Victor Hugo
Die Elenden. Fünfter Theil. Jean Valjean
Victor Hugo

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Erstes Buch. Eine Schlacht zwischen vier Wänden

I.
Die Charybdis in der Vorstadt Saint-Antoine und die Scylla in der Vorstadt des Temple

Die beiden denkwürdigsten Barrikaden, die der Beobachter der socialen Kämpfe anführen kann, gehören nicht der Zeit an, in der sich die Handlung dieses Buches abspielt. Diese beiden Schanzen, die in verschiedner Hinsicht Symbole einer furchtbaren Periode waren, entstanden während der Junirevolution des Jahres 1848, des größten Straßenkampfes, den die Geschichte gesehen hat.

Es kommt hier und da vor, daß den Principien, ja sogar der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, ja sogar dem allgemeinen Stimmrecht, der Herrschaft Aller zum Trotze der ewig verzweifelte Theil der Nation, das Gesindel in seiner Angst, seiner Pein, seinem Elend, seiner Unwissenheit zu den Waffen greift, daß der Pöbel dem Volk eine Schlacht liefert, sich gegen das gemeinsame Recht auflehnt.

Dergleichen Ereignisse stimmen den Menschenfreund schwermüthig, denn auch diesem verrückten Beginnen liegt ein gewisses Maß Recht zu Grunde und die Schimpfworte Lumpe, Gesindel, Ochlokratie, Pöbel, konstatieren leider eher ein Verschulden der herrschenden, als der leidenden Stände, eher der Bevorrechtigten, als der Enterbten.

Was uns persönlich betrifft, so sprechen wir diese Worte nie ohne ein Gefühl des Mitleids und der Achtung aus. Denn wenn die Philosophie den ihnen entsprechenden Tatsachen auf den Grund geht, so findet sie oft recht viel Großes und Erhabnes neben Gemeinheit und Elend. Athen hatte eine ochlokratische Regierung; die Geusen haben Holland unabhängig gemacht; der Pöbel hat mehr als ein Mal Rom gerettet und Gesindel folgte Jesus Christus nach.

Es giebt keinen Denker, der nicht bisweilen dem gemeinen Volk den Zoll seiner Bewundrung dargebracht hätte.

An das Gesindel dachte zweifellos der heilige Hieronymus, an die armen Leute, an die Landstreicher, an die Elenden, aus denen die Apostel und Märtyrer hervorgegangen sind, als er Fex urbis, lex orbis sagte.

Die Erbittrung der Leidenden, ihre widersinnigen, gewaltthätigen Auflehnungen gegen die Prinzipien, die ihnen das Leben geben, ihre Angriffe auf das Recht sind Staatsstreiche des Volkes und müssen zurückgewiesen werden. Der rechtschaffne Mann setzt zu diesem Zweck sein Leben ein und bekämpft die aufrührerischen Massen, eben weil er sie liebt. Aber während er ihnen Widerstand entgegensetzt, fühlt er, daß sie zu entschuldigen sind. Es ist dies eine der wenigen Lagen, wo man seine Schuldigkeit thut, aber mit Widerstreben, mit blutendem Herzen.

Die Junirevolution des Jahres 1848 ist eine eigenartige Thatsache, deren Unterbringung und Charakterisirung der Philosophie der Geschichte schwer fällt. Alle Bezeichnungen, die wir oben gebraucht haben, müssen aus dem Spiel gelassen werden, wenn es sich um diesen außergewöhnlichen Aufruhr handelt, wo die Arbeit in ihrer heiligen Angst ihr Recht forderte. Das Gebot der Pflicht erheischte, daß man ihn unterdrückte, denn er griff die Republik an. Aber was war diese Junirevolte? Eine Empörung des Volkes gegen das Volk.

Wo das Thema nicht aus den Augen verloren wird, findet keine Abschweifung statt. Es sei uns also gestattet, die Aufmerksamkeit des Lesers auf jene beiden, oben erwähnten Barrikaden zu lenken, die ein wesentliches Merkmal des Juni-Aufruhrs bilden.

Die eine lag an dem Eingang zu der Vorstadt Saint Antoine, die andre bezweckte die Vertheidigung der Vorstadt des Temple. Sie wird Denen, vor deren Augen sie unter dem blauen Junihimmel aus der Erde emporwuchsen, für immer unvergeßlich sein.

Die Barrikade Saint-Antoine war ein ungeheurer Bau; drei Stockwerke hoch, maß sie siebenhundert Fuß in der Breite. Sie versperrte von einer Ecke bis zur andern die weite Mündung der Vorstadt, also drei Straßen, die hier ausliefen. Voller Ungleichheiten, Einschnitte und Auszackungen, durch kleinere Schanzen verstärkt, mit Vorragungen versehen, an zwei große Häusergruppen gelehnt, erhob sie sich wie ein Cyklopenbau im Hintergrunde des Platzes, der durch die Erstürmung der Bastille berühmt geworden ist. Hinter dieser Mutterbarrikade ragten neunzehn andre solche Verschanzungen zum Himmel empor. Bei ihrem bloßen Anblick ahnte man, daß in dieser Vorstadt das Elend seinen höchsten Gipfelpunkt erreicht hatte, denjenigen, wo es in eine Katastrophe umschlägt. – Woraus wurde diese Barrikade erbaut? Aus den Bestandtheilen dreier sechsstöckiger Häuser, die eigens zu diesem Zwecke zerstört wurden, sagen Manche. Nein, meinen Andre, ein Wunder von Muth und Ingrimm war das Material, aus dem sie emporwuchs. Sie war, wie alle Werke des Hasses, aus Trümmern aufgebaut. Man konnte fragen: Wer hat das gebaut? Aber man konnte die Frage auch so stellen: Wer hat diese Ruine geschaffen? Es war die Improvisation einer Gährung des Volksgeistes. Hurrah! Die Thür da, das Gitter, die Marquise, das Gesims, das Kohlenbecken, der zersprungene Topf! Gebt, schmeißt alles her! Zerhaut, zerreißt, zerbrecht, demolirt Alles! Da wurden Pflastersteine, Bausteine, Balken, Eisenstangen, Lumpen, Fliesen, zerbrochne Stühle, Kohlstrünke, Lappen und – Verwünschungen requirirt! Es war großartig und war auch erbärmlich, eine Parodie des Chaos durch das Tohuwabohu, ein Gemenge von gewaltigen Massen und Winzigkeiten, Quadersteinen und zerbrochnen Näpfen, eine unheimliche Verbrüderung aller Arten von Trümmern. Sisyphusse hatten hier ihre Felsen und Hiob seine Scherben beigesteuert. Kurz, etwas Grausiges. War es doch die Akropolis der Hungerleider. Umgestürzte Fuhrwerke hingen an der Böschung herab; ein großer Rollwagen lag quer hingestreckt mit der Achse nach oben; einen Omnibus hatte man mit den Händen hinaufgezogen, als hätte man den Ulk zu dem Schrecken hinzufügen wollen, und die Deichsel so gerichtet, als sollten eben Pferde vorgespannt werden.

Diese aufeinander getürmten Trümmer waren passende Sinnbilder aller vorangegangnen Revolutionen; hier lag 1793 auf 1789, der 9. Thermidor auf dem 10. August, der 18. Brumaire auf dem 24. Januar, 1848 auf 1830. Auch die Stelle war gut gewählt und die Barrikade war es wert, auf dem Platze zu stehen, wo einst die Bastille zerstört worden war.

Diese Barrikade also wurde, wie gesagt, im Namen der Revolution gegen die Revolution errichtet. Diesem Werk des Zufalls, der Unordnung, der Verwirrung, des Mißverständnisses, des Unbekannten, stand gegenüber die konstituirende Versammlung, die Herrschaft des Volkes, das allgemeine Stimmrecht, die Nation, die Republik; sie repräsentirte die Carmagnole und forderte die Marseillaise heraus.

Eine thörichte, aber heldenmüthige Herausfordrung, denn die alte Vorstadt Saint-Antoine ist eine Pflanzstätte von Helden.

An dieser gewaltigen Barrikade, die der Vorstadt vorgelagert war, scheiterte die Strategik von Generälen, die in Afrika mit Auszeichnung gefochten hatten. Mit ihren Vertiefungen, Lücken, Buckeln und Spitzen machte sie gleichsam Grimassen, womit sie die Angreifer verhöhnte. Die Kugeln und Bomben verschwanden darin wirkungslos, wie in einem Abgrund; sie schlugen höchstens Löcher. Wer kann auch ein Chaos zerstören? Und Regimenter, die an die furchtbarsten Kämpfe gewöhnt waren, betrachteten bedenklich diese Bestie von Berg, die sich wie ein wilder Eber wehrte.

Zwei Kilometer davon bemerkte man, wenn man von der Ecke der Rue du Temple, – da wo sie auf die Place du Château d'Eau mündet, – die Strasse, die nach Belleville hinaufführt, entlangblickte, in der Ferne, jenseit des Kanals, eine seltsame, zwei Stockwerke hohe Mauer, die gleichsam einen Bindestrich zwischen der rechten und linken Häuserreihe bildete. Es war, als hätte die Straße ihre höchste Mauer von beiden Seiten aus zusammengeklappt um ihren Zugang zu verschließen. Diese Mauer bestand aus Pflastersteinen und war gerade, nach allen Regeln der Kunst mit Winkelmaß und Senkloth gebaut. Allerdings ohne Cement, aber das that, wie bei gewissen römischen Mauerwerken, der strengen Architektur des Baues keinen Abbruch. Ihrer Höhe entsprach ihre Stärke, und oben war sie genau so breit wie unten. In gleichen Zwischenräumen hatte man auf ihrer grauen Oberfläche kaum sichtbare Schießscharten angebracht, die schwarzen Fäden ähnelten. Die Straße schien, so weit das Auge reichte, menschenleer, alle Fenster und Thüren waren geschlossen. Am Ende erhob sich diese Barrikade, welche die Straße in eine Sackgasse verwandelte, auf der vollständige Stille herrschte. Man sah und hörte keinen Menschen. Ein Grabesschweigen.

Die mächtige Junisonne übergoß dieses Schreckensding mit ihren blendenden Strahlen.

Dies war die Barrikade der Vorstadt des Temple.

Stand man davor und betrachtete sie, so war es auch dem Muthigsten unmöglich, vor diesem geheimnißvollen Phänomen nicht nachdenklich zu werden. Der Baumeister dieser Barrikade, sagte man sich, ist ein Geometer oder ein Geist. Man dämpfte die Stimme, wenn man das erblickte.

Von Zeit zu Zeit, wenn Jemand – ein Soldat, Offizier oder Volksvertreter – es wagte über den Damm zu gehen, hörte man ein scharfes, schwaches Pfeifen und der Betreffende stürzte tot oder verwundet hin. Entkam er aber unverletzt, so schlug eine Kugel in einen Fensterladen oder in die Mauer eines Hauses. Manchmal war es eine Kartätschenkugel. Denn die Vertheidiger der Barrikade hatten aus zwei gußeisernen Gasleitungsröhren, die an dem einen Ende mit Werg und Ofenerde verstopft wurden, zwei kleine Kanonen verfertigt. Pulververschwendung gab es nicht. Fast jeder Schuß traf. Es lagen einige Leichen auf der Straße und man sah hier und da Blutlachen. Ich erinnere mich eines weißen Schmetterlings, der in der Straße hin und her flatterte. Der Sommer entsagt seinen Rechten nicht.

In der Umgegend waren in den Thorwegen eine Menge Verwundeter untergebracht. Die unsichtbare Bemannung der Barrikade duldete Niemanden auf der Straße.

Hinter die gewölbte Brücke, – die am Anfang der Vorstadt über den Kanal führt, – concentrirt, beobachteten die Soldaten der Angriffskolonne mit ernster Aufmerksamkeit den düstern, schweigsamen Bau, der den Tod um sich verbreitete. Einige krochen auf allen Vieren die Brücke hinauf, indem sie darauf achteten, daß ihre Tschakos nicht hinüberragten.

Der tapfre Oberst Monteynard bewunderte schaudernd diese Barrikade. – »Wie das gebaut ist!« sagte er zu einem Abgeordneten. »Nicht ein Stein, der einen andern überragt. Das ist so glatt wie Porzellan.« – In demselben Augenblick zerbrach aber auch schon eine Kugel das Kreuz der Ehrenlegion, das er auf der Brust trug, und er stürzte zu Boden.

»Die feigen Schufte!« hieß es. »Sie lassen sich nicht sehen; sie verkriechen sich!« – Aber diese Barrikade, die nur achtzig Mann Besatzung hatte, hielt sich drei Tage lang gegen zehntausend Angreifer. Am vierten Tage machte man es wie in Zaatscha und Constantine, man bahnte sich Wege in dem Innern der Häuser, indem man die Wände durchbrach, stieg auf die Dächer und eroberte so die Barrikade. Keinem einzigen von den »Feiglingen« fiel es ein, sein Heil in der Flucht zu suchen; Alle wurden getötet, mit Ausnahme des Anführers, Barthélemy, auf den wir weiterhin zurückkommen werden.

Die beiden Bollwerke waren von zwei Leuten, die der Vorstadt Saint-Antoine von Cournet, die des Temple von Barthélemy entworfen worden. Jede entsprach, ihrer Art nach, dem Character des Erbauers.

Cournet war ein Mann von hoher Statur, mit breiten Schultern, rothem Gesicht, fürchterlichen Fäusten, kühnem Herzen, biedern Sinn, aufrichtigem und schrecklichem Blick; unerschrocken, energisch, jähzornig; gemüthvoll im Umgang mit Freunden und furchtbar in der Schlacht. Krieg und Kampf waren sein Lebenselement, in dem er sich wohl fühlte und vergnügt war. Man merkte es diesem ehemaligen Marineoffizier an, daß er mit den Stürmen des Ozeans Bekanntschaft gemacht hatte und durch sie gestählt worden war. Abgesehen vom Genie hatte Cournet einige Aehnlichkeit mit Danton, der seinerseits wieder, abgesehen von der Göttlichkeit, dem Herkules glich.

Barthélemy, ein schmächtiger, blasser, schweigsamer Mann hatte als junger Mensch das tragische Geschick gehabt, daß er von einem Schutzmann geohrfeigt und, als er aus Rache seinem Beleidiger auflauerte und ihn tötete, im Alter von siebzehn Jahren zum Zuchthaus verurtheilt wurde.

Späterhin als Beide in London in der Verbannung lebten, wollte es ein böses Geschick, daß Barthélemy Cournet im Duell tötete. Einige Zeit nachher wurde er wegen eines Abenteuers, in dem die Liebe eine Rolle spielte und wo die französische Justiz mildernde Umstände zugebilligt hätte, zum Tode durch den Strang verurtheilt. Der traurige Gesellschaftsbau ist so eingerichtet, daß in Folge materieller Entbehrung und moralischer Vernachlässigung, der Unglückliche, der einen scharfen, ja vielleicht genialen Verstand hatte, in Frankreich mit dem Zuchthaus anfing und in England mit dem Galgen endete. Barthélemy pflanzte immer nur eine, die schwarze, Fahne auf.

II.
Angesichts des Verderbens

Sechzehn Jahre zählen in der Erziehung eines Volkes; deshalb wußte es im Juni 1848 viel besser Bescheid in der schaurigen Technik des Straßenkrieges als im Jahre 1832. Daher war die Barrikade in der Rue de la Chanvrerie nur eine Skizze, nur ein Kind gegen die im vorigen Kapitel beschriebnen Kolossalbauten; aber für jene Zeit war sie doch furchtbar genug.

Unter der Leitung Enjolra's, denn Marius bekümmerte sich um nichts mehr, machte man sich die Nacht zu Nutze. Die Barrikade wurde nicht nur reparirt, sondern sogar verstärkt, um zwei Fuß erhöht, mit eisernen Stangen, die wie eingelegte Lanzen hervorragten, gespickt, nach außen hin mittels allerlei Schutt und Abraum schwerer erklimmbar, nach innen durch Mauerwerk fester gemacht.

Desgleichen stellte man die innere, steinerne Treppe wieder her.

Ferner wurde die Gaststube aufgeräumt, die Küche als Ambulanz eingerichtet, die Verwundeten vollständig verbunden, das an der Erde und auf den Tischen verstreute Pulver aufgelesen, Kugeln gegossen, Patronen fabrizirt, Charpie gezupft, die herrenlosen Waffen vertheilt, das Innre der Redoute gesäubert, die Trümmer aufgenommen, die Leichen fortgetragen.

Die Toten legte man in der Rue Mondétour, die man noch immer beherrschte, auf einen Haufen. Das Pflaster ist an dieser Stelle noch lange Zeit nachher roth gewesen. Unter den Getöteten befanden sich auch vier Nationalgardisten, deren Uniformen Enjolras bei Seite legen ließ.

Er hatte seinen Leuten den Rath gegeben, zwei Stunden zu schlafen. Ein Rath von Enjolras war so gut wie ein Befehl. Aber nur Drei oder Vier befolgten ihn. Feuilly benutzte diese Zeit, um an der Außenwand des Hauses, das der Schänke gegenüberlag, mit einem Nagel eine Inschrift einzukratzen, die noch 1848 da zu lesen war: »Vivent les peuples!«

Die drei Frauen benutzten die nächtliche Frist um ganz zu verschwinden, so daß die Insurgenten sich nun ungenirter fühlten. Die Aermsten hatten nämlich Mittel und Wege gefunden, sich in ein Nachbarhaus zu flüchten.

Von den Verwundeten konnten und wollten die meisten noch weiter kämpfen. Es lagen in der Küche auf Matratzen und Stroh ihrer Fünf, die schwer verletzt waren, darunter zwei Municipalgardisten. Diese Letzteren wurden zuerst verbunden.

In der Gaststube ließ man nur die Leiche Mabeuf's unter ihrem schwarzen Tuche und den an den Pfahl gebundnen Javert.

»Das hier ist der Totensaal!« meinte Enjolras.

Bei dem schwachen Schein des Talglichts, womit der niedrige Saal erleuchtet war, bildete im Hintergrunde der Schatten des aufrechtstehenden Javert mit dem der liegenden Leiche eine Art Kreuz.

Die Deichsel des Omnibus war, obgleich durch die Kugeln verstümmelt, doch noch solide genug, daß man eine Fahne wieder daran befestigen konnte.

Enjolras, der die für einen Befehlshaber nothwendige Tugend besaß, stets, was er sagte, auch zu thun, band den durchlöcherten, blutigen Rock des getöteten Greises an die Fahnenstange.

Eine Mahlzeit zu halten, lag nicht mehr im Bereiche der Möglichkeit. Es war weder Brod noch Fleisch vorhanden. Die fünfzig Menschen, die das Wirtshaus seit sechzehn Stunden besetzt hielten, hatten schnell mit den geringen Vorräthen, die sich im Hause befanden, aufgeräumt. Hat doch eine jede Barrikade, die sich einige Zeit gegen ihre Angreifer hält, ein ähnliches Schicksal wie ein Floß, auf dem Schiffbrüchige, fern vom Lande und aller menschlichen Hülfe bar, von den Wellen des Ozeans hin und her getrieben werden. Unsere Barrikadenkämpfer mußten sich also die Lust zum Essen vergehen lassen. So ging es auch bei der Kirche Saint-Merry zu. Als dort Jeanne von ihren Leuten um Brod angegangen wurde, rief sie: »Was? Essen wollt Ihr noch? Es ist drei Uhr. Um vier Uhr ist es mit uns Allen schon vorbei!«

Da man nichts mehr besaß, um den Hunger zu stillen, wollte Enjolras auch nicht, daß zu trinken geschenkt wurde. Er genehmigte keinen Wein und verabfolgte nur geringe Rationen Branntwein.

Im Keller waren fünfzehn hermetisch versiegelte Flaschen gefunden worden, und Combeferre meinte: Das ist alter Wein, der stammt von der Zeit her, wo Vater Hucheloup einen Kramladen hatte. – »Dann muß es eine gute Sorte sein,« sagte Laigle. »Ein Glück, daß Grantaire schläft, sonst würde man Mühe und Noth haben, die Flaschen vor ihm zu retten.« – Enjolras belegte trotz allgemeinen Widerspruchs die fünfzehn Flaschen mit Beschlag und ließ sie, damit Niemand sie anrühre, unter den Tisch stellen, auf dem Vater Mabeuf's Leiche lag, wodurch sie gewissermaßen heilig und unverletzlich wurden.

Gegen zwei Uhr Morgens wurde eine Zählung vorgenommen. Es waren ihrer noch siebenunddreißig kampffähige Männer.

Bald darauf graute der Morgen. Vorher war die Fackel, die man wieder in ihrem steinernen Behälter untergebracht hatte, schon ausgelöscht worden. Das Innere der Barrikade, gleichsam eine Art auf offener Straße angelegter Hof, erschien in Dunkelheit getaucht und erinnerte, so weit man ihn bei dem ersten, schwachen Dämmerlicht überschauen konnte, an das Deck eines entmasteten Schiffes, auf dem sich schwarze Gestalten herumbewegen. Ueber dieser dunklen Tiefe zeichneten sich die Stockwerke der stillen Häuser fahl, ganz oben die Schornsteine etwas heller ab. Die Farbe des Himmels war jene hübsche, unentschiedne Schattirung, die halb weiß, halb blau ist. Schon zwitscherten vergnügt die Vögel in der Luft. Das hohe Haus, das hinter der Barrikade lag und seine Front dem Osten zukehrte, war mit einem rosigen Schimmer überleuchtet. Oben an der Luke des dritten Stockwerks spielte der Wind mit den grauen Haaren des erschossenen Portiers.

»Ich freue mich,« bemerkte Courfeyrac zu Feuilly, »daß die Fackel ausgelöscht ist. Mit ihrem zittrigen Licht sah sie aus, als fürchte sie sich, und glich der Weisheit der Philosophen, die sich auch nur deshalb so klug geberden, weil sie ihre Angst vor den Mächtigen bemänteln wollen.«

Die Morgenröthe weckt nicht bloß die Vögel, sondern auch den Witz der Menschen und so ergingen sich auch alsbald unsere Barrikadenkämpfer in heiterem Geplauder.

Joly, als er eine Katze in einer Dachrinne erblickte, bekam eine Anwandlung von Philosophie.

»Die Katze ist eine Verbesserung der Schöpfung,« docirte er. »Als Gott nämlich die Maus geschaffen hatte, sagte er: ›Donnerwetter, das war ein Schnitzer!‹ und schuf die Katze. Also Maus plus Katze stellen eine verbesserte Auflage der Schöpfung dar.«

Combeferre sprach zu einem Publikum von Studenten und Arbeitern über diejenigen, die schon in dem Kampfe gefallen waren, über Jean Prouvaire, Bahorel, Mabeuf, ja sogar über Le Cabuc und demzufolge auch über Enjolras's herbe Principienstrenge.

»Harmodius und Aristogiton, Brutus, Chaereas, Stephanus, Cromwell, Charlotte Corday, Sand haben alle nach ihrer That einen Augenblick der Beklemmung und Unsicherheit gehabt. Unser Muth ist so schwach und das Leben ein so großes Geheimniß, daß bei der Ermordung eines Mitbürgers, bei einem Morde, der die Befreiung des Staates von einem Tyrannen bezweckte, – wenn überhaupt der Freiheit auf eine solche Weise gedient werden kann – die Reue darüber, daß man einen Nebenmenschen getötet hat, die Freude, der Menschheit genützt zu haben, bei Weitem überwiegt.«

Und wenige Minuten nachher – denn der Fluß der Unterhaltung gleicht dem Mäander – verglich Combeferre, gelegentlich einer Beziehung auf ein Gedicht Jean Prouvaire's, die Uebersetzer von Virgils Georgica mit einander, besonders mit Hinsicht auf die Stellen, wo von den Zeichen und Wundern die Rede ist, die sich bei Caesars Tod ereigneten. Und der Name Cäsar brachte das Gespräch wieder auf Brutus zurück.

»Caesar,« behauptete Combeferre, »ist mit Recht getötet worden. Wenn Cicero streng über ihn urtheilte, so war dies durchaus in der Ordnung, Eine derartige Strenge darf nicht als Schmähsucht betrachtet werden. Wenn Zoilus auf Homer, Maevius auf Virgil, Bisé auf Molière, Pope auf Shakespeare, Fréron auf Voltaire schimpft, so bethätigte sich darin, nach einem alten Gesetz, nur Haß und Neid; das Genie fordert die Beleidigung heraus; große Männer werden immer mehr oder weniger angekläfft. Aber zwischen einem Zoilus und einem Cicero ist ein Unterschied. Cicero bedient sich, um der Menschheit zu ihrem Recht zu verhelfen, des Gedankens, so wie Brutus des Schwertes. Letztere Art Gerechtigkeit zu üben, tadele ich, aber das Alterthum billigte sie. Cäsar verfuhr, indem er unbefugter Weise den Rubicon überschritt, über Würden und Aemter, die nur das Volk zu vergeben hatte, verfügte, ohne beim Eintritt des Senats von seinem Sitze aufzustehen, wie ein König und beinah wie ein Tyrann, regia ac poene tyrannica, wie Eutrop sich ausdrückt. Allerdings war Cäsar ein großer Mann; aber das ändert nichts an der Sache. Oder es ändert sehr viel: Die Lehre, die man aus seinem Untergang ziehen muß, ist eine desto eindringlichere, wirksamere. Seine dreiundzwanzig Wunden rühren mich weniger, als der Speichel, den man Christus ins Gesicht spie. Cäsar wurde von Senatoren erdolcht, Jesus von Gesindel geohrfeigt. Eben weil er ein Gott war, mußte Jesus Christus mehr Schmach erdulden.«

Laigle stand auf einem Haufen Pflastersteine und phantasirte:

»O Kydathenaion, o Myrrhinos, o Probalinthos, o Grazien der Aiantis! Wäre es mir doch vergönnt, die Verse Homers wie ein Hellene aus Laurion aussprechen zu können!«

III.
Enttäuschte Hoffnungen

Währenddem ging Enjolras auf eine Rekognoscirung aus. Zu diesem Zwecke schlich er sich durch die Ruelle Mondétour hindurch.

Die Insurgenten waren voller Hoffnung. Sie hatten den nächtlichen Angriff zurückgewiesen und dieser Erfolg bewirkte, daß sie dem Kampfe, der ihnen bevorstand, fast mit Geringschätzung entgegen sahen. Sie zweifelten ebenso wenig an ihrer persönlichen Rettung als an dem Siege ihrer Sache. Namentlich rechneten sie mit Sicherheit darauf, daß sie Hülfe bekommen würden. Mit jener Hoffnungsfreudigkeit, die dem Franzosen im Kriege so große Kraft verleiht, prophezeiten sie sich in sichrem Tone die denkbar günstigsten Ereignisse und theilten schon den kommenden Tag in drei Phasen: Um sechs Uhr Morgens würde ein Regiment Soldaten, die man mit Erfolg »bearbeitet« habe, zu ihnen übergehen; um zwölf Uhr Mittags würde ganz Paris sich erheben und gegen Sonnenuntergang würde die Revolution gesiegt haben.

Dazu kam, daß die Sturmglocke der Kirche Saint-Merry die ganze Nacht hindurch nicht geschwiegen hatte und sich noch immer vernehmen ließ: ein Beweis, daß die andre Barrikade, die größere, wo Jeanne befehligte, sich noch nicht ergeben hatte.

Da kam Enjolras von seinem Ausflug wieder zurück. Er hörte, die Arme auf der Brust verschränkt, eine Hand auf dem Munde, dem vertrauensseligen Geplauder seiner Kameraden zu und sprach dann, ohne daß sich auf seinem frischen, rosigen Gesicht im Glanz des Frühlichtes eine Spur von Furcht und Erregung wahrnehmen ließ, folgende Worte.

»Die ganze Armee, die in Paris ist, wird thun, was man ihr befehlen wird. Ein Drittel dieser Armee ist bestimmt, auf Euch loszugehen. Außerdem noch die Bürgerwehr. Ich habe die Tschakos des fünften Linienregiments und die Fahnen der sechsten Legion erkannt. Der Angriff wird in einer Stunde erfolgen. Was das Volk anbetrifft, so hat es gestern Lebenszeichen gegeben; heute verhält es sich still. Also nichts zu erwarten, nichts zu hoffen, Ihr seid im Stich gelassen.«

Diese Worte fielen auf die Illusionen der Barrikadenkämpfer, wie Gewitterregen auf einen Schwarm Bienen und Alles verstummte. Es trat eine Stille ein, in der man die Fittiche des Todes hätte rauschen hören können.

Aber dieses Stillschweigen dauerte nicht lange.

Aus dem dunkelsten Hintergrunde rief Jemand:

»Nun gut. So wollen wir die Barrikade zwanzig Fuß hoch machen und uns Alle unter den Trümmern begraben lassen. Mögen dann unsre Leichen gegen die Tyrannei protestiren. Wenn das Volk die Republikaner verläßt, so laßt uns beweisen, daß die Republikaner das Volk nicht im Stich lassen.«

Diese Rede stellte klar, was aller individuellen Aengstlichkeit zum Trotz ein Jeder von ihnen dachte. Sie wurde mit begeistertem Beifall beantwortet.

Man hat den Namen des Redners nie erfahren. Er war vielleicht irgend ein bescheidner Arbeiter, ein Unbekannter, ein vergessener Held, jener große Namenlose, den man bei allen geschichtlichen Krisen und socialen Umwälzungen betheiligt findet, der in einem gegebnen Augenblick das richtige Wort in der richtigen Weise sagt und der spurlos verschwindet, nachdem er eine Minute, eine Sekunde lang im Namen des Volkes und Gottes gesprochen hat.

Diese unbeugsame Entschlossenheit schwebte am 6. Juni 1832 so zu sagen in der Luft. Denn ungefähr in derselben Stunde riefen, wie dies nachher geschichtlich und von den Gerichten festgestellt wurde, die Vertheidiger der Barrikade Saint-Merry: »Ob man uns zu Hülfe kommt oder nicht, ist uns gleichgültig. Wir werden uns vertheidigen, bis der Letzte von uns gefallen ist.«

Wie man sieht, standen die beiden Barrikaden, räumlich getrennt, wie sie waren, doch mit einander in Verbindung.

IV.
Vier Mann weniger und Einer mehr

»Vivat der Tod! Wir bleiben Alle!« tönte es aus Aller Munde, als der unbekannte Redner schwieg.

»Wozu Alle?« fragte Enjolras.

»Alle! Alle!«

Enjolras entgegnete:

»Die Stellung ist gut, die Barrikade ist stark. Dreißig Mann sind genug. Weshalb vierzig opfern?«

Sie erwiderten:

»Es wird Keiner weggehen wollen.«

»Bürger,« rief Enjolras, und seine Stimme klang beinah zornig, »die Republik hat nicht so viel treue Anhänger, daß sie sich unnütze Opfer gestatten dürfte. Dem Ruhm um des Ruhmes willen nachjagen, hieße Kraft vergeuden. Wenn die Pflicht verlangt, daß ein Theil von uns sich in Sicherheit bringt, so muß dieser Pflicht wie jeder andern Folge geleistet werden.«

Enjolras hatte als unbeugsamer Principienmensch ein Ansehen bei seinen Gesinnungsgenossen, wie es nur das Absolute verleihen kann. Trotzdem murrten aber dies Mal seine Leute.

Unfähig, seinen Rechten als Befehlshaber das Geringste zu vergeben, beharrte Enjolras bei seinem Entschlusse.

»Mögen Diejenigen,« rief er in schneidendem Ton, »die sich fürchten, nur zu Dreißig zu sein, es sagen!«

Das Gemurr nahm zu.

»Ist bald gesagt, gehen,« rief Einer. »Wir sind von allen Seiten umzingelt.«

»In der Richtung der Markthalle nicht,« erwiderte Enjolras. »Die Rue Mondétour ist frei und durch die Rue des Prêcheurs kann man nach dem Markt des Innocents gelangen.«

»Ja,« entgegnete ein Andrer, »aber da wird man angehalten. Sieht die Wache einen Mann mit einem Kittel und einer Mütze, so fragt sie: ›Wo kommst Du her? Wahrscheinlich von einer Barrikade. Zeig' mal Deine Hände her. Da haben wir's; Du riechst nach Pulver.‹ Schwapp wird man füsiliert.«

Enjolras berührte, ohne eine Antwort zu geben, Combeferre's Schulter und Beide begaben sich in den Saal des Erdgeschosses.

Gleich darauf kamen sie wieder zum Vorschein. Enjolras trug in den beiden Händen die vier Uniformen, die er hatte aufheben lassen. Ihm folgte Combeferre mit dem Lederzeug und den Tschakos.

»Wenn man solch eine Uniform trägt,« sagte Enjolras, »kann man durch die ganze Armee und Bürgerwehr unbeachtet hindurch kommen. Mit dem, was wir hier haben, können sich vorläufig vier Mann in Sicherheit bringen.«

Damit warf er die vier Uniformen auf die Erde. Aber keine Bewegung gab sich im Kreise seiner standhaften Hörer kund. Da ergriff Combeferre das Wort:

»Hört mal, Kinder,« sagte er, »Ihr müßt in dieser Sache Euer gutes Herz ein Wort mitreden lassen. Ihr vergeßt die Frauen und die Kinder. Also in den Tod wollt Ihr Euch stürzen? Ich auch! Aber ich will dabei nicht Gespenster von Frauen vor Augen haben, die voll Verzweiflung die Hände ringen. Sterbt, wenn es sein muß, aber laßt nicht Andre umkommen, wenn Ihr's verhindern könnt. Eine Selbstaufopfrung, wie Ihr sie vorhabt, ist etwas Großartiges, aber sie muß sich innerhalb enger Grenzen halten; denn wenn Ihr Eure Augehörigen mit hineinreißt, wird sie zum Mord. Denkt an die kleinen Blondköpfe und an die weißen Haare daheim. Merkt auf! So eben erzählte mir Enjolras, er habe nicht weit von hier an einem Fenster im fünften Stock die zittrigen Umrisse eines greisen Frauenkopfes gesehen. Wer weiß, vielleicht die Mutter von Einem unter Euch, die angstvoll die Nacht durchwacht und auf ihren Sohn wartet. Wenn er unter Euch ist, so gehe er hin und sage: Mutter, da bin ich! Um das Uebrige mache er sich keine Sorgen: Was hier gethan werden muß, können die Andern ohne ihn zu Wege bringen. Wenn man seine Anverwandten mit seiner Hände Arbeit ernährt, hat man nicht das Recht sich zu opfern. So was nennt man seine Familie im Stich lassen. Vor allen Dingen aber die, welche Töchter oder Schwestern haben, wo denken die hin, daß sie ihr Leben aufs Spiel setzen wollen? Ihr wißt doch wohl, welch ein schreckliches Loos der jungen Mädchen harrt, die nach Eurem Untergang allein in der Welt da stehen. Mit Euren Schattenhänden werdet Ihr sie, wenn sie sich feil bieten, dem Käufer nicht entreißen! Wendet mir nicht ein, Eure Töchter wären zu sittsam, um so tief sinken zu können. Alle die unglücklichen Dirnen, die Ihr je auf der Straße habt herumirren sehen, sind auch einmal engelrein, sind Ausbünde von Lieblichkeit, Anmuth und Schönheit, sind frischer als Fliederblüten im Monat Mai gewesen. Ueberliefert nicht, indem Ihr das Volk der Willkür des Königthums entreißen wollt, Eure Töchter der Willkür der erbarmungslosen Polizei. Geht, Ihr, die Ihr Familienangehörige habt! Ich weiß sehr wohl, daß Muth dazu gehört; aber je schwerer es Euch fällt, desto größer ist auch Euer Verdienst. Ihr sagt: ›Ich habe nun einmal ein Gewehr, stehe hinter der Barrikade und werde bleiben, mag kommen, was da will. Liege ich erst in der Erde, so ist aller Jammer für mich vorbei.‹ Ja wohl, für Euch. Aber malt Euch einmal recht deutlich aus, welches das Schicksal Eurer Hinterbliebnen sein wird! Ich wünschte, Ihr wäret dabei gewesen, als eines Tages in meiner Gegenwart die Leiche eines elternlosen, verwahrlosten Kindes in der Anatomie secirt wurde! Die Statistik hat festgestellt, daß die Sterblichkeit dieser bejammernswerten Wesen fünfundfünfzig Procent beträgt. Also, wie gesagt, es handelt sich um das Schicksal von Frauen, Müttern, Kindern, jungen Mädchen. Wer spricht denn von Euch? Das weiß man ja, daß Ihr tapfre Männer seid, alle Donnerwetter, ja! – daß es Euch Freude macht, daß Ihr Euern Ruhm darin sucht, das Leben für die große Sache hinzugeben und der Menschheit zu nützen. Sei es darum! Aber ihr seid nicht allein auf der Welt. Es giebt noch andere Wesen, an die ihr denken müßt. Ihr dürft nicht selbstsüchtig handeln.«

Aber alle ließen mit düstrer Miene den Kopf hängen.

In was für Widersprüche verfällt das Menschenherz bei seinen herrlichsten Handlungen! Combeferre, der seine Freunde an ihre Mütter erinnerte, vergaß die seine und war fest entschlossen, dem Tode nicht aus dem Wege zu gehen. Er handelte »selbstsüchtig.«

Währenddem war Marius von Hunger und Fieber gepeinigt, aller Hoffnung bar, aufgeregt durch die heftigsten Gefühle und in der Ahnung des nahen Endes mehr und mehr in jene traumhafte Stumpfheit versunken, die dem freiwilligen Untergange vorangeht.

An ihm hätte ein Physiologe mit Vortheil die Zunahme jenes, der Wissenschaft bekannten, fieberhaften Gemüthszustandes verfolgen können, der sich zum Kummer, wie die Wollust zum Vergnügen verhält. Denn auch die Verzweiflung ist einer höchsten Steigerung, gleichfalls einer Ekstase fähig, und so weit war es jetzt mit Marius gekommen. Ihm war angesichts der Vorgänge, die sich um ihn abspielten, nicht anders, wie einem unbetheiligten Zuschauer zu Muthe; alles schien in weiter Ferne vor ihm zu liegen; nur das Ganze erkannte er, die Einzelheiten konnte er nicht unterscheiden. Er sah die Gestalten umwoben von einem Flimmerlicht und die Stimmen tönten seinem Ohr, als kämen sie aus einem tiefen Schacht.

So gleichgültig nun ihn auch alles ließ, – der edle Wettkampf, der sich zwischen seinen Gefährten entsponnen hatte, war so ergreifend, daß er aus seinem Seelenschlummer geweckt wurde. Wollte er sich von seinem Entschluß zu sterben durch nichts ablenken lassen, so blieb es ihm doch unverwehrt, Andre von demselben Verderben zu bewahren.

»Enjolras und Combeferre,« begann er mit lauter Stimme, »haben Recht. Keine unnützen Opfer! Ich pflichte ihnen bei und bin dafür, daß wir uns beeilen. Was Combeferre gesagt hat, muß den Ausschlag geben. Mögen Diejenigen unter Euch, die eine Mutter, Schwestern, Weib und Kind haben, vortreten!«

Niemand rührte sich.

»Die Verheiratheten und Familienernährer vor!« wiederholte Marius.

Er erfreute sich eines großen Ansehens bei seinen Kameraden. Denn wenn Enjolras ihr Oberhaupt war, so war Marius der Retter der Barrikade.

»Ich befehle es!« rief Enjolras.

»Ich bitt' Euch, Leute!« sagte Marius.

Da endlich begannen die wackern Männer nachzugeben, indem sie sich gegenseitig denunzirten. – »Sie haben Recht,« sagte ein langer Mann zu einem Aelteren, »Du bist Familienvater. Geh Du.« »Bewahre,« antwortete Dieser, »Du hast zwei Schwestern zu ernähren. Rette Du Dich.« – So wetteiferten sie, um sich nicht den Klauen des Todes entreißen zu lassen.

»Macht es kurz,« mahnte Courfeyrac, »in einer Viertelstunde ist es zu spät.«

»Wir sind Republikaner,« erinnerte Enjolras, »und müssen das allgemeine Stimmrecht walten lassen. Bezeichnet selber Diejenigen, die gehen sollen.«

Dieser Aufforderung wurde Folge geleistet. Nach Verlauf einiger Minuten waren Fünf einstimmig ausgewählt und mußten vortreten.

»Es sind ihrer Fünf und wir haben nur vier Uniformen!« rief Marius.

»Gut. Dann muß Einer zurückbleiben.«

Und wieder begann der edle Streit, wer zurückbleiben sollte und wer die besten Gründe erdenken konnte, Andre wegzuschicken.

»Beeilt Euch,« mahnte Courfeyrac abermals.

Da wandten sich plötzlich Einige an Marius und riefen:

»Bezeichnen Sie denjenigen, der hier bleiben soll!«

»Ja wohl!« sagten die Fünf. »Wählen Sie Einen. Wir wollen Ihnen folgen.«

Marius hatte geglaubt, er sei keiner neuen Empfindung mehr zugänglich. Bei dem Gedanken aber, er solle einen Menschen dem Tode weihen, strömte ihm alles Blut nach dem Herzen. Hätte er noch bleicher werden können, als er schon war, jetzt wäre es geschehen.

Er trat auf die Fünf zu, die ihm mit einer thermopylischen Begeistrungsflamme in den Augen lächelnd ansahen.

»Mich! Mich!« bat Jeder.

In rathloser Verlegenheit zählte sie Marius und blickte dann auf die Uniformen, ohne eine Entscheidung treffen zu können.

Da fiel, als käme sie vom Himmel herab, eine fünfte Uniform auf die vier andern.

Der fünfte Mann war gerettet.

Marius hob die Augen auf und sah Fauchelevent vor sich.

Sei es, daß er sich gut erkundigt hatte, sei es, daß eine richtige Ahnung oder der Zufall ihn führte, Jean Valjean war durch die Rue Mondétour gekommen, ohne, dank seiner Bürgerwehruniform, angehalten zu werden.

Was die von den Vertheidigern der Barrikade in der Rue Mondétour aufgestellte Schildwache betrifft, so hatte sie sich gesagt, um einen Nationalgardisten brauche sie nicht Lärm zu schlagen. Wahrscheinlich wollte der Mann zu den Revolutionären übergehen und jedenfalls begab er sich in ihre Gewalt. Die Lage war eine viel zu ernste, als daß die Schildwache ihre Pflicht und ihren Posten hätte verlassen sollen.

In dem Augenblick, als Jean Valjean herankam, hatte ihn Niemand bemerkt, da Aller Augen auf die fünf Ausgeschiednen und die vier Uniformen geheftet waren. Er hatte also alles mit angesehen und gehört, und dann stillschweigend seine Uniform ausgezogen.

Eine unbeschreibliche Aufregung bemächtigte sich jetzt Aller, nun sie ihn erblickten.

»Wer ist der Mann?« fragte Laigle.

»Einer, der Andre rettet,« antwortete Combeferre.

»Ich kenne ihn!« sagte Marius feierlich.

Diese Bürgschaft genügte Allen.

Enjolras trat an Jean Valjean heran.

»Seien Sie willkommen. Daß wir dem Tode geweiht sind, wissen Sie ja wohl?«

Statt aller Antwort, half Jean Valjean dem Insurgenten, dem er das Leben rettete, die Uniform anlegen.

V.
Ein Ausblick von der Barrikade in die Zukunft

Der Lage, in der sich Alle zu dieser furchtbaren Stunde und an diesem unentrinnbaren Orte befanden, entsprach in vollkommenster Weise die düstre Schwermuth Enjolras's.

Der junge Mann war in seinem ganzen Wesen von den Ideen der Revolution durchdrungen; aber dieses Wesen war ein unvollständiges, soweit das Absolute unvollständig sein kann. Er ähnelte zu sehr Saint Just und nicht genug Anacharsis Cloots. Allein in der Gesellschaft der Freunde des A B C hatte sein Geist sich schließlich doch von den Anschauungen Combeferre's magnetisiren lassen, so daß er sich den Ideen des Fortschritts zugänglicher zeigte und als letzte und herrlichste Evolution die Umbildung der großen, französischen in eine die ganze Menschheit umfassende Republik zuließ. Was aber die Mittel betrifft, die zur Erreichung dieses hohen Ziels erforderlich wären, so meinte er, da eine Gewaltlage gegeben sei, müßte auch mit Gewalt vorgegangen werden; wich also in diesem Punkte nicht von seinen ursprünglichen Grundsätzen ab und blieb nach wie vor ein begeisterter Verehrer der furchtbaren Heldenzeit der Revolution, ein entschiedner Anhänger der Ideen des Schreckenjahres 1793.

Jetzt stand Enjolras auf der Barrikadentreppe, einen Ellbogen auf den Lauf seines Karabiners gelehnt. Er war in tiefes Sinnen verloren und aus seinen Augen sprühte das Feuer einer schwärmerischen Begeisterung. Plötzlich richtete er das Haupt empor; seine blonden Haare wallten zurück, wie die des Erzengels auf dem Sternenwagen, und er rief:

»Bürger, könnt Ihr Euch die Zukunft ausmalen? Die Straßen voller Licht, grüne Zweige an den Thüren; die Völker verbrüdert; die Menschen gerecht; die Vergangenheit voller Liebe für die Gegenwart; Denker, die auf den Bahnen der Wissenschaft dahin wandeln dürfen; völlige Gleichheit aller Gläubigen; der Himmel als Gegenstand der Religion und Gott alleiniger Priester; kein Haß mehr; brüderliche Beziehungen zwischen dem Arbeiter und dem Gelehrten; Arbeit und gleiches Recht für Alle; der öffentliche Leumund als einzig Strafe und einzige Belohnung; kein Blutvergießen, keine Kriege mehr! Den Stoff beherrschen ist der erste Kulturfortschritt, das Ideal verwirklichen der zweite. Bedenket, was der Fortschritt schon alles zu Wege gebracht hat. Ehedem sahen die Menschen der Urzeit mit Schrecken die Hydra aus dem Meer schnaufen, den Drachen Feuer speien, den Greif, das Ungeheuer der Luft, das Adlersfittiche und Tigerklauen hatte, dahinschweben; alles Ungethüme, die dem Menschen überlegen waren. Aber dem Verstande ist es gelungen, die Unholde zu überwältigen. Jetzt besitzen wir eine gebändigte Hydra, nämlich das Dampfschiff; einen Drachen, die Lokomotive; bald werden wir den Greif bändigen, der sich der Luftballon nennt. An dem Tage, wo dies Prometheuswerk zu Stande gebracht sein wird, wo er die dreifache, alte Chimaera an seinen Wagen spannt, wird er herrschen über das Wasser, das Feuer und die Luft, wird er für die übrigen Lebewesen das sein, was die Götter einstmals für ihn waren. Muth also und vorwärts! Freunde, welchem Ziele eilen wir zu? Einer Gesellschaftsordnung, wo die Wissenschaft die Regierung ausüben, wo die Macht der Verhältnisse und der Dinge die einzige Gewalt sein, das Naturgesetz seine Anerkennung sich selber erzwingen, die Verstöße gegen seine Gebote selber strafen wird. Keine Fiktionen, keine Schmarotzer mehr! Die Wirklichkeit der Wahrheit unterthan machen, das ist das Ziel, auf das zugesteuert werden muß. Die Civilisation wird ihre Sitzungen in dem ersten Lande Europas und später im Centrum der Kontinente halten, wird ein großes Parlament der Intelligenz berufen. Aehnliches hat die Welt ja schon gesehen. Versammelten sich doch die Amphiktyonen zweimal im Jahre, einmal in Delphi, der Stadt der Götter, das andre Mal in den Thermopylen, denen der Untergang einer Heldenschaar die Weihe ertheilte. So wird auch Europa, so wird der Erdball seine Amphiktyonen haben. Und diese herrliche Zukunft trägt Frankreich in seinem Schoße! Sie ist das Kind, dessen Mutter das neunzehnte Jahrhundert sein wird. Was Griechenland begonnen hat, ist wert von Frankreich der Vollendung zugeführt zu werden. Höre, was ich Dir sagen will, Dir Feuilly, dem wackern Arbeiter, dem Manne des Volkes, dem Manne der Völker. Ich achte Dich hoch! Ja, Du siehst die Zukunft klar voraus; ja, Du hast Recht. Du hattest weder Vater noch Mutter: Da adoptirtest Du als Mutter die Menschheit und als Vater das Recht. Du wirst hier untergehen, in andern Worten den Sieg erringen. Denn was uns auch heute widerfahren wird, ob wir unterliegen, ob wir siegen, wir bahnen einer Revolution die Wege. Wie Feuersbrünste ganze Städte erhellen können, so bringen auch Revolutionen der ganzen Menschheit Licht. Und worin wird diese unsre Revolution bestehen? Ich sagte es Euch schon, in dem Siege der Wahrheit. Vom politischen Gesichtspunkt aus betrachtet, darf nur ein Princip Geltung behalten, die freie Selbstbestimmung der Menschen, die »Freiheit.« Da, wo zwei solcher freier Gewalten sich verbünden, beginnt der Staat. Aber ein solcher Bund bedeutet keinen Verzicht. Jede solche freie Macht tritt einen Theil ihrer selbst ab, um ein gemeinsames Recht zu schaffen. Dieser Theil ist für Alle gleich groß, und darin, daß er überall gleich ist, besteht die »Gleichheit«. Das gemeinsame Recht aber ist nichts Andres, als der Schutz, den Alle dem Einzelnen gewähren, das, was man Brüderlichkeit nennt. Der Durchschnittspunkt aller verbündeten Gewalten heißt die Gesellschaft. Da aber in diesem Punkt eine Verbindung stattfindet, so giebt es auch ein Bindemittel, das die Gesellschaft zusammenhält, einen gesellschaftlichen Vertrag. Doch noch eins über das Wort Gleichheit, das man richtig verstehen muß; denn wenn die Freiheit der Giebel des Gesellschaftsbaues ist, so stellt die Gleichheit sein Fundament dar. Gleichheit bezweckt keine gleich hohe Vegetation, verlangt nicht, daß der Grashalm groß und die Eiche klein sei, daß Jeder die freie Entfaltung jedes Nachbars, auf den er neidisch ist, verhindern könne. Nein! Es sollen nur alle Fähigkeiten gleiche rechtliche Ansprüche auf freie Bethätigung; alle Stimmen dasselbe Gewicht, ein jeder religiöse Glaube dieselben Rechte haben. Die Gleichheit hat ein Organ, den unentgeltlichen und obligatorischen Schulunterricht. Mit dem Recht lesen und schreiben zu lernen muß man anfangen. Alle Kinder sollen zum Besuch der Volksschule verpflichtet, der höhere Unterricht soll Allen erlaubt und ermöglicht werden so laute das Gesetz. Denn nur bei gleichem Schulunterricht ist bürgerliche Gleichheit möglich. Ja, Licht! mehr Licht! Alles kommt vom Lichte und zum Licht kehrt Alles zurück. Freunde, das neunzehnte Jahrhundert ist groß, aber das zwanzigste wird glücklich sein. Dann wird die Geschichte nicht mehr auf denselben Bahnen wandeln, wie ehedem. Keine Eroberungen mehr, wie heutzutage, keine Staatsstreiche, kein Wetteifer zwischen bewaffneten Nationen, keine Unterbrechung der Civilisation in Folge einer Prinzenheirat, eines Familienereignisses bei einer Herrscherdynastie, einer von Diplomaten angeordneten Theilung eines Landes, eines Kampfes zweier Religionen. Dann werden alle Hungersnöthe verschwinden, sowie alle Arten von Ausbeutung, die Prostitution, das Elend als Folge der Arbeitslosigkeit, das Schaffott, das Schwert und aller Raub, der im Walde der Ereignisse dem arglosen Wandrer auflauert. Ja, man könnte fast behaupten, daß es alsdann überhaupt keine Ereignisse mehr geben kann, weil man eben glücklich sein wird. Die Menschheit wird ihrem Bewegungsgesetz folgen, wie der Erdball dem seinigen, ungehindert, mit gleicher Harmonie; die Seele wird um die Wahrheit kreisen, wie ein Planet um die Sonne. Allerdings. liebe Freunde, die Stunde, die wir gegenwärtig durchleben, ist voller Trübsal, aber nur um diesen schrecklichen Preis kann die Zukunft erkauft werden. Doch glaubt mir, die Menschheit wird erlöst, getröstet, beglückt werden: Diese Versichrung geben wir ihr von unsrer Barrikade herab. Wo sollte denn auch anders der Schrei der Liebe erschallen, wenn nicht auf dem Opferaltar? Geliebte Brüder, hier ist der Sammelpunkt Derer, die denken, und Derer, die Noth und Kummer erdulden. Nicht aus Steinen, Balken und Eisen besteht diese Barrikade; nein, sie besteht aus zwei Stücken, dem Elend und dem Ideal. Hier schleppt sich das Elend her, um zu sterben, und hier legt die Idee die Unsterblichkeit nieder. Wer also hier stirbt, Freunde, steigt in ein Grab, in das die Morgenröthe einer schönern Zukunft hineinstrahlt.«

Hier unterbrach Enjolras seine Rede, ohne doch gerade zu schweigen; denn er bewegte die Lippen, als spräche er mit sich selber, weshalb Alle ihn aufmerksam ansahen und auf die Fortsetzung warteten, Niemand rief ihm Beifall zu, aber sie unterhielten sich leise mit einander und noch lange nachher zitterten seine Worte in ihren Herzen nach, wie Blätter beim Hauch des Windes.

VI.
Marius und Javert

Berichten wir jetzt, was in Marius Seele vorging.

Da er, wie gesagt, sich schon nicht mehr als dieser Welt angehörig betrachtete und ihn alles gleichgiltig ließ, fragte er nicht, wie, warum, zu welchem Zweck Fauchelevent nach der Barrikade gekommen sei. Hat doch die Verzweiflung die Eigenthümlichkeit, daß man Andre mit denselben Augen betrachtet, wie sich selbst, und so kam es auch Marius ganz natürlich vor, daß alle Welt mit ihm zugleich zu Grunde gehen wollte.

Nur daß er freilich Cosettens mit wehem Herzen gedachte.

Uebrigens redete Fauchelevent ihn nicht an, sah nicht einmal nach ihm hin und schien, als Marius sagte: »Ich kenne ihn!« nichts zu hören, ein Verhalten, das ihm sehr gelegen kam, ja ihm geradezu Vergnügen machte, wenn solch ein Wort zur Bezeichnung eines solchen Gefühls in Marius Lage am Platze ist. Es war ihm stets schlechterdings unmöglich gewesen, den räthselhaften Mann, der ihm trotz seines zweideutigen Wesens imponirte, anzureden. Ueberdies war es lange her, seitdem er ihm begegnet war, was ihm angesichts seiner Schüchternheit und Zurückhaltung die Sache noch schwieriger machte.

Die fünf Ausgeschiednen entfernten sich durch die Rue Mondétour. Einer von ihnen weinte, während er davonging. Ehe sie schieden, umarmten sie noch diejenigen, die zurückblieben.

Als diese dem Leben wiedergegebnen Männer fort waren, dachte Enjolras an den zum Tode Verurtheilten und trat in den Saal, wo Javert an dem Pfahl seinen Gedanken nachhing.

»Wünschst Du irgend etwas?« fragte ihn Enjolras.

»Wann werdet Ihr mich umbringen?«

»Warte. Vorläufig haben wir unsre Patronen zu etwas Andrem nöthiger.«

»Dann geben Sie mir etwas zu trinken!«

Enjolras hielt ihm selber ein Glas Wasser hin und half ihm, da Javert nicht allein trinken konnte.

»Ist das Alles?« hub Enjolras wieder an.

»Das Stehen ist recht unbequem an diesem Pfahl. Es ist nicht sehr rücksichtsvoll von Euch, daß Ihr mich die ganze Nacht in dieser qualvollen Stellung gelassen habt. Bindet mich, wie Ihr wollt, aber Ihr könnt mich doch so gut wie Den da – er bezeichnete mit einer Bewegung des Kopfes den toten Mabeuf – auf einen Tisch legen.«

Hinten im Saal stand, wie man sich erinnern wird, ein langer, großer Tisch, auf dem die Barrikadenkämpfer Kugeln gegossen und Patronen verfertigt hatten. Da diese Arbeit vollendet war, so konnte man jetzt anders über ihn verfügen.

Auf Enjolras's Befehl banden vier Mann Javert von dem Pfahl los, während ein Fünfter ihm die Spitze seines Bajonetts auf die Brust hielt. Doch machten sie ihm die Hände nicht frei und fesselten ihm die Beine mit einem dünnen und festen Peitschenstrick, so daß er kurze Schritte machen konnte, wie ein Delinquent, der das Schaffot besteigen soll, ließen ihn bis zu dem Tisch gehen, streckten ihn darauf aus und banden ihn daran fest.

Um ganz sicher zu gehen, schlangen sie ihm, außer dem Strick, der ihm um den Leib ging, noch einen andern um den Hals, dessen zwei Hälften sich in der Magengegend kreuzten, zwischen die Beine hindurchgingen und an den Händen endeten. Während Javert so gebunden wurde, erschien Jemand auf der Thürschwelle und sah mit besondrer Aufmerksamkeit zu. Javert bemerkte den Schatten, den der Mann warf, drehte den Kopf nach ihm hin und erkannte Jean Valjean. Voller Selbstbeherrschung machte er nicht einmal eine unwillkürliche Bewegung, senkte stolz die Augenlider und sagte nur: »War auch nicht anders zu erwarten!«

VII.
Die Lage verschlimmert sich

Es wurde jetzt rasch hell. Aber kein Fenster, keine Thür öffnete sich. Die Morgenröthe brachte nicht das gewohnte Leben in die Straßen. Das der Barrikade entgegengesetzte Ende der Rue de la Chanvrerie war von den Truppen geräumt worden, wie wir schon erzählt haben, und es herrschte daselbst, wie in der Rue Saint-Denis, eine unheimliche Stille und Oede.

Wenn man aber auch nichts sah, so hörte man desto mehr. In einer gewissen Entfernung ging offenbar was vor, das auf die Herankunft des kritischen Augenblicks deutete. Auch kamen wieder, wie am Abend zuvor, die Schildwachen zurück, alle auf einmal.

Die Barrikade war jetzt weit stärker als beim ersten Angriff. Nach dem Weggang der Fünf hatte man sie abermals erhöht.

Auf den Rath der Schildwache, die nach der Markthalle hin ausgesandt worden, faßte Enjolras, aus Furcht umgangen zu werden, einen gewichtigen Entschluß. Er ließ das bisher freigebliebne Ende der Rue Mondétour durch eine dritte Barrikade versperren, behufs deren Errichtung das Pflaster noch eine Strecke weiter aufgerissen wurde. Auf diese Weise bestand die Verschanzung aus drei Stücken und schien uneinnehmbar. Dafür konnte man freilich desto leichter darin eingeschlossen werden. – »Eine Festung, aber auch eine Mausefalle!« meinte Courfeyrac.

Endlich ließ Enjolras noch unweit der Wirtshausthür etwa dreißig überschüssige Pflastersteine aufhäufen.

Dann trat in der Gegend, woher der Angriff kommen mußte, ein so tiefes Stillschweigen ein, daß Enjolras seinen Leuten befahl, Posto zum Kampfe zu fassen, nachdem er Jedem eine Ration Branntwein hatte verabfolgen lassen.

Nichts ist interessanter zu beobachten, als ein Trupp Barrikadenkämpfer, der sich auf einen feindlichen Sturm vorbereitet. Jeder wählt sich einen Platz wie in einem Theater, lehnt sich mit dem Rücken irgendwo an, stützt die Ellbogen auf, legt das Gewehr an. Manche machen sich eine Art Loge aus Pflastersteinen zurecht. Hier ist eine Mauerecke hinderlich und man geht weg; dort eine Hervorragung, die eine gute Deckung bietet, und man stellt sich dahinter auf. Die Linkshänder sind sehr geschätzt, weil sie Plätze, die für die Andern unbequem sind, einnehmen können. Viele richten sich darauf ein, daß sie sitzend kämpfen können; sie wollen im Kampfe und Tode ihre Bequemlichkeit nicht missen. So ließ sich in der fürchterlichen Junirevolution 1848 ein Insurgent, der ein vorzüglicher Schütze war und auf einem Dach stand, einen Voltairesessel bringen, von dem aus er auf die Soldaten schoß, bis eine Kartätschenkugel ihn traf.

Sobald der Anführer das Zeichen gegeben hat, daß sich Alles bereit halten soll, hören alle zwecklosen Bewegungen, alle Spaltungen, Absonderungen, Zusammenrottungen auf; alle Geisteskräfte werden in der Erwartung der Dinge, die kommen werden, auf's Aeußerste angespannt. Herrscht vor der Gefahr das Chaos, so waltet nachher eine stramme Disciplin.

Sobald Enjolras seinen doppelläufigen Karabiner zur Hand genommen und sich an seinen Platz hinter eine Art Zinne gestellt hatte, trat allgemeines Schweigen ein. Dann ließ sich ein vielfaches Knacken vernehmen, das von den Gewehrhähnen kam.

Im Uebrigen war die Haltung der Kämpfer eine stolzere und zuversichtlichere als je, denn der Entschluß, das höchste Opfer zu bringen, kräftigt die Seelen und wenn unsere Helden keine Hoffnung mehr hatten, so besaßen sie dafür in der Verzweiflung eine andere, die letzte Waffe, die bisweilen den Sieg verleiht, wie Virgil behauptet. Wer sich in den Nachen des Todes flüchtet, entgeht vielleicht dem Schiffbruch und ein Sargdeckel kann Rettung bringen.

Wie am Abend zuvor war die allgemeine Aufmerksamkeit auf das Ende der Straße gerichtet oder richtiger gesagt, geheftet.

Sie brauchten nicht lange zu warten. Es regte sich in der Gegend der Kirche Saint-Leu, aber es kam in anderer Weise als das erste Mal heran. Ein Geklirr von Ketten, ein dumpfes Getöse verkündete, daß eine schwerfällige Masse, ein gefährliches Todeswerkzeug herannahte. Die alten friedfertigen Straßen, die nur auf den nutzbringenden Verkehr der Interessen und Ideen berechnet waren, erbebten vor der gewaltigen Kriegsmaschine.

Alle blickten mit der äußersten Anstrengung ihrer Augen nach der Gegend hin, bis eine Kanone erschien.

Sie wurde von den Artilleristen geschoben und war schußbereit. Die Protze war abgenommen. Zwei Mann hielten die Lafette, vier drehten die Räder; Andere folgten mit dem Pulverkasten. Man sah den Rauch der Lunte.

»Feuer!« kommandirte Enjolras.

Eine fürchterliche Salve krachte, eine Rauchwolke stieg empor und verdeckte die Kanone und ihre Bedienung; als sie sich aber verzogen hatte, sah man die Artilleristen ihr Geschütz ruhig, regelrecht, ohne Ueberstürzung, der Barrikade gegenüber in Stellung bringen. Keiner war getroffen worden. Dann begann der Geschützführer, ernst wie ein Astronom, der sein Fernrohr zurecht rückt, auf das Bodenstück zu drücken, um den Schuß höher zu richten.

»Ein Bravo den Kanonieren!« rief Laigle und Alle klatschten in die Hände.

Einen Augenblick später stand das Geschütz in der Mitte der Straße zu beiden Seiten des Rinnsteins abgeprotzt und schußgerecht vor der Barrikade.

»So! Nun kann's losgehn!« rief Courfeyrac. »Nach den kleinen Knattrern der große Brummer. Die Armee streckt jetzt ihre größte Tatze nach der Barrikade aus und will sie tüchtig rütteln. Das Gewehrfeuer ist bloß ein kleines Vorspiel. Der wahre Tanz beginnt erst mit der Kanonenmusik.«

»Ein Achtpfünder,« erläuterte Combeferre, »ein neues Modell aus Bronce. Diese Art Geschütze platzt leicht, wenn man das richtige Verhältniß des Zinnes zum Kupfer, zehn zu neunzig, nur im Geringsten überschreitet. Das Zinn macht das Metall zu weich. Es kommt dann vor, daß am Zündloch Höhlungen entstehen. Um dieser Gefahr vorzubeugen und die Ladung forciren zu können, müßte man vielleicht auf ein Verfahren des vierzehnten Jahrhunderts zurückgreifen, das ganze Kanonenrohr mit stählernen, ungelötheten Reifen umgeben. Einstweilen hilft man sich, so gut es geht, indem man nämlich das Zündloch mittelst des Stückvisitirers untersucht. Aber es giebt ein besseres Mittel, Gribeauvals beweglichen Stern.«

»Im sechzehnten Jahrhundert,« bemerkte Laigle, »hatte man gezogene Kanonen.«

»Ja,« bestätigte Combeferre, »das vermehrt die Wurfkraft, beeinträchtigt aber die Treffsicherheit. Bei dem Schießen auf kurze Entfernungen fällt die Fluglinie nicht gerade genug aus, damit das Geschoß auf seinem Wege befindliche Gegenstände treffen könnte, eine Nothwendigkeit, deren Wichtigkeit mit der Nähe des Feindes und der Beschleunigung des Feuers zunimmt. Dieser Fehler der Geschoßkurve hatte seine Ursache in der Schwäche der Ladung, die ihrerseits bedingt war durch ballistische Nothwendigkeiten, z. B. durch die Rücksicht, die auf die nicht genügend starken Laffetten genommen werden mußte. Kurzum, die große Despotin, die Kanone, kann doch nicht alles, was sie will, und die größte Menschenmacht läuft auf eine große Schwachheit hinaus. Eine Kanonenkugel braucht eine Stunde um einhundert und achtzig Meilen zurückzulegen, während das Licht in einer Sekunde eine Entfernung von zweiundvierzig Meilen durcheilt. So sehr ist Jesus Christus Napoleon überlegen.«

»Ladet die Gewehre wieder!« rief Enjolras.

Wie würde sich die Barrikade den Kanonenkugeln gegenüber verhalten? Ob der Schuß eine Bresche legen würde? So lautete jetzt die angstvolle Frage, die sich die Angegriffenen vorlegten.

Endlich ging der Schuß los und – »Hier!« rief eine lustige Stimme.

Es war Gavroche, der zugleich mit der Kanonenkugel angeflitzt kam. Er war von der Rue du Cygne aus herbeigeeilt und sein Erscheinen machte mehr Effekt als die Kanonenkugel, die wirkungslos in dem Schutthaufen stecken blieb. Sie zerbrach nur ein Rad des Omnibus und gab dem alten Karren den Rest, worüber die Angegriffenen vergnügt lachten.

»Weiter!« rief Laigle den Artilleristen zu.

VIII.
Die Artillerie macht Ernst

Alle liefen jetzt auf Gavroche zu. Aber er fand keine Zeit zum Erzählen. Denn Marius, der vor Ungeduld und Aufregung zitterte, nahm ihn bei Seite und fragte ihn hastig:

»Was hast Du hier zu suchen?«

»Die Frage!« gab ihm der Knirps mit seiner gewohnten klassischen Dreistigkeit zurück. »Dasselbe, wie Sie auch!« Und seine Augen schauten größer drein, vor hohem Stolze.

Aber Marius fuhr in demselben strengen Tone fort:

»Wer hat Dich wiederkommen heißen? Hast Du wenigstens meinen Brief besorgt?«

Bezüglich des Briefes hatte nun aber Gavroche kein reines Gewissen. Um nur rasch nach der Barrikade zurück kehren zu können, hatte er sich des lästigen Auftrages Hals über Kopf entledigt und mußte sich insgeheim gestehen, daß es leichtsinnig gewesen war, den Brief einem Unbekannten anzuvertrauen, dessen Gesicht er nicht einmal gesehen hatte. Daß der Mann mit bloßem Kopf ging, war doch kein genügender Grund ihn für den Portier des Hauses zu halten. Kurz, Gavroche machte sich einige Vorwürfe und fürchtete, Marius werde ihm schlechten Dank für die Ausrichtung seiner Botschaft wissen. Um sich aus dieser Verlegenheit zu ziehen, nahm er also seine Zuflucht zu dem einfachsten Ausweg: er log unverschämt.

»Ich habe den Brief dem Portier übergeben. Die Dame schlief schon. Sie bekommt ihn aber gleich beim Aufwachen.«

Marius hatte zwei Absichten verfolgt, als er den Brief abschickte: Er wollte Cosette Lebewohl sagen und Gavroche retten. Nun mußte er zufrieden sein, daß die eine wenigstens erreicht war.

Die Absendung des Schreibens und Fauchelevents Ankunft waren aber eine Ideeenverbindung, die ihm noch Anlaß zu einer andern Frage gab:

»Kennst Du den Mann da?« forschte er, indem er auf Fauchelevent zeigte.

»Nein,« lautete der Bescheid. Denn Gavroche hatte, wie schon gesagt, Jean Valjean nur bei Nacht gesehn.

Damit verschwanden alle mißtrauischen und krankhaften Vermuthungen, die eben anfingen, in Marius Geiste aufzusteigen. Kannte er denn Fauchelevents politische Meinungen? Der Mann war vielleicht Republikaner und dann war es ja ganz natürlich, daß er sich den Vertheidigern einer Barrikade anschloß.

Während Marius sich noch mit diesem Gedanken beschäftigte, lief Gavroche an das andre Ende der Barrikade und schrie: »Mein Gewehr! Mein Gewehr!«

Erst nachdem Courfeyrac es ihm zugestellt hatte, benachrichtigte Gavroche seine »Kameraden«, wie er sie nannte, daß die Barrikade vollständig eingeschlossen sei. Er selber war nur noch mit knapper Noth hindurchgekommen. Ein Bataillon Linientruppen, deren Gewehrpyramiden in der Rue de la Petite-Truanderie standen, beobachteten den Ausgang nach der Rue du Cygne; auf der entgegengesetzten Seite hielt die Municipalgarde die Rue des Prêcheurs besetzt. Vor sich hatte man das Gros der Armee.

Diese Meldung bekräftigte Gavroche noch mit den Worten:

»Kinder, ich ermächtige Euch, sie gründlich zu verhauen!«

Währenddem stand Enjolras hinter seiner Zinne und lauschte angestrengt.

Die Angreifer, die wohl mit der Wirkung der Kanonenkugel nicht sehr zufrieden gewesen sein mochten, hatten den Versuch nicht wiederholt.

Statt dessen kam eine Kompagnie Linieninfanterie, riß den Damm hinter dem Geschütz auf und errichtete der Barrikade gegenüber mit den Pflastersteinen eine kleine Mauer, eine nur achtzehn Zoll hohe Schulterwehr, hinter der man links die Spitze eines in der Rue Saint-Denis aufgestellten Bataillons Bürgerwehr sehen konnte.

Dann glaubte Enjolras eine bestimmte Art Geräusch zu hören, – als ob Kartätschenbüchsen aus einem Munitionskasten herausgenommen würden, und alsbald sah er auch, wie der Geschützführer die Kanone etwas nach links richtete und die Kanoniere sie wieder luden. Der Geschützführer ergriff selber den Luntenstock und näherte ihn dem Zündloch.

»Den Kopf herunter!« kommandirte Enjolras. »Und Alle auf die Knie hinter der Barrikade!«

Die Insurgenten, die vor dem Wirtshaus standen, weil sie bei der Ankunft Gavroche's ihren Posten verlassen hatten, stürzten in wirrem Durcheinander auf die Barrikade zu; aber noch ehe Enjolras's Befehl ausgeführt werden konnte, ging der Schuß los und sandte eine Ladung Kartätschen nach der freigelassenen Lücke der großen Schanze. Sie tötete, indem sie von dem Hause abprallte, zwei Mann und verwundete drei andre.

Wenn das so weiter ging, war keine Vertheidigung mehr möglich. Die Kartätschen drangen hinter die Barrikade hinein.

Ein Gemurmel der Bestürzung ließ sich unter den Insurgenten vernehmen.

»Dann wollen wir wenigstens den zweiten Schuß unmöglich machen!« meinte Enjolras und zielte nach dem Geschützführer, der sich eben über das Bodenstück der Kanone neigte, um das Geschütz genauer zu richten.

Der so bedrohte Sergeant war ein sehr hübscher, blonder, junger Mann von sanftem, besonders aber intelligentem Aussehen, wie es jener Truppengattung eigen ist, deren Aufgabe darin besteht, die fürchterlichste aller Mordwaffen immer fürchterlicher zu machen, bis dadurch dermaleinst der Krieg unmöglich sein wird.

»Schade!« rief Combeferre, während er den stattlichen Mann bewunderte. »Wie scheußlich sind doch diese Schlächtereien! Nun, wenn es keine Könige mehr geben wird, dann wenigstens wird es auch mit dem Kriege vorbei sein. Enjolras, Du zielst auf den Sergeanten da, ohne ihn Dir anzusehn. Bedenke, daß es ein interessanter, junger Mann, daß er muthig ist; man sieht es ihm an, daß er nachdenkt, denn die jungen Leute von der Artillerie haben Bildung; wahrscheinlich hat er einen Vater, eine Mutter, eine Braut; er ist höchstens fünfundzwanzig Jahr alt und könnte Dein Bruder sein.«

»Er ist es,« erwiderte Enjolras.

»Ja wohl und meiner auch,« sagte Combeferre. »Dann müßten wir ihn aber nicht totschießen.«

»Laß mich; was sein muß, muß sein.«

Und eine Thräne rollte langsam auf Enjolras's marmorbleiche Wange herab.

Gleichzeitig drückte er los. Der Artillerist drehte sich zwei Mal um sich selber, indem er die Arme vor sich hinstreckte und den Kopf hoch hob, als wolle er stark athmen, stürzte dann mit der einen Seite auf das Geschütz und blieb regungslos liegen. Man sah seinen Rücken, aus dem das Blut herausströmte. Die Kugel hatte ihm die Brust durchbohrt. Er war tot.

Er mußte fortgetragen und durch einen andern Geschützführer ersetzt werden, so daß auf diese Weise die Angegriffnen in der That einige Minuten Zeit gewannen.

IX.
Ein guter Schütze

In der Zwischenzeit beriethen sich die Barrikadenkämpfer. Alle waren darin einig, daß man gegen die Kartätschen keine Viertelstunde mehr Stand halten könne. Die Wirkung der Geschosse mußte durchaus abgeschwächt werden.

Enjolras meinte: »Wir brauchen eine Matratze.«

»Es ist keine da,« entgegnete Combeferre, »die wir haben, werden von den Verwundeten gebraucht.«

Bis zu jenem Augenblick hatte Jean Valjean, das Gewehr zwischen den Beinen, abseits auf einem Prellstein in der Nähe der Wirtshausthür gesessen und an dem, was vorging, nicht den geringsten Antheil genommen. Es war, als hörte er nicht die Glossen, die man über seine Unthätigkeit machte.

Jetzt aber, als er Enjolras's Befehl hörte, erhob er sich von seinem Sitze.

Wie dem Leser erinnerlich sein wird, hatte bei der Ankunft des Insurgententrupps eine alte Frau aus Furcht vor den Kugeln ihre Matratze vor ihr Fenster gehängt. Es war ein sechsstöckiges Haus, das vor der Barrikade lag und das Fenster befand sich auf dem Dache. Die quer gelegte Matratze ruhte unten auf zwei Stiezen und wurde durch zwei Stricke aufrecht erhalten, deren Enden um zwei in die Holzbekleidung des Fensters eingeschlagne Nägel gewickelt waren. Von der Barrikade aus gesehen, waren diese Stricke so dünn wie Härchen.

»Kann mir Jemand einen doppelläufigen Karabiner leihen?« fragte Jean Valjean.

Enjolras, der den seinigen so eben wieder geladen, reichte ihm denselben.

Jean Valjean legte an und schoß den einen von den beiden Stricken durch. Gleich darauf fiel der zweite Schuß und die Matratze stürzte zwischen den Stiezen hindurch auf die Straße.

»Bravo!« riefen Alle. »Nun haben wir eine Matratze!«

»Ja wohl, wenn sie einer holt!« sagte achselzuckend Combeferre.

Denn die Matratze war vor die Barrikade, zwischen die Belagerten und die Belagrer, gefallen. Nun hatten sich aber die Soldaten, wüthend über den Tod des Sergeanten, hinter die von ihnen errichtete Schulterwehr gelegt und, um für die vorläufig zum Schweigen gebrachte Kanone Ersatz zu schaffen, ein heftiges Gewehrfeuer gegen die Barrikade eröffnet. Die Insurgenten antworteten nicht, um ihre Munition zu schonen, und die Gewehrkugeln thaten der Schanze keinen Schaden. Desto gefährlicher war es aber, sich in den Theil der Straße zu wagen, der von den Kugeln der Feinde bestrichen wurde.

Da trat Jean Valjean durch die Lücke hinaus, rannte durch den Kugelregen hindurch, hob die Matratze auf, lud sie sich auf den Rücken und kam hinter die Barrikade zurück.

Hier befestigte er selber die Matratze, so daß sie von den Artilleristen nicht gesehen werden konnte.

Nun durfte man den nächsten Schuß ruhig abwarten.

Es dauerte auch nicht lange, so spie die Kanone einen Haufen Kugeln aus. Aber dies Mal prallten sie nicht ab. Der Erfolg, den man gewünscht hatte, war wirklich erreicht.

»Bürger,« sagte Enjolras zu Jean Valjean, »die Republik dankt Ihnen.«

Auch Laigle war voller Bewunderung und lachte vergnügt.

»Wie unmoralisch, daß eine Matratze so viel vermag. Was sich biegt, triumphirt über das, was bricht. Aber das macht nichts: Ehre der Matratze, die mit einer Kanone fertig wird!«

X.
Aurora

In derselben Stunde wachte Cosette auf.

Ihr Zimmer war schmal, sauber, versteckt; das lange Fenster lag nach Osten und ging auf den Hinterhof des Hauses hinaus.

Cosette wußte nicht, was in der Stadt vorging. Sie war schon in ihrem Schlafzimmer, als die Toussaint Jean Valjean gesagt hatte, in Paris sei ein großer Krawall ausgebrochen.

Das junge Mädchen hatte nur wenige Stunden, dafür aber desto fester geschlafen. Auch hatten sie liebliche Träume umgaukelt, in denen eine ihrem Marius ähnliche, lichte Gestalt eine Rolle spielte, und als sie erwachte, schien ihr gerade die Sonne in die Augen, so daß sie an eine Fortsetzung ihrer Träume glaubte.

Unter diesen Umständen war es nur natürlich, daß sie sich zunächst heiteren Gedanken hingab. Sie stand vollständig unter der Herrschaft derselben Art Reaktion, die wenige Stunden vorher Jean Valjean an sich erfahren hatte: Sie wollte durchaus nicht wissen, daß es solch ein Ding, wie das Unglück giebt und hoffte tapfer darauf los, ohne zu wissen, warum. Allerdings empfand sie einen Augenblick heftige Beklemmung: Es war drei Tage her, daß sie Marius nicht gesehen hatte! Aber diese Sorge beschwichtigte sie mit der Hoffnung, daß er ihren Brief erhalten haben müsse, daß er wisse, wo sie sei, daß er ja ein gescheidter Mensch wäre und Mittel finden werde, zu ihr zu gelangen. Und zwar ganz gewiß im Laufe des Tages, ja vielleicht schon des Vormittags. – Es war schon heller, lichter Tag, aber die Sonnenstrahlen fielen noch recht schräg, so daß es noch sehr früh sein mußte; aber aufstehen, dachte sie, müsse sie sofort, um Marius empfangen zu können.

Sie hatte das Gefühl, daß sie ohne Marius nicht leben könne, das genügte, und folglich würde er kommen. Dagegen konnte kein Einwand aufkommen, so gewiß war sie ihrer Sache. War es doch schon ungeheuerlich genug, daß sie drei Tage lang lauter Kummer gehabt! Wie schlecht das doch von dem lieben Gott war, daß er ihren Marius drei Tage lang von ihr fern gehalten hatte! Jetzt aber war ja diese grausame Schelmerei des Himmels vorbei, jetzt mußte Marius kommen und eine gute Nachricht bringen. So ist die Jugend: Sie trocknet sich schnell die Augen; sie meint, der Kummer sei zu nichts gut, und weist ihn ab. Die Jugend ist das Lächeln der Zukunft vor einem Unbekannten, das sie selber ist. Glücklich zu sein, versteht sich für sie von selbst. Sie lebt und webt in der Hoffnung.

Außerdem konnte sie sich gar nicht mehr erinnern, was ihr Marius als Grund seiner Abwesenheit angegeben hatte. Jedermann hat wohl bemerkt, wie schlau sich ein Geldstück, das man fallen läßt, zu verstecken weiß. Denselben Streich spielen uns auch manche Gedanken und Erinnrungen. Sie flüchten sich in irgend einen Winkel unsres Hirns und man mag sie dann suchen, so viel man will; das Gedächtniß wird ihrer nicht mehr habhaft. So hatte auch Cosette an jenem Morgen ihren Aerger, daß ihr Erinnrungsvermögen so matt arbeitete. Sie machte sich Vorwürfe, fand, daß es schlecht von ihr sei, Worte, die ihr Marius gesagt hatte, vergessen zu haben.

Also stand sie auf und reinigte Seele und Körper, d. h. sie verrichtete ihr Gebet und machte Toilette.

Man darf allenfalls den Leser in ein Brautgemach, nicht aber in das Schlafzimmer einer Jungfrau blicken lassen. Kaum daß dies der Poesie gestattet ist; der Prosa ist es untersagt.

Eine holde Mädchenblüte ist wie eine Lilienknospe, deren Innres vom Menschen nicht angeschaut werden darf, ehe sie von der Sonne aufgeschlossen worden ist. Wie sie das Bett zurückschlägt, wie sie in ihrer Nacktheit vor sich selber erschrickt, ihren Busen vor dem Spiegel verhüllt, als wenn fremde Augen auf sie schauten, bei jedem unerwarteten Geräusch zusammenschauert, als fürchte sie, beobachtet zu werden, alles dies darf nicht geschildert werden; es ist schon zu viel, daß wir es angedeutet haben.

Cosette kleidete sich schnell an und frisirte sich, was damals noch eine leichte Arbeit war. Pflegten doch die Frauen noch nicht Kissen und Tonnen unter ihre Locken und Haarwellen zu legen, noch keine Krinolinen in ihren Haaren zu tragen. Dann öffnete sie das Fenster und ließ ihre Blicke überall umherstreifen in der Hoffnung ein Stückchen von der Straße erblicken zu können. Leider war aber nichts zu sehen, als die ziemlich hohen Mauern, die den Hof abschlossen, und einige Gärten, welche Cosette abscheulich fand. Es war das erste Mal in ihrem Leben, daß ihr Blumen mißfielen. Der Anblick eines Rinnsteins hätte ihr unendlich mehr Freude gemacht. So beschloß sie sich den Himmel anzusehen, als dächte sie, Marius werde aus der Gegend kommen.

Plötzlich brachen ihr Thränen aus den Augen. Nicht, als ob wetterwendische Veränderlichkeit dies bewirkt hätte. Sie wurde sich vielmehr der wahren Natur ihrer augenblicklichen Lage bewußt; deshalb folgte auf die Hoffnungsfreudigkeit völlige Niedergeschlagenheit. Ihr schwante, daß etwas Fürchterliches vorging. Sie begriff, daß sie auf nichts sicher rechnen könne; daß, wenn sie Marius aus den Augen, sie ihn überhaupt verlor und nun erschien ihr der Gedanke, er könne vom Himmel zu ihr herabkommen, nicht mehr entzückend, sondern schauerlich.

Dann kehrte – zartes Gewölk verflüchtigt sich ja sehr leicht – ruhige Zuversicht wieder und eine unbewußte, aber auf Gott vertrauende Heiterkeit.

Noch schlief Alles im Hause. Es herrschte ein Stillschweigen wie in einer Kleinstadt. Keine Jalousie war aufgemacht. Auch der Portier war noch nicht auf den Beinen. Selbst die Toussaint lag noch im Bett und Cosette glaubte natürlich auch, daß ihr Vater noch schliefe. Sie mußte wohl schweres Herzeleid empfunden haben und noch empfinden: denn sie meinte, ihr Vater habe recht schlecht an ihr gehandelt; aber sie verließ sich auf Marius. Daß dieses Licht auch je verdunkeln könnte, schien ihr schlechterdings unmöglich. Zeitweise vernahm sie aus der Ferne ein dumpfes Dröhnen und dachte dann: »Sonderbar, daß manche Hausthüren so früh auf- und zugemacht werden.« Es waren aber Kanonenschüsse.

Einige Fuß unter Cosettes Fenster befand sich in dem ganz schwarzen Karnieß ein Schwalbennest, das etwas hervorragte, so daß man von oben in das Innre dieses Paradieschens blicken konnte. Da saß die Mutter und hatte ihre Flügel über ihre Jungen gebreitet, während der Vater hin- und herflog, Atzung brachte und sich mit den Seinigen schnäbelte. Diese allerliebste Scene übergoß die aufgehende Sonne mit ihrem goldnen Licht; das große Gebot »Seid fruchtbar und mehret Euch!« fand hier eine fröhliche und erhabne Anwendung. Dieses Schauspiel betrachtete Cosette, die Phantasie voller Chimären, das Herz voller Liebesträume, ohne daß sie sich selber zu gestehen wagte, daß sie gleichzeitig an Marius dachte.

XI.
Ohne zu töten

Das Feuer der Angreifer hielt an, bald Gewehrsalven, bald Kartätschenschüsse; aber ohne großen Schaden anzurichten. Nur der obre Theil der Fassade des Wirtshauses wurde beschädigt, die Fenster im ersten Stock und im Dach demolirt, so daß die hier postirten Vertheidiger sich zurückziehen mußten. Denn es ist eine bekannte Taktik des Barrikadenangriffs, daß man lange Zeit hinter einander schießt, damit die Insurgenten recht viel Munition verbrauchen, wenn sie den Fehler begehen das feindliche Feuer zu erwiedern. Merkt man, daß sie weniger stark schießen, daß ihnen Pulver und Kugeln ausgehen, so wird gestürmt. Enjolras hatte sich aber nicht zu diesem Fehler verleiten lassen und seinen Leuten verboten mit ihrer Munition verschwenderisch umzugehen.

Bei jeder Salve schob Gavroche die Zunge in die Backe, ein Zeichen vernichtender Geringschätzung, und spöttelte:

»So ist's recht, Jungens. Reißt uns die Matratze entzwei. Dann kriegen wir Charpie.«

Wahrscheinlich beunruhigte schließlich das Stillschweigen hinter der Barrikade die Angreifer. Sie fürchteten irgend eine Kriegslist, einen unliebsamen Zwischenfall und empfanden das Bedürfniß zu wissen, was hinter dem Steinhaufen passirte, der Schuß auf Schuß geduldig hinnahm ohne Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Denn plötzlich sahen die Insurgenten auf einem nahen Dache einen Helm, der in der Sonne blinkte. Es saß da ein Feuerwehrmann mit dem Rücken an einen hohen Schornstein gelehnt und sah auf die Verschanzung hinab.

»Ein unbequemer Beobachter!« bemerkte Enjolras.

Ohne ein Wort zu sagen, ergriff Jean Valjean das Gewehr, das er mitgebracht hatte, zielte nach dem Kundschafter und eine Sekunde darauf rasselte der Helm auf die Straße herunter. Der erschrockne Feuerwehrmann aber beeilte sich von der Bildfläche zu verschwinden.

Nun erschien ein zweiter Beobachter, ein Offizier. Jean Valjean spielte ihm ebenso mit, wie dem Gemeinen. Der Offizier war nicht hartnäckig und konzentrirte sich ebenfalls rückwärts. Dieses Mal verstanden die Angreifer den zarten Wink und behelligten die Insurgenten nicht weiter mit ihrer Spionage.

»Warum haben Sie den Mann nicht getötet?« fragte Laigle Jean Valjean.

Aber dieser gab ihm keine Antwort.

XII.
Die Anordnung als Vertheidigerin der Ordnung

»Er hat meine Frage nicht beantwortet,« sagte Laigle leise zu Combeferre.

»Der Mann ist Einer, der mit Flintenkugeln Gutes stiftet.«

Diejenigen, die sich dieser schon etwas fernen Zeit noch entsinnen, wissen, daß die Bürgerwehr der Umgegend von Paris sich tapfer gegen die Insurgenten schlug. Im Juni 1832 zeigte sie sich besonders hartnäckig und muthig. So mancher brave Kneipwirt, dessen Lokal in Folge des Aufruhrs ohne Zuspruch blieb, verfiel in eine wahre Löwenwuth und schlug mir nichts dir nichts sein Leben in die Schanze, nur damit die Ordnung und der Kuhschwof wieder zu Ehren kommen sollten. In jener zugleich spießbürgerlichen und heroischen Zeit stellten sich den Rittern, die ihre Ideen vertheidigten, auch Paladine entgegen, die für ihre Interessen eintraten. Waren die Beweggründe auch prosaische, dem Muth thaten sie keinen Abbruch. Ein mit der Auszehrung behafteter Geldsack konnte einen Bankier veranlassen die Marseillaise anzustimmen und Mancher kämpfte für seinen Kramladen mit einem Opfermuth, der dem der Vertheidiger des Thermopylenpasses nicht nachstand.

Eine andre Eigenthümlichkeit jener Zeit war der Mangel an Disciplin und Ordnungssinn, den die Anhänger der bestehenden Regierung vielfach bekundeten. Ehe man es sich versah, »wurde auf Befehl dieses oder jenes Obersten der Bürgerwehr ›das Ganze sammeln‹ getrommelt; kommandirte ein Hauptmann zum Angriff; stürzte sich ein beliebiger Nationalgardist, weil es ihm ›so paßte‹ und zu seinem Privatvergnügen auf den Feind.« Man fragte nicht seine Vorgesetzten, sondern nur sein persönliches Belieben. Es gab unter den Vertheidigern der Ordnung wahre Guerilleros, die Einen Degenhelden, wie Fannicot, die Andern Federfuchser, wie Henri Fonfrède.

Die Civilisation, die damals leider mehr durch eine Verbrüderung von Interessen, als durch eine Gruppe von Principien dargestellt wurde, war oder glaubte sich gefährdet; sie schlug Lärm und der erste Beste half ihr auf seine Weise; dachte, er allein könne die Gesellschaft retten.

Der Eifer schlug zuweilen in eine wilde Vernichtungswuth um. Irgend ein Trupp Bürgerwehr warf sich aus eigner Machtvollkommenheit zum Kriegsrath auf, verurtheilte und füsilirte in fünf Minuten einen gefangnen Insurgenten. Einem solchen aus dem Stegreif konstituirten Gericht war auch Jean Brouvaire zum Opfer gefallen. Diese Anwendung des blutdürstigen Lynchgesetzes hat keine Partei das Recht, den andern vorzuwerfen, denn es wird von der Republik in Nordamerika ebenso gut geübt, wie von der Monarchie in Europa. Natürlich kommen dabei auch Irrthümer und Verwechslungen vor. Eines Tages wurde ein junger Dichter Namens Paul-Aimé Garnier auf der Place Royale von Nationalgardisten verfolgt und rettete sich nur, indem er sich in ein Haus flüchtete. »Ein Saint-Simonist!« hieß es. Der junge Mann trug nämlich ein Buch unter dem Arm, einen Band von den Memoiren des Herzogs von Saint-Simon. Ein unwissender Philister hatte den Titel gelesen und sofort »Schlagt ihn tot!« gerufen.

Am 6. Juni 1832 nun unternahm auch eine Compagnie Bürgerwehr unter dem Kommando des schon erwähnten Fannicot auf eigne Faust einen Angriff auf die Barrikade der Rue de la Chanvrerie, der ihr theuer zu stehen kam. Diese Thatsache ist, so eigentümlich sie Manchem erscheinen mag, durch gerichtliche Ermittlungen nach dem Aufruhr festgestellt worden. Der Hauptmann Fannicot konnte der Versuchung nicht widerstehen, vor der Zeit anzugreifen und die Barrikade allein mit seiner Kompagnie zu erstürmen. Durch den Anblick der rothen Fahne und des alten Rocks, den er für eine schwarze Fahne hielt, wild gemacht, tadelte er ganz laut die Generäle und Truppenführer, die lange Rath pflogen und warteten, um, wie Einer von ihnen sich ausdrückte, die Insurrektion in ihrem eignen Saft kochen zu lassen. Er fand, daß Alles reif sei, und da reife Früchte gepflückt werden müssen, so beschloß er, nicht lange zu fackeln und sie abzuschlagen.

Ebenso, wie er, dachten seine Leute, »wahre Tollköpfe«, wie sie ein Augenzeuge genannt hat. Seine Kompagnie, eben dieselbe, die den Dichter Jean Prouvaire füsiliert hatte, war die erste in dem an der Ecke der Straße postirten Bataillon. In einem Augenblick, wo man sich dessen am wenigsten versah, stürmte der Hauptmann mit seinen Leuten auf die Barrikade los, mit mehr gutem Willen, als strategischem Geschick. Noch ehe sie zwei Drittel der Straße hinter sich gebracht hatten, empfing sie eine tüchtige Gewehrsalve. Vier von ihnen, die Verwegensten, die den Andern voraus rannten, fielen dicht vor der Redoute, und so tapfer sie waren, zogen sie sich doch, da sie der richtigen, militärischen Zähigkeit ermangelten, nach einigem Zaudern zurück, indem sie fünfzehn der Ihrigen als Leichen auf dem Platze ließen. In Folge der Verzögerung gewannen dann die Insurgenten die Zeit, ihre Gewehre wieder zu laden und zum zweiten Mal zu feuern, ehe sich die Kompagnie hinter der Straßenecke in Sicherheit bringen konnte. In demselben Augenblick empfing sie auch von vorn eine Ladung Kartätschen von dem abgeprotzten Geschütz, dessen Bemannung keinen Befehl hatte, das Feuer einzustellen. Eine dieser Kartätschenkugeln tötete den unerschrocknen und unklugen Fannicot, so daß er, der Vertheidiger der Ordnung, durch andere Vertheidiger der Ordnung sein Leben verlor.

Ueber diesen mehr wilden als gefährlichen Angriff ärgerte sich Enjolras; »Die Dummköpfe die! Opfern ihre Leute für nichts und wieder nichts und wir müssen unsere Munition vergeuden!«

Mit diesen Worten bezeichnete Enjolras sehr richtig das Wesen des Straßenkampfes. Die Insurgenten und ihre Gegner kämpften nicht mit gleichen Waffen. Die Insurrektion hat immer nur über wenig Munition und wenig Truppen zu verfügen, und ist eine Patronentasche geleert, ein Mann gefallen, so sind sie nicht zu ersetzen. Die Regierung dagegen, die über die Armee, über das Artilleriedepot in Vincennes verfügt, braucht mit Menschen und Kugeln nicht zu geizen. Sie hat soviel Regimenter, wie die Insurrektion Leute zählt. Dieser ungeheuren Uebermacht unterliegen stets die Insurgenten, es sei denn, daß die Revolution plötzlich ihr Haupt erhebt und ihr blitzendes Schwert in die Wagschale wirft. Dann greift Alles zu den Waffen, überall steigen die Redouten des Volkes empor, Paris macht seine Herrscherkraft geltend, das Quid divinum der Schlachten greift ein, es regt sich der Geist, der bei der Erstürmung der Tuilerien und 1848 waltete, dann wird es Licht, die Gewalt weicht zurück und die Armee sieht Frankreich vor sich, das ihr majestätisch das Panier der Zukunft entgegenhält.

XIII.
Enttäuschte Hoffnungen

Die Gefühle und Leidenschaften, die einen Trupp Insurgenten auf der Barrikade zurückhalten, sind sehr verschiedener Natur. Tapferkeit, jugendlicher Enthusiasmus, Ehrgefühl, Idealismus, Ueberzeugungstreue, Hartnäckigkeit und besonders von Zeit zu Zeit aufgefrischte Hoffnungen und Illusionen.

Unter dem Bann einer solchen Illusion stand eine Zeit lang auch die Bemannung der Barrikade in der Rue de la Chanvrerie.

»Hört!« rief plötzlich Enjolras, der beständig in die Ferne lauschte. »Mich dünkt, daß Paris sich zu rühren anfängt.«

In der That schwoll an jenem Morgen der Aufstand eine oder mehrere Stunden hindurch stärker an. Das hartnäckige Geläut der Glocken in der Kirche Saint-Merry feuerte Manche an, sich dem Zuge anzuschließen. In der Rue du Poirier, Rue des Gravilliers entstanden neue Barrikaden. Vor der Porte Saint-Martin nahm ein mit einem Karabiner bewaffneter junger Mann allein den Kampf gegen eine Schwadron Kavallerie auf. Ohne Deckung, mitten auf dem Boulevard ließ er sich auf ein Knie nieder, legte sein Gewehr an und tötete den Rittmeister. »So!« sagte er, »der wird uns keinen Schaden mehr thun.« Er wurde von den Soldaten niedergemacht. In der Rue Saint-Denis stand eine Frau hinter einer heruntergelassenen Fensterjalousie und schoß auf die Municipalgarde. In der Rue de la Cossonnerie wurde ein Junge arretiert, der die Taschen voller Patronen hatte. Mehrere Wachtposten wurden angegriffen. Beim Eingang in die Rue Bertin-Poirée wurde ein Regiment Kürassiere, an dessen Spitze der General Cavaignac de Baragne ritt, mit einem sehr lebhaften und ganz unerwarteten Gewehrfeuer begrüßt. In der Rue Planche-Mibray wurden von den Dächern herab auf die Soldaten allerhand Scherben und Küchengeräthe geworfen, was immer als ein bedenkliches Symptom zu betrachten ist, und als man dies dem Marschall Soult meldete, schüttelte dieser alte Mitkämpfer Napoleons den Kopf und erinnerte sich eines Ausspruchs, den Suchet in Saragossa gethan hatte: »Wir sind verloren, wenn uns die alten Weiber den Inhalt ihrer Nachttöpfe auf den Kopf gießen.«

Diese einzelnen Zornaufwallungen zu einer Zeit, wo man den Aufstand schon für lokalisirt hielt, gaben den Truppenführern zu denken. Sie beschlossen die Funken, die so leicht einen allgemeinen Brand entfachen konnten, sofort auszutreten und den Angriff auf die Barrikaden Maubuée, de la Chanvrerie und Saint-Merry bis zuletzt aufzuschieben. Demzufolge wurden in die unruhigen Stadtviertel Kolonnen entsandt, die großen Straßen gesäubert, die kleinen rechts und links durchsucht, bald mit Vorsicht und langsam, bald im Sturmschritt. Die Infanteristen erbrachen die Thüren der Häuser, aus denen man geschossen hatte, während die Kavallerie die Zusammenrottungen auf den Boulevards zerstreute. Diese Vorgänge liefen nicht ohne großen Lärm ab, der auch zu Enjolras's Ohren drang. Außerdem sah er Verwundete auf Bahren an dem Ende der Straße vorbeitragen. »Die kommen nicht von uns her!« sagte er zu Courfeyrac.

Dieses Hoffnungsflämmchen erlosch indeß sehr bald. In noch nicht einer halben Stunde verzog sich das Gewitter, das in der Luft war; der Blitz leuchtete wohl, schlug aber nicht ein und dann fühlten die Insurgenten wieder den bleiernen Druck der Gleichgiltigkeit, die das Volk so oft gegen seine allzu kühnen Vorkämpfer beweist.

Die allgemeine Aufregung hatte sich gelegt und die Aufmerksamkeit des Kriegsministers, so wie die Strategik der Generäle konnte sich jetzt den wenigen übrig gebliebnen Barrikaden zuwenden.

Währenddem stieg die Sonne immer höher am Horizont empor.

»Hunger thut weh!« rief ein Insurgent Enjolras zu. »Sollen wir wirklich sterben, ohne erst noch einmal gegessen zu haben?«

Enjolras, der noch immer hinter seiner Zinne stand und kein Auge von der Straße verwandte, machte mit dem Kopfe ein Zeichen der Bejahung.

XIV.
Wie Enjolras's Braut hieß

Courfeyrac, der auf einem Pflasterstein neben Enjolras saß, machte sich ein Vergnügen daraus, seine Gefährten durch Witze über die Kartätschenschüsse zu erheitern.

»Du thust mir leid, alte Brummliese!« sagte er zur Kanone. »So strenge Dich doch nicht so unnütz an, Du armes Ding. Du wirst Deiner Gesundheit noch Schaden thun. Du hustest ja schon schwindsüchtig.«

Auch Courfeyrac und Laigle, deren gute Laune mit der Gefahr wuchs, ersetzten, wie Frau Scarron, die Nahrung durch Späße und schenkten, da der Wein ausgegangen war, den Andern Scherzreden ein.

»Ich kann Enjolras's Gleichmuth und Verwegenheit nicht genug bewundern,« sagte Laigle. »Er lebt allein, in Folge dessen er etwas melancholisch ist; als großer Mann hat er über Vereinsamung zu klagen. Wir Andern haben irgend ein Lieb, das uns den Kopf verdreht und folglich auch tapfer macht. Ist man verliebt wie ein Tiger, so ist es ganz natürlich, daß man kühn ist wie ein Löwe. Die einzige Art, wie wir uns an unsern Mädchen rächen können, wenn sie uns einen unangenehmen Streich spielen! Hat doch auch Roland den Tod gesucht, damit Angelica sich ärgern sollte. Allen unsern Heroismus verdanken wir unsern Mädeln. Ein Mann ohne Frauenzimmer ist wie ein Pistol ohne Hahn. Trotzdem nun aber hinter Enjolras nichts Weibliches steht, trotzdem er nicht verliebt ist, kriegt er es doch fertig Courage zu haben. Unbegreiflich, daß er so kalt wie Eis und doch feurig sein kann.«

Enjolras schien nicht hinzuhören, aber er beantwortete Laigle's Frage leise vor sich hin: »Patria

»Was Neues!« unterbrach Courfeyrac Laigle's Heiterkeit. »Nummer Acht!« kündete er mit der Stentorstimme eines Gerichtsdieners an.

Es war nämlich ein zweites Geschütz auf der Bildfläche erschienen, das die Artilleristen neben dem ersten abprotzten.

Es bedeutete den Anfang vom Ende.

Nun wurde die Barrikade von den beiden Kanonen direkt beschossen, wobei das Gewehrfeuer kräftig sekundirte.

Gleichzeitig hörte man in einiger Entfernung noch eine andre Kanonade. Es standen nämlich in der Rue Saint-Denis und in der Rue Aubry-le-Boucher noch zwei andre Geschütze, die gegen die Barrikade Saint-Merry gerichtet waren und denen der Rue de la Chanvrerie schaurig antworteten.

Von diesen beiden schoß das eine Kartätschen, das andre Kugeln. Letzteres zielte ziemlich hoch, damit die Kugeln den obersten Rand der Verschanzung zerstören und die Steintrümmer, indem sie nach allen Richtungen auseinander flogen, die Vertheidiger treffen sollten.

Auf diese Weise wollte man die Insurgenten hindern, über den Kamm der Barrikade hinweg zu sehen, und sie nöthigen, sich weiter nach unten zu verkriechen. Also eine Vorbereitung zum Sturmlaufen.

Konnten die Insurgenten von der Barrikade und von den Fenstern des Wirtshauses aus nicht mehr schießen, so konnten die Angreifer sich in die Straße wagen, vielleicht sogar unbemerkt die Schanze rasch erklettern, wie Abends zuvor, und sie möglicher Weise überrumpeln.

»Die beiden Geschütze fangen an uns gefährlich zu werden,« rief Enjolras. »Feuer auf die Artilleristen!«

Alle waren bereit und eröffneten plötzlich, nachdem sie lange geschwiegen hatten, ein rasches, muntres Gewehrfeuer. Die Straße füllte sich mit dichtem Pulverdampf und nach sieben oder acht Gewehrsalven sah man zwei Drittel der Artilleristen an der Erde liegen. Die Uebriggebliebenen allerdings fuhren mit kaltblütigem Pflichteifer fort die Geschütze zu bedienen, aber die Kanonade wurde doch langsamer.

»Besser können wir's nicht verlangen,« meinte Laigle.

Aber Enjolras schüttelte den Kopf und antwortete:

»Wenn die Sorte Erfolg nur noch fünfzehn Minuten anhält, bleiben uns Allen keine zehn Patronen übrig.«

XV.
Gavroche vor der Barrikade

Gavroche stand dabei, als Enjolras diese Aeußerung that.

Er ging in das Wirtshaus hinein, nahm einen Flaschenkorb, eilte dann durch die Lücke hinaus und begann kaltblütig die Patronentaschen der getöteten Nationalgardisten zu leeren.

»Was machst Du da?« rief Coufeyrac, der ihn zuerst bemerkte.

Gavroche sah ihn dreist an und antwortete:

»Ich fülle meinen Korb.«

»Und die Kartätschen?«

»Och, um das Bischen Kugelregen kümmert sich ein großer Geist nicht.«

»Komm zurück!«

»Gleich! antwortete Gavroche und eilte vorwärts.

In der Nacht lagen etwa zwanzig Tote, die Fannicot's Kompagnie bei ihrer Flucht zurückgelassen. Gavroche konnte also sehr wohl auf eine ziemlich reiche Ausbeute hoffen.

Der Pulverdampf in der Straße glich einer Wolke, wie man sie bisweilen im Gebirge zwischen zwei schroffen Abhängen sehen kann. Er stieg nur langsam empor und erneuerte sich beständig, so daß die Straße beständig dunkler wurde. Kaum, daß die beiden Parteien sich noch sehen konnten.

Diese Dunkelheit, die wahrscheinlich von den Angreifern absichtlich geschaffen wurde, um mit desto weniger Gefahr stürmen zu können, kam unserm Gavroche sehr zu Statten. In den Pulverdampf gehüllt und klein, wie er war, konnte er, ohne bemerkt zu werden, ziemlich weit vorgehn und plünderte die sieben oder acht ersten Patronentaschen ohne besondre Gefahr.

Dann nahm er seinen Korb zwischen die Zähne und trabte auf allen Vieren von einem Leichnam zum andern mit der Gelenkigkeit eines Affen, bis die Seinigen nicht mehr wagten ihn zurückzurufen, aus Furcht, der Feind würde auf ihn aufmerksam werden.

Indem er aber allmählich weiter vorrückte, gelangte er endlich an einen Punkt, wo der Pulverdampf durchsichtiger wurde und die Soldaten hinter der Schulterwehr, sowie die Nationalgardisten an der Ecke der Straße ihn bemerkten.

Eben entledigte Gavroche einen Sergeanten seiner Patronen, als eine Kugel die Leiche traf.

»Donnerwetter, so schießt mir doch nicht meine Leichen tot!« rief Gavroche.

Eine zweite Kugel schlug auf einen Pflasterstein neben ihm, daß die Funken sprühten. Eine dritte warf seinen Korb um.

Gavroche blickte auf und sah, daß diese Kugeln von der Bürgerwehr kamen.

Er stellte sich aufrecht, stemmte die Hände auf die Hüften, sah die Nationalgardisten, die auf ihn schossen, keck an und sang:

»Das Rind, die Gans und der Philister,
Das sind drei dumme Geschwister;
Denn hätten sie Verstand,
So hielten sie den Rand.«

Darauf nahm er den Korb wieder von der Erde auf, sammelte die herausgefallnen Patronen sämtlich wieder ein und rückte weiter vor, um eine andre Patronentasche auszuleeren, während eine vierte und fünfte Kugel dicht bei ihm vorüberflogen.

Es war schrecklich und hübsch zugleich anzusehen, wie der Junge die Feinde neckte und sich im Kugelregen zu amüsieren schien. Es machte den Eindruck, als wollte ein Sperling nach einer Schaar Jäger picken. Die Nationalgardisten und Soldaten lachten, indem sie auf ihn anlegten und verfehlten ihn fortwährend. Er warf sich auf die Erde, sprang auf, versteckte sich hinter eine Ecke, stürzte wieder hervor, sammelte Patronen ein, indem er den Feinden lange Nasen machte, Grimassen schnitt und unsinnige Lieder sang. Die Insurgenten keuchten und zitterten, er tänzelte vergnügt wie ein Kobold herum, dem Menschen nichts anhaben können und der den Tod ungestraft foppen darf.

Eine Kugel indeß traf endlich den Irrwisch. Er wankte und brach zusammen. Die Insurgenten stießen einen Schreckensschrei aus; aber der Pygmäe schien wie der Riese Antäus durch die Berührung mit dem Straßenpflaster neue Kraft zu gewinnen. Er richtete sich auf, so daß er saß, hob die Arme in die Höhe und sang, während ihm das Blut das Gesicht herunterströmte, wieder einen Vers:

»Hier sitz' ich auf der Erden,
Was wird aus mir nun werden?
Doch dieses ist wir schnurz.
Ich schick' Euch einen . . .«

Leider können wir dem Leser nicht berichten, welches das letzte Reimwort war. Denn Gavroche sang die Strophe nicht zu Ende. Eine zweite Kugel von demselben Schützen brachte ihn zum Schweigen. Dieses Mal sank er mit dem Gesicht auf die Erde und rührte sich nicht mehr. Die große Heldenseele hatte den kleinen Körper verlassen.

XVI.
Der kleine Vater

Zu derselben Zeit irrten im Jardin du Luxembourg – denn das Auge des Dichters muß überall sein – zwei Knaben herum, die sich bei der Hand hielten. Der eine mochte sieben, der andre fünf Jahre alt sein. Da sie vom Regen durchnäßt waren, hielten sie sich möglichst in der Sonne; sie waren zerlumpt und sahen blaß aus. »Mich hungert so sehr!« jammerte der Kleinste.

Der Aelteste, der sein Brüderchen bevaterte und führte, trug ein Stöckchen in der Hand.

Sie waren allein in dem großen Garten, der von der Polizei wegen des Aufstands geschlossen worden war. Die Truppen, die hier bivouakirt hatten, waren herausgenommen worden.

Wie kamen die Kleinen dahin? Vielleicht waren sie aus einem Wachthause oder Polizeibüreau oder aus einer Seiltänzerbude entwischt; vielleicht hatten sie sich am Abend zuvor als der Garten geschlossen wurde, vor den Beamten versteckt, um die Nacht in einer Bude schlafen zu können. Jedenfalls waren sie frei, d. h. vogelfrei.

Es waren dieselben Knaben, die Gavroche so viel Sorge machten, die Kinder der Thénardier, die sie an die Magnon vermiethet und als deren offizieller Vater Gillenormand figurirte, und um die man sich jetzt so wenig bekümmerte, wie um abgefallene Blätter.

Es bedurfte der Aufregung und Unordnung eines solchen Tages, damit solches Kindergesindel den öffentlichen Garten betreten durfte. Hätten die Aufseher sie bemerkt, so würden sie die Lumpenmätze hinausgejagt haben. Derartige Kinder haben kein Recht, sich die Blumen anzusehen.

Es hatte am Abend zuvor und auch am Morgen geregnet. Aber Junihuschen zählen nicht. Kaum eine Stunde nach einem Gewitter ist die Erde wieder trocken, – wie die Wangen eines Kindes.

Zur Zeit des Solstitiums zieht die Sonne alle Feuchtigkeit rasch aus dem Boden heraus, als wolle sie trinken. Troff am Morgen noch alles vom Regen, so belästigt Einen am Nachmittag schon wieder der Staub.

Nichts ist so lieblich wie das Laub und Gras, wenn es von einer Husche abgewaschen und von der Sonne getrocknet ist; sie strömen eine warme Frische aus. Die Gärten und Wiesen mit dem Wasser in den Wurzeln und Sonnenschein in den Blumen entsenden überall hin ihre lieblichsten, stärksten Düfte. Die ganze Natur lacht, singt und ladet zur Freude ein. Man fühlt so zu sagen einen süßen Rausch.

Der Frühling ist ein provisorisches Paradies; der herrliche Sonnenschein ermöglicht es dem Menschen, sich zu gedulden.

Es giebt Leute, die nichts mehr verlangen, als die Bläue des Himmels; Denker, die, in der Anbetung der Natur versunken, gleichgültig gegen das Gute und Böse sind; Bewundrer des Kosmos, die in ihrer verzückten Zerstreuung die Menschheit übersehen, nicht begreifen, daß man sich mit den Hungrigen, den Dürstenden, den Nackten, den Blutarmen, den Siechen, den Obdachlosen, den Zuchthäuslern, den Zerlumpten, beschäftigt, wenn man spazieren gehen und träumen könnte; gemüthliche, ruhige, erbarmungslos zufriedne Leute. Merkwürdig, Denen genügt das Unendliche. Das große Bedürfnis des Menschen, das Endliche zu fassen, zu umarmen, empfinden sie nicht. Der Fortschritt zum Bessern existirt für sie nicht. Das Unbegrenzbare, das aus der menschlichen und göttlichen Kombination des Unendlichen und des Endlichen entsteht, entgeht ihnen. Wenn sie nur dem unermeßlichen Raum gegenüber stehen, lächeln sie. Nie Freude, immer Verzückung! Die Geschichte der Menschheit ist für sie nur eine Gemeindeflurkarte: Es fehlt die Hauptsache. Das wahre All ist nicht darin enthalten. Wozu sich um die Nebensache, den Menschen, Kopfschmerzen machen? Es giebt viel Elend auf der Welt. Nun ja! Aber sehen Sie doch den Aldebaran an. Welch ein herrlicher Stern! Die schlecht genährte, arme Frau da hat keine Milch für ihr Kind. Mag sein; aber bewundern Sie doch die herrliche Rosette, die man im Tannensplint mit dem Mikroskop sehen kann! Dagegen sind die feinsten belgischen Spitzen nichts! Diesen Denkern fehlt das liebevolle Gemüth. Es ist dies eine Gattung Menschen, deren Seele zugleich groß und klein veranlagt ist. Zu ihr gehörte Horaz, gehörte Goethe, vielleicht auch Lafontaine, großartige Egoisten des Unendlichen, die Nero nicht sehen, wenn das Wetter schön ist; denen die Sonne den Scheiterhaufen verbirgt; die bei einer Hinrichtung einen Lichteffekt beobachten; deren Ohr keinen Angstschrei, keinen Seufzer, kein Röcheln, keine Sturmglocke wahrnimmt; die sich für zufrieden erklären, solange Purpurne und goldige Wolken über ihnen dahinziehen und die fest entschlossen sind, sich glücklich zu fühlen, bis die Sterne erlöschen und die Vöglein verstummen.

Diese lichten Seelen wandeln aber im Dunkeln. Sie ahnen nicht, daß sie zu beklagen sind. Denn wessen Augen nicht weinen können, der lernt auch nicht sehen. Man muß solche Menschen bewundern und beklagen, wie etwa ein Wesen, das statt der Augen unter den Brauen eine Sonne an der Stirn trüge.

Manche meinen, eine solche Gleichgültigkeit sei eine höhere Philosophie. Gut. Aber die Ueberlegenheit derartiger Menschen über Andre ist mit einer großen Unvollkommenheit verbunden. Man kann unsterblich und lahm sein, wie Vulkan. Man kann zugleich mehr und weniger als ein Mensch sein. Große Unvollständigkeit kommt eben in der Natur oft genug vor. Wer weiß, ob die Sonne nicht blind ist?

Ja, wem soll man denn aber glauben? Solem quis dicere falsum audeat? Also könnte das Genie selber, könnten Uebermenschen irren? Was oben auf dem Gipfel, im Zenith steht, was der Erde so viel Licht spendet, sollte nicht genug, schlecht, überhaupt nicht sehen können? Ist das nicht zum Verzweifeln? O nein! Aber was giebt es denn noch höheres als die Sonne? Gott.

Am 6. Juni 1832 war der menschenleere Jardin du Luxembourg reizend anzusehen. Die Kreuzpflanzungen und Blumenbeete entsandten liebliche Wohlgerüche und schillerten in den prächtigsten Farben. Die Zweige der Bäume, die das Sonnenlicht überflutete, wogten im Winde hin und her, als wollten sie einander haschen und küssen. In den Sykomoren schmetterten und zwitscherten die Vögel ihre süßesten Weisen. An den Stämmen der Kastanienbäume kletterten die Spechte auf und nieder und schlugen ihre Schnäbel in die Rinde. Auf den Beeten prangten in voller Blüthe die Lilien, die Königinnen unter den Blumen, die Tulpen, die im Sonnenlicht wie Flammen in Blumengestalt aussahen und um die flinke Bienen mit glitzernden Flügeln gaukelten. Alles war voller Anmuth und Munterkeit; sogar der nahe bevorstehende Regen, der die Maiblumen und Jelängerjelieber erfrischen sollte, hatte nichts Unangenehmes; es war eine erfreuliche Drohung, wenn die Schwalben niedrig flogen. Alles, was da war, athmete Glück; das Leben hatte einen süßen Duft; die ganze Natur sprach von Hülfe, Liebkosung, Mütterlichkeit. Sanft wie die Hand eines Kindchens waren die Gedanken, die sich vom Himmel niedersenkten.

Um die nackten und weißen Marmorstatuen unter den Bäumen hingen Schattenkleider mit lichten Löchern. Es war, als hätten die armen Göttinnen Lichtlumpen am Leibe. Um das große Bassin war der Erdboden schon bis zur Dürre ausgetrocknet. Es war windig genug, daß der Staub ab und zu hochgewirbelt werden konnte. An der Erde spielten einige gelbe, aus dem letzten Herbst übrig gebliebne Blätter lustig Zeck.

Die Fülle von Licht wirkte gleichsam beruhigend, ermutigend. Angesichts des Reichthums an Leben, Wärme, Säften, Düften und flüssigem Lichtgolde ahnte man die Unerschöpflichkeit der Natur und fühlte sich vom Hauche Gottes umwoben, in dessen Augen Millionen von Sternen nicht mehr bedeuten, als Millionen Blümchen.

Dank dem Sande war es im Garten nicht schmutzig; dank dem Regen nicht zu staubig. Alle Blumen waren rein gewaschen. Es herrschte jene Stille des Glücks, die sich mit Taubengegirr, Insektengesumme, Windesgeräuschen so wohl verträgt. Es war die Zeit, wo der Frühling seine höchste Pracht entfaltet oder wie ein Veteran, der an dem Garten vorbeikam, sich ausdrückte, seine Galauniform angelegt hatte.

Die ganze Natur frühstückte; überall war der Tisch gedeckt, am Himmel mit einem blauen, auf der Erde mit einem grünen Tuch. Jedes Wesen wurde bedient mit dem, was es brauchte; die Ringeltaube mit Hanfsamen, der Fink mit Hirsegras, der Distelfink mit Gauchheil, das Rothkehlchen mit Würmern, die Biene mit Blumen, die Fliege mit Infusorien, der Grünling mit Fliegen. Zwar fraß Dieser wohl Jenen, gemäß dem geheimnißvollen Schöpfungsprinzip, das neben dem Guten das Böse bestehen läßt; aber Hunger litt kein Thier.

Die beiden verstoßenen Kinder waren bei dem großen Bassin angelangt und versuchten vermöge des Instinkts, der den Armen und Schwachen antreibt sich vor aller Pracht, sogar der unpersönlichen, zu ducken, und von all der lichten Herrlichkeit wie betäubt, sich zu verstecken, indem sie sich hinter das Schwanenhäuschen stellten.

Ab und zu, wenn der Wind wehte, hörte man verworrenes Geschrei, Geknatter, dumpfes Gedröhn, Glockengeläute. Auch stieg in der Gegend der Markthalle Rauch zum Himmel empor. Aber um alles dies bekümmerten sich die Kinder nicht. »Mich hungert!« wiederholte der Jüngste von Zeit zu Zeit.

Fast gleichzeitig mit diesen beiden Knaben kamen noch zwei andre menschliche Wesen auf das Bassin zu, ein etwa fünfzigjähriger Mann, der ein sechsjähriges Jüngelchen an der Hand führte. Wahrscheinlich Vater und Sohn. Der Kleine hielt ein großes Stück Kuchen in der Hand.

Zu jener Zeit hatten die Bewohner gewisser Häuser in der Umgegend einen Schlüssel zu dem Garten und durften denselben betreten, wenn er für das andre Publikum geschlossen war, ein Vorrecht, das heutzutage nicht mehr besteht. Aus einem dieser Häuser kam also offenbar der alte Herr mit seinem Sohn.

Als die beiden kleinen Lumpe den »feinen Mann« kommen sahen, versteckten sie sich noch mehr.

Der »feine Mann« war ein Spießbürger, derselbe oder einer von demselben Schlage wie derjenige, dem Marius eines Tages am großen Bassin zusah und zuhörte, der seinen Sohn ermahnte, er sollte ja jedes Uebermaß meiden. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urtheilen war der Mann würdevoll und leutselig; der Mund schien, da er immer offen stand, zu lächeln. Solch ein Lächeln ist aber nur ein mechanisches und rührt daher, daß der Kinnbacken zu dick und die Haut zu kurz ist; läßt also mehr die Zähne sehen, als auf den Charakter und das Gemüth schließen. Der Knabe schien übersatt, da er nicht Miene machte, den angebissenen Kuchen aufzuessen. Gekleidet waren sie, der Sohn, weil eine Insurrektion ausgebrochen war, als Nationalgardist; der Vater, weil Vorsicht für den bessern Theil der Tapferkeit gilt, in Civil.

Vater und Sohn blieben vor dem Bassin, auf dem zwei Schwäne herumschwammen, stehen. Offenbar hegte er eine besondre Vorliebe für diese Thiere, wahrscheinlich, weil sie ihm in einer Hinsicht ähnelten: Sie hatten denselben Gang wie er.

In diesem Augenblick aber schwammen die Schwäne und waren folglich bewundernswert.

Hätten die beiden armen Waisen zugehört und wären sie von reiferem Alter gewesen, so hätten sie lehrreiche Worte vernommen. Der Vater sagte nämlich:

»Der Weise begnügt sich mit Wenigem. In dieser Hinsicht, mein Sohn, kannst Du mich zum Vorbild nehmen. Ich bin kein Freund des Prunkes. Nie sieht man mich goldbetreßte Kleider und Edelsteine tragen. Das ist eitles Gepränge, das man mangelhaft organisirten Naturen überlassen muß.«

Während er noch so sprach, ließ sich das Geschrei und Glockengeläute in der Gegend der Markthalle noch deutlicher als bisher vernehmen.

»Was ist denn das?« fragte der Sohn.

Der Vater antwortete:

»Entmenschte Saturnalien.«

Zu gleicher Zeit wurde er der armen, kleinen Lumpenmätze ansichtig, die hinter dem grünen Schwanenhäuschen standen, und fuhr fort:

»Da siehst Du Zwei, die auch einmal so enden werden. – Sogar in diesen stillen Garten dringt schon die Anarchie ein.«

Statt aufmerksam auf die Weisheit des Vaters zu lauschen, biß der Sohn in den Kuchen, fing aber gleich darauf an zu weinen.

»Was betrübt Dich, mein Sohn?«

»Ich habe keinen Hunger mehr,« jammerte der Kleine.

»Um einen Kuchen zu essen, bedarf man nicht des Hungers,« belehrte ihn der Vater mit überlegnem Lächeln.

»Ich mag den Kuchen nicht. Er ist mir zu alt.«

»Nun dann wirf ihn diesen Palmipeden hin,« sagte der Vater und wies auf die Schwäne.

Das Kind zögerte. Wenn man seinen Kuchen nicht essen will, so ist das doch noch kein Grund ihn zu verschenken.

»Sei menschlich, mein Sohn,« ermahnte der Vater. »Der Mensch soll sich der Thiere erbarmen.«

Mit diesen Worten nahm er seinem Sohn den Kuchen ab und warf ihn ins Wasser.

Aber da er ihn nahe dem Rande des Bassins fallen ließ und die Schwäne weit ab, in der Mitte, Beute suchten, sahen sie weder den mildthätigen Philister, noch den leckern Bissen, den er ihnen spendete.

Der brave Mann wollte aber nicht, daß der Kuchen verloren ging und bemühte sich mit allerhand unsinnigen Geberden und Bewegungen, die Aufmerksamkeit der Schwäne auf sich zu lenken.

Endlich gelang ihm dies. Die Schwäne machten eine Schwenkung und segelten langsam und majestätisch auf den Kuchen zu.

»Den Schwänen hat geschwant, daß ein guter Bissen zu holen ist,« sagte der Philister, überglücklich, daß ihm ein Kalauer gelungen war.

In demselben Augenblick schallte plötzlich der ferne Tumult der Stadt stärker denn je herüber. Dies Mal klang er besonders grausig. Manche Windstöße sprechen deutlicher, als andre und so hörten sich jetzt die Trommelwirbel, das Kampfgeschrei, das Gewehrgeknatter, das Sturmgeläute und der Kanonendonner wie aus nächster Nähe an. Dazu kam, daß gleichzeitig auch eine Wolke die Sonne verdunkelte.

»Wir müssen nach Hause,« sagte eilig der Vater und faßte seinen Sohn wieder bei der Hand. »Sie stürmen die Tuilerieen. – Und von den Tuilerieen bis zum Jardin du Luxembourg ist es nicht weiter, als vom Königthum bis zur Pairie. Es wird Flintenkugeln regnen. – Und,« fuhr er fort, indem er zur Wolke aufsah, »auch Wasser. Der Himmel selber erklärt sich gegen die jüngere Linie. Komm schnell!«

»Ich möchte aber sehen, wie die Schwäne den Kuchen essen!« rebellirte der Kleine.

»Das wäre eine große Unklugheit,« belehrte ihn der Vater und zog ihn fort.

Der Kleine ging mit rückwärts gewandtem Kopfe, bis ihm eine Gruppe Bäume den Blick nach dem Bassin versperrte.

Während aber die Schwäne auf den Kuchen zu schwammen, kamen auch die beiden kleinen Vagabunden heran.

Als der Spießbürger und sein Sohn aus dem Gesichtskreis verschwunden waren, legte sich der Aelteste über die runde Einfassung des Bassins, indem er sich mit der linken Hand daran fest klammerte, und angelte, trotz der Gefahr, ins Wasser zu fallen, eifrig mit seinem Stöckchen nach dem Kuchen. Die Schwäne, ihrerseits, setzten sich, als sie das feindliche Manöver sahen, in rascheres Tempo, bewirkten dadurch aber eine stärkere Wellenbewegung, die dem kleinen Hungerleider zu Statten kam. Der Kuchen wurde durch das Wasser in's Bereich des Stöckchens getrieben. Rasch holte ihn der Knabe heran, scheuchte die Schwäne zurück, ergriff den Kuchen und stellte sich wieder auf die Füße. Dann brach er die Beute in zwei Theile, einen großen und einen kleinen. Den kleinen behielt er für sich, den andern gab er seinem Brüderchen mit den Worten:

»So, nun prumpfe Dich voll!«

XVII.
Mortuus pater filium moriturum expectat

Als Gavroche fiel, stürzte Marius hinter der Barrikade hervor. Combeferre eilte ihm nach. Aber es war zu spät. Gavroche war schon tot. Marius brachte nur eine Leiche zurück, während es Combeferre gelang, den Korb mit den Patronen zu retten.

»Was sein Vater für den meinigen gethan hat, das habe ich jetzt dem Sohn vergolten, aber ach! Thénardier hat meinen Vater lebend aus der Schlacht geholt, und ich habe nur eine Leiche zurückgebracht.«

Als er mit Gavroche in den Armen hinter die Barrikade zurückkehrte, war sein Gesicht mit Blut übergossen. Eine Kugel hatte ihn an der Stirn gestreift, als er sich niederbückte um die Leiche aufzuheben, aber er merkte nichts davon.

Courfeyrac nahm seine Kravatte ab und verband die Wunde seines Freundes.

Gavroche's Leiche wurde auf denselben Tisch neben Mabeuf gelegt und mit demselben schwarzen Tuch zugedeckt. Es reichte für den Greis und den Jungen.

Dann vertheilte Combeferre die erbeuteten Patronen. Es waren ihrer so viel, daß jetzt auf Jeden fünfzehn kamen.

Jean Valjean saß währenddem noch immer an derselben Stelle unbeweglich und theilnahmlos. Auch als Combeferre zu ihm trat, um ihm seine fünfzehn Patronen zu übergeben, schüttelte er den Kopf.

»Das nenne ich einen kuriosen Kauz!« sagte Combeferre leise zu Enjolras »Er kriegt es fertig, eine Barrikade zu besteigen und nicht mitzukämpfen.«

»Das hindert ihn aber doch nicht, sie zu vertheidigen,« entgegnete Enjolras.

»Es giebt originelle Helden,« sagte Combeferre.

»Ja, ja,« fiel Courfeyrac ihm ins Wort. »Dieselbe Couleur in Grün, wie Vater Mabeuf.«

Man beachte, daß die Insurgenten hinter der Barrikade durch das feindliche Geschütz- und Gewehrfeuer so gut wie gar nicht gestört wurden. Dergleichen Ruhepausen werden Diejenigen, die den eigenthümlichen Wirrwarr des Straßenkrieges nicht persönlich kennen gelernt haben, für unmöglich halten. Es kommt aber vor, daß man sich hinter einer Barrikade wie im tiefsten Frieden geberdet. Man geht auf und ab, bummelt, plaudert und scherzt mit seinem Nachbar. Zu einem Bekannten von mir sagte ein Insurgent, während die Kartätschen in seine Barrikade hineinschlugen: »Hier geht es so gemüthlich zu, wie bei einem Junggesellendiner.« Ebenso ruhig und friedlich sah es auch, wie gesagt, hinter der Verschanzung der Rue de la Chanvrerie aus. Hatten doch ihre Vertheidiger alle die verschiednen Phrasen des Barrikadenkampfes schon hinter sich oder waren nahe daran, die letzten zu durchlaufen. Erst zweifelhaft, dann bedenklich, war ihre Lage jetzt hoffnungslos geworden. In demselben Maße aber, wie die Gefahr wuchs, loderte das Feuer des Heldenmuthes höher empor und durchglühte besonders Enjolras. Er stand da, wie ein junger Spartaner, der sein Schwert dem Todesgenius Epidotas weiht.

Combeferre mit einer Schürze um den Leib verband die Verwundeten. Laigle und Feuilly verfertigten Patronen mit dem Pulver, das Gavroche bei einem gefallnen Korporal erbeutet hatte, und Laigle bemerkte während dieser Arbeit: »Wir werden bald die Reise nach einem andern Planeten antreten.« Courfeyrac legte sich auf den Pflastersteinen, die er sich neben Enjolras's Platz vorbehalten hatte, ein ganzes Arsenal zurecht, seinen Stoßdegen, sein Gewehr, seine beiden Reiterpistolen, seinen Schlagring und verfuhr dabei so peinlich sorgsam, wie ein junges Mädchen, das ihre Sachen in Ordnung bringt. Jean Valjean sah stumm nach dem Hause, das ihm gegenüberstand. Ein Arbeiter band sich mit einem Bindfaden einen Hut von Mutter Hucheloup fest, »aus Furcht vor dem Sonnenstich.« Die jungen Leute der Cougourde von Aix plauderten vergnügt mit einander, als hätten sie große Eile, noch einmal den Dialekt ihres Heimatlandes zu hören. Joly prüfte in einem Spiegel seinen Zungenbelag. Einige Andre aßen gierig halb verschimmelte Brodkrusten, die sie in einer Schublade entdeckt hatten. Marius machte sich Sorge darüber, was sein Vater von ihm denken würde.

XVIII.
Der Verfolgte fängt den Verfolger

Verweilen wir etwas bei einer psychologischen Thatsache, die dem Barrikadenkampfe eigenthümlich ist. Denn nichts, was diese merkwürdige Art Krieg charakterisiert, darf mit Stillschweigen übergangen werden.

Trotz all der sonderbaren Seelenruhe, von der wir oben gesprochen haben, bleibt eine Barrikade für Alle, die sich bei einer Insurrektion betheiligt haben, etwas Visionenhaftes.

Die Empfindungen, die man dabei durchmacht und die wir schon mit Bezug auf Marius erwähnt haben, sind schwächer und stärker als die des normalen Lebens. Kehrt man aus solch einem Kampfe zurück, so erinnert man sich nicht mehr, was man gesehen hat. Man hat gerast und weiß es nicht mehr. Um sich hatte man Ideen mit Menschengesichtern und der eigene Kopf hat in höheren Regionen geschwebt. Es lagen Leichen und standen Phantome da. Die Stunden waren inhaltsreich und glichen Ewigkeiten. Man hat im Reich des Todes gelebt. Schatten sind vorbeigehuscht, aber was bedeuten sie? Hände, an denen Blut klebte, sah man; hörte furchtbaren, betäubenden Lärm; hierauf Totenstille. Dann waren auch Gestalten da, die hielten den Mund auf und schrieen, und andre hielten auch den Mund auf und schwiegen. Dazu Rauch, ja vielleicht sogar Finsterniß. Man glaubt, man hätte in unbekannten Tiefen Blut aufgefangen und betrachtet seine Fingernägel, an denen etwas Rothes sitzt. Aber keine Möglichkeit, sich auf alles das zu besinnen.

Kehren wir zu der Barrikade der Rue de la Chanvrerie zurück.

Plötzlich, während einer Pause, wo die Gewehre niedergelassen wurden, hörte man eine Thurmuhr voll schlagen.

»Zwölf Uhr!« rief Combeferre.

Noch war der letzte Schlag nicht verhallt, da fuhr Enjolras in die Höhe und rief mit Donnerstimme:

»Tragt Pflastersteine ins Haus und befestigt damit die Fensterbrüstungen. Die eine Hälfte von Euch bleibt hier, die Andern stellen sich hinter den Fenstern auf. Keine Minute Zeit verlieren!«

Es war nämlich ein Zug Sapeure mit ihren Aexten bewaffnet und in Schlachtordnung bis an das Ende der Straße herangekommen.

Sie bildeten offenbar eine Kolonnenspitze und hatten den Auftrag, die Barrikade zu demoliren, ehe Sturm gelaufen wurde. Es nahte also der Entscheidungskampf.

Enjolras's Befehl wurde so eilig und regelrecht ausgeführt, wie dies nur auf Schiffen und Barrikaden möglich ist, den beiden einzigen Kampfplätzen, von denen Flucht unmöglich ist. In noch nicht einer Minute waren zwei Drittel von den Pflastersteinen, die Enjolras an der Thür des Wirtshauses hatte aufhäufen lassen, in den ersten Stock und auf den Boden getragen und ehe die zweite Minute verstrichen, waren die Fenster und die Dachluken mit je einer kunstvoll gebauten Mauer versehen, wobei auf den Rath Feuilly's, des Hauptarchitekten, Lücken für die Gewehrläufe gelassen wurden. Diese Vermauerung der Fenster konnte um so leichter bewerkstelligt werden, als das Kartätschenfeuer seit einer Weile eingestellt war. Die beiden Geschütze beschossen jetzt nur die Barrikade in der Mitte mit Vollkugeln, um eine Lücke oder wo möglich eine Bresche zu schießen.

Als die Pflastersteine, die für den letzten Kampf bestimmt waren, ihre Verwendung gefunden hatten, ließ Enjolras die Flaschen, die unter Mabeufs Tisch standen, gleichfalls hinaufbringen.

»Was soll denn mit den Flaschen geschehen?« fragte ihn Laigle.

»Damit regaliren wir die Feinde!« lautete Enjolras's Bescheid.

Dann wurde auch das unterste Fenster verbarrikadirt und die eisernen Querstangen bereit gestellt, mit denen des Nachts die Thür der Schänke inwendig verrammelt wurde.

Auf diese Weise schufen sich die Angegriffenen eine vollständige Festung. Die Barrikade stellte den Wall, das Wirtshaus die Citadelle vor.

Mit den übrig gebliebenen Pflastersteinen wurde dann noch die in der großen Barrikade gelassene Lücke versperrt.

Da die Vertheidiger einer Barrikade genöthigt sind, mit der Munition sparsam umzugehen, so schreiten die Belagerer nur mit Langsamkeit vor, setzen sich dem feindlichen Feuer vor der Zeit aus, aber mehr scheinbar als wirklich, und ziehen alles in die Länge, bis dann plötzlich der entscheidende Schlag mit Blitzesschnelle geführt wird.

Diese Langsamkeit der Angreifer erlaubte Enjolras alles zu revidiren und zu vervollkommnen. Der Tod solcher Helden, fühlte er, mußte mit Meisterschaft inscenirt werden.

Dann sagte er zu Marius:

»Wir sind die beiden Oberbefehlshaber. Ich will jetzt drinnen die letzten Anordnungen treffen. Bleibe Du draußen und passe auf!«

Demzufolge stellte sich Marius auf die Barrikade und beobachtete die Vorbereitungen des Feindes.

Im Hause ließ unterdessen Enjolras die Küchenthür vernageln.

»Damit die Verwundeten nichts abbekommen!« erläuterte er. Denn die Küche diente, wie schon erwähnt, den Insurgenten als Ambulanz.

Darauf ertheilte er in dem untern Saale kurz, aber vollkommen ruhig, seine letzten Instruktionen an Feuilly, der sie im Namen Aller entgegennahm.

»Haltet im ersten Stock Aexte bereit, um die Treppe zu demoliren. Sind welche da?«

»Jawohl,« antwortete Feuilly.

»Wieviel?«

»Drei.«

»Gut. Wir sind unser sechsundzwanzig kampffähige Leute. Wieviel Gewehre sind vorhanden?«

»Vierunddreißig.«

»Also acht überschüssige. Ladet diese acht Gewehre wie die andern und haltet sie in Bereitschaft. Die Säbel und Pistolen in die Gürtel. Zwanzig Mann zur Bemannung der Barrikade. Sechs postiren sich hinter das Fenster der ersten Stocks und die Dachluken. Kein einziger darf hier bleiben ohne bestimmten Auftrag. Sobald die Trommel zum Angriff geschlagen wird, begeben sich die Zwanzig hinter die Barrikade. Die zuerst unten sind, bekommen die besten Plätze.

Nachdem er diese Anordnungen getroffen, wandte er sich an Javert mit den Worten:

»Ich vergesse Dich nicht. – Der Letzte, der hinausgeht,« fuhr er fort, indem er ein Pistol auf den Tisch legte, »jagt dem Spion eine Kugel durch den Kopf.«

»Hier?« fragte Jemand.

»Nein, seine Leiche darf nicht neben unsere zu liegen kommen. Man kann über die kleine Barrikade der Rue de Mondétour hinübersteigen. Sie ist nur vier Fuß hoch. Da soll er hingebracht werden und seine Strafe bekommen.«

Er sprach diese Worte nicht mit größerem Gleichmuth als Javert sie anhörte.

Jetzt aber trat Jean Valjean aus den Reihen hervor und sagte zu Enjolras:

»Sie sind der Befehlshaber?«

»Ja.«

»Sie haben Sich vorhin bei mir bedankt.«

»Ja, im Namen der Republik. Die Barrikade ist zweimal gerettet worden, von Marius Pontmercy und von Ihnen.«

»Denken Sie, daß ich eine Belohnung verdiene?«

»Gewiß.«

»Nun, so bitte ich um eine.«

»Was für eine?«

»Ich möchte den da selber erschießen.«

Hier sah Javert auf, erkannte Jean Valjean und sagte mit einer kaum bemerkbaren Bewegung:

»Nun natürlich.«

Was Enjolras betrifft, so lud er eben seinen Karabiner. Dann sah er sich im Kreise um und fragte:

»Hat Jemand etwas einzuwenden? – Der Spitzel gehört Ihnen.«

Jean Valjean schickte sich sofort an, Javert in Besitz zu nehmen, indem er sich auf das Ende des Tisches setzte, sein Pistol zur Hand nahm und den Hahn spannte.

In demselben Augenblick aber wurden die Trompeten zum Angriff geblasen und Marius rief unten:

»Achtung! Auf!«

Javert lachte lautlos, wie es seine Art war und sagte zu den Insurgenten, indem er sie fest ansah:

»Ihr seid auch nicht besser dran als ich!«

»Alle hinaus!« kommandirte Enjolras.

Die Insurgenten stürzten hastig auf die Straße, während ihnen Javert noch einen Abschiedsgruß zusandte:

»Auf baldiges Wiedersehn!«

XIX.
Jean Valjean's Rache

Als Jean Valjean mit Javert allein geblieben war, machte er den Strick los, der den Gefangnen in der Mitte des Leibes umgab und der unter dem Tische zu einem Knoten zusammengeschürzt war. Dann gab er ihm ein Zeichen, er solle aufstehen.

Javert gehorchte mit jenem unbeschreiblichen Lächeln, mit dem die gefesselte Obrigkeit dem Gefühl ihrer Überlegenheit Ausdruck verleiht.

Nun packte Jean Valjean, während er in der rechten Hand die Pistole hielt, mit der andern Javert an dem Halsstrick, wie wenn er ein Pferd wegführen wollte, und zog ihn hinter sich aus der Schänke heraus; langsam, denn Javert, dessen Beine an einander gebunden waren, konnte nur ganz kurze Schritte machen.

So durchschritten sie den Raum, der zwischen den Schanzen lag, ohne von den Insurgenten, die mit der Beobachtung des Feindes vollauf beschäftigt waren und ihnen den Rücken zuwandten, bemerkt zu werden.

Nur Marius, der ganz links auf der Barrikade stand, sah sie vorübergehn.

In der Rue Mondétour angelangt, half Jean Valjean Javert, ohne ihn einen Augenblick los zu lassen und mit einiger Mühe über die kleine Schanze hinüber.

Als sie auf der andern Seite waren, befanden sie sich allein in der Strasse und Niemand konnte sie sehen, da die Straßenecke sie vor den Augen der Insurgenten verbarg. Hier lagen auf einem grausigen Haufen die Leichen, die man aus der Verschanzung hinausgetragen und unter ihnen sah man ein Mädchen, deren Busen unbedeckt und deren Hand von einer Kugel durchbohrt war.

Javert betrachtete sie von der Seite und sagte gleichmüthig:

»Mich dünkt, die kenne ich!«

Dann wandte er sich zu Jean Valjean hin.

Dieser steckte sein Pistol unter den Arm und heftete seine Augen auf Javert. Der Blick sagte deutlich genug: »Javert, ich bin's.« »Lasse Deine Wuth an mir aus!« antwortete Javert.

Jean Valjean nahm ein Messer aus der Tasche und klappte es auseinander.

»So ist's recht!« rief Javert. »Ein Messer. Das sieht Dir ähnlich.«

Statt der Antwort schnitt Jean Valjean den Halsstrick, die Stricke, mit denen Javerts Handgelenke gefesselt waren, bückte sich, schnitt auch den Bindfaden durch, der die Beine zusammenhielt, richtete sich auf und sagte:

»Sie können gehen!«

Javert war nicht leicht aus der Fassung zu bringen. Dieses Mal aber übermannte ihn die Verwundrung. Er blieb mit offnem Munde unbeweglich stehen.

»Ich werde schwerlich die Barrikade lebend verlassen. Sollte ich aber dennoch mit dem Leben davon kommen, so können Sie sich merken, daß ich unter dem Namen Fauchelevent Rue de l'Homme-Armé, Nr. 7 wohne.«

Javert verzog mit Tigergrimm das Gesicht, so daß der eine Mundwinkel sich aufthat, und brummte zwischen die Zähne:

»Nimm Dich in Acht.«

»Gehen Sie,« wiederholte Jean Valjean.

»Fauchelevent, Rue de l'Homme-Armé? sagst Du.«

»Nr. 7.«

»Nr. 7,« wiederholte leise Javert.

Er knöpfte seinen Rock zu, zog die Schultern zurück, um die gewohnte militärische Haltung wieder zu gewinnen, machte kehrt, verschränkte die Arme, indem er das Kinn mit der einen Hand stützte und marschirte in der Richtung der Hallen ab, während Jean Valjean ihm nachsah. Kaum hatte er aber einige Schritte zurückgelegt, so wandte er sich um und rief:

»Lassen Sie die Dummheiten. Der Tod ist mir lieber.«

Er merkte selber nicht, daß er zu Jean Valjean nicht mehr Du sagte.

»Gehen Sie,« sagte Jean Valjean.

Javert ging langsam davon und bog um die Ecke der Rue des Prêcheurs.

Als er aus seinen Augen verschwunden war, feuerte Jean Valjean sein Pistol in die Luft ab, kehrte nach der Barrikade zurück und sagte

»Die Sache ist abgemacht.«

Währenddem trug sich aber Folgendes zu:

Marius hatte sich, da er sich immer auf der Straße aufhielt, den Spion, der sich im dunkeln Hintergrund der Gaststube befand, nicht angesehn.

Als er ihn aber bei Tageslicht erblickte, erkannte er plötzlich in ihm den Polizeiinspektor der Rue de Pontoise, der ihm seiner Zeit die beiden Pistolen gegeben. Und zwar besann er sich nicht bloß auf das Gesicht, sondern auch auf den Namen.

Allerdings war die Erinnrung eine nebelhafte, trübe, so wie überhaupt alle seine gegenwärtigen Vorstellungen. Sie tauchte in seinem Geist nicht als Behauptung, sondern in Frageform auf: »Ist das nicht der Polizeiinspektor, der mir gesagt hat, er hieße Javert?«

Um seinen Zweifeln ein Ende zu machen, wandte sich Enjolras, als dieser wieder seinen Posten am andern Ende der Barrikade einnahm:

»Enjolras!«

»Was giebt's«

»Wie heißt der Mann da?«

»Wer?«

»Der Polizist. Kennst Du seinen Namen?«

»Ja. Er hat ihn uns gesagt.«

»Nun, wie heißt er?«

»Javert.«

Marius fuhr empor. Aber schon im selben Augenblick hörte man den Pistolenschuß und Jean Valjean erschien.

Da fiel ein kalter Schatten in Marius Seele.

XX.
Die Toten haben Recht und die Lebenden nicht Unrecht

Der Todeskampf der kleinen Heldenschaar sollte also beginnen.

Alles trug dazu bei die tragische Majestät ihres letzten Augenblicks zu erhöhen: Das unheimliche Getöse in der Luft; der Massenschritt der bewaffneten Schaaren in Straßen, die man nicht sah; das Getrabe der Kavallerie; Gewehr- und Kanonenfeuer im Labyrinth von Paris; der Pulverdampf, der, von der Sonne goldig durchleuchtet, sich über die Dächer erhob; wildes Geschrei, das aus der Ferne herüberschallte, das Geläut der Sturmglocke, die immer wilder heulte und kläglicher wimmerte, die Lieblichkeit der Jahreszeit, die Pracht des Himmels mit seinem Sonnenlicht und seinen Wolken und die grausige Totenstille in den Gebäuden.

Denn seit dem vergangnen Abend waren die beiden Häuserreihen der Rue de la Chanvrerie zu zwei Mauern geworden, die keinen Durchgang gestatteten, die Thüren, die Fenster, die Jalousien – alles war geschlossen.

Wenn in jenen von unsrer Gegenwart so verschiednen Zeiten das Volk einem unerträglichen Zustand der Dinge, einer oktroyirten Verfassung, einer legalen Zwangsherrschaft ein Ende bereiten wollte, wenn ein allgemeiner Zorn sich regte, wenn die ganze Stadt den Barrikadenbauern erlaubte das Pflaster aufzureißen, wenn die Bourgeoisie selber der Insurrektion vergnügt das Losungswort zuflüsterte, dann halfen Diejenigen, die in den Häusern blieben, den Straßenkämpfern und die Barrikaden hatten einen Rückhalt. War es aber noch nicht so weit, willigte die Gesamtheit nicht ein, so waren die Kämpfer verloren, so entstand um sie eine Einöde, eine menschenleere Wüstenei, so verschlossen sich vor ihnen alle Zufluchtsstätten und die Straßen verwandelten sich in Engpässe, aus denen kein Entrinnen möglich war.

Wer trägt die Schuld hieran?

Niemand und Jedermann.

Die Unvollkommenheit der Zeit, in der wir leben.

Utopie kann immer nur auf eigne Gefahr sich aus dem philosophischen Protest in einen bewaffneten, aus einer Minerva in eine Pallas verwandeln. Sie weiß auch, was ihrer wartet, daß sie fast immer zu früh kommt. Dann fügt sie sich mit Würde in ihren Untergang, kämpft allein, ohne zu klagen, für Diejenigen, die sie verleugnen und entschuldigt sie sogar. Sie ist kühn gegen die Hindernisse und milde gegen den Undank.

Handelt es sich überhaupt um Undank?

Ja, vom Standpunkt der Menschheit aus.

Nein, wenn man nur das Individuum in Betracht zieht.

Der Fortschritt ist das Wesen des Menschen. Das allgemeine Gesamtleben, der Kollektivschritt des Menschengeschlechts heißt Fortschritt. Der Fortschritt sucht das Himmlische und Göttliche; aber während er vorwärts wandelt, macht er bisweilen Halt, um die zurückgebliebne Herde wieder herankommen zu lassen, um zu schlafen, und der Denker empfindet ein tiefes Weh, wenn er die Menschenseele umnachtet sieht und im Dunkeln herumtastet, ohne den Fortschritt wecken zu können.

»Wer weiß, ob der liebe Gott nicht gestorben ist?« sagte eines Tages zu dem Schreiber dieser Zeilen Gérard de Nerval, der den Fortschritt mit Gott und eine Unterbrechung mit einem Stillstand verwechselte.

Wer an der Welt verzweifelt, hat Unrecht. Der Fortschritt erwacht wieder und im Grunde könnte man sagen, daß er auch im Schlaf vorwärts kommt, denn er wächst während der Zeit. Ist er wieder aufgestanden, so ragt er höher empor. Sich immer friedfertig verhalten vermag der Fortschritt ebenso wenig, wie ein Fluß; baut kein Wehr, werft keinen Felsen hinein: Hindernisse bringen das Wasser und die Menschheit in Wallung. Haben die unruhigen Wellen sich gelegt, so sieht man, daß man ein Stück weiter gekommen ist. Bis die Ordnung, die weiter nichts, als der allgemeine Friede ist, bis Harmonie und Eintracht zum Siege gelangen, wird der Fortschritt der Revolutionen bedürfen.

Was ist nun der Fortschritt? Wie wir schon gesagt haben: Das Leben der Völker in seiner Gesamtdauer.

Nun geschieht es aber zuweilen, daß dem ewigen Leben der Menschheit seitens des kurzen Einzellebens Widerstand entgegengesetzt wird.

Wir müssen ohne Bitterkeit gestehen, daß der Einzelne besondre Interessen hat und ohne Pflichtvergessenheit für diese Interessen sorgen und sie vertheidigen darf. Denn der Gegenwart muß ein gewisses Quantum Egoismus zugestanden werden und sie ist nicht verpflichtet sich beständig für die Zukunft zu opfern. Die Generation, die jetzt das Recht hat auf Erden zu weilen, ist nicht gezwungen es sich verkürzen zu lassen zu Gunsten der Geschlechter, die nach ihr kommen, und die doch auch nicht mehr als ihres gleichen sind. – »Ich lebe,« meint Jemand, der so denkt und spricht wie Alle, »ich bin jung und habe eine Braut; ich bin alt und will mich ausruhen von der Arbeit, ich bin Familienvater, ich arbeite, mache gute Geschäfte, habe Häuser und Staatspapiere, alles das möchte ich behalten und wünsche, daß man mich zufrieden läßt.« Daher die Kälte, mit der bisweilen hochherzige Vorkämpfer des Fortschritts empfangen werden.

Uebrigens tritt aber auch, wir gestehen es, die Utopie aus ihrer eigentlichen lichten Sphäre heraus, wenn sie zu den Waffen greift. Denn sie, die zukünftige Wahrheit, bedient sich alsdann desselben Mittels wie die verlogene Vergangenheit, gegen die sie sich auflehnt. Für diese Gewaltthätigkeit aber, die gegen ihre Prinzipien verstößt, muß sie büßen. Die Utopie, die gegen die bestehenden Gewalten Krieg führt, verfährt nach dem alten Kriegsrecht: Sie erschießt die Spione, die Verräther, sie vernichtet Menschenleben; kurz, sie thut, als habe sie kein Vertrauen mehr zu ihrer dialen Kraft, der einzig wahren und unwiderstehlichen. Das Schwert aber ist zweischneidig!

Mit diesem Vorbehalt, den wir strenge betonen, können wir nicht umhin, den trefflichen Vorkämpfern der Zukunft, ob sie Erfolg haben oder nicht, den Jüngern der Utopie, den Zoll unsrer Bewundrung darzubringen. Selbst im Unglück sind sie achtungswert. Der Sieg, wenn er den Fortschritt fördert, verdient den Beifall der Völker; aber eine heroische Niederlage ist gerührten Mitleids wert. Für uns, die wir das Martyrium dem Erfolg vorziehen, ist John Brown bewundernswerter als Washington und Pisacane als Garibaldi.

Es muß wohl Jemand für die Besiegten eintreten.

Man ist ungerecht gegen die großen Anbahner der Zukunft, wenn sie Mißerfolge haben.

Man klagt die Revolutionäre an, sie schreckten Andre ab. Man tadelt ihre Theorien, schiebt ihnen Hintergedanken unter und meint, sie hetzten die verworfensten Elemente der menschlichen Gesellschaft gegen die bestehende Ordnung auf.

Allerdings ist eine friedliche Lösung der socialen Frage vorzuziehn. Im Grunde genommen denkt man freilich, wenn Steine zum Barrikadenbau zusammengehäuft werden, an den Bären, der seinen Wohlthäter von einer Fliege befreien wollte und ihm mit dem Stein den Kopf zermalmte. Aber die Gesellschaft kann, wenn sie nur will, sich selber retten und deshalb appelliren wir an ihren guten Willen. Gewaltsamer Mittel bedarf es nicht. Das Uebel untersuchen, seine Natur ergründen, es heilen, das soll sie thun.

Wie dem aber auch sei, sie sind ehrenwert, jene Männer, die in allen Ländern der Erde, die Augen auf Frankreich geheftet, für die große Sache mit der unbeugsamen Konsequenz des Ideals streiten; sie bringen ihr Leben dem Fortschritt als Geschenk dar; sie vollziehen eine religiöse Handlung. Uneigennützig wie ein Schauspieler, der auf sein Stichwort die Bühne betritt, steigen sie, der göttlichen Anweisung gehorchend, ins Grab. Und diesen hoffnungslosen Kampf, diesen stoischen Selbstmord nehmen sie auf sich, um die herrliche Erhebung des Menschengeschlechts, die am 14. Juli 1789 begann, zu ihren herrlichsten, allgemeinsten Endkonsequenzen zu führen. Solche Krieger sind Priester, denn die französische Revolution ist eine Willensäußerung Gottes.

Aber jedes Mal, wenn die Utopie es wünscht, sich in einen Bürgerkrieg zu stürzen, ist nicht die Sache der Völker. Die Nationen haben nicht immer und jeder Zeit das Temperament der Helden und Märtyrer.

Da sie nämlich praktisch sind, so widerstrebt ihnen die Insurrektion a priori. Erstens, weil sie oft eine Katastrophe zur Folge hat; zweitens, weil sie stets von einer abstrakten Idee ausgeht.

Denn – und dies ist eine schöne Seite der menschlichen Natur – wer sich aufopfert, thut es für ein Ideal und nur für ein Ideal. Jeder Insurrektion liegt immer Enthusiasmus zu Grunde. Zielt ein Aufstand aber auf den Sturz eines Herrschers oder eines Regierungssystems ab, so verfolgt er dabei noch ein höheres Ziel. So bekämpften z. B. die Häupter der Juniinsurrektion 1832 und besonders die jungen Schwärmer der Rue de la Chanvrerie nicht gerade Louis Philippe. Die Meisten von ihnen ließen, wenn sie sich über ihre wahren Absichten aussprachen, den guten Eigenschaften dieses, zwischen der Monarchie und der Revolution stehenden Königs volle Gerechtigkeit widerfahren; Keiner haßte ihn. Sie wollten in Louis Philippe nur die jüngre Linie der Bourbons treffen, so wie sie seiner Zeit in der Person Karls X. die ältere verjagt hatten und meinten, wenn Paris keinen König dulde, würde der Despotismus überall in der Welt abgeschafft werden. Sie verfolgten also ein Ziel, dessen Verwirklichung noch in weiter Ferne liegt; das aber ein hehres und schönes ist.

So verhält es sich. Und für solche Illusionen gehen Menschen in den Tod. Der Insurgent betrachtet sein Unternehmen in einem poetischen, rosigen Lichte, berauscht sich mit seinen eignen Hoffnungen. Wer weiß? Vielleicht gelingt's. Man ist in der Minderzahl, hat die ganze Armee gegen sich; aber man streitet ja für das Recht, das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen, das unveräußerlich ist, für die Wahrheit, – und muß es sein, nun, so stirbt man wie die dreihundert Spartiaten in den Thermopylen.

XXI.
Die Heroen

Plötzlich schlug die Trommel zum Angriff.

Dieses Mal kam er mit der Gewalt eines Orkans. Am Abend zuvor hatte sich der Feind heimlich wie eine Schlange herangeschlichen. Heute, am helllichten Tage, war jede Ueberrumplung unmöglich und nur ein wilder Ansturm konnte den Erfolg erzwingen.

Eine gewaltige Kolonne Linieninfanterie, der in gleichen Abständen Bürgerwehr und Municipalgardisten beigegeben waren, drang plötzlich im Sturmschritt, die Sapeure voran, unter Trommelgewirbel und Trompetengeschmetter in die Straße ein und stürzte, ohne der feindlichen Kugeln zu achten, auf die Barrikade mit der Gewalt eines ehernen Sturmbocks los.

Sie hielt den Angriff aus.

Die Insurgenten empfingen die Soldaten mit einem energischen Gewehrfeuer. Eine Feuergarbe schoß über die Barrikade hin. Der Andrang war ein so starker, daß sie einen Augenblick von Feinden überschwemmt wurde; aber sie schüttelte die Soldaten ab wie der Löwe die Hunde und wurde von den Angreifern nur wie der Meeresfelsen vom Schaum in Besitz genommen, der sofort wieder erhaben, schwarz und gewaltig da steht.

Zum Rückzug gezwungen, blieb die Kolonne dicht gedrängt in der Straße, ohne Deckung, aber unerschrocken, und eröffnete gegen die Barrikade ein wüthendes Gewehrfeuer. Wer ein Feuerwerk gesehen hat, wird sich auf jene Art Strahlenbündel besinnen können, das man einen Büschel nennt. Solch einen Bündel denke man sich nicht vertikal, sondern wagerecht und am Ende jedes Feuerstrahls eine Kugel oder ein Rehposten, die den Tod überall hinsenden. Dies war das Bild, das sich dem Beschauer von der Barrikade aus darbot.

Auf beiden Seiten dieselbe Entschlossenheit, Die Tapferkeit zeigte hier fast einen barbarischen Charakter, verband sich mit einer Art heroischen Ingrimms, der seiner selbst am allerwenigsten schont. Zu jener Zeit schlug sich noch die Bürgerwehr so wild wie Zuaven. Die Soldaten wollten durchaus mit der Sache zu Ende kommen und die Insurgenten setzten ihre äußerste Kraft ein. Bei Menschen, die in der Blüte der Jugend, im Vollbesitz der Gesundheit sich dem Tode weihen, wird die Unerschrockenheit zur Raserei. Einem jeden wuchsen die Kräfte und die Energie in dieser, seiner Todesstunde und bald war die Straße mit Leichen bedeckt.

Die Vertheidigung der Barrikade wurde in dem einen Ende von Enjolras, an dem andern von Marius geleitet. Enjolras, der die Seele des Ganzen war, sparte sich für den letzten Kampf auf und deckte sich, so gut er konnte. Drei Soldaten fielen nach einander unter seiner Zinne, ohne ihn auch nur zu Gesicht bekommen zu haben. Marius dagegen schonte sich nicht und setzte sich rücksichtslos den feindlichen Kugeln aus, indem er den Rand der Barrikade mit dem ganzen Oberkörper überragte. Denn wie es keinen ärgern Verschwender giebt, als einen Geizhals, der einmal ausnahmsweise über die Stränge schlägt, so ist Keiner tollkühner in der Schlacht als ein Träumer. Marius schlug sich wie ein Löwe und spann dabei an seinen gewohnten Gedanken weiter. Für ihn war die Schlacht wie ein Traum und man konnte, wenn man ihn sah, an ein Phantom denken.

Den Belagerten gingen wohl die Patronen aus, nicht aber die Witze. Trotzdem der Tod sie auf allen Seiten umwirbelte, spaßten sie.

»Wo hast Du denn Deinen Hut gelassen?« sagte Laigle zu Courfeyrac, der mit bloßem Kopfe ging.

»Den haben mir die Kanonenkugeln weggetragen,« prahlte dieser.

Oder sie beklagten sich bitter über die erbärmlichen Menschen, von denen sie so schändlich im Stich gelassen wurden.

»Was müssen das wohl für Menschen sein,« rief Feuilly ärgerlich – und nannte bekannte, ja sogar berühmte Namen höherer Militärs. »Versprechen sich uns anzuschließen, schwören sich unserer Sache anzunehmen, verpflichten sich mit ihrem Ehrenwort, sind unsere Generäle und überlassen uns hier unserm Schicksal.«

»Ja, ja!« erwiderte Combeferre mit ruhigem Lächeln, »manche beobachten die Gesetze der Ehre wie die Astronomen die Gestirne – nur aus der Ferne.«

Der Raum hinter der Barrikade war dermaßen mit zerrissenen Patronen übersät, daß es aussah, als hätte es geschneit.

Die Angreifer hatten den Vortheil der Uebermacht, die Insurgenten den der günstigeren Position. Sie standen oben auf einer Mauer und schossen aus nächster Nähe auf die Soldaten, die zwischen den Toten und Verwundeten herumstolperten und bei der Ersteigung der Barrikade auf allerlei Hindernisse stießen. Diese nach den Regeln der Kunst aufgeworfene und mit vorzüglichen Stützen befestigte Verschanzung gehörte in der That zu jenen Vertheidigungsmitteln, die es einer Handvoll Tapferer ermöglichen, eine Legion in Schach zu halten. Indessen drang die Angriffskolonne, da sie unausgesetzt Verstärkungen erhielt und trotz des Kugelregens zunahm, unerbittlich näher und ganz allmählich, zollweise, aber unabweislich sicher drückte die Armee gegen die Barrikade, wie eine Kelter auf Weintrauben.

Ein Sturm folgte auf den andern. Die Schrecknisse häuften sich.

Da entspann sich auf dem elenden Haufen Pflastersteine, in der ärmlichen Rue de la Chanvrerie ein Kampf, der der trojanischen Mauer würdig gewesen wäre. Die blassen, zerlumpten, übermüdeten Menschen, die seit vierundzwanzig Stunden nichts gegessen, die nicht geschlafen hatten, denen nur noch wenige Patronen übrig blieben, die alle an Kopf und Armen verwundet, mit blutigen, schwärzlichen Fetzen Leinwand verbunden waren, aus deren durchlöcherten Kleidern überall das Blut hervorbrach, die nur nothdürftig mit schlechten Gewehren und alten, schartigen Säbeln bewaffnet waren, wurden zu Titanen.

Zehn Mal angegriffen und erklommen, wurde die Barrikade doch nie definitiv genommen.

Um sich von diesem Kampf eine Vorstellung zu machen, müßte man an eine Feuersglut denken, in der sich Menschen und Salamander bewegen könnten. Aber wir verzichten darauf, die einzelnen Mordszenen dieses großartigen Kampfes zu schildern. Nur der epische Dichter hat das Recht, der Beschreibung einer Schlacht zwölftausend Verse zu widmen.

Man wurde an die Hölle der Brahmanen, den furchtbarsten der siebzehn Abgründe erinnert, denjenigen, welchen die Wedas den Schwerterwald nennen.

Sie kämpften Mann gegen Mann mit Pistolen, mit Säbeln, mit den Fäusten, aus der Ferne, aus der Nähe, von oben herab, von unten herauf, vom Dach, von den Fenstern aus, die Kellerfenster nicht ausgenommen, einer gegen sechzig, Die Fassade des Wirtshauses, die halb in Trümmer geschossen war, bot einen grauenhaften Anblick dar. Das mit Kartätschen beschossene Fenster war der Scheiben und des Rahmens verlustig gegangen und in ein formloses Loch verwandelt, das nothdürftig und in Hast mit Pflastersteinen ausgefüllt war. Während dieser Phase des Kampfes fielen Laigle, Feuilly, Courfeyrac. Desgleichen Combeferre. Von drei Bajonetten durchbohrt, als er eben einen verwundeten Soldaten aufheben wollte, hatte er gerade noch die Zeit, zum Himmel emporzublicken, ehe er verschied.

Marius, der keinen Augenblick den Kampf aussetzte, war besonders am Kopfe derartig mit Wunden bedeckt, daß sein Gesicht durch das Blut unkenntlich geworden war. Man hätte denken können, über sein Gesicht sei ein rothes Tuch ausgebreitet.

Enjolras allein blieb unverletzt, Wenn er keine Waffe mehr hatte, streckte er die Hand nach rechts und links aus, bis ihm ein Kamerad irgend eine Waffe reichte. Von vier Degen – einen mehr, als Franz I. bei Marignano verbrauchte – war ihm nur ein Stummel in der Hand geblieben.

Homer erzählt: »Da tötete Diomedes den Teuthraniden Axylos, der in dem wohlgebauten Arisba wohnte, Euryalos, Sohn des Mekisteus, erlegte Dresos und Opheltios, dann verfolgte er Aisepos und Pedasos, die einst die Najade Abarbarea dem untadligen Bukolion gebar, und nahm ihnen das Leben und die Rüstung. Odysseus fällte Pidytes aus Perkote; Antilochos durchbohrte mit dem blanken Speere Ableros, Polypoites, Astyalos, Polydamas, Otos aus Kyllene und Teukros den göttlichen Aretaon. Melanthios erliegt der Lanze des Eurypylos; der Herrscher der Menschen Agamemnon wirft Elatos nieder, dessen Wohnhaus an dem steilen Ufer des rauschenden Satniocis lag.« In den altfranzösischen Heldengedichten greift Esplandian den riesenhaften Markgrafen Swantibore mit einer feurigen Doppelaxt an, der, um sich zu vertheidigen, Thürme aus der Erde reißt und sie nach dem Ritter wirft. Auf alten Frescomalereien sieht man die beiden Herzöge von der Bretagne und von Burgund hoch zu Roß in voller Kriegsrüstung und durch ihre Wappen kenntlich gemacht, der eine durch die blaue, der andre durch die weiße Schabracke, von oben bis unten in Eisen gehüllt mit der Streitaxt in der Hand auf einander losstürzen. Aber um zu imponieren, ist es nicht nöthig, daß man wie Yvon einen Herzogshelm auf dem Kopf trägt, oder wie Esplandian eine brennende Flamme als Waffe schwingt oder wie Phyleus, Vater des Polydamas, aus Ephyra einen trefflichen Panzer, ein Geschenk des Herrschers der Menschen Euphetes, mitgebracht hat; dazu genügt, daß man sein Leben hingiebt, um seiner Ueberzeugung treu zu bleiben oder ein gegebnes Wort einzulösen. Ein kleiner Kommißjunge, der vor Kurzem noch hinter dem Pfluge ging und Mist aufgabelte, und jetzt mit dem Käsemesser an der Hüfte um die Kindermädchen im Jardin du Luxembourg herumschleicht, ein junger Student, der sich an Skeletten und Büchern blaß studirt hat, – der sich den blonden Bart mit der Scheere stutzt, – die nehmt alle Beide, hauchet ihnen einen Odem der Pflicht ein, stellt sie einander gegenüber an einer Straßenkreuzung, in einer Sackgasse, laßt den Einen für seine Fahne, den Andern für sein Ideal streiten und bringt ihnen den Glauben bei, daß sie alle Beide für das Vaterland kämpfen, so wird der Kampf großartig genug sein und der Schatten, den auf dem großen Schlachtfeld der Menschheit die beiden Jungen werfen, wird nicht geringer sein, als der Megaryons, des Königs des an Tigern reichen Lykiens, wenn er mit dem göttergleichen Ajax ringt.

XXII.
Der letzte Kampf

Als von den Anführern nur noch Enjolras und Marius an den beiden Enden der Barrikade am Leben waren, wurde das Centrum, dessen Vertheidigung von Courfeyrac, Joly, Laigle, Feuilly und Combeferre so lange geleitet worden war, von den Angreifern durchbrochen. Die Kanonen hatten hier zwar keine Bresche gelegt, aber doch den obern Rand stark demolirt und die Trümmer, die theils nach innen, theils nach außen gefallen waren, bildeten schließlich zwei Böschungen, zwei schiefe Ebenen, die eine Ersteigung der Barrikade wesentlich erleichterten.

Demgemäß wurde denn ein letzter Sturm versucht und dieses Mal mit Erfolg. Wieder drangen die Angreifer mit gefälltem Bajonett im Laufschritt heran und sofort erschien oben auf der Barrikade im Pulverdampf die erste Reihe der dichten Angriffskolonne. Dieses Mal war's vorbei. Die im Centrum postirten Vertheidiger wichen in Unordnung zurück.

Da erwachte bei Einigen die Liebe zum Leben. Angesichts des Waldes von Bajonetten und Gewehren vergaßen sie ihre heldenmüthigen Vorsätze und wollten nicht mehr sterben. Es war jener psychologische Augenblick, wo der Selbsterhaltungstrieb laut aufheult und die Bestie im Menschen sich geltend macht. Sie waren nach dem sechsstöckigen Hause hingedrängt, das hinter der Barrikade lag, und dieses Haus konnte ihnen Rettung bringen. Freilich war es von unten bis oben verschlossen und verrammelt, gleichsam eine einzige große Mauer. Aber bis die Soldaten zu ihnen zu gelangen vermochten, war wohl noch so viel Zeit, daß eine Thür rasch auf- und zugemacht werden konnte und glückte es, die Hausthür aufzubekommen und sofort wieder zu verschließen, so durften die Verzweifelten hoffen, daß sie sich leicht in Sicherheit bringen würden. Denn hinter diesem Hause lagen vom Feinde unbesetzte Straßen, lag der freie Raum. Deshalb bearbeiteten sie wie rasend die Thür mit den Kolben ihrer Gewehre und mit Fußtritten, riefen, schrieen, baten mit gefalteten Händen. Aber Niemand machte ihnen auf. Nur aus der Luke des dritten Stocks blickte – die Leiche des Portiers auf sie herab.

Da aber stürzten Enjolras und Marius mit sieben oder acht Andren, die sich um sie geschart hatten, herbei und schützten sie.

»Rückt nicht vor!« donnerte Enjolras den Soldaten zu und als ein Offizier sich nicht an diese Aufforderung kehrte, streckte Enjolras ihn tot nieder. Er stand jetzt hinter der Barrikade, an das Wirtshaus Corinthe gelehnt, dessen Thür er für die Flüchtlinge offen hielt, während er den Degen in der einen, den Karabiner in der andern Hand, ihren Verfolgern den Weg absperrte. »Es ist nur eine Thür offen! Diese hier!« rief er den Verzweifelten zu und ließ sie, während er sie mit seinem Leibe deckte und allein einem ganzen Bataillon die Stirn bot, hinter sich hineinschlüpfen. Indem er sich seines Karabiners wie eines Stockes bediente, focht er im Kreise um sich herum und schlug die Bajonette nieder, bis er selbst, als der Letzte, sich gleichfalls zurückziehen konnte. Es erfolgte ein kurzer, gräßlicher Kampf, indem die Soldaten in das Haus hinein, die Insurgenten aber die Thür zumachen wollten. Endlich wurde sie mit solcher Gewalt in ihren Rahmen hineingedrückt, daß einem Soldaten, der sich hartnäckig daran festgeklammert hatte, die fünf Finger der einen Hand abgeklemmt wurden.

Bei diesem Rückzug blieb Marius draußen. Eine Kugel hatte ihm das Schlüsselbein zerschmettert. Er merkte noch, wie die Sinne ihm schwanden und wie er hinstürzte. In demselben Augenblick aber, als seine Augen schon geschlossen waren, fühlte er einen heftigen Ruck, als wenn eine starke Hand ihn faßte und die Ohnmacht, die sein Bewußtsein eben überwältigte, ließ ihm kaum noch Zeit, sich Cosettens zu erinnern und sich zu sagen, daß er gefangen genommen sei, daß man ihn füsiliren werde.

Enjolras hatte, da er Marius nicht unter den in das Wirtshaus Geflüchteten sah, denselben Gedanken. Aber die Lage, in der sie sich befanden, erlaubte Jedem nur an seinen eignen Tod zu denken. Enjolras legte die Thürstange fest, schob die Riegel vor, verschloß sie doppelt, während draußen die Infanteristen und Sapeure mit den Gewehrkolben und Aexten dagegen los schlugen. Auf diese Thür war jetzt die ganze Wucht des Angriffs gerichtet und damit begann die Belagrung des Wirtshauses.

Die Soldaten waren, wie zugegeben werden muß, über die Maßen ergrimmt.

Der Tod des Artillerieserganten hatte sie in Wuth versetzt und außerdem hatte sich unter ihnen das Gerücht verbreitet, die Insurgenten verstümmelten die Gefangnen und in dem Wirtshaus liege die Leiche eines geköpften Soldaten. Dergleichen gefährliche Erzählungen sind eine gewöhnliche Zubehör der Bürgerkriege und solch ein falsches Gerücht war es auch, das später Anlaß zu der Katastrophe der Rue Transnonain gab.

Als die Schließung der Thür geglückt war, sagte Enjolras zu den Seinigen:

»Jetzt wollen wir unser Leben theuer verkaufen!«

Darauf trat er an den Tisch, auf dem Mabeuf und Gavroche neben einander lagen. Man sah unter dem schwarzen Tuche zwei lang ausgestreckte, starre Gestalten, eine große und eine kleine, nebst den undeutlichen Umrissen der Gesichter. Unter dem Tuch ragte eine Hand hervor und hing von dem Tisch herunter. Es war die des Greises.

Diese ehrwürdige Hand ergriff jetzt Enjolras und küßte sie, wie am Abend zuvor die Stirn des alten Mabeuf.

Es waren die beiden einzigen Küsse, die er je in seinem Leben gegeben hatte.

Kürzen wir unsern Bericht ab. War die Barrikade wie ein thebanisches Thor vertheidigt worden, so leistete die Schänke einen Widerstand, wie ihn nur noch die Häuser von Saragossa gesehen haben. Einen verbissenen, ingrimmigen, erbarmungslosen Widerstand. Sterben, da es sein muß, aber um jeden Preis möglichst viel Feinde mit auf den letzten Weg nehmen. Als Suchet die Saragossaner aufforderte sich zu ergeben, antwortete Palasox: »Nach dem Krieg mit den Kanonen, der Krieg mit dem Messer!« Auch bei dem Sturm auf das Hucheloupsche Wirtshaus fehlte keins von den Schrecknissen, die einen solchen Kampf begleiten: Weder die Steine, die durch die Fenster auf die Soldaten hinabgeschleudert wurden und ihnen fürchterliche Quetschwunden beibrachten, noch die Schüsse aus den Keller- und Bodenfenstern, noch die rasende Wuth des Angriffs, die verzweifelte Vertheidigung, und, als endlich die Thür nachgab, die erbarmungslose Niedermetzelung der Vertheidiger. Als die Angreifer sich über die zertrümmerte Thür in die Schänke stürzten, fanden sie unten keinen der Gegner mehr. In der Mitte des niedrigen Saales lag die hölzerne Wendeltreppe, die von den Insurgenten oben mit Aexten durchgehauen war und daneben einige tötlich Verwundete; alles, was noch nicht getötet war, hatte sich in den ersten Stock zurückgezogen und sandte nun durch das Loch in der Decke, wo die Treppe früher mündete, den Angreifern einen fürchterlichen Hagel von Kugeln entgegen. Es waren die letzten Patronen. Als diese verschossen waren, nahm jeder zwei von den erwähnten Flaschen, die Enjolras in Bereitschaft gelegt hatte, zur Hand und gebrauchte diese ebenso furchtbaren, wie zerbrechlichen Keulen gegen die Angreifer. Die Flaschen enthielten nämlich Scheidewasser. Wir schildern die Scheußlichkeiten des Gemetzels, wie sie sind. Dem Belagerten muß ja leider jede Waffe recht sein. Das griechische Feuer hat Archimedes, das siedende Pech Bayard, dem Ritter ohne Furcht und Tadel, keine Schande gemacht. Der ganze Krieg beruht nur auf der Nothwendigkeit Schrecken zu verbreiten, und ein Vertheidigungsmittel ist in dieser Hinsicht nicht besser als die andern. Das Gewehrfeuer der Angreifer war, trotzdem sie sehr behindert waren und von unten nach oben schießen mußten, ein mörderisches und bald lagen an dem Rande der Treppenöffnung mehrere tote Köpfe, denen das rothe Blut in dampfenden Bächen entströmte. Das Getöse war unbeschreiblich, der eingeschlossene und heiße Rauch breitete ein beinahe nächtliches Dunkel über diese fürchterliche Scene. Die Sprache hat keine Worte um diesen Grad des Furchtbaren zu schildern. Sie stritten nicht mehr wie Menschen, nicht mehr wie Riesen und Giganten, sondern wie Dämonen und Teufel. Nicht mehr an Homer, nein, an Milton und Dante erinnerte dieser Streit. Ein Heroismus, der das Maß des Außerordentlichen überschritt!

XXIII.
Ein nüchterner Orestes und ein betrunkner Pylades

Endliche indem die Einen auf die Schultern der Andern stiegen, indem sie die Trümmer der Wendeltreppe benutzten, an den Wänden emporkletterten, sich an den Rand der Treppenöffnung festklammerten, die wenigen, die hier noch Widerstand leisteten, neben der Fallthür niedermachten, drangen einige zwanzig Angreifer, Soldaten, Municipal- und Nationalgardisten bunt durcheinander, zum größten Theil durch Wunden im Gesicht entstellt, vom Blute geblendet, wüthend bis zur Raserei, in den Saal des ersten Stocks hinein. Hier fanden sie nur noch einen einzigen kampffähigen Mann vor, Enjolras. Ohne Patronen, ohne Degen hatte er nur noch den Lauf seines Karabiners in der Hand, denn den Kolben hatte er auf den Köpfen der Angreifer entzwei geschlagen. Er hatte sich hinter das Billard in den äußersten Winkel des Saales postirt und hier flößte er noch mit seinem stolzen Blick, seiner aufrechten Haltung, seinem Bruchstück von Waffe in der Hand, den Siegern so viel Respekt ein, daß sie zurückwichen.

»Das ist der Anführer,« schrie Einer. »Derjenige, der den Artilleristen erschossen hat. Sehr schön, daß er sich dahin gestellt hat. Da können wir ihn in aller Bequemlichkeit und sofort füsiliren.«

»Meinetwegen!« antwortete Enjolras, indem er seine Waffe wegwarf, die Arme verschränkte und die Brust seinen Feinden darbot.

Kühnheit angesichts des Todes macht immer Eindruck auf die Menschen und so hörte auch jetzt, als man Enjolras sich ruhig in sein Schicksal ergeben sah, der betäubende Lärm im Saale auf und wich einer feierlichen Stille. Es war, als zwinge der junge Mann mit seinem majestätisch ruhevollen Blick die wilde Schaar der Feinde, ihn mit Ehrerbietung zu töten. Die Schönheit seines Gesichts, die durch den stolzen Ausdruck seiner Miene noch erhöht wurde, war wunderbar und als sei er für die Müdigkeit ebenso unzugänglich als er unverwundbar schien, hatten nach den Schrecken der so eben von ihm durchlebten vierundzwanzig Stunden seine Wangen noch einen rosigen Anhauch. Ihn meinte vielleicht auch ein Augenzeuge, der vor dem Kriegsgericht aussagte: »Unter den Insurgenten war Einer, den ich Apoll nennen hörte.« Ein Nationalgardist, der schon auf Enjolras zielte, ließ sein Gewehr wieder sinken und sagte: »Mir ist zu Muthe, als würde ich eine Blume erschießen.«

Nun traten in der entgegengesetzten Ecke des Saales zwölf Mann zu einem Peloton zusammen und machten schweigend ihre Gewehre schußbereit.

Dann kommandirte ein Sergeant: »Legt an!«

»Wartet!« gebot plötzlich ein Offizier und wandte sich an Enjolras mit der Frage:

»Wollen Sie, daß man Ihnen die Augen verbindet?«

»Nein.«

»Sind Sie wirklich derjenige, der den Artilleriesergeanten getötet hat?«

»Ja.«

Während dieser Vorbereitungen war Grantaire erwacht.

Er schlief, wie man sich erinnern wird, seit vierundzwanzig Stunden in dem hohen Saal des Wirtshauses auf einem Stuhl und den Kopf auf den Tisch gestützt, einen schweren Schlaf, wie ihn nur das scheußliche Gemenge von Absinth, Stout und Branntwein hervorbringen kann. Da sein Tisch klein war und zur Herstellung der Barrikade nicht gebraucht werden konnte, hatte man ihm denselben gelassen, und so blieb er sitzen, die Brust an den Tisch gelehnt, den Kopf auf den Armen, und um ihn herum Gläser und Flaschen. Er schlief wie ein Bär in seiner Winterhöhle, wie ein vollgesogner Igel, ohne sich durch das Knattern der Gewehre, den Kanonendonner, das Kampfgetümmel im Hause stören zu lassen. Donnerten die Kanonen, so antwortete er mit einem gewaltigen Geschnarch. Es war, als wartete er, daß eine Kugel ihm die Mühe ersparen möchte wieder aufzuwachen. Mehrere Leichname lagen um ihn herum und auf den ersten Blick unterschied er sich durch nichts von diesen, deren Schlaf kaum fester war als der seinige.

Weckt aber nicht der Lärm einen Betrunknen, so bewirkt dies gewiß eine tiefe Stille, eine Eigenthümlichkeit, die oft beobachtet worden ist. Das fürchterliche Getöse wiegte ihn noch mehr ein, aber das plötzliche Stillschweigen der Sieger rüttelte Grantaire endlich aus seiner Lethargie auf. Es brachte dieselbe Art Wirkung hervor wie ein Wagen, der im vollen Galopp fährt und plötzlich anhält: Die eingedämmerten Insassen wachen auf. So richtete sich jetzt auch Grantaire auf, reckte sich, rieb sich die Augen, gähnte, blickte sich um und – begriff, was vorging.

Das Ende eines Rausches gleicht einem Vorhang, der zerreißt. Man sieht mit einem Blick und vollständig alles, was sich hinter ihm verbarg. Alles tritt mit einem Ruck in das Gedächtnis ein und der Trunkenbold, der nichts von den Vorgängen der letzten vierundzwanzig Stunden gesehen hat, weiß, sobald er kaum die Augenlider aufgeschlagen, doch sofort, was passirt ist.

Da er in einer Ecke saß und hinter dem Billard kaum bemerkt wurde, hatten die Soldaten, deren Aufmerksamkeit durch Enjolras in Anspruch genommen war, Grantaine nicht einmal gesehen, geschweige denn beachtet, und eben schickte sich der Sergeant an, sein Kommando zu wiederholen, als neben ihnen eine starke Stimme erschallte.

»Es lebe die Republik!« rief Grantaire, der sich von seinem Stuhl erhoben hatte.

Aus den Augen des gleichsam umgewandelten Trunkenbolds leuchtete die ganze Summe von Muth und Begeisterung, die er während des Kampfes auszugeben versäumt hatte.

»Es lebe die Republik!« rief er noch einmal, durchquerte den Saal mit festen Schritten und stellte sich neben Enjolras, den drohenden Gewehren gegenüber.

»So! Nun könnt Ihr gleich Zwei mit einer Salve abfertigen!« sagte er und zu Enjolras gewendet fuhr er mit sanfter Stimme fort:

»Erlaubst Du's?«

Enjolras drückte ihm lächelnd die Hand.

Noch hatte er sich nicht von dem Freunde los gemacht, als »Feuer!« kommandirt wurde.

Von acht Kugeln durchbohrt blieb Enjolras an die Mauer gelehnt stehen, als wäre er fest genagelt, nur daß er den Kopf herabhängen ließ. Grantaire stürzte schweren Falles zu seinen Füßen nieder.

Nun begannen die Soldaten die letzten in den obern Theil des Hauses geflüchteten Insurgenten zu verfolgen. Sie schossen durch ein Holzgitter in den Boden hinein. Dann erfolgte ein Handgemenge im Dachstockwerk. Es wurden Menschen, von denen einige noch lebten, zu den Fenstern hinausgeworfen. Zwei Voltigeure, die den zerschmetterten Omnibus aufrichten wollten, trafen Karabinerschüsse von den Dachluken aus. Darauf wurde ein Blousenmann mit einem Bajonett im Leibe auf die Strasse hinabgestürzt, wo er röchelnd liegen blieb. Ein Soldat und ein Insurgent rollten zusammen auf das abschüssige Dach hinaus, wollten sich nicht loslassen und fielen, indem sie sich grimmig umarmt hielten, hinab. Ebenso kämpfte man im Keller, bis endlich auf all das wilde Geschrei, Gewehrgeknatter und Gestampf tiefes Stillschweigen eintrat. Nun war auch die Citadelle der Insurgenten erobert und die Soldaten machten sich daran, die Häuser der Umgegend zu durchsuchen und die Flüchtlinge zu verfolgen.

XXIV.
Gefangen

Marius war in der That gefangen, Jean Valjean's Gefangner.

Jean Valjean hatte an dem Kampfe in keiner andern Weise Theil genommen, als daß er sich allen Gefahren aussetzte. Ohne ihn wären die Verwundeten während der letzten Phase des Sturmes vernachlässigt worden. Indem er aber wie eine Vorsehung überall gegenwärtig war, wurden Diejenigen, die schwer verletzt hinsanken, aufgehoben, in den Saal des Erdgeschosses gebracht und verbunden. Die freie Zeit, die ihm dann noch blieb, benutzte er um die Barrikade nach Kräften zu repariren. Aber er that keinen Schuß und überhaupt nichts, was einem Angriff oder sogar einem Akt der Nothwehr auch nur ähnlich gewesen wäre. Er schwieg und leistete nur Hülfe. Uebrigens bekam er in dem ganzen Kampfe kaum einige Schrammen. Die Kugeln ließen ihn unbehelligt und wenn er einen Selbstmord im Auge gehabt hatte, als er sich in die Gefahr begab, so war ihm dieser Plan nicht gelungen. Aber wir zweifeln, daß ihm ein solcher Gedanke vorgeschwebt hat, denn der Selbstmord verstieß gegen seine religiösen Ueberzeugungen.

Während der Kampf ihn wild umtobte, konnte es den Anschein haben, als sehe Jean Valjean Marius gar nicht; in Wirklichkeit aber ließ er ihn nicht aus den Augen. Deshalb stürzte er auch, als Marius von einer Kugel getroffen zu Boden sank, mit der Schnelligkeit eines Tigers herbei und trug ihn fort.

Zu dieser Zeit waren die Angreifer so eifrig mit Enjolras und der Forcirung der Wirtshausthür beschäftigt, daß Jean Valjean, von Niemand gesehen, mit dem bewußtlosen Marius in seinen Armen um das Wirtshaus herumbiegen konnte.

Der Leser erinnert sich wohl, daß dieses Haus wie ein Vorgebirge in die Straße hineinragte und den dahinter gelegnen Theil der Straße gegen die Kugeln und neugierigen Blicke schützte. So hat man ja bisweilen auch Zimmer, die inmitten der größten Feuersbrünste unversehrt bleiben und auf sturmgepeitschten Meeren eine kleine Stelle hinter einem Felsen oder einen von Klippen umschlossenen Raum, wo die größte Ruhe herrscht. Es war derselbe Winkel, wo Eponine ihren Todeskampf überstanden hatte.

Hier blieb Jean Valjean stehen, legte Marius auf die Erde nieder, lehnte sich mit dem Rücken an das Haus und ließ seine Augen um sich schweifen.

Er befand sich in einer entsetzlichen Lage.

Für eine kurze Spanne Zeit – höchstens zwei bis drei Minuten – schützte ihn wohl der Vorsprung, hinter dem er stand, aber wie dem Gemetzel entgehen? Er gedachte der Verlegenheit und Angst, die er vor acht Jahren in der Rue Polonceau durchgemacht hatte, und auf welche Weise er der Gefahr entgangen war; was er aber schon damals nur mit der größten Anstrengung bewerkstelligt hatte, war jetzt unmöglich. Vor ihm das sechsstöckige Haus mit seinen verschlossenen Thüren und Fensterläden und anscheinend so öde, als wohne nur der erschossene Portier darin; links die Hausecke, hinter der noch der Kampf tobte; rechts die niedrige Barrikade, die zur Sperrung der Rue de la Petite-Truanderie diente und die zu übersteigen ihm nicht schwer fallen konnte; aber hinter ihr sah er eine Reihe von Bajonetten funkeln. Es war Linieninfanterie, die dort postirt worden war, um die Flucht der Insurgenten zu verhindern. Ihm war klar, daß wenn er den Kopf über den Rand der Barrikade erhöbe, er sofort von einigen Dutzend Kugeln getroffen sein würde.

Was thun?

Nur ein Vogel hätte sich aus einer solchen Gefahr retten können.

Und das Schlimmste war, daß er auf der Stelle einen Entschluß fassen, ein Rettungsmittel ausdenken mußte. In seiner nächsten Nähe wurde wüthend gekämpft; glücklicher Weise konzentrirte sich alles auf einen Punkt um die Wirtshausthür; verfiel aber auch nur ein Soldat auf den Gedanken das Gebäude zu umgehen, es von der andern Seite anzugreifen, so war Alles vorbei.

Jean Valjean ließ seine Blicke über das Haus vor ihm, über die Barrikade, über den Erdboden hingleiten und so angestrengt blickte er in seiner Verzweiflung, als gelte es mit seinen Augen ein Loch in das Haus oder in die Erde zu bohren.

Dies gelang ihm auch in einem gewissen Sinne, denn einige Schritte vor sich, am Fuße der Barrikade, erblickte er plötzlich unter einem Haufen herabgestürzter Pflastersteine, die es zum Theil den Blicken entzogen, ein flach auf der Erde liegendes, eisernes Gitter, das aus starken Stangen gebildet und ungefähr zwei Quadratfuß groß war. Die steinerne Einfassung, die es fest hielt, war zerstört worden, so daß es lose da lag. Zwischen die Eisenstäbe hindurch sah man in eine dunkle Oeffnung, die einem Rauchfang oder dem Cylinder einer Cisterne ähnlich war. Auf dieses Gitter also stürzte Jean Valjean nun zu, erleuchtet von einem Gedanken, den seine alte Kunst, aus Gefängnissen zu entspringen, ihm eingegeben hatte. Die hinderlichen Pflastersteine beseitigen, das Gitter emporheben, den regungslosen Marius sich auf die Schultern laden, mit Hilfe der Ellbogen und Kniee den glücklicherweise nicht sehr tiefen Schacht hinabsteigen, über seinem Kopf die schwere, eiserne Fallthür zurückfallen lassen, so daß sie von den erschütterten Pflastersteinen wieder halb bedeckt wurde, auf einer mit Fliesen gepflasterten Fläche drei Meter unter der Erde landen, – alles dies nahm nur wenige Minuten in Anspruch.

Unten befand sich Jean Valjean mit dem noch immer bewußtlosen Marius in einer Art unterirdischem, langem Korridor, wo tiefe Stille, dunkle Nacht herrschte.

Hier erinnerte er sich wieder des Gefühls, das er gehabt hatte, als er sich über die Mauer in das Kloster flüchtete.

Kaum daß er jetzt über sich ein schwaches Gemurmel, den gedämpften, fürchterlichen Lärm der Erstürmung des Wirtshauses vernahm.


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