Victor Hugo
Die Elenden. Fünfter Theil. Jean Valjean
Victor Hugo

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Achtes Buch. Es nachtet schwärzer

I.
Das Zimmer im Erdgeschoß

Am folgenden Tage klopfte Jean Valjean bei Einbruch der Nacht an die Hausthür bei Gillenormand. Sie wurde ihm von Baske aufgemacht. Dieser hielt sich in eben diesem Augenblick auf dem Hofe auf, als wäre ihm das so befohlen worden. Es kommt ja bisweilen vor, daß man zu einem Diener sagt: »Passen Sie auf, wenn Herr So und So kommt.«

Ohne zu warten bis Jean Valjean an ihn herankam, redete Baske ihn an:

»Der Herr Baron haben mir befohlen zu fragen, ob Sie oben hinaufzugehen oder unten zu bleiben wünschen?«

»Ich will unten bleiben,« antwortete Jean Valjean.

Baske, der es übrigens nicht an dem nöthigen Respekt fehlen ließ, machte die Thür des niedrigen Zimmers auf und sagte: »Ich werde die Frau Baronin benachrichtigen.«

Das Zimmer, das Jean Valjean betrat, war ein gewölbter und feuchter Raum, der gelegentlich als Vorrathskeller diente, nach der Straße hinausging, mit rothen Steinplatten gepflastert war und durch ein mit Eisenstäben vergittertes Fenster ein ungenügendes Licht empfing.

Dieses Zimmer gehörte nicht zu denen, die durch den Staubwedel, Abstäuber und Besen beunruhigt werden. Der Staub wurde hier unbehelligt gelassen. Ebenso hatten die Spinnen hier keine Verfolgung zu fürchten. Am Fenster prangte ein schönes, hübsch schmutziges, mit toten Fliegen geziertes Gewebe. In der einen Ecke des kleinen und niedrigen Raumes lag ein Haufen leerer Flaschen. Von dem gelben Ocker, womit die Wände abgeputzt waren, hatten sich große Stücken abgelöst und lagen an der Erde. Im Hintergrunde sah man einen schwarz angestrichenen Holzkasten mit einer schmalen Abdeckungsplatte. Es brannte ein Feuer darin; man hatte also darauf gerechnet, daß Jean Valjean antworten würde, er wolle unten bleiben.

An den beiden Ecken des Kamins standen zwei Lehnstühle, zwischen denen, an Stelle eines Teppichs, ein überaus schäbiger Bettvorleger ausgebreitet war.

Erleuchtet war der Raum durch das Kaminfeuer und das Dämmerlicht, das durch das Fenster hereinfiel.

Jean Valjean war sehr abgespannt. Seit mehreren Tagen hatte er weder gegessen noch geschlafen. Er sank matt auf einen der Lehnstühle nieder.

Baske kam wieder, stellte eine brennende Kerze auf das Kamingesims und ging wieder hinaus. Jean Valjean, der den Kopf auf die Brust gesenkt hielt, bemerkte weder Baske noch das Licht.

Plötzlich fuhr er in die Höhe. Cosette stand hinter ihm.

Er hatte sie nicht hereinkommen sehen, aber er fühlte, daß sie da war.

Er wandte sich um und betrachtete sie. Sie war anbetungswürdig schön. Aber was er an ihrem tiefen Blick bewunderte, war nicht die Schönheit der Augen, sondern die Seele, die aus ihnen sprach.

»Vater,« rief Cosette, »ich wußte ja, daß Du ein Original bist, aber daß Du solch einen Einfall haben würdest, darauf war ich denn doch nicht gefaßt. Nein, so etwas! Marius sagte mir, Du willst, daß ich Dich hier empfange.«

»Ganz richtig. Ich wünschte es.«

»Die Antwort hatte ich erwartet. Gut. So benachrichtige ich Dich, daß ich Dir den Text lesen werde. Fangen wir mit dem Anfang an. Vater, gieb mir einen Kuß.«

Dabei hielt sie ihm die Wange hin.

Aber Jean Valjean blieb unbeweglich.

»Ich konstatire, daß Du Dich nicht rührst. Aus Schuldbewußtsein. Aber ich verzeihe Dir. Jesus Christus hat gesagt: Haltet die andre Wange hin. Da!«

Damit bot sie ihm die andre Wange dar.

Jean Valjean regte sich nicht. Es war, als wären seine Füße am Boden festgenagelt.

»Nun wird die Sache aber ernsthaft. Was habe ich Dir denn gethan? Ich erkläre, daß ich böse bin. Du mußt etwas thun, um mich zu versöhnen. Bleibe heute zu Tisch.«

»Ich habe schon gespeist.«

»Das ist nicht wahr. Ich werde Herrn Gillenormand bitten, daß er Dich ausschilt. Die Großväter sind dazu da, daß sie die Väter abkanzeln. Vorwärts. Komme mit mir in den Salon hinauf. Auf der Stelle!«

»Geht nicht.«

Jetzt wurde Cosette etwas perplex. Sie hörte auf zu kommandiren und fing an Fragen zu thun.

»Warum denn aber? Und Du suchst Dir, um mich zu sprechen, das häßlichste Zimmer des Hauses aus. Hier ist's greulig.«

»Du weißt . . . Sie wissen, Frau Baronin, daß ich meine Eigenheiten, meine Schrullen habe.»

Cosette schlug ihre Hände gegen einander.

»Sie wissen! . . . Frau Baronin! ... Das ist ja wieder was Neues! Was soll denn das heißen?«

Jean Valjean betrachtete sie mit jenem schmerzlichen Lächeln, zu dem er bei gewissen Gelegenheiten seine Zuflucht nahm.

»Sie haben Frau Baronin werden wollen. Sie sind es jetzt . . . Also . . .«

»Für Dich, Vater, bin ich nicht Frau Baronin.«

»Nennen Sie mich nicht mehr Vater.«

»Wie?«

»Nennen Sie mich ›Herr Jean‹. Oder einfach ›Jean‹, wenn Sie wollen.«

»Du heißt nicht mehr ›Vater‹? Ich bin nicht mehr ›Cosette‹? Herr Jean? Was soll das bedeuten? Das ist ja eine Revolution! Was ist denn vorgefallen? Sieh mir doch einmal gerade ins Gesicht. Und Du willst nicht bei uns bleiben. Du willst das Zimmer nicht annehmen, das ich Dir angeboten habe. Was in aller Welt habe ich Dir denn gethan? Ist denn irgend etwas passirt . . .?«

»Nein.«

»Nun also?«

»Alles ist wie gewöhnlich.«

»Warum nimmst Du einen andern Namen an?«

»Du hast ja auch einen andern angenommen.«

Er lächelte abermals wehmüthig und fügte hinzu:

»Da Sie die Frau Baronin Pontmercy sind, kann ich wohl auch Herr Jean sein.«

»Das verstehe ich nicht. Das ist alles Unsinn. Ich werde meinen Mann um die Erlaubniß bitten, daß Du Herr Jean genannt werden sollst. Selbstredend wird er nicht seine Einwilligung dazu geben. Du betrübst mich sehr. Man darf Grillen haben, aber nicht seinem Cosettchen Kummer bereiten. Das ist gar nicht hübsch von Dir. Wenn man so gut ist wie Du, hat man nicht das Recht, sich so häßlich zu benehmen.«

Er gab keine Antwort.

Sie ergriff lebhaft seine beiden Hände, hob sie unwiderstehlich zu ihrem Gesicht empor und drückte sie unter ihr Kinn und gegen ihren Hals, ein Zeichen innigster Zärtlichkeit.

»O sei gut!« bat sie. »Mit gut sein meine ich, Du sollst nett gegen mich sein, zu uns ziehen, es giebt hier Vögel so gut, wie in der Rue Plumet – mit uns zusammenleben, Dein abscheuliches Loch von Wohnung aufgeben, uns keine Räthsel aufgeben, so sein wie Andre, mit uns speisen, mein Vater sein.«

Er machte seine Hände aus den ihrigen los.

»Sie brauchen keinen Vater mehr, nun Sie einen Mann haben.«

Jetzt wurde Cosette böse.

»Ich brauche keinen Vater mehr? Man weiß wirklich nicht, was man dazu sagen soll. Das hat ja keinen Sinn und Verstand!«

»Wenn die Toussaint hier wäre,« hob Jean Valjean wieder an, wie Einer, der sich nicht mehr zu helfen weiß und sich auf Andre beruft, »so würde sie bestätigen, daß ich von jeher meine Besonderheiten gehabt habe. Also das ist nichts Neues. Meine Wohnung ist gut genug für mich.«

»Aber hier ist es kalt und nicht hell. Wie abscheulich, daß Du Herr Jean genannt werden willst. Ich will nicht, daß Du Sie zu mir sagst.«

»Auf dem Wege hierher,« antwortete Jean Valjean, »habe ich in der Rue Saint Louis bei einem Tischler ein allerliebstes Möbel gesehen, das ich mir zulegen würde, wenn ich eine hübsche, junge Dame wäre, einen sehr eleganten Toilettentisch im modernen Geschmack, – was man Rosenholz nennt, glaube ich. Mit Inkrustationen, einem sehr großen Spiegel und Schubladen. Etwas wirklich Hübsches.«

»Brr! Solch ein abscheulicher Bär!« erwiderte Cosette.

Und anmuthig wie eine Grazie, die eine Katze nachahmt, biß sie die Zähne zusammen, entfernte die Lippen von einander und fauchte Jean Valjean an.

»Ich bin wüthend,« hob sie wieder an. »Seit gestern bringt Ihr mich um alle Geduld. Ich begreife nicht, was Ihr Alle habt. Du vertheidigst mich nicht gegen Marius und Marius nimmt mich nicht gegen Dich in Schutz. Ich stehe jetzt ganz allein da. Ich richte ein Zimmer auf's hübscheste ein. Hätte ich den lieben Gott darin aufstellen können, ich hätt's gethan. Aber sieh da! Ich behalte mein Zimmer. Mein Miether läßt mich sitzen. Ich bestelle bei Nicolette ein gutes Abendessen – Frau Baronin, ich mag Ihr Essen nicht. Und mein Vater Fauchelevent will, daß ich ihn ›Herr Jean‹ nenne und daß ich ihn in einem scheußlichen, alten, häßlichen Keller empfange, wo die Wände mit Schimmel verziert und die Krystalle durch leere Flaschen, die Vorhänge durch Spinngewebe ersetzt sind. Daß ein Mensch seine Eigenheiten hat, lasse ich mir gefallen, – Du bist nun einmal so – aber jungen Eheleuten gewährt man einen Waffenstillstand. Du hättest Deine Originalität wenigstens nicht gleich wieder hervorholen sollen. Du fühlst Dich also in Deiner greuligen Rue de l'Homme-Armé recht glücklich? Mir hat sie weniger gefallen. Ich dachte, ich müßte umkommen. Was hast Du gegen mich? Du betrübst mich sehr. Schäme Dich!«

Und indem sie plötzlich ernst wurde, fixirte sie Jean Valjean und fuhr fort:

»Bist Du denn böse auf mich, weil ich glücklich bin?«

Die Naivität dringt oft, ohne daß sie es ahnt, tief ein. Auch diese Frage, bei der sich Cosette nichts dachte, that Jean Valjean sehr wehe. Statt zu ritzen, zerfleischte Cosette sein Herz.

Er erblaßte und schwieg eine Weile, dann sprach er in einem unbeschreiblichen Tone vor sich hin:

»Ihr Glück war der Zweck meines Lebens. Jetzt kann Gott mich entlassen. Cosette, nun Du glücklich bist, ist meine Zeit aus.«

»Bravo! Du hast ›Du‹ gesagt!« rief sie und fiel ihm um den Hals.

Außer sich vor Rührung drückte er sie an seine Brust. Es war ihm fast, als wäre sie wieder sein.

»Ich danke Dir, Vater!« rief sie.

Die Wehmuth drohte Jean Valjean zu überwältigen. Er machte sich sanft aus Cosettens Armen los und ergriff seinen Hut.

»Was soll denn das?« fragte Cosette.

Jean Valjean antwortete:

»Ich gehe, Frau Baronin, man wartet auf Sie.«

Und auf der Thürschwelle fügte er hinzu:

»Ich habe Du zu Ihnen gesagt. Sagen Sie Ihrem Herrn Gemahl, daß es nicht wieder vorkommen soll. Verzeihen Sie.«

Jean Valjean ging hinaus und ließ Cosette im größten Erstaunen über diesen räthselhaften Abschied zurück.

II.
Weiter rückwärts

Den folgenden Tag kam Jean Valjean zu derselben Stunde.

Cosette that keine Fragen mehr, wunderte sich nicht mehr, klagte nicht mehr, sie friere, forderte ihn nicht mehr auf in den Salon zu kommen; auch vermied sie ihn mit »Du« oder mit »Herr Jean« anzureden und ließ sich siezen und Frau Baronin nennen. Aber sie war nicht so heiter wie sonst. Sie wäre geradezu traurig gewesen, wenn Traurigkeit in ihrer Art gelegen hätte.

Wahrscheinlich hatte sie mit Marius eine jener Auseinandersetzungen gehabt, und Erklärungen erhalten, die nichts erklärten, die sie aber beschwichtigten, da sie von dem Mann ihrer Liebe kamen. Die Neugierde Liebender geht nicht weit hinaus über ihre Liebe.

Der Raum im Erdgeschoß sah etwas anständiger aus. Baske hat die Flaschen und Nicolette die Spinngewebe weggeräumt.

Jeder folgende Abend brachte Jean Valjean zu derselben Stunde zurück. Er kam tagtäglich, weil er nicht den Muth hatte, Marius' Zusage anders als buchstäblich zu nehmen. Marius richtete sich so ein, daß er, wenn Jean Valjean kam, nicht zu Hause war. Die Hausgenossen gewöhnten sich an Herrn Fauchelevent's neue Eigenheit, wozu die Toussaint das Ihrige beitrug. »Herr Fauchelevent ist immer so gewesen,« wiederholte sie oft. Der Großvater that den Ausspruch: Er ist ein sonderbarer Kauz. Und damit war alles abgemacht. Wenn man über neunzig Jahre alt ist, hat man nicht mehr das Zeug dazu Freundschaften zu schließen und läßt sich eine neue Bekanntschaft nur gefallen, empfindet sie aber stets als etwas Unbequemes. Die alten Gewohnheiten sind tief eingewurzelt und lassen keinen Platz für neue. Ob er Fauchelevent oder Tranchelevent hieß, Vater Gillenormand war es recht, wenn er mit dem Herrn nichts zu thun bekam. Er meinte auch: »Nichts ist gewöhnlicher als Originale. Sie begehen alle Arten von Verrücktheiten. Ohne irgend welchen Grund. Der Marquis von Canaples trieb es noch ärger. Der kaufe sich einen Palast und wohnte auf dem Boden. Mit derartigen Phantastereien bezwecken die Leute weiter nichts, als daß sie etwas Besondres vorstellen möchten.«

Niemand ahnte den schaurigen Untergrund dieses Verhaltens. Wer hätte auch auf einen solchen Gedanken kommen können? Es giebt in Indien Sümpfe von ähnlicher Natur. Das Wasser bewegt sich und zittert in ungewöhnlicher Weise; man spürt keinen Wind und doch sieht man Wellen. Man weiß eben nicht, daß unten eine Schlange lauert, die das Wasser an der Oberfläche in Wallung bringt.

Viele Menschen haben solch ein heimliches Ungethüm, ein Unglück, das sie mit sich herumtragen, einen Drachen, der ihnen das Herz zernagt, eine Verzweiflung, die sie nie losläßt. Mancher Mensch benimmt sich in der Gesellschaft wie die Andern. Man weiß nicht, daß dieser Mensch ein Abgrund mit stillem, aber tiefem Wasser ist. Von Zeit zu Zeit findet eine Aufwallung des Wassers statt, die man sich nicht erklären kann. An der Oberfläche zeigt sich eine geheimnißvolle Falte, die verschwindet und dann wieder auftritt; zugleich steigt eine Luftblase in die Höhe und zerplatzt. Das sieht nach nichts aus und ist doch etwas Schreckliches, nähmlich der Athem der unbekannten Bestie.

Gewisse absonderliche Gewohnheiten z. B. zu der Zeit zu kommen, wo die Andren gehen, sich im Hintergrund zu halten, wenn die Andern sich vordrängen, bei allen Gelegenheiten sich in die Ecken zu drücken, einsame Alleen aufzusuchen, öde Straßen vorzuziehen, nicht an der Unterhaltung theilzunehmen, den Festen aus dem Wege zu gehen, wohlhabend zu sein und armselig zu leben, durch Nebenthüren ins Haus zu kommen, – alle diese unbedeutenden Eigenthümlichkeiten sind oberflächliche Wallungen, Luftblasen und haben oft eine traurige Ursache.

So vergingen mehrere Wochen. Ein neues Leben bemächtigte sich allmählich Cosettens; gesellschaftliche Verbindungen und Beschäftigungen, wie die Ehe, die Besuche, der Haushalt, die Vergnügen, die etwas so Wichtiges sind. Cosettens Vergnügungen waren nicht kostspielig; sie bestanden in einem einzigen Vergnügen, dem Beisammensein mit Marius. Mit ihm ausgehen, bei ihm bleiben war ihre Hauptsorge. Es war für sie eine immer neue Freude, daß sie jetzt Arm in Arm, am hellen, lichten Tage, auf offener Straße sich beide zusammen und ohne Begleiter sehen lassen durften. Unangenehmes passirte ihr freilich auch. Die Toussaint konnte sich nicht mit der andern, alten Jungfer der Nicolette, vertragen und kündigte den Dienst. Im übrigen ging alles seinen ruhigen Gang. Der Großvater war gesund; Marius bekam etwas Praxis; Tante Gillenormand führte in dem neuen Haushalt das alte, von den Hauptinteressen des Lebens abseits gelegene Dasein, das zu ihrem Glück genügte. Jean Valjean kam alle Tage.

Die Abschaffung des Du, das Siezen, die Anrede »Frau Baronin« und »Herr Jean« bewirkte, daß er für Cosette ein Andrer wurde. Die Mühe, die er selber sich gegeben, damit sie sich von ihm losmachen sollte, war erfolgreich. Sie wurde allmählich immer lustiger und weniger zärtlich. Indessen hatte sie ihn noch immer sehr gern und er fühlte das. Eines Tages sagte sie plötzlich zu ihm: »Früher waren Sie mein Vater und jetzt sind Sie es nicht mehr; dann waren Sie mein Onkel und sind es jetzt auch nicht mehr; ursprünglich hießen Sie Herr Fauchelevent und jetzt sind Sie Herr Jean. Wer sind Sie eigentlich? Alle die Geschichten gefallen mir nicht. Wüßte ich nicht, wie gut Sie sind, – ich würde mich vor Ihnen fürchten.«

Er blieb in der Rue de l'Homme-Armé wohnen, da er sich nicht dazu entschließen konnte, das Stadtviertel zu verlassen, in dem Cosette wohnte.

In der ersten Zeit hielt er sich bei Cosette nur wenige Minuten auf.

Allmählich aber nahm er die Gewohnheit an, sich nicht mit kurzen Besuchen zu begnügen; es schien, als mache er sich den Umstand, daß die Tage länger wurden, zu Nutze, um früher zu kommen und später zu gehen.

Eines Tages entschlüpfte Cosette die Anrede »Vater«. Ein Freudenstrahl erhellte das düstre Gesicht des alten Jean Valjean. Er korrigirte den Irrthum: »Sagen Sie Jean.«

»Ach ja!« rief sie und lachte, »Herr Jean«. – »So ist's recht!« erwiederte er und wandte sich ab, damit sie nicht sehe, wie er sich die Augen trocknete.

III.
Sie erinnern sich des Gartens in der Rue Plumet

Es war das letzte Mal, daß die alte Herzlichkeit wieder neu aufflammte; aber dann erlosch sie vollständig. Keine Vertraulichkeit, kein Kuß, kein »lieber Vater!« mehr. Aller dieser, seinem Herzen so theuren Gewohnheiten mußte er sich, wie er selber es gewollt und betrieben hatte, nach einander entäußern und es widerfuhr ihm das Weh, daß nachdem er an einem Tage Cosette ganz verloren, er sie dann noch einmal stückweise verlieren mußte.

Das Auge gewöhnt sich im Laufe der Zeit an Kellerlicht. Zu seinem Glück genügte es schließlich, wenn er einmal täglich mit Cosette zusammen kam. Sein ganzes Leben konzentrirte sich auf diese Stunde. Er setzte sich neben sie, sah sie schweigend an oder sprach auch mit ihr von der Vergangenheit, ihrer Kindheit, dem Kloster, ihren damaligen kleinen Freundinnen.

Eines Nachmittags – es war an einem der ersten Tage des Aprilmonats, das Wetter ließ sich milde an, es war die Zeit, wo uns die Sonne am meisten erfreut; die Gärten, die vor Marius und Cosettens Fenster lagen, hatten das Gefühl des Erwachens; der Hagedorn begann zu sprießen; die Levkoyen entfalteten ihre Farbenpracht auf den alten Mauern; die Löwenmäuler gähnten in den Spalten der Steine; aus dem Grase fingen die reizenden Maßliebchen und Butterblumen an hervorzulugen; die weißen Schmetterlinge flatterten schon herum; der Wind, der Minnesänger der ewigen Hochzeit, stimmte in den Bäumen die ersten Töne jener großen Morgensymphonie an, die von den Dichtern der Lenz genannt wird – an einem solchen Tage also sagte Marius zu Cosette: »Wir haben abgemacht, daß wir unsern Garten in der Rue Plumet einmal besuchen wollten. Thuen wir das. Der Mensch soll nicht undankbar sein.« – Und sie eilten davon wie zwei Schwalben, die dem Frühling nachfliegen. Der Garten erinnerte sie an den Anfang ihres Glücks, denn den Lenz ihrer Liebe hatten sie ja damals schon hinter sich. Da der Miethskontrakt für das Haus in der Rue Plumet noch nicht abgelaufen war, so konnten sie sich ungestört in dem Garten ergehen. Sie thaten es und vergaßen alles andere darüber. Als sich am Abend Jean Valjean zu der gewöhnlichen Stunde in der Rue des Filles-du-Calvaire einfand, sagte Baske: »Die Frau Baronin ist mit dem Herrn Baron ausgegangen und noch nicht wiedergekommen.« – Jean Valjean setzte sich schweigend und wartete eine Stunde lang. Cosette kam nicht zurück. Da ließ er den Kopf hängen und ging fort.

Cosette war über ihren Spaziergang in »ihrem Garten« so entzückt und so froh »einen ganzen Tag in ihrer Vergangenheit gelebt« zu haben, daß sie den nächsten Tag von nichts Anderem sprach. Sie wurde es garnicht gewahr, daß sie Jean Valjean nicht gesehen hatte.

»Wie haben Sie Sich dahin begeben?« fragte Jean Valjean.

»Zu Fuß.«

»Und zurück?«

»In einer Droschke.«

Seit einiger Zeit fiel es Jean Valjean auf, daß die jungen Leute sich einschränkten, was ihm Sorge machte. Marius beobachtete eine strenge Sparsamkeit und diese Strenge hatte eine Beziehung auf Jean Valjean. Er nahm sich daher bei dieser Gelegenheit die Freiheit, eine Frage zu thun.

»Warum halten Sie Sich nicht einen eignen Wagen? Ein hübsches Coupé würde Ihnen nur fünfhundert Franken pro Monat kosten. Sie sind ja reich.«

»Ich weiß nicht,« antwortete Cosette.

»Mit der Toussaint ist es ebenso. Sie ist weggegangen und Sie haben sie nicht ersetzt. Warum nicht?«

»Nicolette genügt mir.«

»Aber Sie könnten eine Kammerfrau brauchen.«

»Habe ich nicht Marius?«

»Sie sollten ein eignes Haus haben, sich eigne Diener, eine Equipage halten, auf eine Loge im Theater abonnirt sein. Nichts ist zu gut für Sie. Warum ziehen Sie keinen Nutzen daraus, daß Sie reich sind? Der Reichthum ist eine angenehme Zugabe zum Liebesglück.«

Cosette antwortete nicht.

Jean Valjeans Besuche wurden nicht kürzer. Im Gegenteil. Wenn das Herz ausgleitet, kann man auf der schiefen Ebene nicht anhalten.

Wenn Jean Valjean seinen Besuch in die Länge ziehen wollte, stimmte er, damit Cosette nicht an die Uhr dächte, ein Loblied auf Marius an, und erklärte ihn für einen hübschen, edlen, muthigen, geistreichen, beredten, guten Mann. Dann überbot ihn Cosette und gab Jean Valjean Gelegenheit, das Thema von Neuem anzufangen, Marius war ein unerschöpfliches Wort; es hätten sich ebenso viel Bände über ihn schreiben lassen, als sein Name Buchstaben hatte. Auf diese Weise machte es Jean Valjean möglich, daß er recht lange bleiben durfte. Cosette zu sehen, in ihrer Nähe sein Leid zu vergessen, war für ihn das höchste Glück, war Balsam für seine Wunde. – Es kam mehrere Mal vor, daß Baske Cosette mahnen mußte: »Herr Gillenormand läßt die Frau Baronin daran erinnern, daß das Essen aufgetragen ist.«

An solchen Tagen kehrte Jean Valjean mit trüben Gedanken nach Hause.

War denn etwas Wahres an dem Vergleich, den Marius zwischen ihm und der Schmetterlingslarve gemacht hatte? War Jean Valjean wirklich eine Larve, die seinen niedlichen Schmetterling nicht loslassen wollte?

An einem Tage blieb er noch länger als gewöhnlich. Da bemerkte er am folgenden Tage, daß im Kamin kein Feuer brannte. – »Sieh da! Nicht geheizt!« dachte er und fand bald eine sehr einfache Erklärung: »Wir sind ja im April. Da ist es nicht mehr kalt.«

»Gott! Wie kalt es hier ist!« rief Cosette beim Hereintreten.

»Ei bewahre!« entgegnete Jean Valjean.

»Also Sie haben Baske gesagt, er soll nicht heizen?«

»Ja. Wir sind bald im Mai.«

»Aber es wird doch bis Juni geheizt. In diesem Keller kann man den Kamin das ganze Jahr nicht entbehren.«

»Ich habe gedacht, das Feuer wäre überflüssig.«

»Diese Idee sieht Ihnen ähnlich!« meinte Cosette.

Am folgenden Tage war der Raum geheizt. Aber die beiden Lehnstühle standen am andern Ende in der Nähe der Thür.

»Was mag das bedeuten?« dachte Jean Valjean.

Er holte die Stühle und stellte sie an ihren alten Platz, vor den Kamin.

Der Umstand, daß das Zimmer wieder geheizt war, ermuthigte ihn indessen. Er zog das Gespräch noch mehr als gewöhnlich in die Länge. Da sagte Cosette, als er aufstand, um sich zu verabschieden:

»Mein Mann hat gestern etwas recht Sonderbares zu mir gesagt:

»Was denn?«

»Er meinte: ›Cosette, wir haben dreißigtausend Franken jährliches Einkommen. Siebenundzwanzigtausend von Deinem Vermögen und dreitausend, die mir Großvater jährlich giebt‹. Ich antwortete: ›Das macht dreißigtausend‹. Da sagte er, ›Hättest Du den Muth, Dich mit meinen dreitausend zu behelfen?‹ Ich antwortete: ›Ja, mit gar nichts, wenn ich nur bei Dir bleiben könnte‹. Und dann fragte ich: ›Warum sagst Du das?‹ ›Der Wissenschaft wegen‹, antwortete er.«

Jean Valjean fand kein Wort der Erwiederung. Cosette erwartete wahrscheinlich von ihm irgend eine Erklärung; er aber hörte ihr mit düsterem Stillschweigen zu. Er ging nach Hause und war so tief in Gedanken versunken, daß er in das Nebenhaus ging, statt in das seine. Erst nachdem er beinahe zwei Treppen hinaufgestiegen war, merkte er, daß er sich geirrt hatte und ging wieder hinunter.

Er quälte sich mit allerlei Vermuthungen. Offenbar hatte Marius Zweifel über den Ursprung der sechshundert tausend Franken. Wer weiß, vielleicht fürchtete er, das Geld stamme aus einer unreinen Quelle, vielleicht hatte er gar herausgebracht, daß es von ihm, Jean Valjean kam; und hegte diesem verdächtigen Vermögen gegenüber Bedenken, mochte es nicht behalten und wollte lieber arm bleiben, er und Cosette, als einen zweideutigen Reichthum besitzen.

Außerdem hatte Jean Valjean das Gefühl, daß man ihn sich vom Halse schaffen wollte.

Am folgenden Tage gab es ihm sozusagen einen Ruck, als er das Erdgeschoß betrat. Die Lehnsessel waren verschwunden. Nicht einmal ein Stuhl war zu sehen.

»Was ist denn das?« rief Cosette, als sie hereinkam. »Keine Sessel! wo sind denn die Sessel?«

»Sie sind nicht mehr da,« antwortete Jean Valjean.

»Das ist stark!«

Jean Valjean stammelte:

»Ich habe Baske gesagt, er soll sie wegtragen.«

»Und aus welchem Grunde?«

»Ich bleibe heute nur einige Minuten.«

»Darum brauchen wir aber doch nicht zu stehen!«

»Ich glaube, Baske brauchte die Sessel für den Salon.«

»Warum?«

»Sie haben heute Abend gewiß Gesellschaft.«

»Keinen Menschen!«

Jean Valjean konnte kein Wort mehr sagen.

Cosette zuckte die Achseln.

»Die Sessel wegtragen zu lassen! Und neulich haben Sie das Feuer auslöschen lassen. Wie sonderbar Sie sind!«

»Leben Sie wohl,« murmelte Jean Valjean.

Er sagte nicht: »Leben Sie wohl, Cosette.« Aber er brachte es auch nicht übers Herz: »Leben Sie wohl, Frau Baronin!« zu sagen.

Er ging in tiefster Betrübniß hinaus.

Dieses Mal hatte er verstanden, was man wollte.

Am nächsten Tage kam er nicht. Cosette bemerkte es erst am Abend.

»Herr Jean,« sagte sie, »ist ja heute nicht gekommen.«

Es verursachte ihr eine gewisse Beklemmung. Sie beachtete das aber nicht und ließ sich leicht durch einen Kuß ihres Marius auf ein andres Thema bringen.

Am folgenden Tage kam er wieder nicht.

Cosette achtete nicht darauf, verlebte ihren Tag und die Nacht wie gewöhnlich und dachte erst wieder daran, als sie erwachte. Sie war ja so glücklich! Sie schickte schnell Nicolette zu Herrn Jean, um fragen zu lassen, ob er krank sei, und warum er gestern nicht gekommen wäre. Nicolette brachte auch eine Antwort von Herrn Jean. Er sei nicht krank. Er hätte viel zu thun. Er würde aber bald kommen, so bald er könnte. Auch würde er auf einige Zeit verreisen. Die Frau Baronin würde sich ja wohl noch besinnen, daß er gewohnt sei, von Zeit zu Zeit eine Reise zu machen. Man möge sich seinetwegen nicht beunruhigen.

Nicolette hatte, als sie zu Herrn Jean kam, den Auftrag mit den eignen Worten ihrer jungen Herrin ausgerichtet. »Die Frau Baronin läßt fragen, warum Herr Jean gestern nicht gekommen ist.« »Ich bin gestern und vorgestern nicht gekommen,« sagte Jean Valjean in sanftem Tone.

Aber die Berichtigung entging der Aufmerksamkeit der Magd, und wurde von ihr Cosetten gegenüber nicht erwähnt.

IV.
Ein Niedergang

Während der letzten Monate des Frühlings und der ersten Monate des Sommers 1833 bemerkten die wenigen Passanten des Maraisviertels, die Krämer und Müßiggänger, die auf den Thürschwellen standen, einen Greis in einem saubern, schwarzen Anzuge, der alle Tage zu derselben Stunde, nämlich beim Anbruch der Nacht aus der Rue de l'Homme-Armé herauskam, vor den Blancs-Manteaux und durch die Rue Culture-Sainte-Catherine ging und in der Rue de l'Écharpe nach links in die Rue Saint-Louis einbog.

Hier ging er mit langsamen Schritten, den Kopf nach vorn ausgestreckt, ohne etwas zu sehen oder zu hören, die Augen immer auf denselben Punkt gerichtet, der für ihn in eine Glorie gehüllt schien, nämlich die Ecke der Rue des Filles-du-Calvaire. Je näher er an diese Straße herankam, desto mehr leuchteten seine Augen vor innerer Freude; seine Mienen drückten innige Zärtlichkeit aus, seine Lippen machten leise Bewegungen, als spräche er mit Jemand, den er nicht sah, ein Lächeln umspielte seinen Mund und er rückte so langsam vor, wie er irgend konnte. Man hätte meinen sollen, er wünschte wohl an sein Ziel zu gelangen, fürchtete sich aber vor dem Zeitpunkt, wo er da sein würde. Wenn zwischen ihm und der Straße, die eine solche Anziehungskraft auf ihn auszuüben schien, nur noch einige Häuser lagen, verlangsamte sich sein Schritt so sehr, daß man zeitweise glauben konnte, er bewege sich überhaupt nicht. Die wackligen Bewegungen seines Kopfes und die Unbeweglichkeit seines Augapfels erinnerten an die Magnetnadel, die dem Nordpol zustrebt. So sehr er aber auch die Ankunft in die Länge zog, der gefürchtete Zeitpunkt trat doch einmal ein; er erreichte die Rue des Filles-du-Calvaire; dann blieb er stehen, zitterte, neigte sich mit einer Art schwermüthiger Zaghaftigkeit vor, sah um die Ecke des letzten Hauses herum, in die Straße hinein und es lag in diesem traurigen Blick etwas, das wie Sehnsucht nach einer unerreichbaren Herrlichkeit, wie der Wiederschein eines verschlossenen Paradieses aussah. Dann glitt eine Thräne, die sich allmählich im Augenwinkel gebildet hatte, seine Wange herab und blieb an seinem Munde hangen. Der Greis empfand ihren bittern Geschmack. So stand er mehrere Minuten lang unbeweglich wie ein Stein; herauf kehrte er auf demselben Wege und im selben Tempo zurück und in dem Maße, wie er sich weiter entfernte, erlosch sein Blick mehr und mehr.

Allmählich hörte der alte Mann auf bis zu der Ecke der Rue des Filles-du-Calvaire zu gehen; er ging nur noch bis in die Rue Saint-Louis mehr oder weniger weit hinein. Eines Tages blieb er an der Ecke der Rue Culture-Sainte-Catherine stehen und blickte von weitem nach der Rue des Filles-du-Calvaire. Dann schüttelte er still den Kopf von rechts nach links, als versagte er sich einen Wunsch und kehrte um.

Bald ging er auch nicht mehr bis zur Rue Saint-Louis. Er kam nur bis zur Rue Pavée, schüttelte den Kopf und wandte sich um. Dann wagte er sich nicht über die Rue des Trois-Pavillons hinaus, und endlich blieb er diesseit der Blancs-Manteaux stehen. Man konnte bei seinem Anblick an eine Uhr denken, die nicht aufgezogen ist und deren Pendelschwingungen allmählich an Weite abnehmen, bis sie schließlich ganz aufhören.

Alle Tage ging er zu derselben Stunde aus und nach derselben Richtung; aber er blieb vor seinem Ziele stehen und verkürzte seinen Weg beständig, vielleicht ohne sich dessen bewußt zu werden. Sein ganzes Gesicht drückte den einen Gedanken: aus: »Wozu?« Das Auge erlosch allmählich und leuchtete von keiner Freude mehr. Auch die Thränen versiegten und flossen nicht mehr seine Wangen herab. Der Kopf war noch immer vorgestreckt; das Kinn bewegte sich zeitweise; die Falten an seinem magern Hals konnten Erbarmen erregen. Bisweilen, wenn das Wetter schlecht war, hatte er einen Regenschirm unter dem Arm, machte ihn aber nicht auf. Die Frauen in dem Stadtviertel sagten: Ein Schwachsinniger. Die Kinder liefen ihm nach und verlachten ihn.


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