Victor Hugo
Die Elenden. Fünfter Theil. Jean Valjean
Victor Hugo

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Nachtrag

Brief an Herrn Daelli, Herausgeber der italienischen Übersetzung der »Elenden«, zu Mailand.

Hauteville-House den 18. Oktober 1862.

»Sie haben Recht, mein Herr, wenn Sie mir sagen, das Buch ›die Elenden‹ sei für alle Völker geschrieben. Ich weiß nicht, ob es von allen gelesen werden wird, geschrieben aber habe ich es für alle. Es wendet sich an England so gut wie an Spanien, an Italien so gut wie an Frankreich, an Deutschland so gut wie an Irland, sowohl an die Republiken, wo Sklaven gehalten werden, als auch an die Monarchieen, wo es Leibeigne giebt. Die Schwären der Menschheit, die großen Schwären, die den Erdball bedecken, halten nicht inne vor den blauen und rothen Strichen der Landkarten. Ueberall, wo der Mann in Unwissenheit und Verzweiflung schmachtet; überall, wo das Weib sich verkauft um Brod zu haben; überall, wo das Kind des lehrreichen Buches und des wärmenden Heerdes ermangelt, klopft das Buch ›die Elenden‹ an die Thür und sagt: Macht mir auf, ich bringe Euch etwas.

In der noch so trüben Periode der Civilisation, die wir gegenwärtig durchmachen, bedeutet ›der Elende‹ und »der Mensch« dasselbe; er leidet unter allen Himmelsstrichen und klagt in allen Sprachen.

Ihr Italien ist so wenig von dem Nebel frei, wie unser Frankreich. Ihr schönes Italien trägt auf seinem Antlitz alle Arten von Elend. Haust das Banditenthum, eine wilde Abart des Pauperismus, nicht in Ihren Bergen? Wenige Nationen sind von den Eiterbeulen des Mönchthums, die ich zu seciren versucht habe, so furchtbar zerfressen, wie Ihr Land. Trotz Rom, Mailand, Neapel, Palermo, Turin, Florenz, Siena, Pisa, Mantua, Bologna, Ferrara, Genua, Venedig, trotz Eurer ruhmvollen Geschichte, trotz Eurer imposanten Ruinen, prachtvollen Denkmäler, stolzen Städte, seid Ihr Nothleidende wie wir. Wunderwerke und Ungeziefer. Gewiß ist Italiens Sonne über alle Begriffe herrlich, aber ach! unter dem schönen, blauen Himmelsdom wandeln Menschen in Lumpen.

Bei Euch, wie bei uns herrschen Vorurtheile, Aberglaube, Tyrannei, Fanatismus, blinde Gesetze, die sich zu Helfershelfern der Unwissenheit hergeben. Ihr könnt nie die Gegenwart und Zukunft genießen, ohne daß der bittere Nachgeschmack der Vergangenheit Euch die Freude verdirbt. Ihr habt einen Barbaren, den Mönch, und einen Wilden, den Lazzarone. Die soziale Frage lautet für Euch ebenso, wie für uns. Es sterben bei Euch weniger Leute Hungers und mehr an der Malaria; Eure soziale Hygiene ist nicht weiter vorgeschritten als unsre; ist der Obskurantismus in England protestantisch, so ist er in Italien katholisch, aber trotz der Verschiedenheit der Benennungen ist der vescovo identisch mit dem bishop. Die Bibel schlecht erklären oder das Evangelium falsch verstehen, kommt auf Eins heraus.

Soll ich noch mehr Beweise bringen, noch vollständiger diese schaurige Uebereinstimmung erläutern. Habt Ihr keine Bedürftigen? Blickt nach unten. Keine Schmarotzer? Seht nach oben. Zittert nicht vor Euren Augen, wie vor den unsrigen die grauenvolle Wage, auf der sich der Pauperismus und das Schmarotzerthum ein so leidenvolles Gleichgewicht halten?

Wo ist Eure Armee von Schulmeistern, die einzige Armee, die der Civilisation gefällt? Wo sind Eure unentgeltlichen und obligatorischen Schulen? Kann in dem Vaterlande Dantes und Michelangelos Jedermann lesen? Habt Ihr aus Euren Kasernen Prytaneen gemacht? Habt Ihr nicht wie wir ein großes Kriegs- und ein lächerlich winziges Unterrichtsbudget? Habt nicht auch ihr den passiven Gehorsam, der so leicht soldatischen Charakter annimmt? Habt Ihr nicht einen Militarismus, der so konsequent ist auf Garibaldi zu schießen, d. h. auf die Fleisch gewordne Ehre Italiens? Unterziehen wir Eure Gesellschaftsordnung einer Prüfung; sehen wir zu, was sie in Bezug auf die Hauptsache, die Fürsorge für das Weib und das Kind, leistet. Nach dem Quantum Schutz, den sie diesen beiden schwachen Wesen angedeihen läßt, mißt man den Wert einer Civilisation. Ist nun die Prostitution weniger grauenerregend in Neapel wie in Paris? Welches Quantum Wahrheit ist in Euren Gesetzen enthalten und wieviel Gerechtigkeit spenden Eure Gerichtshöfe? Seid Ihr etwa so glücklich nicht zu wissen, was die fürchterlichen Wörter: Vindicta, Ehrlosigkeitserklärung, Zuchthaus, Schaffott, Henker, Todesstrafe bedeuten? Italiener, bei Euch wie bei uns ist Beccarias System tot und Farinace's lebt. Sehen wir ferner zu, wie es mit den Principien Eures Staatswesens steht. Habt Ihr eine Regierung, die begreift, daß Moral und Politik identisch sind? Es kommt bei Euch vor, daß Helden eine Amnestie gewährt wird!

In Frankreich hat man etwas Aehnliches gethan. Laßt uns doch einmal über die verschiednen Arten Elend eine Musterung halten, bringe Jeder herbei, was er hat; so werden wir sehen, daß Ihr so reich seid, wie wir. Giebt es nicht bei Euch wie bei uns eine religiöse, von dem Priester ausgesprochne und eine sociale, von dem Richter verhängte Verurtheilung? O großes, italienisches Volk, Du gleichst dem großen, französischen Volke. Ach, liebe Brüder, Ihr seid wie wir ›Elende‹.

Aus der Tiefe der Finsterniß, in der wir und Ihr schmachten, seht Ihr Edens lichte und ferne Pforten nicht viel deutlicher als wir. Nur irren sich die Priester. Jene heiligen Pforten liegen nicht hinter, sondern vor uns.

Ich fasse jetzt das Gesagte zusammen. Dieses Buch ›Die Elenden‹ ist nicht weniger ein Spiegel für Euch, als für uns. Natürlich! Spiegel werden gehaßt, weil sie die Wahrheit sagen; das hindert aber nicht, daß es nützliche Gegenstände sind.

Was mich anbelangt, so habe ich für Alle geschrieben, mit inniger Liebe für mein Vaterland, aber ohne Frankreich mehr im Auge zu haben, als andre Länder. Je älter ich werde, desto mehr vereinfache ich mich und desto mehr werde ich Patriot der Menschheit.

So will es auch die Tendenz unsrer Zeit und das Ausstrahlungsgesetz der französischen Revolution; die Bücher müssen, um der zunehmenden Erweiterung der Civilisation zu entsprechen, aufhören exklusiv französisch, italienisch, deutsch, spanisch, englisch, zu sein und europäisch, ja sogar rein menschlich werden.

Woraus sich eine neue Logik der Kunst ergiebt, gewisse neue Regeln der litterarischen Technik, die alles abändern, sogar die ehedem recht engherzigen, aesthetischen und sprachlichen Anforderungen an den Schriftsteller, Anschauungen, die wie alles Andre sich erweitern müssen.

In Frankreich haben mir gewisse Kritiker zu meiner größten Freude den Vorwurf gemacht, ich hielte mich nicht innerhalb der von ihnen so genannten Grenzen des französischen Geschmacks; ich wünschte nur, ich hätte dieses Lob verdient.

Alles in Allem genommen, thue ich, was ich kann; empfinde schmerzlich das allgemeine Weh, und bemühe mich, Abhülfe zu schaffen. Ich habe nur die geringe Kraft eines Menschen und sage zu Allen: Helft mir!

Dies ist es, mein Herr, was Ihr Brief mich bewog, Ihnen zu sagen; ich sage es für Sie und Ihr Vaterland. Wenn ich das Thema so ausführlich behandelt habe, so wurde ich dazu durch eine Stelle Ihres Briefes veranlaßt. Sie schreiben mir: Es giebt Italiener und zwar viele, die da sagen, das Buch ›Die Elenden‹ sei ein französisches Buch, das uns nichts angeht. Mögen die Franzosen es als ein Geschichtswerk lesen, wir lesen es als einen Roman. Ach! ob wir Italiener oder Franzosen sind, das Elend geht uns Alle an. Seitdem die Geschichte erzählt und die Philosophie denkt, ist das Elend das Kleid der Menschheit; es wäre wohl Zeit, daß man endlich diesen Plunder herunterrisse und das nackte Volk, statt mit den scheußlichen Lumpen der Vergangenheit, mit dem großen Purpurgewand der Zukunftsmorgenröthe umhüllte.

Sollte Ihnen dieser Brief geeignet scheinen, Aufklärung zu verbreiten und Vorurtheile zu widerlegen, so können Sie ihn veröffentlichen.

Empfangen Sie von Neuem die Versicherung meiner ausgezeichnetsten Hochachtung

 

Victor Hugo.

 


 << zurück