Victor Hugo
Notre Dame
Victor Hugo

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Einleitung

Victor Hugo ist in der ganzen Welt, von Freund und Feind, als einer der ausgezeichnetsten Dichter anerkannt, die je auf Erden gewandelt. Er wurde 1802 in Besançon geboren und gehört einer alten, schon vor Jahrhunderten auf den Schlachtfeldern geadelten Grafenfamilie an. Sein Vater, der als General in den Diensten des Königs Joseph Bonaparte zuerst in Neapel focht, wo er dem gefährlichen Räuber oder vielmehr Parteigänger Fra Diavolo das Handwerk legte, und dann den spanischen Krieg mitmachte, nahm, wie andere Napoleon'sche Feldherren, seine Familie mit, und so kam es, daß Victor Hugo schon in seiner zartesten Kindheit in Italien und Spanien reiste. Die Sonne des Südens wärmte mit ihren glühendsten Strahlen dieses enthusiastische junge Haupt; aber die ersten Eindrücke, welche der Dichterknabe in dem Farbenglanze einer herrlichen großen Natur empfing, trugen das Gepräge des Abenteuerlichen, Romantischen, Wilden.

War der Vater, ein tapferer Krieger, der unter dem Cäsar der neuen Welt Europa durchzog und in allen Ländern Lorbeeren erntete, gleichsam das Prinzip der Bewegung und Ruhmbegierde für den Sohn: – so knüpften ihn dagegen die Mutter, eine Vendéerin, und seine Lehrer ein Royalist und Geistlicher, Anhänger des alten Regimes, noch stärker an das Poetische und Gefühlige der Mittelalterlichkeit. Der Zauber keuscher Minne, die Innigkeit der Religiosität, mit all' den wundervollen und phantastischen Erscheinungen, die sie erzeugen, drückten sich tief in das Gemüth des jungen Hugo; dabei nahm derselbe den tragischen Ernst, man möchte sagen, die Melancholie des untergehenden Griechen- und Römerthums aus den klassischen Schriften des Polybius und Tacitus in sich auf. Allerdings wird ein Dichter geboren: aber wer wird läugnen, daß solche Anschauungen, eine solche Zeit, solche gleichsam schon in die Wiege gelegten Elemente die Produktivität schnell befruchten, zeitigen und stärken, wenn man in Goethe's »Dichtung und Wahrheit« liest, wie mächtig auf ihn die vergleichungsweise ärmlichen Umgebungen und Verhältnisse seiner Jugendjahre wirkten?

Es darf daher nicht verwundern, daß er schon in seinem dreizehnten Jahre seine Begeisterung für das Ritterthum in Versen zur Ehre Roland's auszudrücken versuchte.

Hugo's Bildungsgang erlitt eine Veränderung, als sich sein Vater von seiner Mutter, wegen ihrer geheimen Verbindungen mit der Emigration, trennte. Er wurde in eine zum Gymnasium Ludwigs des Großen gehörige Anstalt versetzt, und schrieb hier, den Grundsätzen seiner Mutter getreu, eine legitimistische Tragödie, Irtamène. Schon beginnt seine schriftstellerische Laufbahn. Als Concurrent um den von der Académie française ausgesetzten Preis für das beste Gedicht »über die Vorzüge des Studiums,« um welchen sich Männer wie Lebrun, Delavigne u. A. bewarben, wurde er zwar nicht gekrönt, aber belobt. Der Dichter war damals erst fünfzehn Jahre alt, und schloß daher sein Preisgedicht mit den Versen:

»Ich, der ich stets gefloh'n von Hof und Städten bin,
Sah kaum drei Lustra zieh'n ob meinem Haupte hin.«

Die erstaunten Akademiker hätten, als sie sich von dieser kaum glaublichen Thatsache überzeugten, dem jungen Talente gern den Preis verliehen, aber er war schon vergeben. Ein Preis, den sein Bruder von der Toulouser Akademie erhielt, feuerte ihn noch mehr an, und er gewann auch bei derselben Akademie im Jahre 1819 deren zwei durch Oden: über die Statue Heinrichs IV. und die Jungfrauen von Verdun (welche im Jahre 1792 das Opfer ihrer Anhänglichkeit an die Emigranten geworden waren). Hier ist die Gelegenheit, auf die ausnehmende Schnelligkeit aufmerksam zu machen, womit Hugo producirt. Seinen ersten Roman »Bug Jargal« schrieb er, 16 Jahre alt, aus Veranlassung einer Wette, in vierzehn Tagen. Die Ode über die Statue Heinrichs IV. verfaßte er in Einer am Krankenbette seiner Mutter durchwachten Nacht. Auch diesmal wollte die Akademie nicht glauben, daß er erst siebzehn Jahre zähle. Im folgenden Jahre erhielt er nochmals den Preis für das Gedicht: »Moses am Nil.«

Von nun an betritt er seine eigentliche Laufbahn als Schriftsteller. Er hatte das Rechtsstudium, dem er sich widmen sollte, vernachlässigt; mit seinem Vater war er, als politischer Meinungsgenosse der Mutter, zerfallen; dadurch gerieth er in Sorgen für sein Auskommen. Aber ein noch weit mächtigerer Sporn war die Liebe. Hugo ist der Sänger der reinsten, tiefsten, innigsten, hingebendsten, ihren Gegenstand vergötternden Liebe. Er konnte dies nur durch Erfahrungen in seinem eigenen Herzen werden. Er hatte eine Jugendgeliebte, der er mit schwärmerischer Neigung zugethan war; man verbot ihm, sie zu besuchen. Dies war, sagt man, die Veranlassung zu seinem schauerlichen Roman »Han d'Islande«, worin er, neben einem das Böse an sich liebenden Ungeheuer (welches jedoch die Grenzen menschlicher Bosheit überschreitet), die Treue und Aufopferung der allen Gefahren und Verhältnissen trotzenden Liebe schildert. Grund und Boden dieses Romans ist zum Theil historisch.

Die Vielseitigkeit von V. Hugo's Talent, woraus wir durch diese neue Dichtgattung, in der er sich auszeichnete, geführt werden, ist nicht minder bewunderungswerth, als seine Fruchtbarkeit und Leichtigkeit. Als Lyriker, als Romantiker, als Dramatiker, als UebersetzerUnter dem Namen d'Auverney gab er Uebersetzungen von Virgil und Lucian heraus., als Kritiker und Polemiker hat er fast gleiches Aufsehen gemacht. Seine Oden, Balladen, Hymnen gelten in Frankreich als das Vorzüglichste. Als Kritiker hat er in der Zeitschrift »Conservateur litéraire« vortreffliche Artikel über Walter Scott, Byron, Moore geliefert, auch politische und kritische Ansichten ausgesprochen, welche unter den Rubriken: Literatur und Philosophie in unserer Sammlung ihren Platz finden. Er war es auch, der das poetische Genie Lamartine's, mit welchem er hernach ein freundschaftliches Verhältniß anknüpfte, zuerst in einer begeisterten, den Zustand der damaligen französischen Lyrik satyrisirenden Kritik begrüßt hat.

Der berühmte Châteaubriand nannte ihn ein »erhabenes Kind« (enfant sublime), und auch dieser große Schriftsteller würdigte ihn eines näheren Umganges.

Victor Hugo, einmal ganz in die schriftstellerische Carrière eingetreten, zu Paris in sparsamer Zurückgezogenheit von dem Lohne seines Fleißes lebend, arbeitete angestrengtest, um bald seiner Geliebten eine sorgenfreie Existenz an seiner Hand anbieten zu können. Sein Stolz verhinderte ihn, die Unterstützung seines Vaters anzunehmen. Dagegen wollte sein gutes Glück, daß Ludwig XVIII. einen schönen Charakterzug des Dichters großmüthig belohnte, statt die Ungesetzlichkeit desselben zu bestrafen. Einer seiner Jugendfreunde war in die Militär-Conspiration von Saumur verwickelt. Delon, so hieß er, wurde gerichtlich verfolgt, und Hugo bot dem Flüchtigen, in einem Briefe an dessen Mutter, sein Zimmer an. Der König bekam durch die Polizei diesen Brief in die Hände, und ertheilte ihm die erste aufgehende Pension. Nun stand dem Glücke des Liebenden nichts mehr im Wege; er vermählte sich im Jahre 1822.

Aus allem bisher Gesagten ergibt sich, daß Hugo aus poetischem Interesse den Ideen der Restauration angehörte, weßhalb seine Muse mit dem oppositionellen Streben der öffentlichen Meinung in direktem Widerspruch stand. Auch das Genie zieht im Kampfe mit dem Zeitgeist, sobald dieser eine gesunde Richtung verfolgt, den Kürzern. Deshalb hatte Hugo bisher zwar mit seinen Produktionen Aufsehen gemacht, aber es zu keinem entschiedenen Beifall bringen können, da er sich zwei mächtige Gegner zumal zuzog: die politische Meinung der großen Mehrzahl in Frankreich, und die Verfechter der alten sogenannten klassischen Schule in der schönen Literatur. Sei es nun, daß Hugo einsah, er müsse, um den Schutz des Publikums gegen seine belletristischen Gegner zu gewinnen, in der Politik sich einigermaßen mit demselben conformiren, oder daß er, wie auch sein Freund Châteaubriand, den großen Unfug der veralteten Aristokratie und des verderbten Pfaffenthums, die dem Absolutismus zustrebten, mit richtigem Urtheil erkannte: – genug, er ließ die politische Fehde ruhen, veröffentlichte ein Gedicht auf Napoleon und eine Ode: »à la Colonne« (auf die Vendôme-Säule), welche mit allgemeinem Beifall aufgenommen wurde. So gerüstet trat er auch als Dramatiker in die Schranken mit dem größtentheils verfehlten und veralteten Klassicismus, – ein Wettstreit, der großes Aussehen erregte und lange die Aufmerksamkeit des Publikums zwischen sich und der Politik getheilt hielt. Sein Drama: Cromwell, obwohl es an ergreifenden Situationen, originellen Charakteren und vortrefflichen Stellen keineswegs Mangel leidet, ist schon wegen seiner Ausdehnung und Ueberfüllung mit Personen für die Bühne nicht geeignet: dagegen ist Marion Delorme, deren Aufführung die ministerielle Theater-Censur von 1829 untersagte, von so hochtragischer Erfindung, und, bei der Gewagtheit des Sujets, so geistreich durchgeführt, daß wir ihr den Preis unter den Tragödien des Dichters zuerkennen möchten.

Die Aufführung des Hernani veranlaßte einen wahren Parteienkampf im Théâtre français (1830); und doch ist Hernani mit der hervorstechenden Person Kaiser Carls V., trotz der sinnreichen Aufführung des psychologischen Streits zwischen Ehre, Haß, Liebe und Rache kühler, als die meisten andern Dramen Hugo's.

Die Erhebung der französischen Nation in den Julitagen begeisterte auch unsern Dichter; er sang eine Ode zur Verherrlichung derselben. Aber auch ihn degoutirte das daraus hervorgehende juste-milieu, besonders als man wegen angeblich anstößiger Stellen gegen den König Louis Philipp die Aufführung seines neuen Drama's: Le roi s'amuse verbot. In dem Prozeß darüber sprach er sich drohend gegen das Ministerium aus. Dessen ungeachtet gestalteten sich die Verhältnisse des Dichters, dessen Ruhm und Popularität mit jedem neuen Band Gedichte, mit jedem neuen Schauspiel (Marie Tudor, Marion Delorme, die Burggrafen, Hernani u. s. w.), mit jedem neuen Band Prosa stiegen und durch den Roman Notre-Dame ihren Gipfelpunkt erreichten, zur Julimonarchie auf's Freundlichste, und als Frucht dieses guten Einvernehmens verdient folgendes, in's Jahr 1839 fallende Factum besonders hervorgehoben zu werden, das dem Dichter und dem Könige gleich sehr zur Ehre gereicht.

Als der trotzige Rebell Barbès zum Schaffot verurtheilt war, kam seine Schwester zu dem Dichter und flehte, er möchte den König zur Begnadigung ihres Bruders veranlassen. Ein erster Schritt war ohne Erfolg geblieben. Der Hof trauerte damals um die sanftherzige Marie von Württemberg, und der Graf von Paris war kaum erst auf die Welt gekommen. V. Hugo ging am 12. Juli um Mitternacht noch einmal zum Könige. Se. Majestät war nicht mehr sichtbar. Da schrieb er folgende Strophe, die er auf einem Tische liegen ließ:

Bei jenem taubengleich von Dir entflog'nen Engel,
Bei diesem Königskind, dem zarten Blumenstengel,
Beim Grab und bei der Wieg' steh ich noch einmal heut:
Gib Gnade, Herr, und üb', Gott gleich, Barmherzigkeit.

Bei seinem Erwachen las Ludwig Philipp die vier Zeilen, und Barbès war gerettet.

Im Juni 1841 kam V. Hugo in die Akademie, und zwei Jahre später wurde er zur Pairswürde erhoben.

Als L. Philipp im Februar 1848 relicta non bene parmula davonlief, schloß V. Hugo sich der Republik an und vertheidigte sie als Abgeordneter mit großer Entschiedenheit in Reden, welche die glänzendste oratorische Befähigung beurkundeten. Gegen den Staatsstreich focht er sogar nebst seinen Söhnen auf den Barrikaden und schrieb hernach das von der maßlosesten Parteileidenschaft eingegebene Pamphlet: Napoléon le petit. Seitdem lebte er als Flüchtling theils in Belgien, theils in London, und bewohnt nun schon mehrere Jahre die Insel Jersey, von wo er 1856 einen neuen Band Gedichte herausgab, der in Frankreich verschlungen wurde. Gegenwärtig soll er mit Vollendung eines sechsbändigen Romans beschäftigt sein, welcher den Titel führt: Das Elend. Wir werden nicht ermangeln, ihn gleich nach seinem Erscheinen unserer neuen Sammlung einzuverleiben.

Was die äußeren Verhältnisse des Dichters betrifft, so ist er, abgesehen von dem untröstlichen Schmerz um das verlorene Vaterland, keineswegs zu beklagen. Er erfreut sich des angenehmsten Familienlebens und dabei eines ansehnlichen Wohlstandes, wie ihn Frankreich seinen ausgezeichneten Schriftststellern selten vorenthält.

Stuttgart, im August 1858.



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