Victor Hugo
Notre Dame
Victor Hugo

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VII.

Von der Charybdis in die Scylla

Im Januar wird es bald Nacht. Es war schon finster auf der Straße, als Gringoire aus dem Palaste trat; er suchte irgend eine abgelegene Straße zu erreichen, wo er in der Stille nachdenken und das Pflaster der Philosophie auf die Wunde legen konnte, die der Dichter empfangen hatte. Die Philosophie war allerdings seine einzige Zuflucht, denn er hatte nicht einmal die Tonne des Diogenes zur Wohnung, und wußte nicht, wohin er sein Haupt legen sollte. Nach dem schmählichen Durchfall, den sein theatralischer Versuch erlitten hatte, wagte er nicht, in seine alte Wohnung zurückzukehren, weil er die sechsmonatliche Miethe, die 12 Sous betrug, noch schuldig war und den Hausbesitzer auf die gehoffte Einnahme von seinem Stück vertröstet hatte. Als er in diesen düsteren Gedanken über den Platz des Palastes ging, um sich in das Labyrinth der Altstadt zu werfen, stieß er auf die Prozession des Narrenpabstes, die mit brennenden Fackeln, Musik und lautem Geschrei einherzog. Dieser Anblick riß die Wunden seiner Eigenliebe wieder auf; er floh davon und schlug den Weg nach der St. Michelsbrücke ein. Hier liefen Kinder mit Fackeln herum und ließen Feuerwerk los.

»Hole der Teufel alles Licht und mache die Welt so schwarz wie die Nacht!« fluchte der grämliche Poet und schlug einen anderen Weg ein. Da stieß er auf ein illuminirtes Haus, die Portraits des hohen Brautpaares glänzten in bunten Farben. Der Dichter kehrte ihnen den Rücken und wendete seine Schritte einer dunkeln Straße zu, die vor ihm lag. So erreichte er den westlichen Theil der Stadt. Als er auf den Grèveplatz kam, fand er ihn von einer großen Menschenmenge erfüllt. Ein junges Mädchen tanzte vor einem Kreise von Zuschauern, der sie umgab. War es ein menschliches Wesen oder eine Fee, oder ein Engel, das wußte sich Peter Gringoire, obgleich skeptischer Philosoph, im ersten Augenblicke nicht zu sagen, so sehr hatte ihn diese glänzende Erscheinung ergriffen.

Die Tänzerin war nicht groß, sie schien es aber, so fein und schlank war ihr Wuchs, ihr Gesicht war braun, aber ihre Haut hatte jenen schönen, goldenen Wiederschein der Andalusierinnen und Römerinnen; ihr Fuß war klein und niedlich; sie tanzte, wendete, drehte sich auf einem persischen Teppich herum, der nachlässig unter ihre Füße geworfen war, ihre großen schwarzen Augen strömten Blitze aus.

Alle Blicke waren auf die Tänzerin geheftet, und in der That, wenn man sie so schweben sah, mit hocherhobenem Tambourin in ihren runden Armen, schlank und lebendig wie eine Wespe in ihrem goldenen Mieder, ihrem mit Bändern besetzten Rocke, ihren nackten Schultern, ihren schwarzen Haaren und blitzenden Augen, so konnte man sie für ein übermenschliches Wesen halten.

Nicht anders, dachte Peter Gringoire bei sich, es ist ein Salamander, eine Nymphe, eine Göttin, eine Bacchantin!

In diesem Augenblicke ging eine der Locken auf dem Haupte der Nymphe auf, und das Kupferblech, das sie zusammengehalten hatte, fiel zur Erde.

Potz tausend! verbesserte sich der Poet, es ist eine Zigeunerin.

Alle Illusion war auf einmal verschwunden.

Die Zigeunerin tanzte jetzt mit zwei bloßen Säbeln auf der Stirne. Obwohl entzaubert, hatte doch der Anblick des ganzen Gemäldes, das sich ihm darbot, etwas Magisches für unsern Dichter: das Freudenfeuer, das auf dem Platze brannte, erhellte ihn mit einem rothflammenden Scheine, der sich auf den Gesichtern der Menge und auf der braunen Stirne der jungen Tänzerin abspiegelte. Unter den tausend Gesichtern, welche diese Flamme beleuchtete, erschien eines, das, noch mehr als alle andern, in die Betrachtung der Tänzerin vertieft war. Es war das ernste, ruhige und düstere Gesicht eines Mannes. Dieser Mann, dessen Kleidung man wegen der ihn umgebenden Menge nicht sehen konnte, schien nicht über 35 Jahre alt, obwohl er kahl war und nur noch einzelne, schon ergraute Haare sein Haupt nothdürftig deckten; seine hohe und breite Stirne war von Runzeln gefurcht; in seinen tiefliegenden Augen aber leuchtete das Feuer der Jugend und heftiger, tiefer Leidenschaften. Er hatte fortwährend seine Blicke auf die Zigeunerin gerichtet; sie wurden immer düsterer, und von Zeit zu Zeit flog ein schmerzliches, unheimliches Lächeln über seine Lippen.

Jetzt hörte das Mädchen auf zu tanzen, und das Volk klatschte ihr Beifall.

»Djali,« sagte die Zigeunerin.

Auf diesen Ruf kam eine schöne kleine Ziege mit vergoldeten Hörnern, vergoldeten Füßen und einem vergoldeten Halsbande.

»Djali,« sagte die Tänzerin, »jetzt ist es an dir.«

Sie setzte sich und hielt der Ziege ihren Tambourin hin.

»Djali,« fuhr sie fort, »in welchem Monat des Jahres sind wir?«

Die Ziege hob ihren Vorderfuß und gab einen Schlag damit auf das Tambourin. Die Menge staunte und klatschte Beifall.

»Djali,« fuhr die Zigeunerin fort, »den wie vielten Tag des Monats haben wir?«

Die Ziege hob ihren kleinen vergoldeten Fuß und gab damit sechs Schläge.

»Djali, wie viel Uhr ist es jetzt?«

Die Ziege gab sieben Schläge, und in demselben Augenblicke zeigte die Thurmuhr die siebente Stunde an.

Die Menge staunte und war bezaubert.

»Das geht nicht mit rechten Dingen zu, das ist Hexerei,« sagte der Kahlkopf, der die Zigeunerin nicht aus den Augen ließ, in finsterem Tone.

Beim Klang dieser Stimme schauderte das Mädchen zusammen, aber der stürmische Beifall der Menge gab ihr wieder frischen Muth.

»Djali,« fuhr sie fort, »mach einmal den Meister Guichard Grand-Remy bei der Prozession an Mariä Reinigung.«

Die Ziege setzte sich auf die Hinterfüße, fing an zu blöcken und marschirte so gravitätisch im Kreise herum, daß alle Zuschauer laut auflachten.

»Djali,« fuhr das Mädchen, durch den steigenden Beifall ermuntert, fort, »wie predigt der Meister Jakob Charmolue?«

Die Ziege setzte sich auf das Hintertheil, fing an zu blöcken und focht mit den Vorderfüßen so eifrig durch die Luft, daß man einen orthodoxen Pfarrer auf der Kanzel zu sehen glaubte.

Die Menge schlug ein wieherndes Gelächter auf.

»Kirchenschändung! Entweihung des Heiligen!« rief die Stimme des Kahlkopfs.

Die Zigeunerin wandte sich gegen ihn und sagte: »Oh, der garstige Mensch!« warf den Mund auf, drehte sich auf dem Absatz herum und hielt den Tambourin hin, um die Gaben der Zuschauer einzusammeln. Als sie an die Stelle kam, wo unser armer Dichter stand, fuhr er mechanisch in die Tasche und fand sie leer. Das schöne Kind stand vor ihm, betrachtete ihn mit ihren schwarzen Augen, hielt den Tambourin in der ausgestreckten Hand und wartete der Gabe. Der unglückliche Poet schwitzte große Tropfen. Hätte er Peru in der Tasche gehabt, er würde es hingegeben haben; aber Peter Gringoire hatte Peru nicht, und Amerika war noch nicht entdeckt. Glücklicherweise kam ein unerwarteter Zufall dem armen Dichter zu Hülfe.

»Willst Du dich packen, ägyptische Heuschrecke?« rief eine kreischende Stimme aus dem dunkelsten Winkel des Platzes. Die Tänzerin wendete sich erschrocken um. Es war nicht die Stimme des Kahlkopfs, sondern eine Weiberstimme, die Stimme einer bösen, garstigen Betschwester.

Dieser Zuruf, der die Zigeunerin erschreckte, erweckte ein Hellauf unter einem Rudel Kinder, die sich auf dem Platze herumtrieben.

»Die alte Klausnerin vom Rolandsthurm!« riefen sie mit lautem Lachen. »Die alte Hexe brummt! Hat sie nicht zu Nacht gegessen? Wir wollen ihr etwas von den Ueberresten des Buffet der Stadt zutragen.«

Der ganze Haufen stürzte sich zumal der Tafel zu, an welcher heute die Stadt Paris öffentlich speisen ließ.

Diesen Zwischenakt hatte der Dichter benützt, um sich von der Tänzerin wegzuschleichen. Das Geschrei der Kinder brachte ihm in Erinnerung, daß er auch noch nicht gespeist habe. Er lief demnach dem Buffet zu; aber die kleinen Spitzbuben hatten flinkere Beine als er, und als er ankam, hatten sie bereits die Tafel geleert.

Es ist ein böses Ding, hungrig zu Bette zu gehen; noch schlimmer ist es aber, wenn man weder Nachtessen noch Bett hat. In diesem Falle befand sich unser Poet. Kein Brod, kein Obdach, Mangel an Allem! Er hatte schon lange die Entdeckung gemacht, daß Jupiter die Menschen in einem Anfall von Misanthropie geschaffen, und daß der Weise sein ganzes Leben lang mit den Tücken eines feindlichen Schicksals zu kämpfen habe.

Aus diesen düsteren Gedanken weckte ihn ein, obgleich lieblicher, doch seltsam klingender Gesang. Die junge Zigeunerin war es, die ihn angestimmt hatte. Die Worte, welche sie sang, gehörten einer unserem Dichter unbekannten Sprache an. Gleichwohl wurde er von der Lieblichkeit derselben ganz hingerissen, und dies war seit mehreren Stunden der erste Augenblick, wo er weder Hunger noch Durst fühlte.

Dieser Moment war nur kurz. Die nämliche Weiberstimme, welche den Tanz der Zigeunerin unterbrochen hatte, unterbrach auch ihren Gesang.

»Willst Du wohl schweigen, Du höllische Grille?« schrie sie aus dem nämlichen dunkeln Winkel.

Die arme Grille hielt plötzlich inne. Peter Gringoire hielt sich die Ohren zu und rief: »Verdammte, schnarrende Säge, welche die Leier zermalmt!«

Die übrigen Zuschauer murrten gleich ihm. »Zum Teufel mit der alten Klosterschwester!« riefen mehrere Stimmen, und die geifernde Betschwester hätte vielleicht ihre Ausfälle gegen die Zigeunerin zu bereuen gehabt, wenn nicht in diesem Augenblicke die Prozession des Narrenpabstes, nachdem sie zuvor durch hundert Gassen gezogen, mit Fackeln und großem Geräusch auf dem Grèveplatz erschienen wäre.

Diese Prozession hatte sich, seit sie den Justizpalast verlassen, vollständig organisirt und Alles an sich gezogen, was die Stadt Paris an disponiblen Gaunern, Dieben und Landstreichern besaß. Sie bot daher, als sie auf dem Grèveplatz ankam, einen sehr respektabeln Anblick dar.

Voran marschirte Aegyptenland. Der Herzog von Aegypten zu Pferd an der Spitze, neben ihm her seine Grafen zu Fuß, Steigbügel und Zaum seines Rosses haltend; hinter ihnen Aegypter und Aegypterinnen, mit ihren schreienden Kindern auf der Schulter, in bunter Mischung.

Hierauf kam das Königreich Kauderwelsch, d. h. sämmtliche Diebe von Frankreich, nach Stand und Würden geordnet; die Geringsten an Stand und Würde zogen voran, je vier und vier mit den verschiedenen Insignien ihrer Grade in dieser seltsamen Fakultät. Zuletzt kam, von den Großwürdenträgern seines Reiches umgeben, der König des Königreichs Kauderwelsch in einem kleinen Wagen, den zwei große Hunde zogen. Dann kam das Kaiserreich Galiläa mit seinem Kaiser in der Mitte seines Hofstaats. Endlich erschien, im Mittelpunkt dieses Gewimmels, auf seinem von hundert Kerzen erhellten Tragsessel der Narrenpabst, von den Großwürdenträgern seines Reichs auf den Schultern getragen. Dieser Pabst, auf seinem glänzenden Sessel sitzend, die dreifache Krone auf dem Haupt, St. Peters Stab in der Hand, war der Glöckner der Liebfrauenkirche, Quasimodo der Bucklige.

Das häßliche und düstere Gesicht des Zwergs hatte einen Anflug von Selbstgefühl und Wohlbehagen angenommen. Dies war der erste Genuß seiner Eigenliebe, den er jemals empfunden. Bis auf diese Stunde hatte er bloß Demüthigung, Verachtung seines Gewerbes, Ekel an seiner Person erfahren. Obgleich taub, schlürfte er doch, wie ein wahrer und wirklicher Pabst, den Beifallsruf der Menge behaglich ein. Ob sein Volk ein zusammengeraffter Haufe von Narren, Gaunern, Dieben und Bettlern war, was lag daran! Es war immer ein Volk und er ein Souverän. Der Zwerg nahm die ironischen Beifallsbezeugungen, die man ihm erwies, als vollen Ernst auf. Man muß jedoch gestehen, daß sie nicht ohne eine Beimischung von Furcht dargebracht wurden, denn der Bucklige war stark, der Krummbeinige behend und der Taube bösartig; lauter Eigenschaften, die den Scherz dämpfen.

Im Uebrigen glauben wir nicht, daß der neue Narrenpabst von den Gefühlen, die er empfand und einflößte, sich selbst Rechenschaft ablegen konnte. Der Geist, der in diesem verwahrlosten Körper wohnte, hatte natürlich auch etwas Unvollständiges und Mangelhaftes. Was der Zwerg in diesem Augenblicke fühlte, war für ihn durchaus unklar und unbestimmt. Nur das ließ sich erkennen, daß die Freude auf seinem Gesichte schimmerte und der Hochmuth auf seiner Stirne thronte.

Nicht ohne Staunen und Schrecken sah man daher, als Quasimodo in der Trunkenheit seiner Macht triumphirend einherzog, einen Mann aus der Menge auf ihn zustürzen und ihm mit zorniger Geberde den vergoldeten Stab, den er als Zeichen seines Pabstthums in der Hand trug, entreißen. Dieser Verwegene war der Kahlkopf, der kurz zuvor das arme Zigeunermädchen durch seine drohenden Worte erschreckt hatte. Er trug eine geistliche Kleidung. Im Augenblicke, da er aus der Menge trat, erkannte ihn Peter Gringoire, der ihn bis jetzt nicht bemerkt hatte, und rief erstaunt: »Das ist ja mein Meister in Hermes, Don Claude Frollo, Archidiakonus! Was Teufels will er von diesem garstigen Einäugigen? Hat er etwa Lust, sich von ihm mit den Zähnen zerreißen zu lassen?«

In der That erhob sich eben auch ein Schrei des Entsetzens. Der furchtbare Zwerg war schnell von dem Tragsessel herabgestürzt, und die Weiber wendeten bereits ihre Augen ab, denn sie glaubten nicht anders, als daß er den Archidiakonus mit Haut und Haar auffressen würde.

Quasimodo hatte mit einem mächtigen Satze den Angreifer erreicht, blickte ihm verwundert ins Gesicht und fiel dann auf die Kniee nieder. Der Priester riß ihm seine dreifache Krone ab und zerschlug seinen vergoldeten Stab. Quasimodo blieb mit gesenktem Haupte und gefalteten Händen auf den Knieen liegen.

Jetzt erhob sich zwischen den Beiden ein seltsames Zwiegespräch von Zeichen und Geberden, denn weder der Eine noch der Andere redete. Der Priester, aufrecht, zornig, drohend, gebieterisch; Quasimodo bestürzt, demüthig, flehend!

Endlich faßte der Priester den Zwerg an seiner mächtigen Schulter rauh an und gab ihm ein Zeichen, aufzustehen und ihm zu folgen. Quasimodo erhob sich.

Jetzt wollte die Brüderschaft der Narren, nachdem sie von ihrer Ueberraschung zurückgekommen war, ihren so plötzlich entthronten Pabst vertheidigen. Das Königreich Aegypten und ganz Kauderwelsch stürzten auf den Priester los.

Da stellte sich der Zwerg vor ihn hin, ballte seine mächtigen Fäuste und grinste mit den Zähnen, wie ein erboßter Tiger. Der Priester gab ihm ein Zeichen und wendete sich stillschweigend von der Menge ab. Der Zwerg schritt vor ihm her und öffnete ihm links und rechts einen Weg.

Ein Haufe Neugieriger und Müßiger folgte ihnen schreiend nach. Jetzt deckte der Zwerg den Rückzug des Priesters. Als ihn die Menge so erblickte, in seiner untersetzten kräftigen Gestalt, mit seinem düstern, unglückverkündenden Gesichte, seine unförmlichen Glieder zum Kampf anspannend, gleich einem Keuler des Waldes seine Hauer leckend, grinsend wie ein wildes Thier, hielt sie sich in gemessener Entfernung.

Bald hatten Priester und Zwerg eine enge finstere Gasse erreicht, wohin ihnen Niemand zu folgen wagte, so sehr schreckte schon der Gedanke an das grinsende Thier Quasimodo Jeden zurück.

»Seltsam! Sonderbar!« sprach Peter Gringoire, der diesem Auftritt angewohnt hatte, »aber wo Teufels werde ich etwas zu essen finden?«


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