgeburt?« fragte die neugierige Gervaise.

»Welche Mißgeburt?«

»Das kleine ägyptische Ungeheuer, das die Zauberinnen gegen die Tochter der Chantefleurie ausgewechselt hatten. Was ist damit geschehen? Ich hoffe doch, daß man es in's Wasser getragen hat.«

»Nein,« erwiederte Mahiette.

»Wie! also verbrannt? Das ist besser, denn so gehört es einem Zauberkinde.«

»Weder das Eine noch das Andere. Der Erzbischof hat sich des Kindes angenommen, hat es mit Weihwasser besprengt und ihm den Teufel aus dem Leibe getrieben. Hierauf hat man es nach Paris geschickt und in der Liebfrauenkirche als Findelkind ausgesetzt.«

Inzwischen waren die drei Gevatterinnen, in ihr Gespräch vertieft, auf dem Grèveplatz angekommen. Sie waren an dem Rattenloch am Rolandsthurm vorübergegangen, ohne darauf Acht zu haben, und hatten sich mechanisch dem Driller zugewendet, um den sich eine immer größere Menschenmenge sammelte. Wahrscheinlich würden sie in ihrer Schaulust das Rattenloch und dessen Bewohnerin vergessen haben, wenn nicht der Knabe, als ob sein Instinkt ihm sagte, daß jetzt das Rattenloch hinter ihnen sei, gefragt hätte: »Mutter, darf ich den Fladen jetzt essen?«

Diese Frage weckte die Aufmerksamkeit der Mutter und sie rief: »Zeigt mir doch Euer Rattenloch, daß ich der Büßerin ihren Fladen bringe!«

»Sogleich, denn das ist ein Liebeswerk,« sagte die gutmüthige Oudarde.

Als die drei Frauen am Rolandsthurm ankamen, sagte Oudarde zu den beiden andern: »Wir dürfen nicht alle drei zumal durch die Oeffnung sehen, um die Klausnerin nicht zu erschrecken. Ich will meinen Kopf allein hineinstecken, sie kennt mich ein wenig.«

Sie ging allein an die Lucke. In dem Augenblicke, da sie hineinsah, drückte sich ein tiefes Gefühl des Mitleids auf ihrem Gesichte aus, ihr Auge wurde feucht und ihr Mund verzog sich zum Weinen. Gleich darauf legte sie den Finger auf den Mund und gab Mahiette ein Zeichen, sich zu nähern.

Mahiette näherte sich bedrückt, schweigend und auf den Zehenspitzen, wie man an das Bett eines Sterbenden tritt.

Es war ein jämmerlicher Anblick, der sich den beiden Weibern darbot, als sie durch die vergitterte Oeffnung in das Rattenloch blickten. Die Zelle war klein und eng. Auf dem steinernen Boden saß ein Weib, den Kopf bis auf die Kniee herabhängend, die Arme über die Brust gekreuzt. Sie war in einen braunen, faltenreichen Sack gewickelt, ihre langen, grauen Haare hingen bis aus die Füße herab, und beim ersten Anblick stellte sie eine seltsame Form dar, auf dem dunkeln Hintergrunde der Zelle in zwei Hälften getheilt, eine Art schwärzlichen Dreiangels, den der Strahl des Tages, der durch die Lucke fiel, in zwei Schattirungen theilte, die eine nächtlich, die andere beleuchtet. Es war eines jener Gespenster, halb Schatten, halb Licht, wie sie Einem im Traume erscheinen, bleich, unbeweglich, düster, auf einem Grabe sitzend oder durch das Gitterfenster eines Kerkers schauend. Es war kein Weib, es war kein Mann, es war kein lebendes Wesen, keine bestimmte Form: es war eine Figur, ein Traumgesicht, das in der Wirklichkeit und Phantasie zusammenfließt, wie Licht und Schatten. Kaum ließ sich unter seinen bis auf die Erde herabhängenden Haaren ein abgemagertes und ernstes Profil erkennen; kaum erblickte man auf dem kalten Stein die Spitze eines nackten Fußes, der unter dem Sacke hervorsah. Man schauderte bei dem Anblicke eines Wesens, dessen menschliche Form von seinem Trauergewande ganz bedeckt und unkenntlich war.

Diese Figur schien ein Marmorbild, ohne Bewegung, ohne Gedanken, ohne Athem. Im strengsten Wintermonat unter diesem leichten Leinwandsack, halbnackt auf dem steinernen Boden, im Schatten eines Kerkers, durch dessen schiefe Oeffnung nie ein Strahl der Sonne gelangte und nur der Wind einzog, schien sie nicht zu leiden, nicht einmal zu fühlen. Man konnte glauben, sie sei mit dem Kerker Stein, mit dem Winter Eis geworden. Ihre Hände waren gefaltet, ihre Augen fest auf einen Punkt gerichtet. Beim ersten Blicke hielt man sie für ein Gespenst, beim zweiten für eine Bildsäule.

Von Zeit zu Zeit öffneten sich ihre blauen Lippen zu einem Hauche und zitterten, aber so todtenähnlich und mechanisch, wie Blätter, die der Wind bewegt.

Aus ihren stieren Augen leuchtete ein Blick, unaussprechlich, tiefsinnig, düster, unverrückt auf einen Winkel der Zelle gerichtet, den man von Außen nicht sehen konnte, ein Blick, der alle finstern Gedanken dieser verlassenen Seele an irgend einen geheimnißvollen Gegenstand zu knüpfen schien.

Dies war das Geschöpf, das von seiner Wohnung den Namen Klausnerin, und von seiner Kleidung den Namen büßende Sackträgerin erhalten hatte.

Die drei Weiber blickten durch die Oeffnung. Ihre Köpfe nahmen dem Kerker seine schwache Beleuchtung vollends, ohne daß die Unglückliche darauf zu achten schien.

»Wir wollen sie nicht stören,« sagte Oudarde leise, »sie ist in ihrer Verzückung, sie betet.«

Inzwischen hatte Mahiette mit stets wachsender Angst das eingefallene Gesicht der Büßerin betrachtet; ihre Augen füllten sich mit Thränen und sie sagte halblaut für sich: »Das wäre doch sehr sonderbar!«

Sie steckte den Kopf zwischen dem äußeren Gitter der Oeffnung durch und konnte so bis in den Winkel sehen, auf den die Blicke der Unglücklichen unverändert gerichtet waren.

Als sie den Kopf aus der Oeffnung zurückzog, schwamm ihr Gesicht in Thränen. »Wie nennt Ihr diese Frau?« fragte sie.

Oudarde antwortete: »Wir nennen sie Schwester Gudula.«

»Und ich,« sagte Mahiette, »ich nenne sie Paquette Chantefleurie."

Sie legte den Finger auf den Mund und gab der verwunderten Oudarde ein Zeichen, ihren Kopf durch das Gitter zu stecken und hineinzublicken.

Oudarde sah in dem Winkel, auf welchen der düstere Blick der Klausnerin unausgesetzt gerichtet war, einen kleinen Schuh von rosenfarbenem Sammt mit Gold und Silber gestickt.

Nach ihr blickte Gervaise hinein, und nachdem alle drei die unglückliche Mutter betrachtet hatten, fingen sie bitterlich an zu weinen.

Die Klausnerin ließ sich weder durch ihre Blicke, noch durch ihre Thränen stören, sondern blieb unbeweglich. Mit gefalteten Händen, mit stummen Lippen heftete sie ihre stieren Blicke auf den kleinen Schuh, und wer die Geschichte dieses Schuhes wußte, dem mußte bei ihrem Anblicke das Herz brechen.

Die drei Frauen hatten noch kein Wort gesprochen; sie wagten nicht einmal halblaut zu reden. Dieser große, stumme Schmerz, der die ganze Welt um sich her vergaß und den innern Blick nur auf einen einzigen Gegenstand richtete, erschien ihnen als etwas Heiliges. Sie waren im Begriffe niederzuknieen und zu beten.

Endlich versuchte Gervaise, welche die Neugierigste und mithin am wenigsten Gefühlvolle war, die Klausnerin zum Reden zu bringen: »Schwester! Schwester Gudula!«

Sie wiederholte diesen Ruf dreimal, jedesmal mit verstärkter Stimme. Die Klausnerin rührte sich nicht, nicht ein Wort, nicht ein Blick, nicht ein Seufzer, kein Zeichen des Lebens!

Jetzt rief Oudarde mit sanfter und einschmeichelnder Stimme: »Schwester! Schwester Sanct-Gudula!«

Gleiches Schweigen, gleiche Unbeweglichkeit.

»Ein sonderbares Weib!« sagte Gervaise. »Ich glaube, man könnte einen Mörser losbrennen, ohne daß sie es hörte.«

»Sie ist vielleicht taub,« seufzte Oudarde.

»Vielleicht blind,« sagte Gervaise.

»Vielleicht todt,« fügte Mahiette hinzu.

Wenn auch die Seele diesen unthätigen, halberstorbenen, gelähmten Körper noch nicht verlassen hatte, so hatte sie sich doch in solche Tiefen zurückgezogen, wohin die Wahrnehmungen der äußeren Organe nicht mehr gelangten.

»Wenn wir den Fladen unter der Oeffnung zurücklassen,« sagte Oudarde, »so wird ihn irgend ein Junge wegnehmen. Wie machen wir es, um sie aufzuwecken?«

Der kleine Eustach, dessen Aufmerksamkeit bis jetzt ein Hund, der an einen kleinen Wagen gespannt war, auf sich gezogen hatte, wurde jetzt plötzlich gewahr, daß die drei Frauen durch die Oeffnung im Thurme Etwas betrachteten; die Neugierde trieb ihn, er stieg auf einen Stein, richtete sich auf seinen Zehen in die Höhe, brachte sein dickes, rothes Gesicht unter die Lücke und schrie: »Mutter, laß mich auch sehen!«

Bei dieser Kinderstimme, klar, frisch, wohltönend, schauderte die Klausnerin zusammen. Sie wendete das Haupt, ihre langen, abgemagerten Hände strichen ihre Haare von der Stirne zurück, und sie heftete auf das Kind einen Blick, erstaunt, bitter, verzweifelnd. Dieser Blick war nur ein einziger Blitz.

»O mein Heiland!« schrie sie plötzlich auf und verbarg ihr Gesicht zwischen den Knieen, »zeige mir wenigstens nicht die Kinder Anderer!«

»Guten Morgen, Madame!« sagte der Knabe ernsthaft.

Diese Erschütterung hatte die Klausnerin aufgeweckt und zu sich gebracht. Ein langer Schauder durchlief ihren Körper vom Kopf bis zu den Füßen. Sie klapperte mit den Zähnen, hob sich halb in die Höhe, drückte die Ellenbogen gegen die Hüften, nahm ihre nackten Füße in die Hand, um sie zu wärmen, und sagte: »Oh, wie kalt!«

»Armes Weib,« sagte Oudarde gerührt, »wollt Ihr ein wenig Feuer?«

Sie schüttelte das Haupt zum Zeichen der Verneinung.

»Oder,« fuhr Oudarde fort, indem sie ihr eine Flasche darreichte, »etwas süßen Wein? der wird Euch wärmen. Trinkt!«

Die Klausnerin schüttelte abermals das Haupt, blickte sie starr an und antwortete: »Wasser.«

»Nicht doch, Schwester, das ist kein Getränk in dieser Jahreszeit. Trinkt ein wenig Wein und eßt diesen Maiskuchen, den wir für Euch gebacken haben.«

Die Klausnerin schob den Fladen zurück, den ihr Mahiette darreichte, und sagte: »Schwarzes Brod.«

»Hier,« fiel Gervaise ein, indem sie ihren wollenen Mantel abnahm, »hier habt Ihr einen wärmeren Rock, als der Eurige ist.«

Sie wies ihn von sich und sagte: »Einen Sack.«

»Aber,« fuhr die gutmüthige Oudarde fort, »Ihr müßt doch auch ein wenig gewahr werden, daß gestern ein Fest war.«

»Ich habe es wahrgenommen,« sagte die Klausnerin, »denn seit zwei Tagen fehlt mir das Wasser in meinem Kruge.«

Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Es ist Festtag, man vergißt mich. Man thut wohl daran. Warum sollte auch die Welt an mich denken, die nicht an sie denkt? Ich bin ein erloschenes Feuer, eine kalte Asche.«

Wie ermattet von so vielen Worten, ließ die Klausnerin ihr Haupt wieder auf den Schooß sinken. Die einfache und gutmüthige Oudarde, die aus ihren letzten Worten schloß, daß sie sich abermals über die Kälte beklage, antwortete: »So wollt Ihr doch ein wenig Feuer?«

»Feuer!« sagte die Büßerin mit seltsamem Ausdruck, »und wollt Ihr auch meiner armen Kleinen, die seit fünfzehn Jahren unter der Erde liegt, ein wenig Feuer machen?«

Alle ihre Glieder zitterten, ihre Augen strahlten, sie hatte sich auf die Kniee emporgehoben, streckte plötzlich ihren abgemagerten Arm gegen den Knaben aus, der sie verwundert betrachtete, und schrie: »Tragt dieses Kind fort! Die Zigeunerin kommt!«

Sie sank wie leblos auf das Pflaster zurück und ihr Kopf schlug mit großem Geräusch auf dem Stein an. Die drei Frauen glaubten sie todt. Bald aber erhob sie sich wieder und kroch auf Händen und Füßen dem Winkel der Zelle zu, wo der kleine Schuh war. Voll Entsetzen zogen die Weiber ihre Köpfe zurück, sie wagten nicht hinzublicken. Jetzt hörten sie tausend Küsse und tausend Seufzer, vermischt mit herzzerreißendem Geschrei und dumpfen Stößen, wie wenn man mit dem Kopfe gegen eine Mauer rennt. Ein furchtbarer Stoß erfolgte, auf ihn tiefe Stille.

»Sie hat sich wohl getödtet,« sagte Gervaise und blickte durch die Oeffnung. »Schwester Gudula!«

»Schwester Gudula!« wiederholte Oudarde.

»O mein Gott, sie rührt sich nicht mehr!« rief Gervaise; »sie ist todt. Gudula! Gudula!«

Mahiette, der bisher das Mitleid die Stimme erstickt hatte, neigte sich plötzlich gegen die Oeffnung und rief: »Paquette! Paquette Chantefleurie!«

Dieser Ruf erschütterte den ganzen Körper der Klausnerin, sie sprang auf ihren nackten Füßen in die Höhe, war mit einem Satz an der Oeffnung und blickte mit so flammenden Augen heraus, daß die drei Weiber erschrocken zurückbebten.

»Oh! Oh!« schrie sie mit wahnwitzigem Gelächter, »die Aegypterin ruft mich!«

In diesem Augenblicke ging am Driller eine Scene vor, welche den düsteren Blick der Klausnerin fesselte. Entsetzen und Abscheu auf ihrem fahlen, finsteren Gesichte, streckte sie ihre beiden abgemagerten Arme durch das Gitter heraus und rief mit einer Stimme, die dem Geschrei einer unheilverkündenden Nachteule glich: »Bist du wieder da, Tochter aus Aegyptenland! Rufst du mich wieder, du Kinderdiebin! Verflucht, verflucht, verflucht seist du in Ewigkeit!«


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