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Einige Zeit nach den eben erzählten Begebenheiten passirte dem pp. Boulatruelle, dem Arbeiter in Montfermeil den wir schon als Theilnehmer an sehr unkorrekten Heldenthaten kennen gelernt haben, ein Abenteuer, das ihn in die heftigste Aufregung versetzte.
Wie man sich vielleicht erinnern wird, war Boulatruelle ein Mann, der sich mit ebenso ungeheuren, wie mannichfaltigen Beschäftigungen abgab. Er schlug auf der Landstraße Steine und vorübergehende Wandrer entzwei. In seiner Eigenschaft als Erdarbeiter und Spitzbube hatte er ein Ideal, das ihm sein Glaube an die vergrabnen Schätze des Waldes von Montfermeil eingab. Er hoffte nämlich, er werde eines schönen Tages in der Erde am Fuße eines Baumes Geld finden, begnügte sich aber vorläufig damit, es in den Taschen der Reisenden zu suchen.
Nichtsdestoweniger nahm er sich augenblicklich sehr zusammen. War er doch erst vor Kurzem nur mit genauer Noth einer großen Gefahr entronnen. In der Jondretteschen Wohnung mit den andern Banditen aufgegriffen, war er dank seinem kolossalen Rausche mit blauem Auge davongekommen, ein Beweis, daß ein Laster sehr nützlich sein kann. Denn man hatte nie ermitteln können, ob er zu Jondrette gekommen war, um zu stehlen oder ob er ein Opfer der andern Strolche war und so gab ihm eine Erklärung des Gerichts, daß es an genügenden Beweismitteln zur Verfolgung fehle, die Freiheit wieder. Hierauf war er wieder in seinen Wald zurückgekehrt, um sich auf der Chaussee von Gagny nach Lagny im Dienste der Gemeindeverwaltung als Erdarbeiter ehrlich zu ernähren. Das Abenteuer hatte ihn nachdenklich gestimmt, eingeschüchtert und ihm das Spitzbubenthum, das ihn um ein Haar ins Verderben gestürzt hätte, etwas verleidet, aber ihn auch in seiner zärtlichen Vorliebe für den Wein, dem er seine Rettung verdankte, bestärkt.
Was nun die Begebenheit betrifft, die ihn kurz nach seiner Rückkehr unter das Rasendach seiner alten Erdhütte in so heftige Erregung versetzte, so stand es damit folgendermaßen:
Als Boulatruelle wie gewöhnlich, kurz vor Tagesanbruch sich auf die Arbeit oder vielleicht auch ein bischen auf die Lauer begab, bemerkte er zwischen den Zweigen der Bäume hindurch einen Mann, von dem er nur den Rücken sah, dessen Gestalt aber trotz der Dämmrung und der Entfernung ihm, wie er glaubte, bekannt sein müßte. Denn Boulatruelle hatte, obgleich er ein Trunkenbold war, ein zuverlässiges und helles Gedächtniß, wie es sich gehört, wenn Einer mit der Gesellschaft und dem Staate im Kriegszustande lebt.
»Wo zum Teufel habe ich den Kunden da schon gesehen?« fragte er sich.
Aber er konnte sich keine Antwort geben, nur beharrte er bei der Meinung, der Betreffende ähnele Jemandem, dessen Bild in verschwommenen Umrissen seinem Geist eingeprägt war.
Nach den vergeblichen Bemühungen, die Identität des Fremden festzustellen, verlegte sich Boulatruelle auf Vermuthungen, Berechnungen, Zusammenstellung verschiedner Umstände, um das Räthsel zu lösen. Der Mann konnte nicht aus der Gegend sein, sondern war hergekommen. Und zwar gewiß zu Fuß. Denn in den letzten Nachtstunden fahren keine Postkutschen durch Montfermeil. Er hatte die ganze Nacht marschirt. Wo kam er her? Von einem nicht sehr fernen Ort, denn er trug kein Felleisen und kein Bündel. Wahrscheinlich von Paris. Warum war er in diesem Walde?
Warum gerade zu dieser ungewöhnlichen Morgenstunde? Zu welchem Zwecke?
Da dachte Boulatruelle an den vergrabenen Schatz und entsann sich, indem er sein Gedächtnis etwas anstrengte, schon vor einigen Jahren eine ähnliche Begegnung mit einem Manne gehabt zu haben, der mit diesem hier sehr wohl identisch sein konnte.
Während des Nachdenkens ließ er unter der Last seiner Gedanken den Kopf herabsinken, was sehr natürlich, aber leider auch höchst unschlau ist. Denn als er wieder emporblickte, sah er nichts mehr. Der Fremde war im dämmrigen Walde verschwunden.
»Donner und Wetter!« fluchte Boulatruelle. »Na warte, Dich finde ich doch noch mal wieder. Ich werde schon noch rauskriegen, was das mit dem Kunden da für eine Bewandtniß hat, wozu der hier herumstrolcht. Im Walde hier dürfen keine Techtelmechtel passiren, ohne daß ich darum weiß.«
Bei diesen Worten griff er nach seiner sehr scharfen Hacke.
»Hiermit schlage ich ein Loch in das härteste Erdreich und in den härtesten Schädel!«
Und wie man einen Faden an einen andern bindet, so fügte er, so gut er konnte, an den Weg, den er gekommen war, denjenigen, den der Unbekannte durch das Gehölz eingeschlagen haben mußte.
Als er etwa hundert Schritte gemacht hatte, kam ihm das heraufsteigende Tageslicht zu Hülfe. Fußspuren an den sandigen Stellen, niedergetretenes Gras und Kraut, geknickte Zweige, niedergebogene junge Aeste, die sich mit graziöser Langsamkeit wieder emporhoben, bezeichneten einigermaßen eine Fährte, der er folgen konnte. Aber er verlor sie doch und versäumte viel Zeit damit, sie wieder aufzusuchen. Endlich vertiefte er sich noch mehr in den Wald und gelangte auf eine Anhöhe. Da gab ihm der Anblick eines Jägers, der in der Ferne ein Liedchen trällernd einen Pfad entlang ging, den Gedanken ein, auf einen Baum zu klettern. Trotz seines Alters war er gelenkig. Es stand da eine hochstämmige Buche, die eines Tityrus und eines Boulatruelle würdig war. Auf diese stieg er hinauf, so hoch er konnte.
Der Gedanke erwies sich als ein sehr guter. Als er die Einöde da, wo sie am wildesten mit dichtem Gestrüpp bewachsen war, aufmerksam durchspähte, bemerkte Boulatruelle plötzlich den Fremden.
Kaum hatte er ihn gesehen, so verlor er ihn wieder aus den Augen.
Der Unbekannte ging oder schlich vielmehr auf eine ziemlich weit entfernte, durch hohe Bäume verdeckte Lichtung zu, die aber Boulatruelle sehr gut kannte. Es war ihm nämlich dort, unweit eines großen Haufens von Mühlenkalksteinen, ein altersschwacher Kastanienbaum aufgefallen, auf dessen Rinde eine Zinkplatte genagelt war. Diese Lichtung ist dieselbe, die früher den Namen »Fonds Blaru« führte. Der Haufen Steine, die zu wer weiß was für einen Zweck bestimmt waren, liegt wahrscheinlich noch heute da. Denn nichts gleicht der Langlebigkeit eines Haufens Steine, es sei denn ein Bretterzaun. So was soll provisorisch sein und findet darin einen Grund ewig zu dauern.
Mit freudiger Eile stieg oder – möchten wir beinahe sagen – fiel Boulatruelle von dem Baum herunter. Der Bau war gefunden, nun galt es bloß noch den Fuchs abzufangen. Wahrscheinlich befand sich dort der heiß ersehnte Schatz.
Es war keine leichte Sache nach der Lichtung zu gelangen. Auf den gebahnten Wegen, die hier viel ärgerliche Zickzacklinien beschreiben, brauchte man eine gute Viertelstunde dazu. Geht man mitten durch das Dickicht, das in dieser Gegend fast undurchdringlich reich an Dornenpflanzen und überhaupt recht widerborstig ist, so braucht man eine halbe Stunde. Thörichter Weise bedachte Boulatruelle dies nicht. Er verließ sich auf den Satz, daß die gerade Linie der kürzeste Weg ist, eine optische Täuschung, die viel Unheil stiftet. Er bildete sich ein, der richtige Weg ginge durch das Dickicht, so widerspenstig es auch sein möge.
»Wollen mal die Landstraße der Wölfe entlang gehn!« dachte er und ging, während er doch sonst gern krumme Wege wandelte, geradeaus.
Er nahm den Kampf gegen das Gestrüpp mit großer Entschlossenheit auf, bekam es mit allerhand jähzornigen Dornensträuchern, Stechpalmen, Brennnesseln, Hagedornen, wilden Rosen und Disteln zu thun und wurde arg zerkratzt.
Unten in der Schlucht stieß er dann noch auf ein Gewässer, durch das er hindurchwaten mußte.
Nach Verlauf von vierzig Minuten gelangte er endlich in Schweiß gebadet, mit nassen Füßen, außer Athem, mit zerfetzter Haut, in grimmigster Laune nach der Lichtung Blaru.
Kein Mensch!
Boulatruelle lief nach dem Steinhaufen. Der war noch da. Niemand hatte ihn weggetragen.
Was den Fremden betrifft, so war er verschwunden, ausgekratzt. Wohin? Nach welcher Richtung? In welches Dickicht war er verduftet? Ach, das konnte der arme Boulatruelle nicht errathen.
Er sah nur zu seinem herbsten Leidwesen hinter den Steinen und vor dem geflickten Baum einen Haufen frisch ausgegrabner Erde, einen vergessenen oder weggeworfenen Spaten und ein Loch.
Und das Loch war leer!
»Spitzbube!« schrie Boulatruelle und schüttelte beide Fäuste gegen den Horizont.
Marius schwebte lange Zeit zwischen Tod und Leben. Es trat ein starkes Wundfieber auf, das mehrere Wochen anhielt, und bedenkliche Symptome, die auf eine starke, innerliche Erschütterung des Gehirns deuteten und nicht blos den äußerlichen Kopfwunden zugeschrieben werden konnten.
Ganze Nächte hindurch wiederholte er fortwährend mit der öden Geschwätzigkeit des Deliriums und der beängstigenden Hartnäckigkeit des Todeskampfes den Namen Cosette. In der Breite gewisser Wunden lag eine besondre Gefahr, da der Eiter in diesem Falle leichter in den Körper eindringen und wenn gewisse, atmosphärische Bedingungen gegeben sind, den Kranken töten kann; so daß Marius Arzt bei jedem Witterungswechsel, bei dem unbedeutendsten Gewitter sich besorgt zeigte. – »Vor allen Dingen muß der Kranke vor aller und jeder Gemüthsaufregung bewahrt werden,« wiederholte er fortwährend. – Die Anlegung der Verbände war sehr komplicirter und schwieriger Natur, da zu jener Zeit die Befestigung der Apparate und der Binden mittels Sparadrap noch nicht erfunden war. Zu Scharpie verbrauchte Nicolette ein Bettlaken, das »so groß wie die Stubendecke« war, wie sie sich ausdrückte. Auch dem heißen Brand wurde mittels Chlorürwaschungen und Silbernitrat nur mit großer Mühe vorgebeugt. Natürlich versetzte, so lange Gefahr vorhanden war, die Angst um den geliebten Enkel Gillenormand in denselben Zustand wie Marius; auch er schwebte zwischen Tod und Leben.
Tag für Tag kam ein- oder sogar zweimal ein fein gekleideter Herr in weißen Haaren – so beschrieb ihn der Portier – und erkundigte sich nach dem Befinden des Verwundeten, indem er ein großes Packet Scharpie für ihn zurückließ.
Endlich, am 7. September, genau vier Monate nach jener Nacht, wo man ihn zu seinem Großvater gebracht, erklärte der Arzt, daß er sich für seine Wiederherstellung verbürgen könne. Jetzt begann die Genesung. Indessen mußte Marius noch zwei Monate auf einer Chaiselongue liegen, um etwaige böse Folgen des Schlüsselbeinbruches zu verhüten. In solchen Fällen bleibt eben immer eine Wunde, die sich nicht schließen will und die zum größten Verdruß des Kranken die Nothwendigkeit verewigt, fortwährend Verbände anzulegen.
Einen Vortheil aber hatte er wenigstens von der Langwierigkeit seiner Krankheit und Genesung: Sie rettete ihn vor gerichtlichen Verfolgungen. Sechs Monate Zeit genügen in Frankreich immer, jedweden Groll, sogar politischen, zu beschwichtigen. Denn daß unter den heutigen, socialpolitischen Verhältnissen alle Welt an der Entstehung von Revolten mehr oder minder schuld ist, wird so deutlich empfunden, daß man sich bald allgemein herbeiläßt die Augen zuzudrücken.
Dazu kam, daß die ungeheuerliche Verordnung des Polizeipräfekten Gisquet, laut deren die Aerzte angewiesen wurden, die Verwundeten zu denunziren, öffentlichen Unwillen erregte und den des Königs am allermeisten, so daß sie vor Verfolgungen seitens der Gerichte bewahrt blieben. Mit Ausnahme Derer, die im Kampfe selber auf der That ertappt wurden, wagten die Kriegsgerichte keinen verwundeten Insurgenten zur Verantwortung zu ziehen und so wurde auch Marius unbehelligt gelassen.
Während der Krankheit seines Enkels machte Gillenormand alle Stadien der Angst und der Freude durch. Kaum, daß man ihn abhalten konnte, alle Nächte bei dem Verwundeten zu verbringen: aber seinen großen Lehnstuhl wenigstens ließ er neben Marius Bett stellen und verlangte, daß seine Tochter die schönste Wäsche, die man im Hause hatte, zu Kompressen und Verbänden verwendete. Fräulein Gillenormand aber fand als besonnene und erfahrene Hausfrau Mittel die gute Wäsche zu schonen, indem sie den alten Herrn glauben ließ, sie handle seinem Wunsche gemäß. Denn davon, daß zu Scharpie Batist nicht so gut ist wie grobe Leinwand, und altes Leinen besser als neues, wollte Gillenormand nichts hören. Er sah immer zu, wenn ein Verband angelegt wurde, während Fräulein Gillenormand sich dann schamhaft entfernte. Wurde totes Fleisch mit der Schere abgeschnitten, so schrie er: »Au! Au!« Es war überaus rührend anzusehen, wenn der Greis dem Kranken mit seinen liebevollen, zittrigen Händen eine Tasse Thee reichte. Fortwährend überhäufte er den Arzt mit Fragen, ohne je zu merken, daß es immer dieselben waren.
An dem Tage, wo der Arzt erklärte, Marius sei außer Gefahr, hatte es den Anschein, als würde der Alte vor Freude den Verstand verlieren. Er gab dem Pförtner drei Louisd'or Trinkgeld, tanzte am Abend in seinem Zimmer eine Gavotte, indem er mit dem Daumen und Zeigefinger die Castagnetten nachahmte und sang ein frivoles Liebeslied, dessen er sich noch aus seiner Jugend erinnerte. Dann kniete er auf einen Stuhl nieder und Baske, der ihn durch die halb offne Thür beobachtete, behauptete, als er die Sache wieder erzählte, der alte Herr habe gebetet.
Bis dahin war es mit seinem Glauben an Gott nicht weither gewesen.
Bei jeder neuen Wendung zur Besserung, die allmählich immer stärker auftrat, war der Alte außer sich und äußerte seine Freude durch mechanische Bewegungen und Handlungen. Er ging z. B. die Treppen hinauf und hinunter, ohne zu wissen, warum. Eine hübsche Nachbarin empfing eines Morgens zu ihrer größten Verwunderung ein großes Bouquet, das ihr – Gillenormand schickte; es gab Anlaß zu einer Eifersuchtsscene zwischen Mann und Frau. Andre Male wollte der Alte seine Magd auf den Schoß nehmen. Auch nannte er Marius den »Herrn Baron« und rief: »Es lebe die Republik!«
Jeden Augenblick fragte er den Doktor: »Nicht wahr, es ist keine Gefahr mehr vorhanden?« Er betrachtete Marius mit den Augen einer Großmutter, hatte seine Freude daran, wenn er ihn essen sah, dachte nicht an sich, zählte sich nicht mehr mit. Jetzt war Marius der Herr im Hause; an ihn trat er in seiner Freude alle seine Rechte ab und that, als sei er der Enkel seines Enkels.
In seiner überschwänglichen Wonne war er, so zu sagen, ein ehrwürdiges Kind. Aus Furcht, den Kranken zu ermüden oder zu langweilen, stellte er sich hinter ihn, um ihn lächelnd zu betrachten. Er war zufrieden, froh, überglücklich, liebenswürdig, jugendlich. Seine weißen Haare verliehen der Heiterkeit, die sein Gesicht erhellte, eine sanfte Würde. Wenn die Anmuth sich über Runzeln ausbreitet, ist sie entzückend wie die Morgenröthe.
Was Marius betrifft, so beschäftigte ihn, während er sich ruhig verbinden und hätscheln ließ, eine fixe Idee, der Gedanke an Cosette.
Seitdem das Wundfieber aufgehört hatte und er nicht mehr phantasirte, sprach er diesen Namen nicht mehr aus und man hätte glauben können, er denke nicht mehr an sie. Er schwieg aber, gerade weil seine Seele bei ihr weilte.
Er wußte nicht, was aus Cosette geworden war; der Eindruck, den die Episode in der Rue de la Chanvrerie in seiner Erinnerung hinterlassen hatte, war noch wolkenhaft verschwommen; die Gestalten Eponinens, Gavroches, Mabeufs, Thénardiers, der Freunde, die neben ihm im Pulverdampf gestanden, durchschwebten schattenhaft sein Gehirn; die merkwürdige Betheiligung Fauchelevents an der blutigen Katastrophe kam ihm wie ein Räthsel in einem Sturme vor; er begriff nicht, wieso er am Leben geblieben war; wußte nicht, wie und von wem er gerettet werden war und Niemand aus seiner Umgebung konnte es ihm sagen; alles, was man ihm mittheilen konnte, war, daß er des Nachts in einer Droschke nach der Rue des Filles-du-Calvaire gebracht worden war; Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, waren in seinem Kopfe nur der Dunst einer unbestimmten Vorstellung; aber in diesem Nebel gab es einen unbeweglichen Punkt, etwas scharf Begrenztes, Klares, Granitnes, einen Entschluß, einen Willen: Er wollte Cosette wiedersehen. Für ihn war der Begriff Leben nicht verschieden von der Vorstellung Cosette; er hatte in seinem Herzen dekretirt, daß er das Eine nicht ohne das Andre annehmen würde, und es stand bei ihm unerschütterlich fest, daß er von Jedem, der ihn zwingen wolle, das Leben zu behalten, von seinem Großvater, dem Schicksal, der Hölle, die Wiedererstattung seines entschwundenen Eden verlangen würde.
Welchen Schwierigkeiten er dabei begegnen werde, verfehlte er sich keineswegs.
Wir müssen hier einen Punkt hervorheben: Er ließ sich durch die liebevolle Sorgsamkeit und die Liebkosungen seines Großvaters nicht gewinnen und wenig rühren. Denn erstens wußte er nicht in jedem einzelnen Falle, wie gut es der alte Herr mit ihm meinte; und andrerseits mißtraute er in seinem noch schwachen, ja vielleicht noch fieberkranken Gehirn all den Liebenswürdigkeiten als sonderbaren und neuen Kniffen, mit denen der Alte ihn zahm machen wolle. Deshalb blieb er kühl und der arme Großvater verschwendete ganz umsonst seine Freundlichkeiten. Marius dachte, das wäre alles ganz gut, so lange er, Marius, nicht mit der Sprache herausrücken und sich passiv verhalten würde; aber wenn er seine Heirat mit Cosette aufs Tapet bringen werde, so würde der Alte ein andres Gesicht aufstecken und seine wahre Gesinnung unverhehlt zeigen. Dann werde es einen harten Kampf setzen; eine neue Anfachung des Familienzwistes, trotziges Pochen des Alten auf seine pekuniäre Ueberlegenheit über seinen Enkel, alle Arten Sarkasmen und Einwürfe, Spott über die niedrige, sociale Lebensstellung Fauchelevents, über Marius und Cosetten's Armuth, über das Elend, das den Beiden bevorstehe, über seine verdorbne Karriere u. s. w., u. s. w. Kurz, ein neuer Streit, der auf die alte Weise enden würde. Deshalb verhärtete Marius sein Herz im Voraus.
Außerdem wallte in dem Maße, wie seine Lebenskraft zunahm, alter Groll wieder in ihm auf, erwachte in seinem Gedächtniß die Erinnrung an unvergessene Beleidigungen; er dachte wieder an die ganze Vergangenheit, an den Oberst Pontmercy, der sich zwischen Gillenormand und ihn stellte; er sagte sich, von dem Manne, der so ungerecht und hart gegen seinen Vater gewesen sei, habe auch er nichts Gutes zu erwarten. Und mit der Gesundheit stellte sich auch eine Art Bitterkeit gegen seinen Großvater ein, was Dieser wohl merkte und schmerzlich empfand, aber sich geduldig gefallen ließ.
Gillenormand fiel es nämlich auf – ohne daß er sich je darüber äußerte –, daß Marius, seitdem er wieder zurückgebracht worden war und sein Bewußtsein wiedererlangt hatte, ihn nicht ein einziges Mal mit »Großvater« angeredet hatte. Er sagte freilich auch nicht »Herr Gillenormand«, aber wußte die Worte so zu setzen, daß es ihm möglich wurde, die beiden Anreden zu umgehen.
Offenbar mußte es unter so gestalteten Umständen bald zu einer Krisis kommen.
Deshalb scharmützelte auch Marius, wie es in solchen Fällen üblich ist, mit dem Feinde, ehe er sich auf die Entscheidungsschlacht einließ. Er rekognoszirte, um zu wissen, wie sich dieser verhalten würde. So geschah es z. B. eines Morgens, daß Gillenormand, durch eine Zeitung, die ihm in die Hand gefallen war, dazu veranlaßt, leichtfertig über den Konvent, und gegen Danton, Saint-Just und Robespiere ein royalistisches Schimpfwort vom Stapel ließ. »Die Staatsmänner des Jahres 1793 waren Giganten,« lautete Marius strenger Verweis. Der Alte schwieg und that den ganzen Tag über nicht mehr den Mund auf.
Da aber Marius noch immer die unbeugsame Härte, die der Großvater gegen ihn hervorgekehrt hatte, vorschwebte, so deutete er sich dieses Stillschweigen als stark koncentrirten Zorn, folgerte daraus, daß der Kampf ein recht hitziger sein werde, und sammelte in den verborgensten Fächern seines Hirns wuchtige Vertheidigungswaffen.
Er beschloß nämlich, daß er, falls der Alte ihm eine abschlägige Antwort ertheilen würde, die Verbandapparate abreißen, sein Schlüsselbein ausrenken, seine Wunden bloß legen und jede Nahrung verweigern wolle. Cosette oder der Tod! so lautete sein Losungswort.
Nun wartete er mit heimtückischer Patientengeduld auf eine günstige Gelegenheit, die sich ihm auch bald darbot.
Eines Tages stand Gillenormand, während seine Tochter auf der Marmorplatte der Kommode die Medizinflaschen und Tassen ordnete, über Marius gebeugt und sprach zu ihm in seiner zärtlichsten Weise:
»Hör mal, lieber Marius, an Deiner Stelle würde ich jetzt mehr Fleisch als Fische essen. So eine gebratene Seezunge ist ausgezeichnet für einen Rekonvalescenten, wenn ein Kranker aber zu Kräften kommen will, muß er gute Kotelettes essen.«
Marius, dessen Kräfte schon fast ganz zurückgekehrt waren, nahm sie zusammen, richtete sich auf seinem Sitze empor, bohrte seine beiden, geballten Fäuste in das Bettlaken, sah seinem Großvater ins Gesicht, nahm eine grimmig ernste Miene an und sagte:
»Was Sie da sagen, veranlaßt mich, Ihnen eine Mitteilung zu machen.«
»Was für eine?«
»Ich will mich verheiraten.«
»Na, darauf war ich vorbereitet,« sagte der Großvater und lachte laut auf.
»Wie so?«
»Ja, ja! Du sollst sie haben.«
Von Erstaunen überwältigt zitterte Marius an allen Gliedern und konnte nicht antworten.
Gillenormand aber fuhr fort:
»Ja, Du sollst sie haben, Dein wunderschönes, allerliebstes, kleines Mädchen. Sie kommt tagtäglich in Gestalt eines alten Herrn und erkundigt sich nach Dir. Seitdem Du verwundet bist, weint sie immerzu und zupft Scharpie. Ich habe Erkundigungen über sie eingezogen. Sie wohnt Rue de l'Homme-Armé Nr. 7. Nun, da wären wir also bei der Hauptsache angelangt. Also du willst sie heiraten? Gut, gut; Du sollst sie haben. Nun gesteh' aber mal, daß Du Dich ordentlich blamirt hast. Du hattest ein schönes Komplott gegen mich ausgebrütet. Du dachtest: Ich werde Großvatern ohne Umschweife meinen souveränen Willen kund thun. Die vertrocknete Mumie aus dem vorigen Jahrhundert, der alte Gigerl ist auch mal jung gewesen, hat leichtsinnig geliebt und geliebelt, ist von einem Unterrock auf den andern geflattert, und sollte also wissen, was Frühlingsgefühle sind. Aber wenn ich ihm sagen werde, daß ich auch von der Süßigkeit naschen will, wird's ein großes Halloh geben! Daraufhin machst Du eben Kehrt und faßt den alten Stier bei den Hörnern. Sehr schön! Ich biete Dir ein Kotelett an und Du drehst Dich herum und meinst: Richtig, das erinnert mich daran, daß ich heiraten will. Eine famose Art von einem Gesprächsthema auf ein andres überzugehn! Also Du suchtest Streit? Wenn Du gewußt hättest, was Dein Großvater für eine alte Memme ist! Nun, was sagst Du zu der Wendung? Nun bist Du wüthend, nicht wahr? Daß Dein Großvater noch dümmer sein würde wie Du, darauf warst Du nicht gefaßt und hast nun den Aerger, daß Du Deine so schön präparirte Rede nicht anbringen kannst, Du armer Advokat. Geschieht Dir aber recht, mein Junge. Ich thue, was mir gefällt; verstanden, Du Heupferd? – Nun laß Dir aber die Sache erzählen. Ich habe mich also umgethan und mich erkundigt, hinter Deinem Rücken, denn ich kann auch heimlich thun. Sie ist ein nettes und braves Mädchen. Was der Lanzenreiter gesagt hat, ist Unsinn. Sie hatte eine Masse Scharpie gezupft und ist ein gutes Kind, das in Dich vernarrt ist. Hätte Deine Krankheit eine schlimme Wendung genommen, so wären wir unsrer drei gewesen; ihr Sarg hätte meinen begleitet. Ich hatte wohl daran gedacht, ich wollte, als Du auf dem Wege der Besserung warst, sie eines schönen Morgens kommen lassen, damit Du sie ganz plötzlich sähest, sobald Du die Augen aufthätest. Aber das kommt nur in Romanen vor, daß ein junges Mädchen so mir nichts dir nichts an das Bett eines hübschen Kranken geführt wird, für den sie sich interessirt. So was schickt sich nicht. Was hätte deine Tante dazu gesagt? Meistenteils lagst Du ganz nackt da mein lieber Freund. Frage mal Nicolette, die keine Minute von dir weggegangen ist, ob ein Frauenzimmer zu Dir kommen konnte. Und dem Arzt hätte das auch nicht gepaßt. Daß ein hübsches Mädchen das Fieber heilen sollte, das wäre ganz was Neues. Na aber Ende gut, alles gut. Jetzt ist die alte Geschichte abgemacht und begraben. Punktum. Heirate sie. Nun siehst Du, was ich für ein nichtswürdiger Starrkopf bin. Siehst Du, ich hatte gemerkt, daß Du nicht gut auf mich zu sprechen warst, und da dachte ich: Was fang' ich bloß an, damit der dumme Junge mich gern hat. Da fiel mir ein, daß ich ja die kleine Cosette bei der Hand hätte. Die brauche ich ihm bloß zu geben, kalkulirte ich, dann soll er's wohl bleiben lassen, schlecht über seinen Großvater zu denken. Und Du dachtest, der Alte wird toben und wettern, Nein! Nein! brüllen und mit dem Stock auf Deine Rosenknospe einhauen. Denk' nicht dran! Cosette und die Liebe sollen leben! Ich freue mich, daß Ihr Euch kriegt. Also, Herr Enkel, geruhen Sie zu heiraten. Sei glücklich, mein lieber Junge!«
Ein Thränenstrom unterbrach seine Rede. Er nahm Marius Kopf zwischen seine beiden Hände, drückte ihn an seine Brust und Beide weinten; Einer der sichersten Beweise des höchsten Glücksgefühls!
»Großvater!« rief Marius.
»Also bist Du mir gut?« fragte der Greis.
Sie konnten vor unbeschreiblicher Rührung eine Zeit lang nicht sprechen. Endlich aber schluchzte der Alte:
»So! Nun ist das Eis geschmolzen. Er hat Großvater zu mir gesagt.«
Marius machte sanft seinen Kopf aus den Armen seines Großvaters los und sagte:
»Aber Großvater, nun ich wieder gesund bin, möchte ich sie gern wiedersehen.«
»Darauf war ich auch vorbereitet. Sie kommt morgen.«
»Lieber Großvater?«
»Was denn, mein Junge?«
»Warum nicht heute?«
»Gut, heute. Meinetwegen heute. Du hast dreimal Großvater zu mir gesagt. Dafür mußt Du belohnt werden. Ich werde dafür sorgen, daß sie Dir heut zugeführt wird. Ich bin ja längst darauf vorbereitet. Man weiß ja, wie alles eingefädelt werden muß, wenn zwei sich kriegen. Deine Geschichte ist schon in Verse gesetzt worden. Lies mal das Ende der Elegie, ›der junge Patient‹ von André Chénier. Auch einer von denen, die 1793 abgeschlachtet worden sind, von den Schuf . . . wollte sagen, von den Giganten des Jahres 1793.«
Gillenormand glaubte zu bemerken, daß Marius die Stirn etwas runzelte. Das war aber ein Irrthum. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, müssen wir gestehen, daß Marius nicht auf ihn hörte, da er in den siebenten Himmel verzückt war und an die liebliche Cosette, nicht an das Schreckensjahr 1793 dachte. Der Großvater aber, der über seine ungeschickte Erwähnung André Chéniers höchlich erschrocken war, suchte eiligst diesen Schnitzer wieder gut zu machen:
»Abgeschlachtet ist eigentlich nicht das richtige Wort. Die Sache verhält sich vielmehr so: Die genialen Lenker der Revolution, denen man ganz gewiß nicht nachsagen kann, daß sie blutdürstig waren, die selbstredend Herren waren, fanden, daß André Chénier nicht ganz dieselben Meinungen hatte wie sie und ihnen im Wege war, und daß sie ihn deshalb guillotin . . . d. h. diese großen Männer ersuchten am 7. Thermidor André Chénier sich gefälligst in ein besseres Jenseits zu bemüh . . .«
Hier erstickte Gillenormand beinah an seiner eignen Rede und konnte nicht fortfahren; da er aber den Satz weder beendigen, noch seine Worte zurücknehmen konnte, während seine Tochter hinter Marius stand und das Kissen zurecht legte, eilte der Greis, den die vielen Aufregungen außer Fassung gebracht hatten, mit der ganzen Schnelligkeit, die ihm sein Alter gestattete, aus dem Schlafzimmer hinaus, warf die Thür hinter sich zu und stürzte krebsroth, athemlos, mit vorgequollenen Augen auf den braven Baske zu, der im Vorzimmer die Stiefel putzte. Er packte den Ahnungslosen beim Kragen und schrie ihm wüthend ins Gesicht:
»Hunderttausend Donnerwetterquatschteufel sollen mich holen, wenn die Halunken ihn nicht geschlachtet, gemordet, gewürzt, in Stücke gehackt haben!«
»Wen? Herr Gillenormand?«
»André Chénier.«
»Gewiß, Herr Gillenormand!« bestätigte zitternd der erschrockne Baske.
Cosette und Marius sahen sich also wieder.
Diese Zusammenkunft zu beschreiben ist etwas, worauf wir verzichten müssen. Es giebt Dinge, die man nicht versuchen muß zu schildern, wie z. B. die Sonne.
Die ganze Familie, Baske und Nicolette mit einbegriffen, waren in Marius Zimmer versammelt, als Cosette kam.
In dem Augenblick, wo sie auf die Schwelle trat, schien es, als ginge Himmelslicht von ihr aus.
Der Großvater wollte sich gerade die Nase schnauben, aber als er sie erblickte, hielt er inne und betrachtete sie über sein Taschentuch hinweg.
»Allerliebst!« rief er und schnaubte sich sehr laut.
Cosette war wie berauscht, entzückt, erschrocken, im siebenten Himmel. Sie konnte ihr Glück nicht fassen. Bald blaß, bald roth stammelte sie unzusammenhängende Worte, wollte Marius umarmen und wagte es nicht. Vor den vielen Leuten konnte sie doch nicht zeigen, daß sie ihn liebte! Man ist ohne Erbarmen gegen glückliche Liebespaare; man bleibt da, wenn sie sich am meisten sehnen allein zu sein. Und doch geht es sehr gut ohne die Andern.
Mit Cosette und hinter ihr kam ein Mann in weißen Haaren, mit ernsten Gesichtszügen, der aber lächelte, freilich gezwungen und wehmüthig. Es war »Herr Fauchelevent«, es war Jean Valjean.
Er sah sehr fein aus, wie der Pförtner richtig bemerkt hatte, in seinem neuen, schwarzen Anzug und seiner weißen Kravatte.
Der Pförtner war tausend Meilen von dem Gedanken entfernt, der noble Herr, der so korrekt gekleidet war wie ein Notar, könne identisch sein mit dem zerlumpten, schmutzigen, wiederwärtigen, verstörten, mit Blut bedeckten Menschen, dessen Anblick ihm in der Nacht des 7. Juni einen so fürchterlichen Schreck eingejagt hatte; aber wie alle Portiers, besaß auch er eine feine Spürnase und hatte eine gewisse Witterung von der richtigen Fährte. Als daher Fauchelevent mit Cosette gekommen war, sagte er zu seiner Frau: »Ich möchte bloß wissen, warum ich mir einbilde, ich hätte das Gesicht schon gesehen.«
Fauchelevent blieb in Marius Zimmer bescheiden in der Nähe der Thür stehen. Er trug unter dem Arm einen in Papier gewickelten Gegenstand, der wie ein Buch in Oktavformat aussah. Das Papier war grün, wie von Schimmel. »Hat der Herr immer solch ein Buch unter dem Arm?« fragte Fräulein Gillenormand, die keine Freundin von Büchern war, leise die Magd.
»Je nun,« antwortete Gillenormand, der die Bemerkung gehört hatte, ebenfalls mit gedämpfter Stimme, »der Mann ist ein Gelehrter. Ist denn was dabei? Kann er was dafür? Herr Boulard, den ich gekannt habe, ging auch nie ohne ein Buch aus, der trug immer einen Schmöker an seinem Herzen.«
Hierauf wandte er sich mit einer Verneigung an Fauchelevent:
»Herr Tranchelevent . . .«
Vater Gillenormand that es nicht mit Absicht, er hatte blos die aristokratische Unart, sich Personennamen nicht ordentlich zu merken.
»Herr Tranchelevent, ich habe die Ehre, Sie für meinen Enkel, den Herrn Baron Marius Pontmercy um die Hand ihres Fräulein Tochter zu bitten.«
Herr Tranchelevent verneigte sich.
»Dann sind also alle Theile einig,« sagte der Großvater, wandte sich nach Marius und Cosette um, breitete beide Arme zum Segen aus und rief:
»Jetzt, Kinder, dürft Ihr Euch anbeten!«
Was die Beiden sich nicht zweimal sagen ließen. Ohne weitere Umstände begannen sie darauf los zu plaudern. Sie sprachen leise, indem Marius, auf einen Ellbogen gestützt, auf der Chaiselongue lag und Cosette vor ihm stand. – »O mein Gott,« flüsterte Cosette, »endlich sehe ich Sie wieder! Sie sind's wirklich! Wie konnten Sie bloß Ihr Leben so aufs Spiel setzen? Zu welchem Zweck? Pfui! Wie abscheulich von Ihnen! Vier Monate lang bin ich mehr tot als lebendig gewesen. Sie böser Mensch! Warum haben Sie mir das angethan? Aber ich verzeihe Ihnen unter der Bedingung, daß Sie so etwas nicht wieder thun. Vorhin, als wir eingeladen wurden, hierher zu kommen, glaubte ich wieder, ich würde sterben, aber dies Mal vor Freude. Ich war so niedergeschlagen! Nicht einmal ordentlich Toilette zu machen habe ich mir die Zeit genommen, ich muß schrecklich aussehen. Was werden Ihr Herr Großvater und Ihr Fräulein Tante davon denken, daß ich mit einer zerknitterten Halskrause gekommen bin? So sagen Sie doch etwas! Sie lassen mich ganz allein sprechen. Wir wohnen noch immer in der Rue de l'Homme-Armé. Ihre Schulter soll recht schlimm gewesen sein. Die Wunde, hat man mir erzählt, war so groß, daß man die Faust hineinstecken konnte. Und das Fleisch hat man Ihnen auch mit der Scheere herausgeschnitten. Das muß ja fürchterlich weh gethan haben. Die Augen habe ich mir ausgeweint. Merkwürdig, daß ein Mensch soviel Schmerzen aushalten kann. Ihr Großvater ist ein guter Mann, nicht wahr? Lassen Sie Sich nicht stören, lehnen Sie Sich nicht auf den Ellbogen, sonst werden Sie Sich noch Schaden thun. Ach, wie ich mich freue, nun das Unglück endlich vorbei ist. Mir ist ganz dumm davon im Kopfe. Ich hatte vor, Ihnen noch recht Vieles zu sagen und kann mich mit einem Mal nicht mehr darauf besinnen. Lieben Sie mich noch? Wir wohnen in der Rue de l'Homme-Armé, aber es ist kein Garten bei der Wohnung. Ich habe die ganze Zeit über Scharpie gezupft: sehen Sie mal, Sie Unart, was ich für Schwielen an den Fingern habe; daran sind Sie schuld!« – Und Marius antwortete bloß: »Sie Engel!«
Engel ist das einzige Wort, das sich nicht abnutzen läßt. Kein andres Wort würde solchen Widerstand leisten wie dieses, das Verliebte so verschwenderisch gebrauchen.
Durch die Anwesenheit der Andern genirt, unterbrachen sie ihr Geplauder und sprachen kein Wort mehr, indem sie sich begnügten, sich gegenseitig die Hand zu berühren.
Als Gillenormand ihre Befangenheit merkte, wandte er sich an die Andern und rief:
»So sprecht doch laut. Macht Lärm, damit unsre jungen Leute sich ungestört, nach Herzenslust unterhalten können.«
Und zu Marius und Cosette sagte er im Flüsterton:
»Duzt Euch. Nur nicht geniren.«
Tante Gillenormand ihrerseits betrachtete mit starrem Erstaunen den Sonnenstrahl, der so plötzlich in ihr ödes Heim gefallen war. Nicht, als ob sie sich geärgert hätte; keine entrüsteten und neidischen Blicke, wie eine Eule sie zwei Turteltauben zuschleudert; nur die verständnislose Verwundrung, die eine arme, siebenundfünzigjährige Unschuld und ein verfehltes Leben vor dem Glück der sieghaften Liebe empfindet.
»Fräulein Gillenormand senior,« sagte ihr Vater, der ihre Gedanken errieth, »hatte ich nicht gesagt, daß Dir so etwas einmal widerfahren würde?«
Hier schwieg er eine Weile, bevor er sich deutlicher erklärte.
»Jetzt kannst Du zusehen, wie Andre sich des Lebens freuen.«
Dann wandte er sich nach Cosette hin:
»Wie reizend, wie reizend sie ist! Wie ein Portrait von Greuze. Und so was Allerliebstes darfst Du Schwerenöther für Dich behalten! Ein Glück für Dich, mein Junge, daß ich nicht fünfzehn Jahre jünger bin. Dann würde ich sie Dir mit dem Degen in der Hand streitig machen. Ja ja, Fräulein, Sie haben's mir angethan. So gehört sich's freilich. Sie üben da nur Ihr gutes Recht aus. Hurrah! Das wird eine famose, allerliebste, amüsante Hochzeit geben. Wir wohnen im Kirchspiel Saint-Denis du Saint-Sacrement, aber ich werde um eine Dispensation einkommen, damit Ihr Euch in Saint-Paul trauen lassen könnt. Die Kirche ist besser. Von den Jesuiten gebaut, also hübscher. Sie liegt gegenüber der Fontaine des Kardinals de Birague. Das größte Meisterwerk der jesuitischen Architektur ist in Namur, nämlich die Kirche Saint-Loup. Die müßt Ihr Euch ansehen, wenn Ihr getraut seid. Ein Bau, der die Reise lohnt, versichre ich Euch. Fräulein, ich gehöre zur selben Partei wie Sie; ich bin auch dafür, daß die jungen Mädchen heiraten! dazu sind sie da. Es wäre gut, wenn die heil. Katharina gar keine Verehrerinnen hätte. Jungfrau bleiben mag für Manche etwas Imponirendes haben, aber ich finde es ungemüthlich. Die Bibel sagt: Seid fruchtbar und mehret Euch. Es ist ja ganz schön, wenn eine Jungfrau von Orleans ihr Volk rettet; aber damit überhaupt ein Volk da ist, muß man die Dienste des Klapperstorchs fleißig in Anspruch nehmen. Also heiratet, ihr Mädchen. Ich kann absolut nicht einsehen, wozu das Jungfernthum gut ist. Ich weiß ja wohl, daß es Anrecht auf einen Ehrensitz in der Kirche giebt und daß man in gewisse, religiöse Genossenschaften eintreten darf; aber Potz Mohren Element! ein hübscher, netter Mann und nach einem Jahre ein strammes, blondes Jüngelchen mit dicken Strampelbeinchen und rosigen Patschhändchen, die Mamachens Busen befingern, – das ist doch noch was Besseres als eine Kerze bei der Vesper in der Hand halten und Turris eburnea gröhlen!«
Nach dieser Rede machte der Alte auf den Fersen eine Kreiswendung um sich selbst und wandte sich an Marius:
»Beiläufig gesagt, . . .«
»Was, Großvater?«
»Hattest Du nicht einen guten Freund?«
»Ja, Courfeyrac.«
»Was ist aus dem geworden?«
»Er ist tot.«
»Das ist ganz gut.«
Darauf setzte er sich zu ihnen, nöthigte Cosette Platz zu nehmen und nahm ihre vier Hände in die seinen:
»Allerliebst, diese Kleine. Ein wahres Meisterwerk der Natur, Deine Cosette. Kindlich und vornehm. Schade, daß sie nur Frau Baronin wird; sie hätte auch zur Marquise gepaßt. Was für Wimpern sie hat! Kinder, schreibt es Euch ja hinter die Ohren, daß Ihr das Rechte erwählt habt. Liebt Euch, daß Ihr dämlich darüber werdet. Die Liebe ist des Menschen Dummheit und Gottes Weisheit. Betet Euch an. Aber leider,« fuhr er fort, indem sich seine Stirn plötzlich verdüsterte, »habt Ihr auch Unglück. Mir fällt eben ein, daß mehr als die Hälfte von meinem Vermögen auf Leibrenten angelegt ist; so lange ich lebe, wird's ja noch gehen; aber nach meinem Tode, also, wollen wir sagen, nach ungefähr zwanzig Jahren werdet Ihr armen Kinder keinen rothen Heller haben. Ja ja, Frau Baronin, Ihre niedlichen weißen Zähnchen werden einmal am Hungertuch nagen.«
Hier unterbrach ihn Jean Valjean:
»Fräulein Euphrasia Fauchelevent bekommt sechsmalhundert Tausend Franken mit.«
Er hatte sich noch nicht mit einem Wort in die Unterhaltung gemischt; Alle schienen vergessen zu haben, daß er überhaupt zugegen war und er stand unbeweglich abseits, hinter all den glücklichen Leuten.
»Wer ist das betreffende Fräulein Euphrasia Fauchelevent?« fragte verwundert der Großvater.
»Ich,« antwortete Cosette.
»Sechsmalhunderttausend Franken?« fragte Gillenormand.
»Weniger vierzehn bis fünfzehn tausend Franken,« sagte Jean Valjean und legte das Packet, das Fräulein Gillenormand für ein Buch gehalten hatte auf den Tisch.
Er machte es selbst auf; es enthielt einen Stoß Tresorscheine. Sie wurden auseinander genommen und gezählt. Es waren fünfhundert Tausendfrankenscheine und einhundert achtundsechzig zu je fünfhundert. Summa: Fünfhundert vierundachtzig tausend Franken.
»Solch ein Buch läßt man sich gefallen,« meinte Gillenormand.
»Fünfhundert vierundachtzig tausend Franken!« murmelte die Tante voller Bewundrung.
»Damit läßt sich was machen, nicht wahr Fräulein Gillenormand senior?« hob der Großvater wieder an. »Hat dieser Teufelskerl, der Marius, auf der Jagd nach Idealen ein hübsches Mädchen mit einem schweren Geldsack gefangen! Nun traue Einer noch jungen Träumern! Das ist ja ganz was Neues, daß ein Phantast ein besserer Spekulant ist, als ein Bankier!«
»Fünfmalhundert vierundachtzig Tausend Franken!« wiederholte Fräulein Gillenormand halblaut, »Fünfmalhundert vierundachtzig tausend! Da kann man dreist sagen: Sechsmal hunderttausend Franken!«
Was Marius und Cosette anbetrifft, so sahen sie sich während der Zeit an und achteten fast gar nicht auf die Kleinigkeit, die Jean Valjean da auf den Tisch gelegt hatte.
Der Leser hat wohl, auch ohne weitläufiger Auseinandersetzungen zu bedürfen, verstanden, daß Jean Valjean nach dem Prozeß Champmathieu, Dank seiner ersten Entweichung aus dem Gefängniß, nach Paris hatte kommen können und daß er bei Lafitte das Geld, das er als Herr Madeleine in Montreuil-sur-Mer verdient hatte, abhob und aus Furcht wieder eingefangen zu werden, (was ihm in der That kurze Zeit darauf wiederfuhr,) dieses Geld im Walde von Montfermeil, in dem sogenannten Fonds Blaru, verborgen und vergraben hatte. Dieser Schatz, sechsmalhundert dreißig tausend Franken in lauter Banknoten, nahm wenig Raum ein und ließ sich in einer Schachtel unterbringen; aber um diese vor Feuchtigkeit zu schützen, steckte er sie in eine Truhe aus Eichenholz, die mit Sägespänen gefüllt war. In diese Truhe legte er auch seinen zweiten Schatz, die Leuchter des Bischofs. Denn diese Leuchter hatte er, wie der Leser sich erinnern wird, bei seiner Flucht aus Montreuil-sur-Mer mitgenommen. Der Mann, den Boulatruelle das erste Mal sah, war in der That Jean Valjean. Später kam Dieser jedes Mal, wenn er Geld brauchte, nach der Lichtung Blaru. Daher die Reisen Jean Valjeans, von denen wir gesprochen haben. Er hatte irgendwo im Heidekraut einen Versteck, den er allein kannte und wo er einen Spaten verborgen hielt. Als er endlich sah, daß Marius in der Genesung begriffen war und daß die Zeit nahte, wo das Geld Nutzen schaffen konnte, ging er hin, es zu holen und dieses Mal wurde er wieder von Boulatruelle gesehen, aber am Morgen, nicht am Abend. So gelangte Dieser wenigstens in den Besitz eines Spatens.
Die ganze Summe belief sich auf fünfhundert vierundachtzig tausend fünfhundert Franken. Diese fünfhundert Franken behielt aber Jean Valjean für sich. – »Ich werde sehen, was dann weiter wird,« dachte er.
Die Differenz zwischen dem ausgegrabnen Gelde, den bei Laffitte abgehobnen sechshundert dreißig tausend Franken repräsentirte die Ausgaben von zehn Jahren, von 1823 bis 1834. Die fünf Jahre Aufenthalt im Kloster hatten nur fünftausend Franken gekostet.
Die beiden Leuchter stellte Jean Valjean auf das Kamingesims, wo sie die größte Bewundrung der Toussaint erregten.
Im Uebrigen wußte Jean Valjean auch, daß er Javert nicht mehr zu fürchten hatte. In seiner Gegenwart hatte Jemand erzählt, – und er hatte es auch im Moniteur, der die Nachricht brachte, nachgelesen – daß man einen Polizeiinspektor Javert unter einem Prahm zwischen dem Pont au Change und dem Pont Neuf ertrunken gefunden habe. Ein Schriftstück, das der durchaus ehrenwerte und von seinen Vorgesetzten sehr geschätzte Mann hinterlassen hatte, ließ auf einen Anfall von Geistesstörung und auf Selbstmord schließen. – »Ganz richtig,« dachte Jean Valjean, »da er mich in seiner Gewalt gehabt hat und mich laufen ließ, muß er wohl schon geisteskrank gewesen sein.«
Nun wurden die Vorbereitungen zur Hochzeit getroffen. Um seine Meinung befragt, erklärte der Arzt, sie könne im Februar stattfinden. Da dies im Monat December geschah, hatte man noch einige Wochen des reinsten Glückes vor sich.
Der Großvater freute sich über die Seligkeit des Pärchens nicht weniger wie sie selber. Er saß manchmal eine Viertelstunde lang vor Cosette und bewunderte sie.
»Was für ein reizend hübsches Mädchen!« rief er oft. »Und dabei sieht sie so sanft und gut aus! Magst sagen, was Du willst, mein Herz, aber sie ist das liebenswürdigste, weibliche Wesen, dem ich in meinem Leben begegnet bin. Später wird die mal wer weiß wie viele, ebenso tüchtige wie angenehme Eigenschaften entfalten. Eine wahre Grazie. An der Seite eines solchen anbetungswürdigen Geschöpfes muß ein Mann sich einer noblen Lebensführung befleißigen. Marius, mein lieber Junge, Du bist Baron, Du bist reich; also thue mir den einzigen Gefallen und lasse die Rabulisterei.«
Cosette und Marius waren aus den tiefsten Tiefen des Unglücks auf den Gipfel des Glücks emporgestiegen. Der Uebergang war ein fast unvermittelter, plötzlicher gewesen, so daß er sie betäubt hätte, wenn sie von der Sonne des Glücks nicht vielmehr geblendet gewesen wären.
»Verstehst Du, wie das gekommen ist?« fragte Marius Cosette.
»Nein,« antwortete sie, »aber mir will scheinen, als sehe der liebe Gott auf uns herab.«
Jean Valjean setzte alles in Bewegung, um die Hindernisse wegzuräumen, die Schwierigkeiten zu ebnen, die sich dem Glück seiner Cosette hätten in den Weg stellen können. Und dieses Geschäft betrieb er mit ebenso viel Eifer und anscheinend auch ebenso freudig, wie sie selbst.
Da er Bürgermeister gewesen war, so wußte er, wie er es anzufangen hatte, um ein heikles Problem zu lösen, dessen Existenz er allein kannte, nämlich die Herstellung eines Civilstandes für Cosette. Die Wahrheit über Cosettens Herkunft sagen, ging nicht an, es hätte vielleicht die Heirat unmöglich gemacht. Diese Schwierigkeit räumte er nun aus dem Wege. Er erfand eine ausgestorbene Familie, ein sichres Mittel, allen Einsprüchen und Reklamationen zuvorzukommen. Danach hatte Cosette keine Eltern und Geschwister mehr; sie war nicht seine Tochter, sondern die eines andern Fauchelevent. Zwei Brüder Fauchelevent waren im Kloster Petit-Picpus Gärtner gewesen. Hierhin wandte man sich, um Erkundigungen einzuziehen und erhielt durchaus günstigen und anscheinend auch zuverlässigen Bescheid. Die guten Nonnen, die sich auf Vaterschaftsfragen nicht verstanden und keine Neigung hatten, sich auf derartige Nachforschungen einzulassen, hatten eigentlich nie recht gewußt, welcher von den beiden Fauchelevent Cosettes Vater war. Sie sagten, was den Fragern genehm war, und zwar mit größter Bereitwilligkeit.
Darauf hin wurde eine Notorietätsverhandlung aufgenommen, um die fehlenden Urkunden zu ersetzen, und so wurde Cosette vor dem Gesetz »Fräulein Euphrasia Fauchelevent,« eine Waise von Seiten des Vaters und der Mutter. Außerdem traf Jean Valjean seine Maßregeln so, daß er unter dem Namen Fauchelevent zu Cosettens Vormund und Gillenormand zu ihrem Mitvormund ernannt wurde.
Was die fünfhundert vierundachtzig tausend Franken betrifft, so wurden sie für ein Legat eines Verstorbnen, der unbekannt zu bleiben wünschte, ausgegeben. Ursprünglich seien es fünfhundert vierundneunzig tausend Franken gewesen aber zehntausend wären für Fräulein Euphrasia verbraucht, worunter fünftausend für den Aufenthalt im Kloster. Dieses, einer Vertrauensperson übergebene Vermächtniß sollte ihr bei ihrer Mündigkeitserklärung oder an ihrem Hochzeitstage ausgehändigt werden. Die ganze Geschichte hörte sich sehr plausibel an, zumal, da sie durch die erkleckliche Mitgift eine nicht leicht zu bezweifelnde Bestätigung erhielt. Es fehlte zwar andrerseits auch nicht an Absonderlichkeiten, aber diese wurden nicht beachtet. Denn von den interessirten Personen konnte Einer nichts sehen, da ihm Amor eine Binde um die Augen gelegt hatte, und die Andern sahen nur die sechshundert tausend Franken.
Auf diese Weise erfuhr endlich Cosette, daß sie nicht die Tochter des alten Herrn war, den sie so lange Zeit Vater genannt hatte. Er war nur ein Verwandter von ihr, ein andrer Fauchelevent war ihr wirklicher Vater. Zu jeder andern Zeit hätte sie über diese Nachricht die tiefste Betrübnis empfunden. Damals aber, wo sie in einem Meer von Wonne schwamm, trübte der Schatten ihr Glück nur vorübergehend und in geringem Grade. Jetzt hatte sie ihren Marius. Nun der junge Mann in den Vordergrund trat, mußte der Alte zurücktreten. Das ist nun einmal der Lauf der Welt.
Außerdem war Cosette seit langen Jahren daran gewöhnt, allerhand Räthsel um sich zu sehen und jeder Mensch, der eine an Geheimnissen reiche Kindheit gehabt hat, verzichtet leicht auf die Vergangenheit und findet sich schnell in jede Verändrung.
Indessen fuhr sie doch fort, zu Jean Valjean »Vater« zu sagen.
Andrerseits war Cosette hoch entzückt über Gillenormands Güte und Liebenswürdigkeit, was kein Wunder war, denn der alte Herr überhäufte sie mit Komplimenten und Geschenken. Während Jean Valjean ihr eine normale, gesellschaftliche Stellung schuf und ihr ein unangreifbares Besitzthum verschaffte, beschäftigte Gillenormand sich mit der Ausstattung und den Brautgeschenken. Machte ihm doch nichts so viel Vergnügen, als splendide sein zu können. So schenkte er Cosette eine Robe aus Guipurespitzen, die noch von seiner Großmutter stammte. »Die Mode,« sagte er, »kommt jetzt wieder auf. Der alte Kram macht noch Furore; und die jungen Frauen meines Greisenalters kleiden sich wie die alten Frauen meiner Jugend.«
Er plünderte seine altehrwürdigen, feinlackirten, bauchigen Kommoden, die seit Jahren nicht aufgemacht worden waren. »Wollen doch nachsehen,« sagte er, »was die alten Dinger im Leibe haben.« Sie gaben auch eine reiche Ausbeute, denn sie enthielten eine Unzahl kostbarer Schmucksachen, Roben, Stoffe u. s. w., die seine Frauen, seine Maitressen, seine Großmütter und Urgroßmütter hinterlassen hatten. Pekingseide, Damaste, Lampas, bemalte Moirés, Kleider aus einem mit Flammenartigen Mustern durchwebten Gros Grain Tours'scher Fabrikation, indische, mit waschbarem Gold gestickte Taschentücher, auf beiden Seiten gleich gewebte Dauphine, genuesische und Alençonspitzen, alte Gold- und Silbersachen, mit mikroskopischen Darstellungen von Schlachten verzierte Elfenbeinbonbonnnièren, Nippsachen, Bänder, – alles, alles schenkte er seiner zukünftigen Schwiegertochter. Im Besitze dieser Herrlichkeiten, für die sie Gillenormand überschwenglich dankbar war, konnte Cosette ein grenzenloses, samtnes und seidnes Glück träumen. Ihr war, als brächten ihr Seraphim ihren Hochzeitskorb und als wären die Flügel, die ihre Seele in die blauen Regionen des Himmels emportrugen, von echten belgischen Spitzen.
Dem Glücksrausch des Liebespaares glich, wie wir schon angaben, nur das Entzücken des Großvaters. Jeden Morgen brachte er Cosette irgend ein neues Geschenk. Er konnte nicht müde werden nachzudenken, was für Juwelen und Roben er noch schenken sollte.
Eines Tages sagte Marius, der neben seinen Liebesträumereien auch ernsteren Gedanken Raum gab, anläßlich irgend eines Vorfalls:
»Die Lenker der französischen Revolution waren ausnahmsweise große Männer. Ihr Andenken hat nicht, wie die Helden des Alterthums, wie Cato und Phocion, der Weihe der Zeit bedurft, um populär zu werden. Trotzdem glaube ich, daß die Bewundrung für sie noch einer Steigerung fähig ist: Dazu müßten wir aber zu den Geschichtsquellen emporsteigen können, aus denen wir die Triebfedern ihrer Handlungen und ihre Ideale noch besser kennen lernen würden, Quellen, die uns leider noch nicht zugänglich sind, nämlich ihre Memoiren.«
»Memoiren – moiren – Moiré! Jetzt hab' ich's!« rief der Alte. »Ich denke mir, daß Du mich auf das Richtige gebracht hast. Darauf besann ich mich gerade.«
Und am nächsten Tage war Cosettens Ausstattung um eine theefarbene Robe aus antiken Moiré vermehrt.
Denn der Großvater huldigte in Bezug auf den Putz einer sehr praktischen Philosophie.
»Die Liebe,»lehrte er, »ist schön und gut, aber das gehört dazu. Um glücklich zu sein bedarf der Mensch des Unnützlichen. Das Glück ist weiter nichts als das Nothwendige. Das Notwendige ist aber nicht genug, es muß mit dem Ueberflüssigen gewürzt werden. Ein Palast und ihr Herz. Sein Herz und recht viel Nadelgeld. Nichts geht über ein Schäferinnenkostüm, wenn ein reiches und vornehmes Mädchen drin steckt. Möge Philis sich mit Kornblumen bekränzen, aber der Herr Papa darf nicht vergessen sie mit einer üppigen Mitgift zu schmücken. Soll eine Idylle nach meinem Geschmack sein, so muß sie sich in einer Marmorhalle abspielen. Das Glück ohne Zugabe gleicht trocknem Brod. Man ißt, aber der Magen bleibt unbefriedigt. Ich verlange Ueberflüssiges, Unnützes, Pompöses, das über das Bedürfniß hinausgeht. Als ich in Straßburg war, sah ich in dem dortigen Münster eine Uhr, die so hoch war, wie ein dreistöckiges Haus. Sie gab die Tageszeit an, hatte die Güte die Tageszeit anzugeben, sah aber ganz und gar nicht danach aus, als sei sie dazu bestimmt. Denn außer, daß sie zwölf Uhr Mittags oder Nachts, die Schlafenszeit, Essenszeit, die Geisterstunde, die Liebesstunden und alle möglichen Stunden schlug, zeigte sie noch das Land und das Meer, den Mond und die Sterne, Vögel und Fische, Phöbus und Phöbe und eine Unmenge Geschichten, die aus einer Nische hervorkamen, die zwölf Apostel und Kaiser Karl V. und Eponine und Sabinus und eine Schaar von kleinen, vergoldeten Männekens, die obendrein auf der Trompete bliesen. Des reizenden Glockengeläuts zu geschweigen, das sie bei jeder Gelegenheit durch die Luft erklingen ließ. Ist eine Uhr, die nichts als ein erbärmliches Zifferblatt hat, eben so viel wert? Auf keinen Fall. Ich halte es mit der Uhr des Straßburger Münsters und ziehe sie den Schwarzwälder Kuckucksuhren vor.«
Ueber das Hochzeitsfest speziell ließ sich Gillenormand mit Vorliebe in demselben Sinne aus, indem er seine Philosophie mit überschwänglichen Dithyramben auf das achtzehnte Jahrhundert verbrämte.
»Ihr versteht Euch heutzutage nicht auf die Kunst, Feste zu veranstalten, Freudentage zu feiern. Euer neunzehntes Jahrhundert hat kein Leben, kein Feuer, keinen Schwung. Es kann nicht mit Anstand über die Stränge schlagen. Es hat keinen Sinn für das Reiche, das Noble. Ueberall gleichgeschorne Mittelmäßigkeit. Euer Bürgerthum hat keinen Saft und keine Kraft, kein Verständniß; für das Schöne, Heitere, Elegante. Wenn sich Eure Bürgersfrauen eine Wohnungseinrichtung anschaffen, wie sie's nennen, sind Palisander und Kattun das Höchste, wozu sie sich emporschwingen. Platz! Macht Platz! In dem Hochzeitswagen da sitzt der reiche Herr Wucher mit seiner Braut Fräulein Knauserig. Hat solch eine Hochzeit nicht Schick? Ja ja, solche Leute verstehen's. Denken Sie sich, Louisd'ore haben sie an die Kerzen geklebt! Seht, das kennzeichnet so recht Eure Zeit. Man möchte davon laufen, zu den Kosacken und Baschkiren. Aber ich habe das Alles schon 1787 vorausgesehen, als ich den Herzog von Rohan, Fürsten von Léon, Herzog von Chabot, Herzog von Montbazon, Marquis von Soubise, Vicomte von Thouars, Pair von Frankreich in einem Miethwagen nach Longchamp fahren sah. Das hat seine Früchte getragen. In diesem Jahrhundert sind Diejenigen obenan, die Geschäfte machen, an der Börse spekuliren, Geld verdienen und knickern. Man pflegt und lackirt sein Aeußeres; ist immer fein geputzt, gewaschen, geseift, gekämmt, rasirt, gewichst, gebürstet, äußerlich gereinigt, tadellos, glatt wie ein Kiesel, sauber und hat dabei – Gott erbarme sich – im Innersten seines Gewissens Misthaufen und Kloaken, wovor ein Schmutznickel von Kuhmagd zurückschrecken würde. Ich gebe dieser Zeit den Wahlspruch: Unsaubere Sauberkeit. Marius, erboße Dich nicht; laß mich reden. Ich sage ja nichts Böses von Deinem lieben Volke; mein Mund ist des Lobes voll von Deinem guten Volke; dafür mußt Du mir erlauben, daß ich dem Bürgerthum ordentlich die Wahrheit geige. Gehöre ich doch selber dazu. Wer sein Kind lieb hat, der haut es tüchtig. Demgemäß behaupte ich also ohne Umschweife: Ihr heiratet wohl, aber Hochzeiten zu feiern ist eure Sache nicht. Ja wahrhaftig, mir thut es leid, daß die feinen, gefälligen Manieren und Sitten der guten, alten Zeit abgekommen sind. Ich sehne mich nach Allem zurück, nach ihrer Eleganz, ihrer Ritterlichkeit, ihrem höflichen und zierlichem Wesen, ihrem heiteren Luxus, den Jeder trieb, der Hochzeitsmusik – für die feinen Leute Symphoniekonzerte, für das gemeine Volk Tamburinschläger – den alten Tänzen, der Heiterkeit, die bei Tische herrschte, den fein gedrechselten Komplimenten, den alten Liedern, den Feuerwerken, dem ungezwungnen Lachen, der tollen Lustigkeit, den großen Bandschleifen. Und Schade auch um die Gebräuche, die sich an das Strumpfband der Braut knüpften. Das Strumpfband der Braut ist mit dem Gürtel der Venus verwandt. Worum dreht sich der trojanische Krieg? Ganz einfach um Helenas Strumpfband. Warum schlugen sich die Heroen, warum zerschmetterte der göttliche Diomedes den großen, ehernen Helm mit den zehn Spitzen auf dem Haupt des Merioneus, warum zerpiekten sich Achill und Hektor mit langen Lanzen? Weil Helena sich von Paris ihr Strumpfband hat nehmen lassen. Ueber Cosettens Strumpfband würde Homer noch eine Iliade machen können. Er würde in seinem Epos einen alten Schwabbelfritzen wie mich auftreten lassen und ihn Nestor nennen. Liebe Freunde, in der alten Zeit, in der liebenswürdigen, alten Zeit arrangirte man eine Hochzeit mit Verstand. Erst ein gut redigirter Heiratskontrakt, dann eine gemüthliche und großartige Schmauserei. Potz Wetter! Der Magen ist ja ein angenehmes Thier, das sein Recht verlangt und an dem Vergnügen auch Theil nehmen will. Man speiste gut und hatte eine hübsche Tischnachbarin, die ihren Busen nicht allzu ängstlich versteckte. O wie weit machte man den Mund auf zum Lachen und wie lustig war man dazumal; Die Jugend bedeckte sich mit Blumen; jeder junge Mann schmückte sich mit einem Fliederzweig, oder einem Rosenbüschel; war Einer auch Militär, er putzte sich wie ein Schäfer heraus und wer etwa Dragonerhauptmann war, der brachte es doch fertig, sich Florian zu nennen. Man legte es darauf an, niedlich auszusehen, trug Stickereien und bunte Kleidung. Die Tracht des Mittelalters wies eine Farbenpracht wie eine Blume auf; ein Marquis erinnerte an ein Juwelenkästchen. Sprungriemen und Stiefel waren unbekannt. Aber man sah fein, schmuck, adrett, prächtig wie ein Goldkäfer, zierlich, kokett aus, was nicht hinderte, daß man einen Degen an der Seite trug. Wie der Kolibri, der nicht bloß bunte Flügel, sondern auch einen spitzen Schnabel und scharfe Krallen hat. Es war die Zeit des galanten Indiens. Eine der charakteristischen Eigenschaften des vorigen Jahrhunderts bestand in der Vorliebe für das Zarte und Feine, eine Andre in der Prachtliebe. Und potztausend! man amüsirte sich. Heutzutage ist man ernst. Die Männer sind filzig, die Frauen prüde. Ein wahres Unglück, in solch einem Jahrhundert zu leben! Ihr wärt im Stande, die Grazien wegzujagen, weil sie keine Kleider anhaben. Ach, man versteckt die Schönheit, als wäre sie etwas Häßliches. Seit der Revolution trägt alle Welt Hosen, sogar die Tänzerinnen; eine Possenreißerin muß sich ernst geberden; Eure Tänze sind langweilig wie politische Abhandlungen. Ihr könnt es Euch garnicht anders vorstellen, als daß ein Mann das Kinn hinter sein Halstuch vergraben muß und blutjunge Kerle, die auf die Freite gehn, kennen kein andres Ideal als dem Philosophen Royer-Collard zu ähneln. Und wißt Ihr, was man mit dieser majestätischen Haltung erreicht? Daß man unbedeutend aussieht. Laßt Euch sagen, daß Lebensfreude nicht blos fröhlich ist, sondern auch groß. So liebt doch zum Teufel auf fidele Weise. Feiert Eure Hochzeiten mit der Ausgelassenheit, der Lebhaftigkeit, dem Lärm und dem Tohuwabohu des Glückes! Eine würdevolle Haltung in der Kirche, nun ja! Aber sobald die Feierlichkeit vorbei ist, Potz Mohren Element! soll man um die Braut einen möglichst bunten Jubel herumwirbeln lassen. Bei einer Hochzeit soll eine königliche und chimärische Pracht entfaltet werden, die sich zwischen dem Dom zu Reims und der Pagode zu Chanteloup bewegen muß. Heiliger Muck! Mir sind die Hochzeiten zuwider, wo es plunderig hergeht. An dem Tage sollt Ihr Euch auf den Olymp emporschwingen und Götter sein. Aber statt der Pracht und Eleganz der Sylphen, Liebesgötter, Elfen und Argyraspiden nachzueifern, seid Ihr lieber plump und lumpig. Liebe Freunde, ein Bräutigam soll wie der Fürst Aldobrandini auftreten. Macht Euch diese Gelegenheit, die nie wiederkehrt, zu Nutze, um mit den Adlern und Schwänen in den lichten Aether emporzusteigen, wenn Ihr auch am nächsten Tage in den Sumpf des Philisterthums herabfallt. Haltet Hymen nicht knapp; beschneidet ihm nicht seine bunten Flügel; geizt nicht mit Hellern an dem Tage, wo Ihr in der höchsten Wonne schwimmen sollt. O wenn ich eine Hochzeit nach meinen Ideen arrangiren könnte, die würde fein ausfallen. Ich würde Musiker engagiren, die müßten sich in den Kronen der Bäume verstecken und die Geige spielen. Mein Programm wäre: Himmelblau und Silber. Ich würde zu dem Fest die Götter der Gefilde, die Dryaden und Nereiden berufen. Die Hochzeit der Amphitrite würde dargestellt werden: Eine rosa Wolke, eine Schaar fein frisirter und nackter Nymphen; ein Akademiker würde eine Rede in Versen an die Göttin halten, die auf einem von Seeungeheuern gezognen Wagen fahren würde. Das wäre ein Festprogramm, oder ich weiß nicht, was eins ist! Bomben und Granaten!«
Während der Großvater sich in solchen lyrischen Ergüssen erging und sich selbstgefällig mit seinen eignen Worten berauschte, benutzten Marius und Cosette die Gelegenheit, um ungestört und nach Herzenslust mit einander zu liebäugeln.
Tante Gillenormand sah dem ganzen Treiben mit ihrer gewohnten, unerschütterlichen Gemüthsruhe zu. Allerdings hatte sie in den letzten fünf bis sechs Monaten eine Menge aufregender Vorfälle erlebt: Marius Versuch den Großvater umzustimmen, Marius' Rückkehr aus einem Barrikadenkampfe, Marius' gefährliche Krankheit, Marius' Versöhnung mit dem Großvater, Marius' Verlobung mit einem armen, Marius Verlobung mit einem reichen Mädchen. Die Ueberreichung der sechshundert tausend Franken war die letzte und großartigste Ueberraschung gewesen. Hierauf aber war ihre unschuldsvolle Gleichgültigkeit, die sie seit ihrer Firmelung durchs Leben geleitet, wiedergekehrt. Sie ging regelmäßig zur Messe, ließ ihren Rosenkranz durch ihre Finger gleiten, las ihre Kirchenagende, flüsterte in einem Winkel des Hauses Avemarias, während in einem andern I love you geflüstert wurde und sah in Marius und Cosette so zu sagen nur zwei Schatten, während sie doch selber der Schatten war.
Es giebt einen gewissen Zustand von trägem Ascetismus wo die Seele, durch die allmähliche Erstarrung neutralisirt und dem Getriebe des Lebens fremd, abgesehen von Erdbeben und andern großen Katastrophen, keine menschlichen Eindrücke aufnimmt, weder angenehme noch schmerzliche. – »Deine Art Frömmigkeit,« pflegte Gillenormand zu seiner Tochter zu sagen, »gleicht dem Schnupfen. Du riechst nichts vom Leben, keine üblen Gerüche, aber auch keine guten.«
Im Uebrigen hatten Cosettens fünfhundert vierundachtzig tausend Franken der Unentschlossenheit des alten Fräuleins ein Ende gemacht. Vermöge seiner alten Gewohnheit, sie nicht mitzuzählen, hatte ihr Vater sie auch nicht um ihre Meinung betreffs Marius Vermählung befragt, sondern war wie immer einer Gefühlswallung gefolgt, nur von dem Wunsche beseelt, seinen Gesinnungswechsel zu bekunden und als gehorsamer Großvater seinen Enkel zufrieden zu stellen. Daß auch die Tante existirte und daß sie eine Meinung haben könnte, diesen Gedanken ließ er sich keinen Augenblick beikommen und das hatte sie trotz ihrer sonstigen Schafsgeduld übel genommen. In ihrem Innern ein wenig empört, wenn auch äußerlich ruhig, dachte sie: »Mein Vater entscheidet die Heiratsfrage ohne mich; also werde ich die Erbschaftsfrage, ohne ihn zu fragen, beantworten.«
Sie war nämlich reich und Gillenormand nicht. Demgemäß hatte sie sich den Entscheid über ihr Vermögen vorbehalten und würde höchstwahrscheinlich, wenn Marius eine schlechte Partie gemacht hätte, ihn seinem Schicksal überlassen haben. »Geschieht meinem Herrn Neffen ganz recht. Heiratet er eine Arme, so mag er arm bleiben.« Aber Cosettens halbe Million änderte die Gesinnung, die sie gegen das Liebespaar hegte. Wer so viel Geld hat, dem schuldet man Rücksichten und augenscheinlich konnte sie nicht anders, sie mußte ihr Geld den jungen Eheleuten hinterlassen, da sie es nicht brauchten.
Es wurde beschlossen, daß Marius und Cosette nach ihrer Hochzeit im Hause des Großvaters Wohnung nehmen sollten. Gillenormand trat ihnen sogar sein Schlafzimmer, das schönste im ganzen Hause, ab. – »Das wird mich jünger machen,« erklärte er. »Dies Arrangement macht einen alten Plan von mir zur Wirklichkeit. Ich hatte längst beschlossen, daß es in meinem Schlafzimmer lustig hergehen solle.« Dementsprechend stattete er das Zimmer mit einer Unmenge niedlicher alter Sächelchen aus und ließ die Decke und Wände mit einem ausnehmend kostbaren Stoff bespannen, von dem er ein Stück besaß und der, wie er glaubte, aus Utrecht stammte. Von seinem seidnen, butterblumengelben Fonds hoben sich sammtne Aurikeln ab.
»Mit diesem Stoff,« erzählte er, »war das Bett der Herzogin von Anville in La Roche-Guyon drapirt.« – Auf das Kamingesims stellte er eine Figur aus sächsischem Porzellan, die auf ihrem entblößten Leibe einen Muff trug.
Gillenormands Bibliothekzimmer wurde das Advokatenzimmer, das Marius brauchte, da diese Bedingung, wie erinnerlich, von dem Kollegium der Advokaten vorgeschrieben war.
Die Liebenden sahen sich tagtäglich, indem Cosette mit Fauchelevent zu Marius kam. – »Das ist ja eine Umkehrung alles Dagewesenen«, meinte Fräulein Gillenormand, »daß die Braut dem Bräutigam ins Haus kommt, um sich von ihm den Hof machen zu lassen.« – Aber wegen Marius Genesung hatte man sich daran gewöhnt und die Lehnstühle in dem Hause der Rue des Filles-du-Calvaire, die bequemer waren und für trauliche Unterhaltungen besser paßten, als die Strohstühle in der Rue de l'Homme-Armé, hatten dafür gesorgt, daß die Gewohnheit sich einwurzelte. Marius und Fauchelevent kamen zusammen, sprachen aber nicht mit einander und benahmen sich dabei so, als thäten sie dies auf Verabredung. Jedes junge Mädchen braucht Begleitung, um den Anstand zu wahren und Cosette hätte ohne Fauchelevent nicht kommen können. Für Marius bildete also Fauchelevents Besuch eine Bedingung, von der seine Zusammenkünfte mit Cosette abhängig gemacht waren und die er sich folglich gefallen ließ. Indem sie dann eventuell socialpolitische Probleme, die eine Hebung des allgemeinen Wohlstandes bezweckten, oben hin mit Vorsicht streiften, brachten sie Gespräche zu Stande bei denen etwas mehr als Ja und Nein gesagt wurde. Einmal sogar, als sie auf den Schulunterricht zu sprechen kamen, der nach Marius unentgeltlich und obligatorisch, unter allen möglichen Gestalten verbreitet und Jedermann zugänglich sein sollte, wie der Sonnenschein und die Luft, kurz dem ganzen Volk gespendet werden sollte, stimmten sie in ihren Ansichten überein und plauderten in beinahe gemüthlicher Weise. Bei dieser Gelegenheit fiel es Marius auf, daß Fauchelevent sich gut und ziemlich gewählt ausdrückte. Allerdings ging ihm ein gewisses Etwas ab. Fauchelevent stand in manchen Punkten einem Weltmann nach und war in andrer Hinsicht einem solchen überlegen.
Ueber diesen Mann, der sich gegen ihn nur wohlwollend und kühl benahm, stellte sich Marius, ohne sich etwas davon merken zu lassen und in dem verborgensten Winkel seines Innern, eine Menge stummer Fragen. Zeitweise wandelten ihn Zweifel über seine eignen Erinnrungen an. Es bestand in seinem Gedächtniß eine Lücke, ein dunkles Loch, eine Kluft, in Folge der viermonatlichen Krankheit, während der er mit dem Tode gekämpft hatte. Dadurch war ihm vieles abhanden gekommen und dies ging so weit, daß er sich oft fragte, ob er auch wirklich Herrn Fauchelevent, einen so ernsthaften und stillen Mann, unter den Barrikadenkämpfern gesehen habe.
Außer dieser merkwürdigen Frage nach dem Antheil, den Fauchelevent an der Insurrektion genommen, hatten aber die Gestalten und Erscheinungen der Vergangenheit noch andre Eindrücke in Marius Geist hinterlassen. Man glaube ja nicht, daß er von jener Zudringlichkeit des Gedächtnisses befreit geblieben wäre, die uns auch im Glücke, selbst wenn wir vollständig zufrieden sind, schwermüthig rückwärts zu blicken zwingt. Der Kopf, der sich nicht nach entschwundnen Horizonten umwendet, enthält keine Liebe und keine Gedanken. Es gab Augenblicke, wo Marius das Gesicht in seine Hände drückte und die wirren Bilder der wild bewegten Vergangenheit durch die Dämmerung seines Hirns ziehen ließ. Dann sah er wieder Mabeuf von der Barrikade herabstürzen, hörte Gavroche im Kugelregen singen, fühlte an seinen Lippen Eponinen's kalte Stirn, sah Enjolras, Courfeyrac, Jean Prouvaire, Combeferre, Laigle, Grantaire, alle seine Freunde vor den Augen seines Geistes einhergehen und verschwinden. Waren alle diese unglücklichen, heldenmüthigen, liebenswürdigen und tragischen Gestalten, die seinem Herzen einst nahe gestanden, Vorspiegelungen eines Traumes oder hatten sie wirklich gelebt? Ob die Aufregung des Kampfes ihn im Pulverdampfe Dinge hatte sehen lassen, die nicht waren? So fragte er sich fortwährend, befühlte sich und ihm schwindelte, wenn diese entschwundnen Wirklichkeiten sich seinem Geiste aufdrängten. Wo waren sie denn Alle? Waren sie wirklich Alle gestorben? Ein Sturz in die Finsterniß hatte Alles dahingerafft, ihn allein ausgenommen. Ihm war, als sei dies Alles gleichsam hinter einem herabgelassenen Theatervorhang verschwunden. Es giebt ja im Leben Vorhänge, die so herunterfallen. Gott geht dann zum folgenden Akt über.
Und war er selbst denn noch derselbe? Ehedem arm, war er jetzt reich; einst verlassen und einsam, hatte er jetzt eine Familie; nach der schrecklichsten Verzweiflung gelangte er jetzt zu dem höchsten Glück, seine Cosette zu heiraten. Ihm war zu Muthe, als sei er durch eine Gruft gewandert, in die er schwarz hineingegangen und aus der er weiß herausgekommen sei. Und in dieser Gruft waren die Andern zurückgeblieben. In manchen Augenblicken tauchten diese Menschen der Vergangenheit in der Gegenwart wieder auf, umringten ihn und stimmten ihn traurig; alsdann pflegte er an Cosette zu denken, um sich aufzuheitern; es bedurfte aber auch keiner geringern Glückseligkeit, um die Erinnrung an die Katastrophe zu verwischen.
Auch Herrn Fauchelevent war Marius nahe daran, einen Platz unter den Entschwundnen anzuweisen. Aber er trug noch Bedenken, zu glauben, daß der Fauchelevent der Barrikade identisch sei mit dem leibhaftigen, lebendigen Fauchelevent, den er jetzt so oft neben Cosette sitzen sah. Der erstere erschien ihm als eine Gestalt, der nur sein schreckliches Wundfieberdelirium das Dasein verliehen hatte. Uebrigens war, da sich beide Männer gleich zurückhaltend verhielten, nicht daran zu denken, daß Marius an Fauchelevent über diesen Punkt eine Frage richten würde. Darauf konnte er nicht einmal in Gedanken verfallen, eine charakteristische Eigenthümlichkeit von Marius, auf die wir schon aufmerksam gemacht haben.
Daß aber zwei Menschen ein gemeinsames Geheimniß haben und vermöge einer Art stillschweigender Uebereinkunft kein Wort über den betreffenden Gegenstand austauschen, ist nicht so selten, wie man gewöhnlich glaubt.
Ein einziges Mal machte Marius den Versuch dieses Terrain zu rekognosciren. Er erwähnte im Lauf eines Gespräches die Rue de la Chanvrerie und sagte, indem er Fauchelevent fixirte:
»Sie kennen doch diese Straße?«
»Welche?«
»Die Rue de la Chanvrerie?«
»Keine Ahnung von einem solchen Straßennamen!« erwiederte Fauchelevent auf die allerunbefangenste Weise.
Da die Antwort sich auf den Namen der Straße, nicht auf sie selbst bezog, so maß ihr Marius eine entscheidende Bedeutung bei, die sie nicht hatte.
»Ich sehe schon,« dachte er, »ich habe das geträumt. Eine Hallucination. Es war Jemand, der ihm ähnelt. Herr Fauchelevent ist nicht dabei gewesen.«
So groß Marius Liebesglück auch war, so verdrängte es doch nicht gewisse andre Gedanken aus seinem Geiste.
Während die Vorbereitungen zur Hochzeit getroffen wurden, ließ er schwierige und sorgfältige Nachforschungen anstellen.
Er war nach mehreren Seiten hin Dank schuldig, für seinen Vater und für sich selber.
Einerseits Thénardier, andrerseits dem Unbekannten, der ihn zu Gillenormand zurückgebracht hatte.
Marius lag daran, diese Beiden wiederzufinden; er wollte sich nicht verheiraten, glücklich sein und sie vergessen und fürchtete, wenn er die Schuld der Dankbarkeit nicht abtrage, so würde auf sein Leben, das so glänzend aussah, ein trüber Schatten fallen. Es war ihm unmöglich, diesen Rückstand unerledigt zu lassen und er wollte, ehe er fröhlich in die Zukunft hinüberging, erst von der Vergangenheit eine Quittung haben.
Daß Thénardier ein Schuft war, that dem Umstande, daß er den Obersten Pontmercy gerettet hatte, keinen Abbruch. Thénardier war für Jedermann ein Bandit; nur nicht für Marius.
Und da Marius den wahren Sachverhalt, wie er sich auf dem Schlachtfeld von Waterloo zugetragen, nicht kannte, so wußte er nicht, daß sein Vater sich Thénardier gegenüber in einer absonderlichen Lage befand, daß er ihm nämlich das Leben verdankte, ohne ihm dafür Dank schuldig zu sein.
Keinem der verschiednen Agenten, die Marius engagirte, glücke es, Thénardiers Fährte zu entdecken. Es sah aus, als sei nach dieser Seite hin kein Erfolg zu hoffen. Frau Thénardier war während der Einleitung des Processes gestorben. Es blieben also von der unglücklichen Familie nur noch Thénardier und seine Tochter Azelma übrig, und diese waren verschollen, in unbekannte Regionen versunken und an der Oberfläche sah man nicht einmal eine leise Bewegung, eine Erschüttrung, einen von jenen konzentrischen Kreisen, der die Stelle bezeichnet, wo etwas hineingefallen ist und wo man die Sonde auswerfen kann.
Da Frau Thénardier gestorben, Boulatruelle von der Instanz entbunden, Claquesous verschwunden, die Hauptangeklagten aus dem Gefängniß entsprungen waren, so verlief der Proceß, der wegen der im Gorbeauschen Hause stattgehabten Vorgänge angestellt wurde, resultatlos und das Dunkel, das über der Sache schwebte, wurde nicht genügend gelichtet. Die Anklagebank mußte sich mit zwei Nebenpersonen begnügen, Panchaud, mit dem Beinamen Printanier oder Bigrenaille, und Dami-Liard mit dem Beinamen Deux-Milliards, die zu zehnjähriger Galeerenstrafe verurtheilt wurden. Gegen ihre entsprungenen und nicht vor Gericht erschienenen Mitschuldigen lautete das Urtheil auf lebenslängliche Zwangsarbeit. Thénardier als der Anstifter und Anführer wurde gleichfalls in contumaciam zum Tode verurtheilt. Dieses Urtheil war das Einzige, was über Thénardier schweben blieb, indem es auf seinen verschollenen Namen, so unheimlich wie ein Licht neben einer Totenbahre, seinen Schein warf.
Indem sich nun Thénardier, aus Furcht ergriffen zu werden, noch mehr in seine Verborgenheit zurückzog, verdichtete diese Verurtheilung noch das Dunkel, das diesen Menschen bedeckte.
Was den Andern betrifft, den Unbekannten, der Marius gerettet hatte, so förderten die Nachforschungen anfangs einige Resultate zu Tage, gediehen aber dann nicht weiter. Es gelang die Droschke zu finden, die am Abend des 6. Juni Marius nach der Rue des Filles-du-Calvaire gebracht hatte. Der Kutscher erklärte, er habe am 6. Juni auf Befehl eines Polizeibeamten von drei Uhr Nachmittags bis zur Nacht auf dem Quai des Champs-Elysées, über dem Ausgang der Großen Kloake, mit seinem Fuhrwerk gewartet; gegen neun Uhr Abends sei die Gitterthür der Kloake, die auf das Flußufer hinausgeht, geöffnet worden; ein Mann wäre herausgekommen, der habe auf dem Rücken einen Andern, der tot zu sein schien, getragen; der Polizist, der an dieser Stelle auf der Lauer stand, habe den Herausgekommenen arretirt; dann habe er alle Drei in seine Droschke aufgenommen; sie seien zunächst nach der Rue des Filles-du-Calvaire gefahren, wo man den Toten zurückgelassen hätte; der Tote sei Herr Marius und er, der Kutscher erkannte ihn sehr gut, obgleich er »jetzt lebendig« sei; dann seien die beiden andern Fahrgäste wieder in die Droschke gestiegen, er habe seine Pferde wieder in Trab gesetzt und wenige Schritte von dem Archivgebäude hatte man ihn halten lassen, habe bezahlt und sei fortgegangen, indem der Polizist den Andern wegführte; weiter wisse er nichts; es sei in jener Nacht sehr finster gewesen.
Marius, wie wir schon erwähnt haben, erinnerte sich an gar nichts. Er wußte bloß noch, daß er kräftig von hinten gepackt wurde, als er hinter der Barrikade zu Boden sank; alles Uebrige war ihm nicht zum Bewußtsein gekommen. Erst in Gillenormand's Haus wurde er seiner Sinne wieder mächtig.
Demzufolge blieben ihm nichts als Vermuthungen übrig.
Er konnte nicht an seiner eignen Identität zweifeln. Wie kam es denn aber, daß er in der Rue de la Chanvrerie umgefallen und von dem Polizisten an dem Ufer der Seine, unweit der Invalidenbrücke aufgefunden worden war? Es hatte ihn also Jemand von dem Markthallenviertel bis nach den Champs-Elysées getragen. Und auf was für einem Wege! Durch die Kloaken! Welch eine hochherzige That!
Jemand? Ja wer?
Diesen Mann suchte also Marius.
Von diesem, seinem Retter war keine Spur, nicht das leiseste Anzeichen, das ihn kenntlich gemacht hätte, zu entdecken.
Um ihn aufzufinden, ließ Marius sogar alle Vorsicht außer Augen und wandte sich an die Polizeipräfektur. Aber die von dieser Seite angestellten Erhebungen führten ebenfalls zu keiner Aufklärung der Sache. Die Polizeipräfektur wußte von der Sache noch weniger, als der Droschenkutscher. Man hatte daselbst keine Kenntniß von irgend einer, am 6. Juni, am Ausgange der großen Kloake vorgenommenen Verhaftung, hatte von keinem Beamten einen Bericht über diesen Vorfall erhalten, der nach Ansicht der Herren als eine Fabel, eine Erfindung des Kutschers zu betrachten sei. Ein Kutscher, der Appetit auf ein Trinkgeld habe, sei zu allem fähig, sogar Phantasie zu bekunden. Die Sache war aber doch wahr und über allen Zweifel erhaben, wenn Marius nicht gerade an seiner eignen Identität, wie wir schon sagten, zweifeln wollte.
Alles an diesem absonderlichen Räthsel war unerklärlich.
Was war aus dem geheimnißvollen Menschen geworden, den der Kutscher aus der Großen Kloake mit dem ohnmächtigen Marius auf dem Rücken hatte herauskommen sehen und den der Polizeibeamte bei der Rettung eines Insurgenten auf der That ertappt hatte? Wo war der Polizist hingekommen? Warum hatte er Stillschweigen über die Sache beobachtet? War es dem Mann gelungen, zu entwischen, ihn zu bestechen? Warum ließ er Marius, der ihm alles verdankte, nichts von sich wissen? Diese Uneigennützigkeit war nicht minder großartig, als die Selbstverleugnung, die er bei der Rettung des Verwundeten bewiesen. Warum ließ sich dieser Mann nicht wiedersehen? Vielleicht war er über jede Belohnung erhaben, aber Dank darf Niemand ablehnen. War er gestorben? Was für ein Mensch mochte es sein? Wie sah er aus? Diese Frage konnte Niemand beantworten. Der Kutscher sagte bloß: »Es war sehr finster.« Baske und Nicolette hatten in ihrer Bestürzung und Angst nur ihren, mit Blut bedeckten, jungen Herrn gesehen. Der Pförtner, der mit seinem Talglicht bei der tragischen Scene geleuchtet hatte, war der Einzige, der auf den Unbekannten geachtet hatte und die Personalbeschreibung, die er lieferte, lautete: »Der Mann sah entsetzlich aus!«
In der Hoffnung, daß sie ihm bei seinen zukünftigen Nachforschungen irgendwie nützlich sein würden, ließ Marius die blutigen Kleidungsstücke aufbewahren, die er bei seiner Rückkehr in das Haus des Großvaters angehabt hatte. Als man den Rock untersuchte, bemerkte man, daß von dem einen Schoß ein Zipfel auf absonderliche Weise abgerissen war. Es fehlte ein Stück.
Eines Abends sprach Marius zu Cosette und Jean Valjean von diesem, seinem Abenteuer, von den zahllosen Nachforschungen, die er hatte anstellen lassen und der Ergebnißlosigkeit seiner Bemühungen. Da aber »Herr Fauchelevent« bei der Erzählung kühl blieb, gerieth Marius in Hitze und rief mit einer Lebhaftigkeit, aus der fast Zorn herausklang:
»Ja, dieser Mann, wer er auch gewesen sein mag, hat sich hochherzig gezeigt. Wissen Sie, Herr Fauchelevent, was er für mich gethan hat? Er ist mein Rettungsengel gewesen. Er mußte sich mitten in das Gewühl des Kampfes stürzen, mich heimlich heraustragen, die Kloakenthür aufmachen, mich hinschleppen, mich tragen. Tausende und abertausende von Meter mußte er in den abscheulichen, unterirdischen Galerien gebückt, im Dunkeln, in der scheußlichen Luft, mit der Last eines besinnungslosen Menschen auf dem Rücken zurücklegen! Tausende und abertausende von Metern! Und zu welchem Zweck? Bloß um einen Menschen, der kaum noch etwas Leben in sich hatte, zu retten! Und der Gerettete war ich. Er dachte, vielleicht ist noch Hoffnung; deshalb will ich mein Leben aufs Spiel setzen, damit das elende Fünkchen nicht erlischt. Und dieses Leben hat nicht ein, nein, zwanzig Mal auf dem Spiel gestanden. Bei jedem Schritt den er that, setzte er sich einer Gefahr aus. Das beweist schon die Thatsache, daß er arretirt worden ist, als er aus der Kloake herauskam. So etwas Großartiges hat der Mann an mir gethan, Herr Fauchelevent. Und ohne Aussicht auf eine Belohnung. Was hätte ihm denn auch ein besiegter Insurgent geben können? O, wenn ich über Cosettens sechshundert tausend Franken zu verfügen hätte . . .«
»Sie gehören Ihnen ja,« fiel ihm Jean Valjean ins Wort.
»Nun, so würde ich sie hingeben, wenn ich den Mann wieder auffinden könnte!«
Jean Valjean aber beobachtete Stillschweigen.