Victor Hugo
Die Elenden. Dritter Theil. Marius
Victor Hugo

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Achtes Buch. Der böse Arme

I.
Eine merkwürdige Begegnung

Der Sommer, der Herbst verging; der Winter kam und weder Leblanc noch seine Tochter hatte den Fuß in den Jardin du Luxembourg gesetzt. Marius, der an nichts Anderes dachte, als an ihr sanftes, liebes Gesicht, suchte sie immerzu, suchte sie überall und fand keine Spur von ihr. Er war jetzt nicht mehr Marius der Schwärmer, der entschlossene, leidenschaftliche und charakterfeste Mann, der kühn dem Schicksal Trotz bot und rastlos stolze Zukunftspläne schmiedete. Er hatte jetzt jeden Halt verloren, wie ein herrenloser Hund. Düstre Schwermuth bemächtigte sich seiner. Die Arbeit war ihm zuwider, das Spazierengehen ermüdete ihn, die Einsamkeit langweilte ihn; die Natur, die ihm einst eine Fülle von Gestalten, von Klarheit, von Stimmen, Perspektiven, Horizonten, Lehren geboten, lag jetzt leer da. Ihn dünkte, alles sei verschwunden.

Sein Hirn arbeitete noch immer, weil es nicht anders konnte; aber Vergnügen machte ihm das Denken nicht mehr. Und tauchten dennoch Hoffnungen, Pläne, Vorsätze in seinem Geiste auf, so wies er sie zurück mit einem schwermüthigen: »Wozu? Es hat ja keinen Zweck.«

Er machte sich allerlei Vorwürfe. Warum bin ich ihr nachgegangen? Das Glück, sie zu sehen und von ihr gesehen zu werden, war doch groß genug. Augenscheinlich liebte sie mich. Ist das nicht die Hauptsache? Was wollte ich denn eigentlich noch mehr? Ich bin thöricht gewesen. Es ist meine eigene Schuld. U. s. w., u. s. w. – Courfeyrac, den er nicht in sein Herzensgeheimniß eingeweiht hatte, – dies lag nicht in seiner Art, – der aber alles errieth, – denn das lag in Courfeyrac's Art, – hatte ihm anfangs Glück dazu gewünscht, daß er sich verliebt habe, worüber er sich nicht wenig wunderte. Dann aber, als er Marius bekümmert sah, sagte er: »Ich sehe schon. Du hast Deine Sache sehr dumm angefangen. Komm mit mir nach der Chaumière,«

Einmal im September ließ sich indessen Marius von Courfeyrac, Laigle und Grantaire dazu bewegen, mit nach Sceaux zum Ball zu gehen. Er rechnete auf das schöne Wetter und gab sich der eigenthümlichen Hoffnung hin, er würde sie vielleicht an diesem Orte finden. Natürlich begegnete er nicht derjenigen, die er suchte. – »Hier findet man doch sonst alle verlornen Frauenzimmer!« ulkte der Skeptiker Grantaire.

Entmuthigt ging Marius ohne seine Freunde fort und machte sich auf den Heimweg, allein, abgespannt, fieberhaft aufgeregt, die Augen von Thränen getrübt, während neben ihm die in Kremsern heimkehrenden Pariser ihre lustigsten Lieder ertönen ließen.

Fortan lebte er einsamer denn je, nur mit dem Gedanken an die Verlorne beschäftigt, von innerer Angst hin und her getrieben, wie ein Wolf im Käfig.

Ein anderes Mal hatte er eine Begegnung, die einen merkwürdigen Eindruck auf ihn machte. Er sah in einer der Nebenstraßen des Boulevard des Invalides einen Mann, der wie ein Arbeiter gekleidet war und eine Mütze mit langem Schirm trug. Der Betreffende hatte schneeweißes Haar, das wegen seiner Schönheit Marius Aufmerksamkeit auf den Alten lenkte. Dieser ging sehr langsam und dem Anschein nach in traurige Gedanken verloren. Sonderbar, er glaubte Leblanc vor sich zu haben. Dieselben Haare, dasselbe Profil, so weit es sich unter der Mütze erkennen ließ, derselbe Gang, nur war die Haltung eine schwermüthigere. Wozu aber die Arbeiterkleidung? Was sollte das bedeuten? Was für Gründe hätte er haben sollen, sich so zu vermummen? Als Marius sich von seinem ersten Erstaunen erholt hatte, war sein erster Gedanke, er müsse dem Manne folgen. Wer weiß, vielleicht war er endlich auf der richtigen Spur. Jedenfalls wollte er ihn sich aus der Nähe ansehen und das Räthsel lösen. Leider kam ihm dieser Einfall zu spät, der Unbekannte war nicht mehr zu sehen. Er mußte in irgend eine kleine Nebenstraße eingebogen sein, und Marius suchte ihn vergeblich.

Diese Begegnung gab ihm Tage lang zu denken. Dann schlug er sie sich aus dem Sinn. »Wahrscheinlich Jemand, der ihm ähnelt!« tröstete er sich.

II.
Ein Fund

Marius wohnte noch immer in dem Gorbeauschen Hause, wo er sich nach wie vor um Niemand bekümmerte.

Allerdings waren damals keine andern Miether darin, als er und die Familie Jondrette, für die er einmal die Miethe bezahlt hatte, ohne je mit dem Vater, der Mutter oder den Töchtern ein Wort gewechselt zu haben. Alle Andern waren entweder gezogen oder gestorben oder exmittirt.

Eines Nachmittags, an dem die Sonne ein wenig zum Vorschein gekommen – es war der 2. Februar, also Lichtmeß, wo »erst die rechte Kälte auf sechs Wochen einfällt«, hatte sich Marius aus seiner Klause hervorgewagt. Es dämmerte, die Essenszeit rückte heran und Marius wollte sich nach seinem Restaurant begeben, denn ach! wir schwachen Menschenkinder brauchen zum Leben noch etwas mehr, als die ideale Liebe.

Er hatte die Schwelle seines Hauses soeben überschritten, die Frau Burgon fegte, während sie in einem denkwürdigen Monologe das Resultat einiger nationalökonomischen und philosophischen Betrachtungen formulirte:

»Was ist denn heutzutage billig? Alles ist theuer. Was hat denn da der arme Mensch vom Leben? Mühe und Arbeit hat er. Das freilich ist ein Kapital, das nie alle wird.«

Marius ging also mit langsamen Schritten nach dem Thor zu, um nach der Rue Saint-Jacques zu gelangen. Er war nachdenklich und sah zu Boden.

Plötzlich rannte Jemand ihn an; er sah sich um und sah zwei zerlumpte junge Mädchen, eine lange und magere und eine kleinere, athemlos und angstvoll an ihm vorübereilen; sie kamen aus der entgegengesetzten Richtung und hatten ihn nicht gesehen. Marius unterschied noch im Dämmerlicht ihre bleichen Gesichter, ihr zerzaustes Haar, ihre greulichen Hüte, ihre ärmliche Kleidung und ihre bloßen Füße. Auch hörte er noch, wie die große sagte:

»Die Lampen kamen, ehe ich's mir versah. Beinah hätten sie mich abgefaßt.«

»Bin ich kajohlt! Nein, bin ich kajohlt!« antwortete die Andere.

Marius verstand diese abscheuliche Sprache nicht, errieth aber, daß die Polizei die jungen Dinger hatte arretieren wollen, und daß diese sich in Sicherheit gebracht hatten.

Er sah ihnen noch eine Weile nach, bis sie in der Dunkelheit unter den Bäumen verschwanden.

Da bemerkte er, als er sich wieder in Bewegung setzte, ein graues kleines Packet vor sich auf der Erde liegen. Er bückte sich und hob es auf. Es war eine Art Briefumschlag, in dem Papiere steckten.

»Das haben die unglücklichen Dirnen fallen lassen!« dachte er, machte Kehrt, rief, bekam sie aber nicht zu Gesicht. Allerdings lief er nur eine kurze Strecke zurück, in der Ueberzeugung, daß sie schon weit sein müßten. Dann steckte er das Packet in die Tasche und setzte seinen Weg fort.

Unterwegs sah er in der Rue Mouffetard eine Kinderbahre, die mit einem schwarzen Tuch bedeckt, über drei Stühle gelegt und mit einem Talglicht beleuchtet war. Dieser Anblick erinnerte ihn an die beiden Mädchen.

»Arme Mütter!« dachte er. »Es giebt noch etwas Schlimmeres, als sein Kind sterben zu sehen. Nämlich, wenn es auf Abwege geräth.«

Dann lenkte er seine Gedanken wieder in ihre gewöhnliche Bahn und träumte sich zurück in die Zeit, wo er in dem schönen Garten so viel Liebesglück empfunden hatte.

»Wie düster ist mein Leben geworden! Früher beschäftigten sich meine Gedanken mit einem Engel von Mädchen, jetzt mit Vampyren.«

III.
Vierstirnig

Als er sich am Abend auskleidete, um schlafen zu gehen, fand er zufälligerweise in seiner Rocktasche das Packet, das er auf dem Boulevard aufgehoben hatte und das ihm ganz aus dem Sinn gekommen war. Er sagte sich, daß er gut thun würde, es nachzusehen. Vielleicht enthielt es die Adresse der jungen Mädchen, wenn es ihnen überhaupt gehörte, oder irgend welche Angaben, die ihn auf ihre Spur leiten könnten.

Er öffnete den Umschlag.

Er war nicht zugesiegelt und enthielt vier gleichfalls unversiegelte Briefe.

Sie waren mit den Adressen versehen und rochen alle vier nach Taback.

Der erste war adressirt an die »Frau Marquise de Grucheray, Platz vis-à-vis das Abgeordnetenhaus, Nr. . . .«

Marius meinte, er würde hierin finden, was er suchte, und da der Brief nicht zugemacht war, dürfte er sich erlauben ihn zu lesen.

Er lautete folgendermaßen:

»Gnädigste Frau Marquise!«

Die Tugend der Milde und Barmherzigkeit ist das Band, welches die Gesellschaft am engsten verbindet. Entfalten Sie ihr christliches Gefühl und werfen sie einen Blick des Mitleids auf einen unglücklichen Spanier, Opfer seiner Königstreue und heiligen Begeisterung für Trohn und Altar, für die er sein Blut vergossen hat, sein ganzes Vermögen eingebüßt, indem er diese gerechte Sache vertheidigte, und gegenwärtig befindet er sich im größten Elend. Er zweifelt nicht, daß eine so verehrungswürdige Dame ihm eine Unterstützung genehmigen wird, um ein Dasein zu erhalten, das für einen gebildeten und ehrenhaften Militär höchst peinlich, der mit Narben bedäckt ist. Er hofft im Voraus auf die Menschenliebe, die sie beseelt, Gnädigste Frau Marquise, und auf die Teihlnahme, die Sie für eine so unglückliche Nazion hegen. Die Familie wird keine Fehlbitte tuhn, und Ihre Dankbarkeit wird ihr Andenken im Herzen bewahren.

Mit vorzüglichster Ehrerbietung habe ich die Ehre zu sein.
        Gnädigste Frau Marquise,
                Don Alvares

spanischer Hauptmann der Kavallerie, nach Frankreich geflüchteter Royalist, der für das Wohl seines Vaterlandes reist und ihm fehlen die Mittel, seine Reise fortzusätzen.«

Die Wohnung des Bittstellers war nicht angegeben. Marius nahm also den zweiten Brief vor, der an die »Frau Gräfin de Montvernet, Rue Cassette Nr. 9« adressirt war.

In diesem las Marius Folgendes:

»Gnädigste Frau Gräfin!«

Eine unglückliche Familienmutter von sächs Kinder, wovon das Lätzte erst acht Monat alt ist, wendet sich an sie, krank seit meiner letzten Entbindung, von meinem Mann seit fünf Monat verlassen ohne Existenzmittel in dem schräckligsten Elend.

In der Hoffnung auf der gnädigsten Frau Gräfin hat sie die Ehre zu sein mit der ausgezeichnetsten Hochachtung

Frau Balizard.«

Marius ging nun zum dritten Brief über, der gleichfalls eine Bittschrift war. Er lautete:

»Herr Pabourgeot, Wähler, Strumpfwaarenhändler en gros,
Rue Saint-Denis Ecke der Rue aux Fers.

Ich erlaube mir diese Zeilen an sie zu richten um Sie zu bitten mich mit ihrer Simpathie zu beehren und Ihre Gönnerschaft einem Schriftställer zuzuwenden, der ein Drama bei dem Théâtre français eingesandt hat. Der Stoff ist historisch und spielt in der Auvergne zur Zeit des Kaisertuhms. Der Stiel ist, glaube ich, natührlich, lakonisch und hat vielleicht einige gute Eigenschaften. Er enthält an vier Ställen Lieder zum Singen. Komisches, Ernsthaftes, Ueberraschendes sind verknüpft mit der Mannigfaltigkeit der Karaktere und ist die ganze spannende Intrigue leicht romantisch angehaucht, indem die Lösung des Knotens herbeigeführt vermittelst großartigen Effäkten,

Mein Hauptzweck ist Genüge zu leisten dem Verlangen, das der heutige Mensch trägt mit der Zeit fortzuschreiten, nämlich der Mode, jener launenvollen und eigentühmlichen Wetterfahne, die sich fast bei jedem neuen Winde dreht.

Trotz dieser Vorzüge und Verdienste habe ich Grund zu fürchten, daß der Brotneit, der Egoismus der bevorzugten Schriftställer meine Ausschließung vom Teahter durchsetzt, denn ich kenne sehr wohl die Schwierigkeiten, die den Neuen in den Weg gelegt werden.

Hochgeehrter Herr Pabourgeot, ihr gerechter Ruf als aufgeklärter Gönner der Schriftställer flößt mir die Kühnheit ein, meine Tochter zu Ihnen zu schicken, die ihnen unsere bedürftige Lage auseinander setzen wird, indem es uns zu dieser Winterzeit an Brot und Brennmaterial mangelt. Meine Bitte an sie Ihnen mein Drama zu witmen und alle andern, die ich zu schreiben gedenke, wird ihnen beweisen, wie hoch ich die Ehre schätze unter ihrer Protekzion vor die Oeffentlichkeit zu treten und meine Werke mit ihrem wehrten Namen zu zieren. Wenn sie die Geneigtheit haben mich mit der bescheidensten Gabe zu beehren, werde ich sofort beflissen sein ein Gedicht zu machen um Ihnen den Tribut meiner Dankbarkeit darzubringen. Dieses Gedicht, welches ich so vollkommen wie möglich dichten werde, wird ihnen zugeschickt werden, ehe es zu Anfang des Dramas inserirt und auf der Szene deklamirt wird.

Herrn und Frau Pabourgeot
Meine vorzügligste Hochachtung
Genflot, Schriftställer.

P.S. Wenn es auch nicht mehr sind als zwei Franken.

Entschuldigen Sie, daß ich meine Tochter schicke und mich nicht selber vorställe, aber traurige Toilettengründe erlauben mir leider nicht aus dem Hause zu gehen . . .«

Endlich machte Marius noch den vierten Brief auf. Auf dem Umschlag stand: »An den wohltähtigen Herrn von der Kirche Saint-Jacques-du-Haut-Pas.« Dieser Brief enthielt folgende Zeilen:

»Wohlthätiger Mann!«

Wenn Sie geruhen wollen meine Tochter zu begleiten, werden sie einen elenden Jammer sehen, und werde ich ihnen meine Zeugnisse vorlegen.

Bei dem Anblick dieser Zeilen wird ihr edles Gemüht von einem Gefühl empfindungsvollen Wohlwollens erregt werden, denn die wahren Philosofen empfinden immer innige Rührung.

Gestehen Sie, mitleidiger Mann, das man in der grausamsten Dürftigkeit sein muß, und daß es wehe thut, wenn man eine Unterstützung erhalten will, wenn man es muß von der Obrigkeit bescheinigen lassen, als wenn man nicht das Recht hätte unglücklich zu sein und Hungers zu stärben, bis unserm Elend abgeholfen wird. Das Schicksal ist sehr verhengnißvoll für Manche und zu verschwenderisch oder zu parteiisch für Andere.

Ich erwartete ihr Erscheinen oder Ihre Gabe, wenn sie mir gütigst etwas geben wollen, indem ich Sie ersuche die Versicherung der vorzügligsten Hochachtung zu genehmigen, mit der ich die Ehre habe,

Wahrhaft hochherziger Mann,
zu sein
Ihr ergebenster und gehorsamster Diener

P. Fabantou, Schauspieler.«

Nachdem er diese vier Briefe gelesen, war Marius nicht viel klüger als vorher.

Keiner der Bittsteller gab seine Adresse an.

Ferner schienen sie von vier verschiedenen Personen zu kommen; aber sonderbarer Weise war die Handschrift in allen Briefen dieselbe.

Was ließ sich Anderes schließen, als daß sie alle denselben Verfasser hatten?

Diese Vermuthung wurde durch den Umstand bestätigt, daß alle vier auf demselben groben und vergilbten Papier geschrieben, mit demselben Tabakgeruch getränkt waren, und wenngleich der Versuch gemacht war, jeden Brief in einem andern Stil zu schreiben, so zeigten sich doch dieselben Verstöße gegen die Orthographie überall mit der gleichen Unverfrorenheit, und der »Schriftställer« Genflot hatte sich davon ebenso wenig frei gehalten, wie der spanische Hauptmann.

Sich über die Lösung dieses Räthsels den Kopf zu zerbrechen war eine unnütze Mühe. Hätte es sich nicht um einen zufälligen Fund gehandelt, so hätte man an einen schlechten Witz denken können. Marius hatte zuviel Kummer, um auch einen Spaß des Zufalls gut aufzunehmen und gute Miene zu dem Scherz zu machen, den sich die Straße mit ihm erlaubte. Es kam ihm vor, als spielten die vier Briefe Blindekuh mit ihm.

Nichts deutete übrigens an, daß die Briefe den jungen Mädchen gehörten, denen Marius auf dem Boulevard begegnet war. Offenbar handelte es sich hier um ein ganz wertloses Geschreibsel.

Er steckte sie also wieder in den Umschlag, warf das Ganze in eine Ecke und legte sich zu Bett.

Gegen sieben Uhr Morgens, als er eben aufgestanden und gefrühstückt hatte, und den Versuch machte, sich in eine Arbeit zu vertiefen, klopfte es leise an seine Thür.

Da er nichts hatte, ließ er, auch wenn er ausging, den Schlüssel in der Thür stecken, ausgenommen, was sehr selten vorkam, wenn er eine eilige Arbeit zu erledigen hatte. »Ich sehe es doch kommen, daß Sie bestohlen werden!« mahnte unaufhörlich Frau Burgon. »Was kann man mir denn nehmen?« fragte Marius. Gleichwohl vermißte er doch einmal ein Paar alte Stiefel, was ein großer Triumph für die Vicewirtin war.

Es klopfte zum zweiten Mal, wieder sehr leise.

»Herein!« rief Marius.

Die Thür that sich auf.

»Was wünschen Sie, Frau Burgon?« fragte Marius, ohne von den Büchern und Manuskripten wegzusehen, die auf seinem Tische lagen.

Jemand anders als Frau Burgon antwortete:

»Verzeihung, Herr . . .«

Es war eine dumpfe, heisere Branntweinstimme.

Marius wandte sich hastig um und sah ein junges Mädchen vor sich.

IV.
Eine verkümmerte Rose

Ein blutjunges Mädchen stand auf der Schwelle. Die Luke der Dachstube lag der Thür gerade gegenüber, und das Tageslicht beleuchtete mit fahlem Schein ihre schwächliche, abgezehrte, unentwickelte Gestalt, die blos mit einem Hemd und einem Unterrock bekleidet war. Um die Taille ein Bindfaden, um den Kopf ein Bindfaden, spitze, aus dem Hemde hervorstehende Schultern, eine schwindsüchtige Blässe, stark hervorstehende Schlüsselbeine, rothe Hände, Zahnlücken in dem halbgeöffneten Munde, glanzlose Augen mit dreistem Blick, ein Zwitterding von Alter und Jugend, ein Gemisch von erbarmenswerter Schwäche und abstoßender Gemeinheit – das war das Bild, das sich unserm Marius darbot.

Dieser hatte sich von seinem Sitz erhoben und betrachtete voller Staunen und Schrecken das bejammernswerte Wesen, das einem Traumgespenst ähnlicher war als einem Menschen.

Am peinlichsten und schmerzlichsten berührte an dem jungen Mädchen der Umstand, daß sie von Natur offenbar nicht häßlich veranlagt war. Als Kind, so schien es, mußte sie niedlich gewesen sein. Noch kämpfte hier jugendliche Anmuth mit widerwärtigem, durch Unzucht und Entbehrungen verfrühtem Alter. Ein Rest von Schönheit erstarb eben noch auf dem sechzehnjährigen Gesicht, wie oft an einem Wintertage die matte Sonne schon in der Frühe von häßlichen Wolken verdunkelt wird.

Das Gesicht war Marius nicht ganz unbekannt. Er glaubte sich entsinnen zu können, daß er es irgendwo gesehen hätte.

»Was wünschen Sie, Fräulein?« fragte er.

Das junge Mädchen antwortete mit ihrer rauhen Trunkenboldstimme:

»Ich bringe einen Brief für Sie, Herr Marius.«

Sie nannte ihn bei seinem Namen, und er konnte nicht zweifeln, daß sie in der That ihn sprechen wollte; aber wer war sie? Und woher wußte sie, wie er hieß?

Ohne abzuwarten, daß er sie auffordere näher zu treten, kam sie ungenirt herein und sah sich mit einer Dreistigkeit, die für Marius etwas Peinliches hatte, in dem Zimmer um und auf sein noch nicht in Ordnung gebrachtes Bett. Sie ging barfuß und durch ihren zerlöcherten Unterrock konnte man ihre langen Beine und ihre fleischlosen Kniee sehen. Dabei zitterte sie heftig vor Frost.

Als Marius den Brief aufmachte, den sie ihm überreichte, fiel ihm auf, daß die große und breite Oblate, mit der er versiegelt war, noch Spuren von Feuchtigkeit zeigte. Die Botschaft konnte also nicht weit herkommen. Der Brief lautete:

»Liebenswürdiger junger Herr Nachbar!«

Ich habe erfahren, wie gut sie gegen mich gewesen sind, indem Sie vor sechs Monaten die Miehte für mich bezahlt haben. Ich segne sie dafür, junger Mann. Meine elteste Tochter wird ihnen sagen, daß wir seit vier Tagen keinen Bissen Brot haben, unser vier und eine kranke Frau. Wenn ich mich nicht sehr täusche, glaube ich hoffen zu dürfen, daß Ihr mildtähtiges Herz über diesen meinen Bericht eine menschliche Rührung empfinden und sie des Wunsches teihlhaftig machen wird, milde gegen mich zu sein, indem Sie geruhen wollen, mich mit einer kleinen Gabe zu beglücken.

Ich bin mit der vorzüglichen Hochachtung, die man den Wohlthätern der Menschheit schuldet.

Jondrette.

P. S. Meine Tochter wird Ihre Befehle entgegennehmen, lieber Herr Marius.

Der Brief wirkte wie ein Licht, das plötzlich in einen dunklen Keller gebracht wird. Er klärte das Abenteuer auf, das Marius Tags zuvor passirt war.

Dieses Schreiben kam aus derselben Quelle, wie die vier andern. Dieselbe Handschrift, derselbe Stil, dieselbe Orthographie, dasselbe Papier, derselbe Tabaksgeruch.

Der spanische Hauptmann Don Alvares, die unglückliche Familienmutter Frau Balizard, der Dramenschreiber Genflot, der alte Schauspieler Fabantou hießen alle vier Jondrette, – vorausgesetzt, daß Jondrette selber auch Jondrette hieß.

Wie schon erwähnt, hatte Marius in dem ziemlich langen Zeitraum, wo er in dem Hause wohnte, sehr selten Gelegenheit und Lust gehabt, sich um seine armselige Nachbarschaft zu bekümmern. Seine Gedanken, und folglich auch seine Augen, waren mit andern Dingen beschäftigt. Allerdings mußte er den Jondrette auf dem Flur und auf der Treppe mehr als ein Mal begegnet sein; aber sie waren für ihn wie Schatten, und er hatte sie so wenig beachtet, daß er den Abend zuvor auf den Boulevard von den Fräulein Jondrette beinah umgerannt worden war, ohne daß er sie erkannte, denn Diese waren es offenbar gewesen, und daß Diejenige, die jetzt zu ihm in sein Zimmer gekommen war, in ihm neben Widerwillen und Mitleid nur eine schwache Erinnerung geweckt hatte.

Jetzt war ihm alles klar. Sein Nachbar Jondrette beutete in seiner Noth die Mildthätigkeit gutmüthiger Leute gewerbsmäßig aus und schrieb unter falschen Namen Bettelbriefe, die er durch seine Töchter austragen ließ, auf die Gefahr hin, daß die Wohlthäter die Unglücklichen mißbrauchten. Die armen Mädchen waren der Einsatz der Partie, die ihr Vater mit dem Schicksal spielte. Was Marius am Abend zuvor gehört und gesehen hatte, bestätigte ihn auch in der Vermuthung, daß die beklagenswerten Wesen ein abscheuliches Gewerbe betrieben. Auf diese Weise waren in Folge der mangelhaften Gesellschaftsordnung, zwei Unglückliche, die weder Fräulein noch Frauen, sondern zugleich unzüchtige Sünderinnen und unschuldige Kinder waren, unrettbar eben so grausigem, wie unverdientem Elend anheimgefallen. Wesen, die nicht mehr zum Bösen, noch zum Guten fähig sind, und die nach kurzer Kindheit schon nichts mehr auf der Welt haben, weder Freiheit, noch Tugend, noch Verantwortlichkeit. Gestern aufgeblüht, heute schon verwelkt, den Blumen vergleichbar, die auf die Straße geworfen, von allerlei Unrath besudelt und schließlich von einem Wagenrade zermalmt werden.

Mittlerweile ging, während Marius sie verwundert und mitleidig betrachtete, das junge Mädchen in der Dachstube hin und her, dreist wie ein Geist in einem verwunschenen Schloß. Ebenso wenig genirte sie ihre unzulängliche Bekleidung. Es ließ sie sehr kalt, wenn zeitweise ihr zerrissenes Hemde von den Schultern bis zum Gürtel herabfiel. Sie schob die Stühle bei Seite, nahm die Toilettengegenstände, die auf der Kommode lagen, in die Hand, faßte Marius' Kleider an und schnüffelte in den Ecken herum. Kurz, sie that, als ob sie zu Hause war.

»Ei, Sie haben einen Spiegel!« sagte sie u. a.

Dann trillerte sie, als ob sie allein gewesen wäre, lustige Lieder, die in ihrem Munde schaurig klangen.

Aber keck, wie sie auftrat, war doch nicht zu verkennen, daß sie sich Zwang anthat und sich im Grunde gedemüthigt fühlte. Man gebärdet sich bisweilen unverschämt, um nicht merken zu lassen, daß man sich schämt.

Es konnte einen Menschenfreund trübe stimmen, wie sie so in dem Zimmer herumirrte, so zu sagen flatterte, wie ein Vogel, der sich vor dem Tageslicht fürchtet, oder dem ein Flügel zerbrochen ist. War es doch augenscheinlich, daß sie bei einer bessern Erziehung und in einer glücklicheren Lebenslage fähig geworden wäre, viel Liebreiz zu entfalten. Ein Thier, das die Natur zur Taube bestimmt hat, kann nie eine Krähe werden. Dergleichen Ausartungen kommen nur bei Menschen vor.

Marius beobachtete sie nachdenklich und ließ sie gewähren.

Endlich kam sie auch an den Tisch.

»Ach, Bücher!« rief sie aus, und ihre glasigen Augen leuchteten auf.

»Ich kann lesen!«

Der Ton ihrer Stimme ließ erkennen, daß sie sich freute mit einem Vorzug, einer Fertigkeit prahlen zu können, ein Glück, gegen das kein menschliches Wesen unempfindlich ist.

Sie griff lebhaft nach dem Buch, das auf dem Tisch lag, und las ziemlich geläufig:

»Der General Bauduin erhielt den Befehl mit den fünf Bataillonen seiner Brigade das Schloß Hougomont zu nehmen, das in der Ebene von Waterloo liegt.«

Hier brach sie ab.

»Waterloo! das kenne ich. Da ist mal eine Schlacht geliefert worden. Mein Vater war auch dabei. Er ist Soldat gewesen. Wir sind stramme Bonapartisten, kann ich Ihnen sagen. Bei Waterloo ging es gegen die Engländer!«

»Und schreiben kann ich auch!« fuhr sie fort, legte das Buch hin, nahm eine Feder zur Hand und wandte sich an Marius mit der Frage:

»Wollen Sie's sehen? Ich will ein paar Worte schreiben.«

Und ehe er Zeit fand zu einer Antwort, schrieb sie auf ein Blatt weißes Papier, das auf dem Tische lag, die Worte: »Die Greifer sind da.«

»Ohne orthographische Fehler! Sehen Sie's Sich an. Wir haben die Schule besucht, meine Schwester und ich. Es ist eine Zeit gewesen, wo es uns besser ging, als jetzt. Wir waren zu was Anderm bestimmt, als . . .«

Hier hielt sie inne, heftete ihre matten Augen auf Marius, lachte laut auf und sagte: »Ach was!« Aus dem Ton sprach herbe Seelenqual, der sie durch Frechheit Herr zu werden suchte.

»Gehen Sie manchmal ins Theater?« fragte sie dann plötzlich. »Ich komme bisweilen hinein. Ich habe nämlich einen kleinen Bruder, der ist mit einigen Schauspielern befreundet und giebt mir manchmal ein Billet ab. Wissen Sie, im Amphitheater sitze ich nicht gern. Da ist es mir zu eng. Bisweilen hat man dicke Leute neben sich, und Manche riechen auch schlecht.«

Darauf musterte sie Marius und sagte mit einem eigenen Gesichtsausdruck:

»Wissen Sie, Herr Marius, daß Sie ein recht hübscher junger Mann sind?«

Sie hatten Beide denselben Gedanken, über den sie lächelte und er erröthete.

Sie trat an ihn heran und legte eine Hand auf seine Schulter:

»Sie beachten mich nicht, aber ich kenne Sie, Herr Marius. Ich begegne Ihnen hier im Hause, auf der Treppe und außerdem sehe ich Sie manchmal, wenn Sie bei einem gewissen Vater Mabeuf in Austerlitz hineingehen. Ich treibe mich nämlich ab und zu in der Gegend herum. Ihre zerzausten Haare kleiden Sie ganz ausgezeichnet.«

Sie bemühte sich ihrer Stimme einen sanften Klang zu geben, sprach aber statt dessen nur sehr leise. Auf dem Wege von dem Kehlkopf bis zu den Lippen ging ein Theil der Worte verloren, wie Töne auf einem Klavier, dem Tasten fehlen.

Marius war sacht zurückgetreten und sagte jetzt mit seinem gewöhnlichen, kühlen Ernste:

»Fräulein, ich habe da ein Paket, das, wie ich glaube, Ihnen gehört. Erlauben Sie mir, es Ihnen zu überreichen.«

Mit diesen Worten übergab er ihr den Umschlag mit den vier Briefen,

Sie klatschte laut in die Hände und rief:

»Das haben wir überall gesucht!«

Darauf ergriff sie lebhaft das Paket und sah die Briefe nach, während sie dabei munter plapperte:

»Nein, was wir gesucht haben, meine Schwester und ich! Und Sie hatten's gefunden! Auf dem Boulevard, nicht wahr? Das ist meinem Gänschen von Schwester aus der Tasche gefallen, wie wir so schnell gelaufen sind. Als wir nach Hause kommen, war das Ding weg. Da wir keine Keile kriegen wollten – die helfen ja doch zu nichts, zu gar nichts, rein gar nichts –, haben wir zu Hause gesagt, wir hätten sie den Leuten übergeben und nichts besehen. Und nun sind die armen Briefe wieder da. Woran haben Sie denn aber erkannt, daß sie mir gehörten? Ja so, an der Handschrift. Sie waren also Derjenige, gegen den wir gestern Abend angerannt sind. Ja, es war dunkel. Ich habe gleich zu meiner Schwester gesagt: ›Das war ein feiner Herr!‹«

Währenddem hatte sie den Bettelbrief an den wohlthätigen Herrn von der Kirche Saint-Jacques-du-Haut-Pas auseinander gefaltet.

»I, das ist ja der an den Alten, der die Messe besucht. Es ist gerade jetzt die Zeit. Ich werde mit dem Brief zu ihm gehen. Vielleicht giebt er mir was, damit wir uns was zu Essen kaufen können.«

»Wissen Sie,« fuhr sie fort und lachte, »was sein wird, wenn wir heute zu Mittag essen können? Dann kriegen wir unser Mittag- und Abendessen von vorgestern und gestern, heute, alles zusammen mit einem Mal. Ja ja ja ja! Krepirt, Hunde, wenn ihr nicht zufrieden seid!«

Diese Worte erinnerten Marius, weßwegen die Unglückliche zu ihm gekommen war.

Er suchte in seinen Westentaschen, fand aber nichts.

Das junge Mädchen plapperte weiter, schien sich aber nicht bewußt zu sein, daß Marius da war.

»Manchmal gehe ich des Abends weg. Andere Male komme ich nicht nach Hause. Ehe wir in diesem Hause wohnten, übernachteten wir unter den Brücken. Da rückten wir eng zusammen, damit uns nicht fror. Meine kleine Schwester weinte. Das Wasser sieht doch recht unheimlich aus. Wenn mir mal der Gedanke kam, ich wollte mich ertränken, dachte ich immer: ›Nein, es ist zu kalt!‹ Ich gehe allein aus, wann ich will. Manchmal schlafe ich in einem Graben. Wissen Sie, wenn ich des Nachts auf dem Boulevard herumlaufe, kommen mir die Bäume wie Gabeln vor, ich sehe ganz schwarze Häuser, die so groß sind, wie die Kirche Notre-Dame und bilde mir ein, daß die weißen Mauern die Seine sind. Da denke ich: ›Nanu, da ist ja Wasser!‹ Die Sterne sehen dann auch wie Illuminationslämpchen aus, rauchen und werden vom Wind ausgelöscht. Mir ist zu Muthe, als schnauften mir Pferde in die Ohren, als hörte ich, obgleich es doch Nacht ist, Leierkasten spielen, Webstühle klappern und wer weiß, was noch! Oder ich glaube, daß die Leute mit Steinen nach mir schmeißen, und renne, was ich rennen kann, ohne zu wissen warum, alles dreht sich, dreht sich um mich. Ja ja, es ist ein komisches Gefühl, wenn man lange nichts gegessen hat.«

Und dabei sah sie Marius mit irren Blicken an.

Diesem war es unterdessen nach einer gründlichen Durchsuchung seiner Taschen gelungen, fünf Franken und sechzehn Sous zusammenzubringen, alles, was er augenblicklich auf der Welt besaß. – »Na, es bleibt mir immerhin so viel, daß ich heute ein Abendessen bezahlen kann; nachher wollen wir dann weiter sehen!« Er behielt also die sechzehn Sous und gab dem jungen Mädchen die fünf Franken.

»Hurrah! Ein Sonnenstrahl! Fünf Franken in so'ner Bude! Das nenne ich nobel sein! Sie sind ein guter Junge. Sie gefallen mir. Hurrah! Für zwei Tage Wein und Fleisch und Brod. Wir werden uns den Bauch voll schlagen! Hurrah!«

Sie zog ihr Hemd wieder die Schultern herauf, verbeugte sich tief vor Marius, grüßte ihn dann noch einmal mit einer vertraulichen Handbewegung und wandte sich zum Gehen mit den Worten:

»Adieu, Herr Marius. Ich will aber doch den Alten aufsuchen.«

Da bemerkte sie, als sie an der Kommode vorbeikam, ein vertrocknetes, schimmliges Stück Brod, das sich im Staube herumtrieb, fiel eilig darüber her und biß hinein.

»Das schmeckt!« murmelte sie. »Aber hart ist's. Man bricht sich die Zähne daran aus.«

Dann ging sie hinaus.

V.
Das Guckloch

Marius hatte während der letzten fünf Jahre allerhand Entbehrungen durchgemacht und war sogar dem Hungertode nahe gewesen; aber jetzt wußte er, daß er das wahre Elend nicht kennen gelernt hatte. Das hatte er erst jetzt gesehen. Die Jammergestalt, die ihm so eben vor die Augen getreten, hatte ihm diese neue Offenbarung gebracht. Denn wer einen Mann im Elend gesehen hat, der hat nichts gesehen; man muß wissen, wie viel schrecklicher das Elend des Weibes ist. Und wer das Elend des Vaters kennt, hat auch noch nichts gesehen: Noch gräßlicher ist, was Kinder erdulden müssen.

Wenn der Mann sich keinen Rath mehr weiß, so schreitet er zum Aeußersten, um sich zu retten. Wehe dann den Wehrlosen, über die er als Vater oder Gatte Gewalt hat! Arbeit, Geld, Brod und Muth, guter Wille, lassen ihn alle zugleich im Stich. Leuchtet ihm das Glück nicht mehr, so erlischt auch in seinem Innern das Licht des moralischen Willens. Dann beutet er die Schwäche und Hülflosigkeit des Weibes und des Kindes aus, indem er sie zwingt, den Weg der Schande zu wandeln.

Dann werden alle Scheußlichkeiten möglich. Die Verzweiflung trennen von dem Laster und dem Verbrechen nur gebrechliche Scheidewände.

Diese gräßlichste Wirkung des Elends hatte jetzt das junge Mädchen Marius enthüllt.

Er machte sich Vorwürfe, daß er sich bisher nur in Liebesgedanken und Träumereien ergangen und sich so wenig um seine Nachbarn bekümmert hatte. Daß er ihre Miethe bezahlt, war ja nur eine maschinenmäßige Regung gewesen, der sich Andere auch nicht entzogen hätten: ihm hätte es geziemt, mehr zu thun. Wie! Nur eine dünne Wand trennte ihn von diesen hülflosen Menschen, die in der Nacht des Elends herumtappten, außerhalb der Gesellschaft der Lebenden; er hatte Fühlung mit ihnen, war für sie der letzte, einzige Vertreter der Menschheit und er ließ sie unbeachtet, während sie neben ihm elendiglich verdarben und starben! Jeden Tag, jeden Augenblick hörte er sie gehen, kommen, sprechen, seufzen, stöhnen und er achtete nicht darauf! Statt dessen verlor er sich in Träumereien, baute Luftschlösser, jagte einem unerreichbaren Liebesglück nach, und mittlerweile gingen Brüder in Jesu Christo, Leute aus dem Volke, dessen Wohlfahrt ihm am Herzen lag, zu Grunde. Ja, er war zum Theil Schuld an ihrem Unglück, er machte es noch schlimmer. Denn wenn sie einen aufmerksameren Nachbarn gehabt hätten, und keinen Grübler, so wäre ihr Elend beachtet worden. Man hätte ihre Nothsignale bemerkt, und sie wären jetzt vielleicht schon in einen sichern Hafen gebracht worden. Sie schienen freilich entartet, verderbt, gemein, ja verabscheuungswürdig; aber es giebt nicht Viele, die in Armuth versinken können, ohne zugleich ihre sittliche Kraft einzubüßen. Weist doch schon das Wort »die Elenden« auf eine nothwendige Verbindung zwischen materieller Noth und moralischer Schlechtigkeit hin. Und muß nicht die werkthätige Liebe am energischsten vorgehen, wenn sie einem besonders tiefen Fall gegenübersteht?

Während sich Marius so Moral predigte und, wie dies bei allen wahrhaft ehrlichen Menschen vorkommt, ein strenger Sittenrichter gegen sich selbst war, sich nachdrücklicher ausschalt, als er verdiente, ließ er seine Augen über die Wand schweifen, die ihn von den Jondrettes trennte, als hätten seine mitleidsvollen Blicke zu ihnen gelangen und ihnen milde Lebenswärme spenden können. Die Wand war ganz dünn, nichts als Latten und Balken mit einem dürftigen Kalkbewurf, und man konnte es deutlich hören, wenn auf der andern Seite gesprochen wurde. Es gehörte ein Träumer wie Marius dazu, um solch einen auffälligen Umstand nicht zu bemerken. Weder in Marius Zimmer noch bei den Jondrettes war die Wand mit Tapeten beklebt, so daß man bloß das plumpe Mauerwerk sehen konnte. Dieses untersuchte also Marius ohne bewußte Absicht so gründlich, wie es nur möglich ist, wenn man in tiefe Gedanken verloren ist. Plötzlich sprang er auf: Er hatte ganz oben, dicht unter der Decke ein dreieckiges Loch bemerkt. Zwischen drei Latten war der Kalk herausgebröckelt, und wenn man auf die Kommode stieg, konnte man durch diese Lücke in das Zimmer der Jondrette hineinsehen. Dem Mitleid ist Neugierde erlaubt, und wenn es sich darum handelt, Unglücklichen aus der Noth zu helfen, darf man den Spion spielen. So dachte Marius und beschloß sich den günstigen Zufall zu Nutze zu machen, um zu sehen, was für Leute die Jondrettes seien, und wie es mit ihnen stünde.

Er kletterte auf die Kommode hinauf und sah sich durch das Loch die Nachbarstube an.

VI.
Ein Raubthier in seiner Höhle

Die Städte haben wie die Wälder ihre Höhlen, in denen sich allerhand bösartiges und gefährliches Gethier versteckt hält. Aber die Grimmigkeit der Bestien, die in Städten wohnen, hat etwas Gemeines und Widerwärtiges, während die der Bestien im Walde den Stempel des Großartigen trägt und gefällt.

Das Zimmer in das Marius hineinsah, gehörte auch zu jenen Menschenbehausungen, gegen die Thierhöhlen den Vorzug verdienen.

Marius war arm, und in seinem Zimmer sah es dürftig aus; aber so wie seine Armuth edlen Ursprunges war, so herrschte auch Sauberkeit in seinem Dachstübchen. Die Nachbarwohnung dagegen war ein schmutziges, dumpfiges, dunkles, ekelhaftes Hundeloch. An Möbeln ein Strohstuhl, ein wackliger Tisch, etwas mehr oder minder zerbrochenes Geschirr und in zwei Ecken zwei elende Pritschen; dabei keine andere Lichtöffnung als ein Dachfenster mit vier Scheiben, an dem Spinnengewebe die Stelle der Vorhänge vertraten. Durch diese Luke kam gerade soviel Licht herein, daß dabei ein Menschengesicht ganz gespenstisch aussah. Die Wände waren voller Risse und Narben, wie ein von einer abscheulichen Krankheit entstellter, menschlicher Körper, und mit schleimigem Schmutz überzogen, mit obscönen Zeichnungen bedeckt.

Marius Stube hatte einen mit zerbrochenen Fliesen gedeckten Fußboden, in dieser sah man weder Steine noch Dielen: Nichts als der bloße, rohe Kalkbewurf, der im Laufe der Zeit schwarz geworden war. Auf diesem ungleichen Boden, auf dem der Staub eine Art Kruste bildete, und den nie ein Besen berührt hatte, lagen unordentlich verstreut, wie Sterne am Firmament, aber minder schön, alte Socken, Schlurren und Lumpen. Indessen hatte das Zimmer einen Kamin, weshalb es auch vierzig Franken jährlich kostete. In diesem Kamin war alles Mögliche zu sehen: ein Kohlenbecken, ein Fleischtopf, zerbrochene Bretter, Lappen, die an Nägeln hingen, ein Käfig, Asche und sogar ein Feuer. Zwei armselige Stücke Holz brannten darin.

Was dieses Loch noch unheimlicher erscheinen ließ, war der Umstand, daß es sehr groß war. Da gab es Vorsprünge, Winkel, dunkle Löcher, Sparrenfächer, Buchten und Vorgebirge. Daher dem Auge unerforschliche Eckräume, wo man riesige Spinnen und Asseln vermuthete oder gar menschliche Ungethüme.

Die eine Pritsche stand in der Nähe der Thür, die andere in der Nähe des Fensters. Beide berührten mit dem einen Ende den Kamin, der in der dem Guckloch gegenüberliegenden Wand angebracht war.

In einem demselben nahe gelegenen Winkel hing an der Wand in einem schwarzen Holzrahmen ein kolorirtes Bild, unter dem mit großen Buchstaben »der Traum« geschrieben stand. Es stellte eine schlafende Frau und ein schlafendes Kind dar; auf dem Schoß der Mutter einen Adler in einer Wolke mit einer Krone, welche die Frau von dem Kopf des Kindes zurückschob, ohne dabei aufzuwachen; im Hintergrund Napoleon in einer Glorie und gestützt auf eine blaue Säule mit gelbem Kapitäl, auf der folgende Inschrift stand:

Marengo.
Austerlitz.
Jena.
Wagram.
Eylau.

Unter diesem Bilde stand, schräg an die Wand gelehnt, eine Art Holztafel, die länger als breit war, vielleicht ein auf der andern Seite bemaltes Schild, das von einer Mauer abgenommen war und für eine spätere Gelegenheit aufbewahrt wurde.

An dem Tisch, auf dem Marius eine Schreibfeder, Tinte und Papier bemerkte, saß ein ungefähr sechzig Jahre alter kleiner, hagrer, blasser Mann, eine widerwärtige Kanaille mit pfiffigen, boshaften, unstäten Augen.

Ein Lavater hätte auf diesem Gesicht eine Verbindung des Geier- und des Staatsanwaltstypus konstatirt, die sich gegenseitig verhäßlichten und ergänzten. Der Rabulist theilte hier nämlich dem Raubvogel seine Nichtswürdigkeit mit, und der Raubvogel ließ den Rabulisten fürchterlich erscheinen.

Der Mann hatte einen langen, grauen Bart. Bekleidet war er mit einem Frauenhemd, das seine zottige Brust und seine mit grauen Haaren bedeckten Arme bloß ließ. Unter dem Hemde kamen mit Koth bespritzte Hosen hervor, und an den Füßen trug er Stiefel, durch deren Löcher die Zehen hervorguckten.

Er hatte eine Pfeife im Munde und rauchte. Es fehlte an Brod im Hause, aber noch nicht an Tabak.

Er schrieb, wahrscheinlich wieder an einem Bettelbrief.

Auf der einen Tischecke lag ein altes Buch mit röthlichem Einband in Duodezformat, vermuthlich ein Roman aus einer Leihbibliothek. Auf dem Deckel prangte eine Aufschrift in großen Buchstaben: »Gott, der König, die Ehre und die Damen, von Ducray-Duminil, 1814.«

Während er schrieb, sprach der Mann laut, und Marius konnte alles verstehen:

»Wenn man bedenkt, daß es selbst nach dem Tode keine Gleichheit giebt! Z. B. der Kirchhof, der Père-Lachaise. Die Vornehmen, die Reichen liegen oben in der Akazienallee, die schön gepflastert und für Equipagen fahrbar ist. Die kleinen Leute, die Armen, die Unglücklichen, werden in dem tiefer gelegnen Theil des Kirchhofs verscharrt, wo man im Koth bis an die Kniee watet, in feuchte Löcher. Da werden sie hineingeschmissen, damit sie desto schneller verfaulen. Man kann ihre Gräber nicht besuchen, ohne daß man im Schmutz versinkt.«

Hier hielt er inne, schlug mit der Faust auf den Tisch, und fuhr zähneknirschend fort:

»O ich könnte die Welt auffressen!«

Vor dem Kamin hockte außerdem eine dicke Frau von durchaus unbestimmbarem Alter.

Auch sie war nur mit einem Hemd bekleidet und mit einem Unterrock, der mit alten Tuchflicken besetzt war, und den eine Schürze aus grober Leinwand zur Hälfte verdeckte. Obgleich die Frau die Beine an den Körper herangezogen hatte, konnte man doch erkennen, daß sie von hoher Statur, eine Riesin im Vergleich mit ihrem Manne war. Sie hatte häßliche, rothblonde, zum Theil schon ergraute Haare, in die sie mit ihren schmierigen, großen Händen von Zeit zu Zeit hineinfuhr.

Neben ihr an der Erde lag ein aufgeschlagenes Buch von demselben Format, wie das auf dem Tische, wahrscheinlich ein anderer Band desselben Romans. Auf einer der Pritschen sah Marius ein hoch aufgeschossenes kleines Mädchen sitzen. Sie war so gut wie unbekleidet, ließ die Füße herabhängen und schien weder zu hören, noch zu sehen, noch irgend eines andern Lebenszeichens fähig zu sein.

Wahrscheinlich die jüngere Schwester des Mädchens, das zu Marius gekommen war.

Auf den ersten Blick schätzte man sie auf elf oder zwölf Jahre. Sah man sie aber genauer an, so erkannte man, daß sie ganz gut vierzehn zählte. Es war diejenige, die am Abend zuvor auf dem Boulevard »Bin ich kajohlt!« gesagt hatte.

Sie gehörte zu derjenigen Gattung von Kindern, die lange zurückbleiben und sich dann mit einem Mal entwickeln, eine Erscheinung, die bei schlecht genährten Wesen häufig vorkommt. Im fünfzehnten Lebensalter sehen sie aus, als wären sie zwölf, im sechzehnten, als wären sie zwanzig Jahre alt. Sie überspringen gleichsam einige Jahre, um das Leben recht schnell hinter sich zu bekommen.

Augenblicklich sah das junge Mädchen noch wie ein Kind aus.

Im Uebrigen waren in dem Zimmer keine Spuren zu sehen, daß seine Bewohner irgend eine Arbeit leisteten, um ihr Brod zu verdienen. Kein Strickrahmen, kein Spinnrocken, kein Werkzeug. Nur einige eiserne Werkzeuge zweifelhafter Natur lagen in einer Ecke. Es herrschte hier jene stumpfe Trägheit, die eine Folge der Verzweiflung ist und dem Untergang vorausgeht.

Dieses ungemüthliche Heim sah sich Marius eine geraume Weile an. Es war fürchterlicher als ein Grab, weil hier menschliches Leben pulsirte.

Die Dachstube, der Keller, wo die unglücklichsten der Enterbten hausen, sind nicht das Grab, wohl aber das Vorzimmer dazu. Aber wie jene Reichen, die ihre schönsten Schätze am Eingang ihres Palastes aufstellen, so scheint auch der Tod, der hier in nächster Nähe weilt, sein größtes Elend in diesem Vorraum aufzuhäufen.

Nach einer Weile schwieg der Mann, sprach die Frau nicht mehr, verhielt sich das kleine Mädchen regungs- und lautloser denn je. Man konnte die Feder auf dem Papier kratzen hören.

Bald aber brummte der Mann wieder:

»Niedertracht! Niedertracht! Alles ist niederträchtig!«

Diese Variante zu einem bekannten, skeptischen Ausspruch des Predigers Salomo entlockte der Frau einen Seufzer.

»So beruhige Dich doch, lieber Mann! Sonst ärgerst Du Dich noch krank mein Schatz. Die Leute sind nicht wert, daß Du an sie schreibst.«

Im Elend rücken, wie bei kaltem Wetter, die Menschen mit ihren Leibern enger zusammen; die Herzen aber entfernen sich von einander. Die Frau da hatte allem Anschein nach den Mann mit der ganzen Empfindungsstärke, deren sie fähig war, geliebt; aber in Folge der täglichen, gegenseitigen Vorwürfe, die sie sich über das Elend der ganzen Familie machten, war dies Gefühl erloschen, bis zu einem geringen Restchen Asche heruntergebrannt. Nur noch die Kosewörter »Lieber Mann,« »mein Schatz« waren, wie dies häufig vorkommt, übrig geblieben. Die sagte sie noch mit dem Munde her, aber ihr Herz wußte nichts davon.

Der Mann schwieg und fing wieder an zu schreiben.

VII.
Strategik und Taktik

Mit beklommener Brust wollte Marius endlich von seinem Beobachtungsposten hinuntersteigen, als ein Geräusch seine Aufmerksamkeit fesselte und ihn veranlaße, zu bleiben.

Die Thür der Dachstube wurde heftig aufgerissen, und die älteste Tochter erschien auf der Schwelle.

Sie trug an den Füßen plumpe Männerschuhe, die ebenso wie ihre rothen Knöchel mit Koth bespritzt waren, und war in eine alte zerlumpte Mantille gehüllt, die sie in Marius Zimmer nicht angehabt hatte. Wahrscheinlich hatte sie, um mehr Mitleid zu erregen, dieselbe vorher an der Thür abgelegt und nachher wieder umgeworfen. Sie kam jetzt herein, warf die Thür hinter sich zu, blieb eine Weile stehen, um wieder zu Athem zu kommen, denn sie war augenscheinlich schnell gelaufen, und rief dann in triumphirendem Tone:

»Er kommt!«

Der Vater, die Frau wandte sich zu ihr hin; ihre kleine Schwester rührte sich nicht.

»Wer?« fragte der Vater.

»Der Herr!«

»Der Menschenfreund?«

»Ja.«

»Von der Kirche Saint-Jacques?«

»Ja.«

»Der Alte?«

»Ja.«

»Er will kommen?«

»Er kommt hinter mir.«

»Bist Du dessen sicher?«

»Vollkommen sicher.«

»Ist's wirklich wahr, kommt er?«

»In einer Droschke.«

»In einer Droschke. Das muß ja eine Art Rothschild sein.«

Der Vater erhob sich von seinem Sitze.

»Wie kannst Du das aber so sicher wissen? Wie kam es, wenn er fährt, daß Du vor ihm hier bist? Hast Du ihm auch unsere Adresse gegeben? Hast Du ihm auch gesagt, die letzte Thür hinten im Flur rechts? Wenn er sich nur nicht irrt! Du hast ihn also in der Kirche gesprochen? Hat er meinen Brief gelesen? Was hat er zu Dir gesagt?«

»Sachte, sachte, sachte, Alter! Die Sache ist so zugegangen. Er war in der Kirche an seinem gewöhnlichen Platz. Ich habe meinen Diener gemacht und ihm Deinen Brief übergeben. Er las ihn und fragte: »Wo wohnen Sie, mein Kind?« Ich antwortete: »Ich werde Sie hinführen, mein Herr.« Darauf sagte er: »Nein, sagen Sie mir Ihre Adresse, meine Tochter hat Einkäufe zu machen, ich will eine Droschke nehmen und werde gleichzeitig mit Ihnen in Ihrer Wohnung ankommen.« Da habe ich ihm natürlich unsere Adresse gesagt. Als ich die Straße und Hausnummer nannte, schien er sich zu wundern und zögerte einen Augenblick, dann aber sagte er: »Na, ich werde kommen.« Als die Messe zu Ende war, sah ich ihn mit seiner Tochter aus der Kirche herausgehen, und dann stiegen sie in eine Droschke. Ich hab' ihm auch genau das Zimmer bezeichnet:

Die letzte Thür im Korridor rechts.«

»Und woraus schließt Du, daß er auch wirklich kommen wird?«

»Ich habe eben die Droschke in der Rue du Petit-Banquier gesehen. Deshalb bin ich so schnell gelaufen.«

»Woher weißt Du, daß es dieselbe Droschke ist?«

»Na, weil ich mir die Nummer gemerkt habe?«

»Welche Nummer ist es?«

»Nr. 440.«

»Bravo, Du bist ein gescheidtes Frauenzimmer.«

Das junge Mädchen sah ihrem Vater dreist ins Gesicht und erwiederte, indem sie auf ihre Schuhe zeigte:

»Gescheidt? Mag sein. Aber das sage ich Dir: Die Schuhe ziehe ich nicht mehr an. Ich will sie nicht mehr. Aus Gesundheitsrücksichten nicht und wegen der Schmutzerei. Ich kenne nichts Unangenehmeres als Schuhzeug, das bei jedem Schritt quurkst. Da will ich lieber barfuß gehen.«

»Du hast Recht,« antwortete der Vater mit einer Sanftmuth, die von dem Unmuth der Tochter sonderbar abstach, »leider würde man Dich aber nicht in die Kirche hineinlassen. Die Armen müssen Schuhe an den Füßen haben. – Mit bloßen Füßen darf man den lieben Gott nicht besuchen,« fügte er bitter hinzu. Dann kehrte er zu dem Gegenstand, der ihm im Kopf herumging, zurück und fragte wieder: »Bist Du aber auch sicher, daß er kommt, was man ›sicher‹ nennt?«

»Er folgt mir auf dem Fuße.«

Der Mann richtete sich in die Höhe. In seinem Gesicht leuchtete es wie von einer großartigen Eingebung auf.

»Frau, hörst Du? Der Menschenfreund kommt. Lösche das Feuer im Kamin aus.«

Sie sah ihn verdutzt an und rührte sich nicht.

Da ergriff der Vater, hurtig und gelenkig wie ein Seiltänzer, einen Topf mit abgebrochener Tülle, der auf dem Kaminsims stand, und goß Wasser auf das brennende Holz.

Dann wandte er sich an seine älteste Tochter:

»Und Du machst den Stuhl entzwei!«

Seine Tochter verstand nicht, was er meinte.

Da packte er den Stuhl und schlug mit dem Absatz so heftig auf den Strohsitz, daß der Fuß hindurch drang.

Während er das Bein aus dem Loch herauszog, fragte er seine Tochter:

»Ist es kalt?«

»Sehr kalt. Es schneit.«

Nun rief der Vater der jüngsten Tochter, die auf dem Bett am Fenster saß, mit donnernder Stimme die Worte zu:

»Herunter von dem Bett, Faulpelz! Fix! Bist Du denn zu gar nichts zu gebrauchen? Schlage eine Fensterscheibe entzwei!«

Die Kleine sprang zitternd vom Bett auf.

»Schlage eine Scheibe ein!« schrie er wieder.

Die Kleine blieb regungslos stehen.

»Hörst Du nichts? Du sollst eine Scheibe einschlagen!«

Das eingeschüchterte Mädchen gehorchte, richtete sich auf die Fußspitzen empor und schlug mit der Faust auf eine Scheibe. Laut klirrend fiel das ausgebrochene Glas hinunter.

»So ist's gut!« sagte der Vater.

Nun überschaute er sorgfältig das ganze Zimmer.

Seine Miene war die eines Menschen, der einen gewichtigen Entschluß gefaßt, der sich mit einem genialen Gedanken trägt. Er glich einem Feldherrn, der die letzten Vorbereitungen zu einer Schlacht trifft.

Die Mutter, die noch kein Wort gesprochen, stand jetzt auf und fragte langsam und dumpf:

»Lieber Mann, was hast Du vor?«

»Lege Dich ins Bett!« kommandirte er in einem Tone, der keine Widerrede gestattete. Sie gehorchte auch und plumpste schwer auf die Pritsche nieder.

Währenddem hörte man ein Geschluchz in der Ecke.

»Was ist denn?« fragte der Vater.

Statt der Antwort hob das jüngste Mädchen, ohne aus der dunkeln Ecke, wo sie sich hingekauert hatte, hervorzukommen, ihre mit Blut überströmte Hand in die Höhe. Sie hatte sich an dem Glase verletzt und war an das Bett zu ihrer Mutter gegangen.

Jetzt fuhr die Mutter auf und schrie:

»Da siehst Du, was Du für Dummheiten machst. Nun hat sich das arme Kind an Deiner vermaledeiten Scheibe die Hand zu Schanden geschlagen.«

»Desto besser! Das wollte ich!«

»Wie heißt: Desto besser?« gab sie zurück.

»Ruhig!« donnerte er. »Jetzt keine Redefreiheit!«

Dann riß er von dem Frauenhemd, das er am Leibe trug, einen Fetzen ab und verband damit hurtig, die blutige Hand der Kleinen.

Als er hiermit fertig war, sah er mit Wohlgefallen auf sein zerrissenes Hemd hinab.

»Das Hemde auch,« sagte er. »So, nun hat alles den richtigen Schick.«

Durch das zerschlagene Fenster pfiff der kalte Wind und wehte Schnee in die Stube hinein. Auch ein weißlicher Dunst kam herein und breitete sich darin gleichsam aus wie feine Watte, die von unsichtbaren Händen auseinander gezogen wurde. Die von der Lichtmeßsonne angekündigte Kälte hatte sich wirklich eingestellt.

Der Vater hielt nun noch einmal Umschau, ob er nichts vergessen hätte. Er fand auch noch etwas, das er in Ordnung bringen mußte. Er ergriff nämlich eine alte Schippe und schüttete Asche über die befeuchteten Holzbrände, so daß sie vollständig darunter verschwanden.

Nun endlich war er zufrieden, richtete sich auf, lehnte sich an den Kamin und sagte.

»So, jetzt können wir den Philanthropen empfangen.«

VIII.
Eine Lichtgestalt in der Hölle

Die älteste Tochter trat an ihren Vater heran und legte ihre Hand auf die ihres Vaters.

»Fühle mal, wie kalt mir ist,« sagte sie.

»Ach was!« antwortete der Vater. »Mir ist noch viel kälter.«

»Ja, mit Dir ist immer mehr los, als mit Anderen!« rief ärgerlich die Mutter dazwischen. »Nicht einmal im Unglück kann's Dir Einer gleich thun.«

»Willst Du wohl kuschen!« rief er und sah sie auf eine Weise an, daß ihr die Lust verging, auch nur ein Wörtchen hinzuzufügen.

Nun herrschte eine Zeit lang Stillschweigen in dem Hundeloch. Die älteste Tochter säuberte mit sorgloser Miene ihre Mantille von den Schmutzflecken, die jüngere schluchzte weiter; die Mutter hatte sie an sich gezogen, hielt ihren Kopf mit beiden Händen umfaßt und küßte unausgesetzt ihr weinendes Kind.

»So sei doch ruhig, mein süßes Leben; es ist ja nicht so schlimm. Weine doch nicht so; Dein Papa wird böse werden.«

»Denk nicht dran!« rief dieser. »Im Gegentheil. Schluchze und stöhne nur. Das wird sich sehr gut machen.«

Dann aber wandte er sich wieder an seine älteste Tochter:

»Donnerwetter, der läßt auf sich warten! Wenn er nur überhaupt kommt. Ich hätte ja dann für nichts und wieder nichts das Feuer ausgelöscht, den Stuhl kaput gemacht, mein Hemd zerrissen und die Scheibe zerschlagen!«

»Und die Kleine verwundet!« brummte die Mutter.

»Wißt Ihr,« fuhr der Vater fort, »in dieser vermaledeiten Bude ist eine Hundekälte. Wenn er nun nicht käme! Nun natürlich! Er denkt: Die können warten; dazu sind sie ja da. O wie ich sie hasse, mit welcher Freude, Wonne, Begeisterung, Genugthuung ich sie erwürgen könnte, die Reichen, alle Reichen, alle sogenannten mildthätigen Reichen, die zur Kirche gehen, mit dem Pfaffengeschmeiß unter einer Decke stecken; uns über die Religion was vorsalbadern, wischiwaschi, sich für was Besseres halten, uns demüthigen, uns Kleider, wie sie die elenden Lumpen nennen, und Brod bringen, was soll ich damit anfangen? Geld will ich, verdammtes Gesindel! Geld! Aber das geben sie Einem nicht, angeblich weil wir's vertrinken würden, weil wir Trunkenbolde und Faulpelze sind! Was sind sie denn aber, und was sind sie von jeher gewesen? Spitzbuben sind sie gewesen, sonst wären sie nicht reich geworden. O könnte man doch die Gesellschaft auf ein Tuch legen und in die Luft wippen! Dann würde vielleicht alles entzwei gehen, aber dann hätte wenigstens Keiner was, und das wäre doch ein Gewinn! – Aber was macht denn Dein alter Stiesel von Philanthrop? Wird er kommen? Der Dussel hat vielleicht die Adresse verschwitzt. Ich möchte wetten, das alte Rindvieh . . .«

In dem Augenblick klopfte Jemand leise an die Thür; sofort stürzte der wüthige Redner auf die Thür zu, riß sie mit rasender Hast auf und empfing seinen Besuch mit devoten Blicken und glücklichem Lächeln.

»Treten Sie näher, mein Herr! Geruhen Sie näher zu treten, mein hochverehrter Wohlthäter, Sie und Ihr reizendes Fräulein Tochter.«

Ein Mann von reifem Alter und ein junges Mädchen erschienen auf der Schwelle der Stubenthür.

Was Marius, der seinen Posten nicht verlassen hatte, in diesem Augenblick empfand, kann keine menschliche Zunge beschreiben.

»Sie« war es!

Wer je ein Weib geliebt hat, weiß, wieviel herrliche Bedeutungen die Verbindung der drei Buchstaben des Wortes »sie« auszudrücken vermag. Sie war es wirklich. Kaum war er ihrer ansichtig geworden, so legte sich ein lichter Dunst, durch den er sie kaum noch unterscheiden konnte, vor seine Augen. Der Stern stand wieder am Firmament seines Glückes, der ihm sechs Monate lang geleuchtet.

Sie war noch immer dieselbe, nur ein wenig blaß. Ihr zartes Gesichtchen war von einem violetten Sammthut umrahmt, ihre Taille verhüllte ein schwarzer Atlaspelz.

Sie kam wieder in Begleitung Leblanc's und trug ein ziemlich großes Packet, das sie auf den Tisch legte.

IX.
Jondrette weint beinahe

Die Dachstube war so dunkel, daß die Ankömmlinge anfangs nichts deutlich erkennen konnten. Die Jondrettes dagegen, deren Augen an das Dämmerlicht gewöhnt waren, konnten sie besser sehen.

»Sie werden,« sagte Leblanc zu Jondrette, »in diesem Packet neue Kleidungsstücke, Strümpfe und wollene Decken finden.«

»Wie sollen wir nur für soviel Engelsgüte danken!« sagte Jondrette, indem er sich bis zur Erde verneigte. Seiner Tochter aber raunte er, während die Besucher sich das Zimmer ansahen, ins Ohr:

»Hatte ich's nicht gesagt? Lumpen, aber kein Geld. – Sag mal, wie war der Brief an das alte Rhinoceros unterschrieben?«

»Fabantou!«

Es war ein Glück für Jondrette, daß er sich bei Zeiten nach seinem Namen erkundigte. Denn in demselben Augenblick drehte sich auch schon Leblanc nach ihm um und sagte mit fragender Miene:

»Ich sehe, daß Sie sehr zu beklagen sind, Herr . . .«

»Fabantou!« ergänzte eifrig Jondrette.

»Herr Fabantou. Richtig, ich entsinne mich jetzt.«

»Fabantou, Schauspieler und kein ganz unberühmter.«

Hier hielt Jondrette es offenbar an der Zeit, ein Rührspiel vor dem »Menschenfreund« aufzuführen. Er deklamirte halb ruhmredig wie ein Jahrmarktsclown, halb demüthig wie ein Bettler: »Sie sehen einen Schüler Talma's, des großen Talma vor Sich! Fortuna hat mir einstmals gelächelt. Aber ach! Das falsche Weib hat mir den Rücken gewendet und jetzt –. Doch wozu bedarf es vieler Worte! Kein Feuer im Kamin, woran meine armen Kinder sich wärmen könnten! Kein Brod! Mein einziger Stuhl ist entzwei, eine Fensterscheibe zertrümmert, bei diesem unholden Wetter! Meine teure Lebensgefährtin bettlägerig, siech!«

»Arme Frau!« sagte Leblanc.

»Meine jüngste Tochter gefährlich verletzt!«

Die Kleine hatte über der Ankunft der Fremden ihre Schmerzen ganz vergessen und betrachtete, statt pflichtgemäß zu wimmern, das schöne Fräulein.

»So plärre doch! Brülle!« flüsterte ihr Jondrette zu und kniff sie heimlich mit der Geschicklichkeit eines Taschenspielers in die kranke Hand. Selbstredend erzielte er die gewünschte Wirkung. Die Kleine schrie ungemein natürlich.

»Armes Kind!« sagte mit rührendem Mitleid das liebenswürdige, junge Mädchen, die Marius in seinem Herzen seine Ursala nannte.

»Sie sehen, schönes Fräulein, wie ihr Handgelenk blutet!« erläuterte Jondrette. »Sie arbeitet an einer Maschine für sechs Sous täglich, und da ist ihr der Unfall zugestoßen. Vielleicht muß der Arm amputirt werden!«

»Wirklich? – Um Gottes Willen!« rief entsetzt der alte Herr.

Und die Kleine, die das für wahr hielt, heulte und schluchzte wieder sehr natürlich.

»Ja, leider, mein edler Wohlthäter!« bekräftigte Jondrette.

Währenddem betrachtete er aber den »Philanthropen« mit einer ganz sonderbaren Miene, wie Jemand, der alte Erinnerungen wach zu rufen strebt, Dann ging er plötzlich, während Leblanc und seine Tochter sich theilnahmvoll gut mit dem kleinen Mädchen unterhielten, zu seiner Frau, die mit gespielter Stumpfsinnigkeit da lag, und flüsterte lebhaft:

»Sieh Dir doch mal den Mann genau an!«

Dann wendete er sich wieder an Leblanc und jammerte weiter:

»Sehen Sie mich an, mein Herr. Keine andere Kleidung, als ein Hemd von meiner Frau! Ein ganz zerrissenes! Mitten im strengsten Winter. Ich kann nicht ausgehen, aus Mangel an einem Rock. Ich würde sonst Fräulein Mars aufsuchen. Sie wohnt ja wohl noch in der Rue de la Tour-des-Dames? Wir haben nämlich zusammen in der Provinz gespielt und Lorbeern gepflückt. Célimène, kann ich Sie versichern, würde mir zu Hülfe kommen; Elmire würde Belisar unter die Arme greifen. Aber wo Geld zu einem Rock hernehmen? Und einen Arzt zu bezahlen, der mir mein unglückliches Weib und mein Kind kurirt?

»Und wissen Sie noch, mein reizendes Fräulein und mein großmüthiger Gönner, was meinem armen Vaterherzen die schwersten Sorgen macht? Die Zukunft meiner Töchter! Sie, die meine Aelteste alle Tage in der Kirche sieht, werden Verständniß haben für die Gefühle, die mich bewegen. Wie soll ich sie bei meiner Armuth davor bewahren, daß sie einmal dem Laster in die Arme sinken? Ich habe sie religiös erzogen, habe sie nicht zur Bühne gehen lassen, und stets darauf gesehen, daß sie auf dem Pfade der Tugend, der Ehre, der Moral bleiben. Fragen Sie sie nur, wie wenig Spaß ich in dem Punkt verstehe. Aber die Armuth ist eine schlechte Arbeitgeberin, und wenn ich einmal die Augen schließe, möchte ich, daß sie zuvor etwas Ordentliches gelernt haben, damit sie allen Versuchungen desto besser widerstehen können. Und nun denken Sie Sich, mein hochherziger Wohlthäter: Unser Hauswirt will uns morgen den 4. Februar auf die Straße werfen lassen. Bekommt er heute Abend seine Miethe nicht bezahlt, so kampiren wir alle Vier, meine älteste Tochter, ich, mein krankes Weib, mein jüngstes Kind mit seiner gefährlichen Wunde morgen auf dem Boulevard, ohne Obdach, unter freiem Himmel, im Schnee, im Regen. Ich bin die Miethe für ein ganzes Jahr schuldig geblieben. ›Sechzig Franken!‹«

Jondrette log. Es waren noch nicht sechs Monate her, seitdem Marius die Miethe für ihn bezahlt hatte.

Leblanc nahm fünf Franken aus seiner Tasche und warf sie auf den Tisch.

»Der Filz!« flüsterte Jondrette seiner Tochter zu. »Was soll ich mit seinen fünf Franken anfangen. Nicht einmal den Stuhl und die Fensterscheibe kann ich dafür wieder in Stand setzen lassen. Da mache sich Einer noch Unkosten!«

Mittlerweile hatte Leblanc den braunen Ueberzieher ausgezogen, den er über seinem blauen Rock trug, und ihn über die Stuhllehne gelegt.

»Herr Fabantou, ich habe nur noch fünf Franken bei mir; aber ich werde meine Tochter nach Hause bringen und heute Abend wiederkommen. Sie sagten ja wohl, daß Ihre Miethe heute Abend fällig ist?«

Jondrette's Gesicht nahm einen eigenthümlichen Ausdruck an, und er antwortete eifrig:

»Ja wohl, mein hochgeehrter Gönner. Um acht Uhr muß ich bei meinem Wirt sein.«

»Ich werde um sechs Uhr hier sein und Ihnen die sechzig Franken bringen!«

»Mein Wohlthäter!« rief Jondrette in extatischer Wonne.

»Sieh ihn Dir ordentlich an!« wiederholte er dann noch einmal leise zu seiner Frau.

Leblanc, der unterdessen seiner Tochter den Arm gegeben hatte, wandte sich jetzt der Thür zu, indem er sagte:

»Also heute Abend, liebe Freunde, sehen wir uns wieder!«

»Um sechs Uhr?« fragte Jondrette.

»Schlag sechs Uhr.«

In diesem Augenblick bemerkte die älteste Tochter den Ueberzieher, der auf dem Stuhl liegen geblieben war.

»Mein Herr, Sie vergessen Ihren Ueberrock.«

Jondrette schleuderte ihr einen grimmigen Blick zu und zuckte die Achseln so heftig, als wolle er sie sich ausrenken.

Leblanc aber wandte sich lächelnd um und sagte:

»Ich habe ihn nicht vergessen, Ihr Vater soll ihn behalten.«

»O mein Gönner,« rief Jondrette, »mein hochsinniger, erhabener Wohlthäter, ich zerschmelze in Rührungsthränen. Gestatten Sie, daß ich Sie bis zu Ihrer Droschke geleite.«

»Wenn Sie ausgehen,« erwiederte Leblanc, »so ziehen Sie diesen Ueberrock an. Es ist wirklich sehr kalt.«

Das ließ sich Jondrette nicht zweimal sagen, sondern zog schleunigst den braunen Ueberrock an.

Dann gingen sie alle Drei hinaus, Jondrette voran.

X.
Zwei Franken pro Stunde

Kaum hatte sich die Thür hinter ihnen geschlossen, als Marius von der Kommode herabstieg und nach seinem Hute griff. Denn natürlich beschäftigte ihn nur der eine Gedanke, daß er ihr folgen müsse, um zu erfahren, wo sie wohne. Aber als er eben die Thür aufmachen wollte, stieg ein Bedenken in ihm auf. Der Flur war lang, die Treppe steil, Freund Jondrette geschwätzig, und Leblanc hatte gewiß noch nicht die Zeit gehabt, in seine Droschke zu steigen. Drehte er sich aber auf dem Flur oder auf der Treppe um und sah er Marius in diesem Hause, so war vorauszusehen, daß er wieder ein Mittel suchen und finden würde ihm zu entwischen. Was thun? Ein wenig warten? Dann fuhr vielleicht während der Zeit die Droschke weg. Endlich, nachdem er in seiner Verlegenheit eine Weile gezaudert hatte, faßte er sich ein Herz und eilte aus seinem Zimmer hinaus.

Es war kein Mensch mehr auf dem Korridor, noch auf der Treppe. Er rannte in aller Eile hinab und stürzte noch zur rechten Zeit hinaus, um eine Droschke zu erblicken, die in die Rue du Petit-Banquier einbog und nach der Stadt fuhr.

Marius rannte ihr schleunigst nach. An der Ecke des Boulevard angelangt, sah er wie die Droschke rasch die Rue Mouffetard entlang fuhr. Sie hatte schon einen weiten Vorsprung und er durfte nicht hoffen, daß er sie einholen könnte. Auch war zu bedenken, daß Leblanc ihn bemerken und erkennen würde. Da führte ihm ein wunderbarer Zufall ein freies Regiekabriolett entgegen, das gerade den Boulevard entlang fuhr.

»Auf Zeit!« rief Marius dem Kutscher zu, indem er ihm ein Zeichen gab, anzuhalten.

Marius war ohne Halstuch, trug seinen alten Arbeitsrock, an dem Knöpfe fehlten, und sein Hemd war vorn auf der Brust zerrissen.

Der Kutscher hielt an, zwinkerte mit den Augen und streckte seine linke Hand vor, indem er den Daumen gegen den Zeigefinger rieb.

»Was wollen Sie?«

»Zahlen Sie im Voraus.«

Da fiel Marius ein, daß er nur sechszehn Sous bei sich hatte.

»Wieviel?«

»Vierzig Sous.«

»Ich werde bezahlen, wenn ich wieder zu Hause bin.«

Statt aller Antwort begann der Kutscher ein Liedchen zu pfeifen und peitschte sein Pferd.

Marius starrte dem Kabriolett wie irrsinnig nach. Wegen der fehlenden vierundzwanzig Sous verlor er seine Freude, sein Glück, seine Liebe, sank er wieder in die Nacht zurück. Er dachte mit Bitterkeit und mit tiefem Bedauern an die fünf Franken zurück, die er am Vormittag an nichtsnutziges Pack verschenkt hatte. Voller Verzweiflung kehrte er nach Hause zurück.

Im Begriff die Treppe hinaufzusteigen, bemerkte er noch auf der andern Seite des Boulevard, an der einsamen Mauer der Barrière des Gobelins, Jondrette, der mit einem Marius wohl bekannten Strolch sprach. Es war der schon damals berühmte Bigrenaille, auf den Courfeyrac seinen Freund Marius aufmerksam gemacht hatte.

XI.
Das Elend bietet dem Kummer seine Dienste an

Als Marius eben in seine Klause hineingehen wollte, sah er hinter sich Jondrette's älteste Tochter. Ihr Anblick war ihm verhaßt. Hatte sie doch die fünf Franken, deren Verlust ihm so verhängnisvoll geworden war. Sie konnte ihm auch nicht Leblanc's Adresse sagen, denn der Bettelbrief an ihn war »an den wohlthätigen Herrn von der Kirche Saint-Jacques-du-Haut-Pas« adressirt.

Er trat also, ohne seine junge Nachbarin zu beachten, in sein Zimmer; als er aber die Thür hinter sich zuwerfen wollte, fühlte er Widerstand. Er sah sich um und rief:

»Was soll das heißen? Wer ist da?«

Es war das Fräulein Jondrette, die ihn hinderte die Thür ganz zuzumachen.

»Sie!« fuhr Marius sie an, »Schon wieder? Was wollen Sie von mir?«

Sie schien nachdenklich und trat nicht so keck auf wie am Vormittag, denn sie folgte ihm nicht in sein Zimmer und blieb in dem finstern Korridor stehen.

»Nun, werden Sie antworten? Was wollen Sie?«

Es leuchtete etwas in ihren trüben Augen auf, als sie antwortete:

»Herr Marius, Sie haben Kummer. Was fehlt Ihnen?«

»Mir? Gar nichts!«

»Doch!«

»Nein, sage ich Ihnen!«

»Und ich sage Ja!«

»Lassen Sie mich zufrieden!«

Marius wollte wieder die Thür zudrücken, und sie trat wieder auf die Schwelle, um ihn daran zu hindern.

»Es ist Unrecht von Ihnen, daß Sie mich so behandeln. Obgleich Sie nicht reich sind, haben Sie Sich heute Morgen freigebig gegen mich gezeigt. Seien Sie jetzt wieder gut gegen mich, Sie haben mir vorhin den Hunger gestillt, lassen Sie mich jetzt wissen, was Ihnen fehlt. Sie haben Kummer. Das sieht man Ihnen an. Kann ich Ihnen irgendwie dagegen helfen? Ich verlange nicht, daß Sie mir Ihre Geheimnisse mittheilen, aber ich kann Ihnen ja trotzdem meinen Beistand leihen, so gut wie meinem Vater. Wenn Briefe ausgetragen, wenn Erkundigungen eingezogen, Wohnungsadressen ausgeforscht werden sollen, so besorge ich das. Und wenn Sie sagen wollen, worum es sich handelt, kann ich ja auch zu den Betreffenden gehen und mit ihnen sprechen. Auf die Weise wird ja so Manches auf der Welt in das rechte Geleise gebracht. Verfügen Sie also über meine Dienste.«

Diese Worte verfehlten nicht ihre Wirkung. Woran klammert man sich nicht an, wenn man zu ertrinken im Begriff ist!

Er trat an sie heran.

»Gut. Hör' mich an . . .«

Sie fiel ihm ins Wort, indem ein Freudenstrahl in ihren Augen aufblitzte. »So ist's recht. Duzen Sie mich. Das ist mir lieber.«

»Du hast doch den alten Herrn nebst seiner Tochter hierher gebracht . . .«

»Ganz richtig.«

»Weißt Du, wo sie wohnen?«

»Nein.«

»So forsche es aus.«

Die Augen des jungen Mädchens verdüsterten sich.

»Das wollen Sie?«

»Ja.«

»Kennen Sie die Herrschaften?«

»Nein.«

»D. h. also, Sie kennen das schöne Fräulein nicht, aber Sie möchten sie kennen lernen.«

In diesem Uebergang von den »Herrschaften« zu dem »schönen Fräulein« lag eine bedeutungsvolle Abstufung.

»Nun, kannst Du's möglich machen?«

»Sie sollen die Adresse des schönen Fräuleins erfahren.«

Wieder sprach sie die Worte »das schöne Fräulein« mit einer Betonung aus, die Marius unangenehm war.

»Gleichviel, ob es die Adresse des Vaters oder der Tochter ist. Wo sie wohnen, will ich wissen. Damit basta.«

Sie sah ihn scharf an.

»Was bekomme ich dafür?«

»Alles, was Du von mir verlangen wirst.«

»Alles, was ich verlangen werde?«

»Ja.«

»Sie sollen die Adresse erfahren.«

Sie neigte die Stirn zur Erde und machte dann mit einer raschen Bewegung die Thür zu.

Marius war wieder allein.

Er sank auf einen Stuhl nieder und sinnirte trübselig über die Erlebnisse des Tages.

Plötzlich wurden seine Grübeleien durch den Nachbar gestört, den er nebenan laut reden hörte.

»Ich sage Dir, ich bin meiner Sache sicher. Ich habe ihn wiedererkannt!«

Von wem sprach Jondrette? Von Herrn Leblanc, dem Vater seiner »Ursula?« Also kannte ihn Jondrette? Vielleicht bot sich jetzt eine Gelegenheit den Schleier zu lüften, zu erfahren, wer der Unbekannte und seine holde Tochter war! Herr des Himmels! Dieses Glück!

Er schwang sich hastig auf die Kommode hinauf und nahm wieder seinen Beobachtungsposten an dem Guckloch ein.

XII.
Was für Leblancs fünf Franken angeschafft wurde

Bei dem Nachbar sah es so aus wie vorher, außer daß die Frau und die Töchter das Paket aufgemacht und die darin vorgefundnen wollnen Strümpfe und Jacken angezogen hatten. Desgleichen lagen zwei neue Decken auf den Betten.

Augenscheinlich war Jondrette eben erst zurückgekommen, denn er keuchte noch von der raschen Bewegung im Freien. Seine Töchter kauerten vor dem Kamin an der Erde und die Aelteste verband die schlimme Hand ihrer Schwester. Die Frau saß wie zusammengeknickt auf dem einen Bett und zeigte ein erstauntes Gesicht. Jondrette ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab, und in seinen Augen blitzte es unheimlich.

»Wirklich! Bist Du der Sache sicher?«

»Ganz sicher! Es sind acht Jahre her, aber ich habe ihn wiedererkannt, sofort wiedererkannt. Hast Du denn nicht gleich gemerkt, wen Du vor Dir hattest?«

»Nein.«

»Ich habe Dir aber doch gesagt: Passe auf! Es ist dieselbe Statur, dasselbe Gesicht, nur wenig gealtert, denn manche Leute – weiß der Himmel, wie sie's machen – altern nicht – und dieselbe Stimme. Bloß daß er besser gekleidet ist. Aber warte, vermaledeiter alter Geheimnißkrämer. Dir besorge ich's!«

Hier brach er ab und fuhr seine Töchter an.

»Macht, daß Ihr fortkommt. – Sonderbar, daß Du's nicht gemerkt hast.«

Die Mutter fragte schüchtern:

»Mit der kranken Hand soll die Kleine ausgehen?«

»Die Luft wird ihr gut thun. – Geht!«

Es war nicht zu verkennen, daß Jondrette zu Denen gehörte, die keinen Widerspruch dulden. Die Töchter gingen hinaus.

In dem Augenblick aber, als sie die Schwelle überschreiten wollten, hielt der Vater die Aelteste zurück und sagte mit einer besondern Betonung:

»Punkt fünf Uhr seid Ihr wieder hier. Alle Beide. Ich brauche Euch.«

Marius paßte jetzt noch eifriger auf.

Als er mit seiner Frau allein war, ging Jondrette wieder zwei bis drei Mal stillschweigend im Zimmer hin und her. Plötzlich wandte er sich zu seiner Frau, kreuzte die Arme und rief:

»Weißt Du noch was? Das Fräulein . . .«

»Nun, was ist denn mit der?«

Marius konnte keinen Zweifel hegen, daß von »ihr« die Rede war und lauschte angestrengt, als gelte es sein Leben, auf das, was nun gesagt werden würde.

Aber Jondrette neigte sich zu seiner Frau nieder und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Darauf richtete er sich wieder empor und fuhr laut fort:

»Die ist es.«

»Die?« fragte die Frau.

»Die!« bestätigte er.

Worte können nicht ausdrücken, wie sie dieses Wort »Die« aussprach. Erstaunen, Wuth, Haß, Zorn malten sich in ihren Zügen. Die dicke, eben noch schläfrige Frau war munter geworden und ebenso schrecklich wie scheußlich anzusehen.

»Nicht möglich!« rief sie aus. »Wenn ich denke, daß meine Töchter barfuß gehen und kein Kleid anzuziehen haben! Wie! Ein Pelz mit Atlas besetzt, ein Sammthut, seidene Schuhe, und alles Mögliche! Ein Anzug, der reichlich seine zweihundert Franken kostet. Man könnte sie für was Vornehmes halten. Nein, Du irrst Dich! Die Andere war greulich häßlich, und die hier ist nicht übel! Sie kann es nicht sein!«

»Sie ist es aber. Du wirst ja sehen.«

Bei dieser Bekräftigung, die jede fernere Widerrede ausschloß, richtete Frau Jondrette ihr breites, rothes Gesicht gegen die Decke empor. In diesem Augenblick kam sie Marius noch tigerhafter vor als ihr Herr Gemahl.

»Was! Der Ekel von schönem Fräulein, das meine Töchter mitleidig ansah, und die Lumpenjöhre von dazumal sind ein und dieselbe Person! Könnte ich ihr doch die Kaldaunen aus dem Leibe trampeln!«

Nach einer Pause kam Jondrette wieder auf sie zu und blieb mit gekreuzten Armen vor ihr stehen.

»Soll ich Dir noch was sagen?«

»Nun?«

»Jetzt ist mein Glück gemacht.«

Seine Frau sah ihn an, als fürchte sie, er habe plötzlich den Verstand verloren.

Er aber fuhr fort:

»Donner und Satan! Ich habe lange genug das Lied ›Hungerleider, mein Gemüthe‹ gesungen! Jetzt kommt mir der faule Spaß zum Halse hinaus. Ich will mich doch auch mal satt fressen, mich voll saufen, mich ausschlafen und nichts thun. Ich muß doch endlich auch drankommen, ehe ich krepire, auch mal ein Bischen auf dem Geldsack sitzen!«

»Was willst Du damit sagen?« fragte sie.

Er schüttelte den Kopf, blinzelte mit den Augen und erhob seine Stimme wie ein Marktschreier, der einen »wissenschaftlichen« Beweis führen will.

»Was ich meine? Höre zu!«

»Pst!« flüstere Frau Jondrette, »nicht so laut, wenn es Dinge sind, die Niemand hören darf.«

»Ach was? Wer soll uns denn hören? Der Nachbar? Den habe ich eben ausgehen sehen. Uebrigens hört der dumme Junge so wie so nichts. Aber wie gesagt, er ist nicht zu Hause.«

Trotzdem senkte Jondrette instinktmäßig die Stimme, sprach aber doch nicht so leise, daß seine Worte für Marius nicht vernehmbar geblieben wären. Begünstigt wurde der Lauscher hierbei durch den Umstand, daß der Schnee das Wagengerassel auf dem Boulevard dämpfte.

Er hörte aber Folgendes:

»Heute Abend langen wir uns den Krösus. Ich habe schon die passenden Leute dazu bestellt. Um sechs Uhr ist der Nachbar nie zu Hause, und Frau Burgon hat heute in der Stadt zu thun. Die Mädchen stehen Wache. Du hilfst uns. Er wird aber nichts thun und ruhig herausrücken.«

»Wenn er Euch aber nicht an seinen Geldbeutel heranläßt?«

»Dann geht's ihm an den Kragen!« sagte er und lachte, so daß Marius dabei schauderte.

Darauf nahm er aus einem Wandschrank eine alte Mütze und sagte:

»Jetzt gehe ich aus. Ich muß noch mehr Leute engagiren. Ich kenne noch ein paar stramme Kerle, mit denen es sich gut arbeiten läßt. Ich werde nicht lange wegbleiben. Unterdessen hüte Du das Haus.«

Und indem er beide Hände in die Hosentaschen versenkt hielt, blieb er nachdenklich eine Weile stehen und rief dann:

»Weißt Du, es ist doch ein wahres Glück, daß er mich nicht erkannt hat. Dann wäre er nämlich nicht wiedergekommen, und wir hätten das Nachsehen gehabt. Das habe ich bloß meinem Bart, meinem allerliebsten romantischen Bart zu verdanken.«

Und er brach wieder in eine höhnische Lache aus.

»Was für ein Hundewetter!« fuhr er dann fort, indem er in das Schneegestöber hinaussah.

Dann knöpfte er sich den Ueberzieher zu und sagte:

»Der alte Halunke hat mir einen großen Gefallen gethan, daß er seinen Ueberzieher hier gelassen hat. Sonst hätte ich nicht ausgehen können, und aus dem schönen Fang wäre nichts geworden. Wieviel doch manchmal auf eine Kleinigkeit ankommt!«

Damit drückte er sich die Mütze tief ins Gesicht und ging hinaus.

Nach wenigen Augenblicken aber that sich die Thür wieder auf und in der Oeffnung zeigte sich sein kluges Raubthierprofil.

»Ich habe etwas vergessen. Kauf Dir Kohlen.«

Dabei warf er seiner Frau das Fünffrankenstück, das ihm der Menschenfreund geschenkt hatte, in den Schoß.

»Wieviel?« fragte sie.

»Zwei Maß.«

»Macht dreißig Sous. Für das übrige Geld kaufe ich was zu essen.«

»Den Teufel auch!«

»Warum nicht?«

»Gieb das Geld nicht aus. Ich habe meinerseits auch etwas zu kaufen.«

»Was?«

»Etwas.«

»Wieviel brauchst Du?«

»Wo wohnt hier ein Eisenkrämer in der Nähe?«

»In der Rue Mouffetard.«

»Ach richtig, an einer Ecke; ich kenne den Laden.«

»Aber sage mir doch, wieviel Du zu Deinem Einkauf brauchst.«

»Zwei bis drei Franken.«

»Da wird nicht viel für das Abendessen übrig bleiben.«

»Heute ist das Essen Nebensache. Wir haben an Wichtigeres zu denken.«

»Wie Du willst, mein Schatz.«

Dieses Mal machte Jondrette die Thür definitiv zu, und Marius hörte, wie er rasch den Korridor entlang und die Treppe hinunterging.

In demselben Augenblicke schlug es ein Uhr auf dem nächsten Kirchturm.

XIII.
Zwei, die nicht zusammen beten

Trotz all seinem Hang zur Träumerei war Marius ein charakterfester und energischer junger Mann. Seine einsiedlerischen Gewohnheiten hatten ihn wohl verständnißvollem Mitleid zugänglicher gemacht und in demselben Maße seine Erregbarkeit herabgemindert; aber die Fähigkeit über Nichtswürdigkeit sittliche Entrüstung zu empfinden, war ungeschwächt geblieben. Er war wohlwollend wie ein Brahmane und streng wie ein Richter. Er konnte Mitleid mit einer Kröte haben, aber eine Viper zertrat er. Deshalb dachte er auch in Bezug auf die Familie Jondrette: »Das Gesindel muß unschädlich gemacht werden.« Der Vater der jungen Dame, die er schwärmerisch liebte, ja vielleicht sie selber, lief eine große Gefahr, und er war entschlossen, den gefährlichen Plan der Jondrette zu vereiteln.

Nachdem der Mann weggegangen war, beobachtete Marius noch eine Weile die Frau, die eine Kochmaschine aus einer Ecke hervorzog und in altem Eisen kramte.

Diese gute Gelegenheit benutzte er und stieg, so leise er konnte, von der Kommode herab.

Aber was nun? Die Bedrohten warnen war unmöglich, da er ihre Adresse nicht kannte. Auf Herrn Leblanc am Abend an der Hausthür warten? Dann hätten ihn Jondrette und dessen Spießgesellen gesehen, und da die Gegend menschenleer und seine Gegner die Stärkeren waren, konnten sie seine Absichten leicht genug vereiteln. Glücklicher Weise gab es aber noch ein anderes Mittel Leblanc zu retten, und es fehlte auch nicht an Zeit, es anzuwenden.

Marius zog also seinen anständigen Rock an, band sich ein Tuch um den Hals, setzte den Hut auf und ging aus, ohne mehr Geräusch zu machen, als wenn er mit bloßen Füßen auf Moos spaziert wäre.

Außerdem rumorte Frau Jondrette noch immer mit dem Eisenkram.

Auf der Straße angelangt, wendete er seine Schritte nach der Rue du Petit-Banquier.

Er befand sich schon in der Mitte dieser Straße, an deren einer Seite sich eine sehr niedrige Mauer hinzog, und ging geräuschlos über den Schnee dahin, als er plötzlich in seiner Nähe Menschenstimmen vernahm. Er wandte sich um, sah aber niemand, und bog sich über die Mauer, an der in der That zwei Menschen auf der andern Seite saßen und leise mit einander sprachen.

»Da der Patron-Minette die Sache in die Hand genommen hat,« sagte der Eine, der sich durch einen üppigen Haarwuchs auszeichnete, »kann's nicht fehlschlagen.«

»Meinst Du?« erwiederte der Andere, ein Mann mit starkem Bart und einem Fez.

»Fünfhundert Franken für Jeden und im schlimmsten Fall fünf, sechs Jahre, höchstens zehn.«

Der Bärtige antwortete etwas zögernd:

»Ein hübsches Stück Geld! So was läßt man sich nicht gern entgehen.«

»Keine Möglichkeit, sage ich Dir, daß die Sache schief geht. Wir kriegen einen Wagen von Vater Dingsda.«

Darauf sprachen sie von einem Melodrama, daß sie sich am Abend zuvor in dem Theater de la Gaîté angesehen hatten.

Marius setzte seinen Weg fort.

Ihm wollte scheinen, als stünden die dunklen Anspielungen der beiden sonderbaren und unheimlichen Gesellen in irgend einer Beziehung zu dem ruchlosen Plane Jondrettes.

Er wendete seine Schritte nach der Vorstadt Saint-Marceau und fragte im ersten besten Laden nach dem nächsten Polizeibüreau. Man wies ihn nach der Ruhe de Pontoise Nr. 14.

Dorthin begab sich nun Marius.

Als er an einem Bäckerladen vorbeikam, kaufte er für zwei Sous Brod und verzehrte es sofort, da er voraussah, daß an ein regelrechtes Mittagessen heute nicht mehr zu denken sein würde.

Unterwegs ließ er der Vorsehung Gerechtigkeit widerfahren. Er sagte sich, daß er Leblanc am Vormittag nachgefahren wäre, wenn er nicht vorher Jondrettes Tochter die fünf Franken gegeben hätte, und dann hätte er Jondrette nicht belauscht und könnte nun nicht mehr der Ausführung des nichtswürdigen Komplotts vorbeugen.

XIV.
Zwei Terzerole

Rue de Pontoise Nr. 14 angekommen, fragte Marius nach dem Polizeikommissar.

»Der Herr Polizeikommissar ist nicht da,« beschied ihn ein Bureaudiener; »aber Sie können den Inspektor sprechen, der ihn vertritt. Hat die Sache Eile?«

»Ja!« sagte Marius.

Der Bureaudiener führte ihn in das Arbeitszimmer des Polizeikommissars. Hier stand hinter einem Gitter ein Mann von hoher Statur an einen Ofen gelehnt und hielt mit den Händen die beiden Schöße seines langes Reitrocks empor. Er hatte ein viereckiges Gesicht, dünne, energisch gezeichnete Lippen, einen starken, grimmigen Backenbart und Augen mit durchdringendem, sozusagen visitirendem Blick.

Der Mann sah nicht weniger bösartig und gefährlich aus wie Jondrette. Wenn man einer Dogge begegnet, ängstigt man sich bisweilen ebenso, als wenn man auf einen Wolf stößt.

»Was wollen Sie?« fragte er kurz, ohne weitere Höflichkeitsformeln.

»Ich komme wegen einer Sache, die geheim gehalten werden muß.«

»Sprechen Sie.«

»Und die eine eilige Erledigung erheischt.«

»Dann sprechen Sie schnell.«

Der zugleich ruhige und barsche Mann flößte sowohl Furcht wie Zutrauen ein. Marius erzählte ihm also ausführlich den Plan, den Jondrette ausgeheckt hatte. Als er zum Schluß als Schauplatz des beabsichtigten Verbrechens das Gorbeausche Haus, Boulevard de l'Hôpital Nr. 50 und 52, nannte, hob der Polizeiinspektor den Kopf in die Höhe und fragte ruhig:

»Also in dem Zimmer ganz hinten im Flur?«

»Ganz richtig. Kennen Sie das Haus?«

Der Polizeiinspektor schwieg ein wenig und antwortete dann, indem er sich den Absatz an der Ofenöffnung wärmte:

»Selbstredend.«

Und mehr zu sich selber als zu Marius sagte er:

»Da hat gewiß der Patron-Minette seine Hand im Spiel.«

»Das Wort habe ich gehört!« fiel hier Marius lebhaft ein.

Und er berichtete dem Inspektor das Gespräch, das er an der Mauer in der Rue du Petit-Banquier belauscht hatte.

»Der mit den starken Haaren wird Brujon und der Bärtige Demi-Liard, genannt Deux-Milliards, sein.«

Wieder senkte er die Augenlider und sann nach.

»Was den Vater Dingsda betrifft, so kann ich mir ungefähr denken, wer das ist. Schöne Bescherung! Da habe ich mir den Rock verbrannt. Die Oefen werden doch immer zu stark geheizt. Nr. 50 und 52. Das ehemalige Gorbeausche Haus. Die Bude kenne ich. Keine Möglichkeit, sich drinnen zu verstecken, ohne gesehen zu werden. Die Herren würden dann einfach die Komödie abbestellen. Bescheidene Leute! Spielen nicht gern vor dem Publikum. Auf die Weise geht's nicht. Ich will sie singen hören und dann sollen sie tanzen.«

Nach diesem Monologe wandte er sich wieder an Marius und fragte ihn, während er ihm scharf in die Augen sah:

»Werden Sie Sich fürchten?«

»Wovor?« fragte Marius.

»Vor den Kerlen?«

»Eben so wenig als vor Ihnen!« herrschte ihn Marius an, dem der Polizeiinspektor nicht höflich genug war.

Dieser sah ihn jetzt noch schärfer an und fuhr dann in lehrhaftem und feierlichem Tone fort:

»Sie reden da wie ein tapferer und ein ehrlicher Mann. Der Muth fürchtet das Verbrechen nicht, und die Ehrlichkeit läßt sich von der Obrigkeit nicht einschüchtern.«

»Sehr wohl!« fiel ihm Marius ins Wort; »aber was gedenken Sie zu thun?«

»Die Miether in jenem Hause haben Jeder einen Hausschlüssel. Sie doch auch?«

»Ja wohl.«

»Haben Sie ihn bei sich?«

»Ja.«

»Geben Sie ihn mir.«

Marius nahm den Hausschlüssel und übergab ihn dem Polizeiinspektor mit den Worten:

»Wenn Sie meinem Rath folgen wollen, so bringen Sie recht viele und starke Leute mit.«

Der Polizeiinspektor belehrte Marius mit einem stolzen Blick, daß er keines Rathes bedürfe; fuhr dann mit seinen beiden gewaltigen Händen zugleich in seine ungeheuren Rocktaschen und holte zwei kleine Terzerole hervor. Diese hielt er Marius hin und sagte mit energisch raschem Tone:

»Hier, nehmen Sie die mit. Gehen Sie nach Hause. Halten Sie Sich in Ihrem Zimmer verborgen. Jedermann muß glauben, Sie wären ausgegangen. Die Pistolen sind je mit zwei Kugeln geladen. Beobachten Sie durch das Loch in der Wand, was bei Ihren Nachbarsleuten vorgeht. Wenn die Hallunken kommen, so warten Sie, bis die ganze Sache ein bischen im Gange ist. Wenn Sie denken, daß es Zeit ist, einzuschreiten, so feuern Sie einen Schuß ab. Nicht zu früh! Das Uebrige geht mich an. Einen Pistolenschuß in die Luft, gegen die Decke, wohin Sie wollen. Vor allen Dingen nicht zu früh. Warten Sie, bis ein Anfang gemacht ist. Als Advokat werden Sie ja wissen, was das heißt.«

Marius nahm die Terzerole und steckte sie in eine Rocktasche.

»Das steht vor und könnte auffallen,« sagte der Inspektor. »Stecken Sie die Dinger lieber in die Hosentaschen.«

Marius willfahrte ihm.

»So,« fuhr der Inspektor fort, »nun darf Niemand mehr eine Minute Zeit verlieren. Wieviel Uhr ist es? Halb drei. Und um sieben Uhr soll's losgehen?«

»Um sechs.«

»Dann habe ich noch Zeit, so viel wie nöthig ist, nicht mehr. Vergessen Sie nicht, was ich Ihnen gesagt habe: Piff paff! Ein Schuß.«

»Seien Sie unbesorgt!«

Und als Marius schon die Hand auf der Thürklinke hatte, rief ihm der Polizeiinspektor noch nach:

»Noch eins! Sollten Sie mich bis dahin noch zu sprechen wünschen, so kommen Sie oder schicken Sie Jemand her. Fragen Sie in dem Fall nach dem Polizeiinspektor Javert.«

XV.
Was Jondrette kaufte

Einige Minuten nachher, etwa um drei Uhr, kam Courfeyrac in Begleitung seines Freundes Laigle zufälliger Weise durch die Rue Mouffetard. Plötzlich bemerkte Laigle Marius, der nach dem Thor zuging.

»Sieh da! Unser Freund Marius!«

»Ich habe ihn schon gesehen,« meinte Courfeyrac. »Wir wollen ihn nicht anreden.«

»Warum?«

»Er ist beschäftigt.«

»Womit?«

»Sieh ihn Dir doch an, was für ein Gesicht er macht!«

»Was meinst Du?«

»Er sieht aus, als ginge er hinter Jemand her.«

»Das stimmt,« meinte Laigle.

»Sieh doch, was er für Augen macht!«

»Aber wem mag er denn nachgehen?«

»Na, er wird was Liebes haben.«

»Ja, es ist aber in der ganzen Straße kein einziges Frauenzimmer zu sehen.«

Courfeyrac sah genauer hin und rief dann plötzlich:

»Ich danke, er läuft einem Mann nach!«

In der Thal ging zwanzig Schritte vor Marius ein Mann mit einer Mütze, dessen grauen Bart man von hinten unterscheiden konnte.

Der Mann trug einen ganz neuen Ueberzieher, der zu groß für ihn war, und ein Paar zerlumpte, von Schmutz geschwärzte Beinkleider.

Laigle lachte laut auf.

»Was mag denn das für Einer sein?«

»Ein Dichter,« meinte Courfeyrac. »Die Dichter tragen häufig Lumpensammlerhosen und patente Ueberzieher.«

»Wie wäre es, wenn wir Marius nachgingen und sähen, wo er hingeht?«

»Ist das eine unschlaue Idee, einem Mann nachzulaufen, der einem Mann nachläuft!«

Und sie machten Kehrt.

Jondrette aber ging weiter, ohne zu ahnen, daß ihm schon ein Verfolger auf den Fersen war. Marius sah ihn in ein sehr verdächtiges Haus der Rue Gracieuse hineingehen, wo er sich etwa eine Viertelstunde aufhielt; dann kam er nach der Rue Mouffetard zurück, wo er in den Laden eines Eisenkrämers trat, und als er wieder herauskam, hielt er einen großen Hartmeißel mit weißem Holzstiel in der Hand, den er alsbald unter seinem Ueberzieher verbarg. Dann eilte er weiter in der Richtung der Rue du Petit-Banquier. Um diese Zeit neigte sich der Tag schon seinem Ende zu und es dunkelte um so schneller, als das Schneegestöber nach einer kurzen Ruhepause jetzt wieder an Stärke zunahm. Marius folgte Jondrette nicht in die menschenleere Rue du Petit-Banquier hinein, sondern legte sich hinter der Ecke auf die Lauer. Das war ein gescheidter Einfall, denn in der Nähe der Mauer, wo Marius das Gespräch zwischen den beiden Strolchen belauscht hatte, drehte sich Jondrette um, vergewisserte sich, daß Niemand ihn beobachtete, kletterte dann über die Mauer und verschwand.

An das unbebaute Grundstück, das hinter dieser Mauer lag, stieß der Hinterhof eines übel berüchtigten, ehemaligen Wagenvermiethers, der fallirt hatte und noch unter seinen Schuppen einige Fuhrwerke zu stehen hatte.

Marius sah ein, daß es rathsam war, Jondrette's Abwesenheit zu benutzen um nach Hause zurückzukehren. Zudem war es auch schon spät. Denn alle Abende pflegte Frau Burgon, wenn sie auf Arbeit ging, das Haus zu verschließen, und da Marius seinen Hausschlüssel dem Polizeiinspektor gegeben hatte, so mußte er sich beeilen.

Zum Glück war das Haus noch nicht zu, als er heimkam. Er stieg die Treppe auf den Fußspitzen hinauf und schlich sich an der Wand des Korridors entlang bis zu seinem Zimmer hin. Als er vor einem der unbewohnten Zimmer, die Frau Burgon gewöhnlich offen stehenließ, vorbeikam, sah er darin vier Männerköpfe, die das Tageslicht noch schwach beleuchtete. Da er aber selber nicht gesehen werden wollte, unterließ er es, die verdächtigen Gestalten in näheren Augenschein zu nehmen und beeilte sich, geräuschlos in sein Zimmer zu gelangen. Es war auch die höchste Zeit, daß er zurückgelehrt war. Denn einen Augenblick später hörte er, wie Frau Burgon wegging und die Hausthür zuschloß.

XVI.
Ein Lied aus dem Jahre 1832

Marius setzte sich auf sein Bett. Es mochte halb sechs sein. Eine halbe Stunde nur trennte ihn also noch von dem, was kommen sollte. Sein Puls hämmerte so laut, daß er das Geräusch eben so deutlich hören konnte, wie das Ticktack einer Taschenuhr im Dunkeln. Eigentliche Furcht hatte er nicht, sah aber doch auch nicht ohne eine gewisse Beklommenheit dem entscheidungsvollen Ereigniß entgegen. Zudem hatte er, wie dies bei allen außergewöhnlichen Erlebnissen der Fall zu sein pflegt, die Empfindung, als sei Alles ein böser Traum, und er mußte, um wieder Fühlung mit der Wirklichkeit zu gewinnen, von Zeit zu Zeit die kalten, stählernen Terzerole in seinen Taschen anfassen.

Es hatte jetzt aufgehört zu schneien, und der Mond, der allmählich heller und heller durch den Abenddunst hindurchschien, erzeugte im Verein mit dem weißen Wiederschein des gefallenen Schnees eine dämmrige Beleuchtung in dem Stübchen.

In dem Zimmer der Familie Jondrette war Licht. Denn Marius sah durch das Loch in der Wand eine rothe Helligkeit, die ihn an die Farbe des Blutes erinnerte.

Es war einleuchtend, daß diese Helligkeit nicht von einem Talglicht herrühren konnte. Im Uebrigen herrschte nebenan eine unheimliche Grabesstille.

Marius zog leise seine Stiefel aus und schob sie unter das Bett.

Einige Minuten vergingen. Dann knarrte die Hausthür in ihren Angeln, schwere und schnelle Tritte kamen die Treppe herauf und den Korridor entlang; die Thür bei den Nachbaren wurde rasch aufgemacht. Es war Jondrette der nach Hause kam.

Sofort wurde es laut nebenan. Die ganze Familie war da. Sie hatte nur in der Abwesenheit des Hausherrn Stillschweigen beobachtet, wie junge Wölfe, wenn der Vater nicht im Bau ist.

»Ich bin's!« sagte er.

»N' Abend, Vater!« begrüßten ihn seine Töchter.

»Nun, wie steht's?« fragte die Mutter.

»Es geht alles wie geschmiert, aber mir ist hundemäßig kalt an den Füßen. So ist's recht, Du hast Dich fein angezogen. Es ist nöthig, daß Du Vertrauen einflößend aussiehst.«

»Fix und fertig, zum Ausgehen.«

»Du wirst doch nichts vergessen, wirst doch alles so ausrichten, wie ich dir's gesagt habe?«

»Sei unbesorgt.«

»Nämlich . . .« begann Jondrette zu erklären, beendete aber seine Rede nicht.

Dann hörte Marius, wie er einen schweren Gegenstand auf den Tisch legte, wahrscheinlich den Kaltmeißel.

»Nun, habt Ihr was gegessen?«

»Ja,« sagte die Mutter, »drei große Salzkartoffeln. Das Feuer kam mir in der Hinsicht sehr gelegen.«

»Gut. Morgen nehme ich Euch mit nach einem feinen Restaurant. Da sollt Ihr Entenbraten und andere gute Sachen zu pappen kriegen. Wie Könige wollen wir schmausen!«

Und mit gedämpfter Stimme fuhr er fort:

»Die Falle ist fertig. Die Katzen warten schon.«

Und noch leiser:

»Lege dies hier ins Feuer.«

Hier hörte Marius ein Geräusch, wie wenn ein eisernes Werkzeug auf die Kohlen gelegt wird.

»Hast Du die Thürangeln mit Talg geschmiert, damit sie nicht knarren?« fragte Jondrette dann weiter.

»Ja!« antwortete die Mutter.

»Wie spät ist es?«

»Bald sechs Uhr.«

»Den Teufel auch. Dann müssen wir uns beeilen. Kommt mal her, Mädchen, und hört, was ich Euch zu sagen habe.«

Man vernahm jetzt ein Geflüster. Dann sprach Jondrette wieder lauter.

»Ist die Burgon fort?«

»Ja,« sagte die Mutter.

»Bist Du sicher, daß nebenan Niemand ist?«

»Er ist den ganzen Tag nicht zu Hause gewesen, und um diese Zeit geht er essen.«

»Es kann aber trotzdem nicht schaden, wenn Einer mal nachsieht, ob er da ist. Du, nimm mal das Licht und überzeuge dich, ob er auch wirklich nicht zu Hause ist.«

Marius fiel auf die Hände und Kniee nieder und kroch auf allen Vieren unter das Bett.

Kaum war er in seinem Versteck, als er Licht durch eine Ritze in der Thür sah.

»Papa!« rief es draußen . . . »Er ist ausgegangen.«

Er erkannte an der Stimme, daß es die älteste Tochter war.

»Bist Du hineingegangen?« fragte der Vater.

»Nein, aber sein Schlüssel steckt im Schloß.«

»Geh trotzdem hinein!« rief der Vater.

Die Thür ging auf, und Marius sah die Aeltere von den beiden Mädchen mit einem Licht in der Hand hereinkommen. Sie ging gerade auf das Bett zu, und Marius stand einen Augenblick die entsetzlichste Angst aus. Sie besah sich aber nur in dem Spiegel, der an der Wand hing, und sang, während sie ihre Haare mit der Hand glättete, mit ihrer rauhen Grabesstimme ein damals beliebtes Lied:

»Ich werde ewig trauern,
Daß unser Liebesglück
So kurze Zeit thät dauern . . .«

Trotzdem zitterte Marius. Es kam ihm unmöglich vor, daß sie seinen Athem nicht hören sollte.

Nun ging sie an das Fenster und sah hinaus, indem sie laut sprach.

»Wie häßlich Paris aussieht, wenn es ein weißes Hemd angezogen hat!«

Dann kam sie wieder zu dem Spiegel zurück, in dem sie sich von allen Seiten betrachtete.

»Nun, was machst Du denn?«

»Ich sehe unter dem Bett und den andern Möbeln nach,« rief sie ihm zu, während sie sich vor dem Spiegel weiter zierte.

»Dumme Gans, wirst Du wohl gleich herkommen? Wir haben keine Zeit zu verlieren!«

»Gleich, gleich! In der Bude hat man doch zu nichts Zeit.«

Sie warf noch einen Blick in den Spiegel und ging hinaus, indem sie die Thür hinter sich zumachte.

Einen Augenblick darauf hörte Marius, wie die beiden Mädchen den Korridor entlang gingen und Jondrette ihnen nachrief:

»Paßt gut auf! Die Eine nach dem Thor hin, die Andere an der Ecke der Rue du Petit-Banquier. Verliert die Hausthür keine Minute aus den Augen und wenn Ihr irgend etwas Verdächtiges seht, so kommt sofort im Galopp hierher. Ihr habt den Hausschlüssel.«

»Schönes Vergnügen,« murrte die älteste Tochter, »mit bloßen Füßen im Schnee Schmiere stehen!«

»Morgen kriegt Ihr Goldkäferschuh!«

XVII.
Wozu Marius' Fünffrankenstück gebraucht wurde

Nun dünkte es Marius an der Zeit, seine Warte wieder zu besteigen. Im Umsehen und mit der Gewandtheit seiner jungen Jahre schwang er sich hinauf und blickte durch das Guckloch.

Die eigenthümliche Beleuchtung, die Marius aufgefallen war, wurde ihm jetzt sofort erklärlich. In einem mit Grünspan bedeckten Leuchter brannte ein Talglicht, aber nicht dieses erhellte eigentlich das Zimmer. Das röthliche Licht rührte vielmehr von einer Feuerkieke her, in der ein starkes Kohlenfeuer brannte und der Kaltmeißel glühend gemacht wurde. Nahe der Thür lagen in einer Ecke eine Menge eiserner Werkzeuge und eine Haufen Stricke.

»Noch eins!« rief Jondrette. »Bei der Kälte wird er in einer Droschke kommen. Zünde die Laterne an und geh damit hinunter. Da wartest Du, bis Du die Droschke kommen hörst, machst sofort die Thür auf, leuchtest ihm auf der Treppe und auf dem Flur, rennst dann, während er hier hereinkommt, rasch wieder hinunter und bezahlst den Kutscher, damit er sofort wieder wegfährt.«

»Wo nehmen wir aber das Geld dazu her?«

Jondrette suchte in seiner Hosentasche und übergab ihr ein Fünffrankenstück.

»Wo kommt das her?«

»Das hat der Nachbar heute früh spendirt. – Außerdem brauchen wir noch zwei Stühle.«

»Wozu?«

»Zum Sitzen.«

Marius rieselte es eiskalt über den Rücken, als Frau Jondrette in aller Ruhe antwortete:

»Na, dann werde ich Dir die Stühle des Nachbars holen.«

Mit diesen Worten riß sie rasch die Thür auf.

Marius hatte schlechterdings nicht die Zeit von der Kommode hinabzusteigen und sich unter das Bett zu verkriechen.

»Nimm das Licht mit!« rief Jondrette ihr nach.

»Nein, ich muß beide Hände frei haben. Uebrigens scheint der Mond hell genug.«

Zu gleicher Zeit hörte Marius auch schon, wie die plumpe Hand der Frau im Dunkeln nach dem Schlüssel tastete, und die Thür aufging. Er blieb wie festgenagelt von dem Schreck auf der Kommode stehen. Zum Glück schien der Mond gerade mitten in das Stübchen, so daß zu beiden Seiten ein breiter Streifen Schatten die Wände bedeckte. In einem dieser Streifen nun stand Marius, und Frau Jondrette sah ihn nicht, als sie hereinkam. Sie nahm die beiden einzigen Stühle, die Marius besaß und ging damit fort, indem sie die Thür heftig hinter sich ins Schloß fallen ließ.

»Hier sind die beiden Stühle!« hörte Marius sie zu ihrem Mann sagen.

»Und hier ist die Laterne. Mach, daß Du hinunterkommst.«

Sie gehorchte eilig, und ihr Mann blieb allein.

Er stellte die beiden Stühle an den Tisch, so daß sie einander gegenüber standen, wendete den Kaltmeißel in der Kohlenglut um, verbarg die Feuerkieke hinter einer alten spanischen Wand, die er vor den Kamin stellte und wühlte dann in dem Haufen Stricke herum, als ob er dort etwas suchte. Jetzt erkannte Marius hierin eine sehr gut gearbeitete Strickleiter mit hölzernen Sprossen und zwei soliden Krampen.

Diese Leiter und einige größere eiserne Werkzeuge waren am Morgen noch nicht da gewesen und offenbar im Lauf des Nachmittags während Marius Abwesenheit hergebracht worden.

»Schmiedewerkzeuge!« dachte Marius.

Hätte Marius über das Diebeshandwerk besser Bescheid gewußt, so würde er erkannt haben, daß die fraglichen Gegenstände Dietriche und Scheren waren.

Der Kamin und der Tisch mit den beiden Stühlen befanden sich dem Guckloch gegenüber. Da die Feuerkieke versteckt war, so beleuchtete nur noch das brennende Talglicht die grausige Räuberhöhle.

Jondrette hatte unterdessen seine Pfeife ausgehen lassen, ein Zeichen, daß er angestrengt mit seinen Gedanken beschäftigt war. Marius sah, wie er von Zeit zu Zeit die Augenbrauen zusammenzog und heftige Handbewegungen machte, aus denen man auf ein lebhaftes Selbstgespräch schliefen konnte. Nach einer dieser innerlichen Reden zog er plötzlich die Schublade auf, nahm ein langes Küchenmesser heraus und prüfte dessen Schärfe an seinem Daumnagel. Dann warf er das Messer wieder hinein und machte die Schublade zu.

Marius seinerseits ergriff das Terzerol, das in seiner rechten Hosentasche steckte, zog es hervor und spannte den Hahn.

Dies verursachte ein knappes, scharfes Geräusch.

Jondrette fuhr erschrocken von seinem Stuhl auf und rief:

»Wer ist da?«

Marius hielt den Athem an, Jondrette lauschte eine Weile und lachte dann:

»Dummkopf, der ich bin! Die Wand hat geknackt.«

Marius aber behielt die Pistole in der Hand.

XVIII.
Marius' Stühle bilden vis-à-vis

Plötzlich erschütterten sechs starke, schwermüthige Glockenschläge die Fensterscheibe. Jondrette lauschte und zählte, indem er bei jedem Schlag mit dem Kopfe nickte. Beim sechsten Mal putzte er das Licht mit den Fingern, stand auf, ging im Zimmer hin und her, horchte nach dem Flur hin, ging dann wieder auf und ab und lauschte wieder. »Wenn er nur kommt!« sagte er dann und kam zu seinem Stuhl zurück.

Kaum hatte er sich hingesetzt, so ging die Thür auf.

Mutter Jondrette hatte sie aufgemacht und stand, das von der Laterne beleuchtete Gesicht zu einer scheußlich liebenswürdigen Grimasse verzerrt, auf dem Korridor.

»Treten Sie näher, mein Herr!« bat sie.

»Treten Sie näher, mein Wohlthäter!« stimmte Jondrette ein und erhob sich eilfertig.

Leblanc trat herein mit einem Ausdruck heiterer Seelenruhe im Gesicht, die ihn überaus ehrwürdig erscheinen ließ.

»Herr Fabantou,« sagte er, indem er vier Louisd'or auf den Tisch legte, »hiermit können Sie Ihre Miethe bezahlen und Ihre dringendsten Bedürfnisse befriedigen. Späterhin wollen wir weiter sehen.«

»Gott vergelte es Ihnen, mein edler Wohlthäter!« sagte Jondrette, ging zu seiner Frau hinüber und flüsterte:

»So schicke doch den Kutscher weg!«

Sie verschwand, während ihr Mann ein Erkleckliches kratzfüßelte und Leblanc einen Stuhl anbot, kam dann sofort wieder und sagte ihm leise ins Ohr:

»Die Sache ist abgemacht.«

Der Schnee lag so dick auf der Straße, daß man die Droschke weder kommen noch gehen gehört hatte.

Unterdessen hatte sich Leblanc gesetzt, und ihm gegenüber nahm Jondrette Platz.

Marius schauderte, empfand aber keine Furcht. Er packte nur sein Terzerol fester und dachte: »Ich kann, sobald ich will, dem Elenden Halt gebieten.« Und dann beruhigte ihn auch der Gedanke, daß schon Polizei in der Nähe sein müsse, um sofort einzugreifen, sobald er das verabredete Signal geben würde.

Im Uebrigen hoffte er, daß bei dem gewaltsamen Zusammenstoß zwischen Jondrette und Leblanc irgend ein Funken Licht hervorbrechen und ihm über das, was ihm zu wissen Noth that, Aufklärung schaffen würde.

XIX.
Im dunklen Hintergrunde

Kaum hatte sich Leblanc auf seinen Stuhl niedergelassen, als er sich auch schon nach den Betten umsah.

»Was macht der Arm Ihrer jüngsten Tochter?« fragte er.

»Leider ist darüber nichts Gutes zu melden,« antwortete Jondrette mit einem schmerzlichen und dankbaren Lächeln. »Ihre Schwester ist mit ihr nach der Klinik gegangen, damit sie sich verbinden läßt. Sie werden Beide bald wieder zurückkommen.«

»Frau Fabantou scheint wohler zu sein,« fuhr Leblanc fort und musterte die lächerlich aufgeputzte Dame, die in drohender Haltung zwischen ihm und der Thür stand.

»Sie ist sterbenskrank,« versicherte Jondrette. »Aber sie hat Kourage und eine Ausdauer, eine Kraft, um die ein Stier sie beneiden könnte.«

»Du bist immer zu liebenswürdig gegen mich,« protestierte Frau Jondrette mit all der Ziererei, deren Ungethüme bei Schmeicheleien fähig sind.

»Jondrette?« fiel Leblanc ein, »Ich glaubte, Sie heißen Fabantou?«

»Fabantou, genannt Jondrette!« erläuterte lebhaft der Mann, »ein Beiname, wie er unter Schauspielern üblich ist.«

Und indem er seiner ungeschickten Gemahlin durch ein von Leblanc unbeachtetes Achselzucken seinen Aerger zu erkennen gab, fuhr er in pathetischem und zärtlichem Tone fort:

»Wir haben uns immer sehr gut vertragen, mein liebes Weibchen und ich! Was bliebe uns denn auch an Glück noch übrig, wenn wir das nicht hätten? Es geht uns ja so furchtbar schlecht, hochverehrter Herr. Gesunde Arme, Lust und Liebe zur Arbeit und keine Beschäftigung! Ich weiß nicht, wie die Regierung es einrichtet, aber obgleich ich gegen sie keinen Groll hege, kein Radikaler, kein Revolutionär bin, muß ich doch sagen, wäre ich Minister, es sollte alles besser gehen; darauf gebe ich Ihnen mein heiligstes Ehrenwort. Da wollte ich z. B. meine Töchter das Kartonnieren erlernen lassen, Sie werden sagen: Was? Ein Handwerk? Ja ja, ein simples Handwerk, ein Broderwerb! So weit sind wir heruntergekommen, mein theurer Wohlthäter. Aus unserer guten Zeit ist uns nur noch eins, ein Gemälde, an dem mir viel liegt, geblieben; aber ich werde es trotzdem verkaufen. Der Mensch muß leben!«

Während Jondrette scheinbar ohne Zusammenhang, aber mit seiner gewöhnlichen verschmitzten Miene sprach, wandte Marius seinen Blick seitwärts und bemerkte im Hintergrunde Jemand, den er bisher noch nicht gesehen hatte. Der Betreffende war so leise hereingekommen, daß Marius nichts gehört hatte, er trug eine alte, abgenutzte, fleckige, mit Schnittwunden bedeckte Weste aus Strickstoff, eine weite Manchesterhose, Socken, aber kein Hemd; der Hals und die tätowirten Arme waren bloß und das Gesicht geschwärzt. Er saß mit gekreuzten Armen auf dem Bett nahe der Thür, und da er sich hinter Frau Jondrette versteckt hielt, konnte man ihn nicht leicht sehen.

Aber vermöge jenes magnetischen Instinktes, den der menschliche Blick anzuregen pflegt und der schon Marius aufmerksam gemacht hatte, wendete sich auch Leblanc fast in demselben Augenblick um. Er konnte sich eines gewissen Erstaunens nicht erwehren, das Jondrette nicht entging.

»Ach so, Sie wundern Sich, wie gut mir Ihr Ueberzieher paßt!« bemerkte er, indem er sich wohlgefällig betrachtete. »Ja ja, er kleidet mich ganz ausgezeichnet.«

»Wer ist der Mann?« forschte Leblanc.

»Bloß ein Nachbar.«

Der Nachbar sah recht sonderbar aus. Indessen da sich in der Vorstadt Saint-Marceau eine Menge chemische Fabriken befinden und Arbeiter mit schwarzem Gesicht dort nichts Seltenes sind, so begnügte sich Leblanc, wie es schien, mit Jondrette's Erklärung und fuhr fort:

»Verzeihung, Herr Fabantou, was sagten Sie eben?«

»Ich sagte, mein werter Gönner,« erwiederte Jondrette, indem er Leblanc zärtlich wie eine Boa Constrictor fixirte; »ich sagte so eben, daß ich ein Gemälde zu verkaufen habe.«

In demselben Augenblick ließ sich von der Thür her ein leichtes Geräusch vernehmen. Ein zweiter Mann war hereingekommen und hatte sich auf das Bett hinter Frau Jondrette gesetzt. Auch er ging mit bloßen Armen, und sein Gesicht war mit Tinte oder Ruß geschwärzt.

So leise er sich aber auch in das Zimmer hereingeschlichen hatte, so wurde Leblanc doch zugleich aufmerksam auf ihn.

»Lassen Sie Sich nicht stören,« hob Jondrette wieder an. »Es sind Leute aus dem Hause. Ich wollte Ihnen also das Bild zeigen.«

Er stand auf, ging hin und drehte die Tafel um, die an die Wand gelehnt stand. Das Ding sollte gewiß ein Gemälde vorstellen, aber soweit es Marius erkennen konnte, war es eine grelle Kleckserei, die an die Schilder der Jahrmarktsbuden erinnerte.

»Was ist denn das?«

»Ein Gemälde von Meisterhand,« betheuerte Jondrette, »ein werthvolles Bild, das mir ans Herz gewachsen ist wie meine Kinder, mit dem theure Erinnerungen verknüpft sind. Aber wie gesagt, ich bin so unglücklich, daß ich mich dazu verstehen würde, es loszuschlagen.«

Sei es aus Zufall, sei es, daß sich Mißtrauen in ihm zu regen begann, lenkte Leblanc jetzt wieder seinen Blick nach dem Hintergrund des Zimmers. Es waren jetzt vier Männer da; drei, die auf dem Bett saßen und einer an der Thür, alle Vier mit bloßen Armen und schwarzen Gesichtern. Keiner hatte Schuhe oder Stiefel an.

Jondrette bemerkte, daß Leblanc die verdächtigen Gestalten im Auge behielt.

»Die Leute sind Ofensetzer; darum sehen sie so schwarz aus. Lassen Sie Sich nicht stören. Sehen Sie Sich mein Gemälde an und erbarmen Sie Sich meines Elends. Ich verlange nicht viel dafür. Wie hoch schätzen Sie es?«

Leblanc sixirte Jondrette sehr scharf und antwortete:

»Das ist ein Wirtshausschild, das ganz gut drei Franken wert ist.«

Jondrette antwortete in gemüthlichem Tone:

»Haben Sie Ihre Brieftasche bei der Hand? Ich würde mich mit drei tausend Franken begnügen.«

Leblanc stand auf, lehnte sich an die Wand und überblickte rasch das Zimmer. Neben ihm links und nach dem Fenster zu stand Jondrette, rechts nach der Thür zu Frau Jondrette und die vier schwarzen Männer, die sich nicht rührten und ihn nicht einmal zu sehen schienen.

Jondrette aber sprach jetzt wieder in dem alten kläglichen Ton und mit einem eigenthümlichen Ausdruck der Augen, daß Leblanc glauben konnte, der Mann sei vor Elend irrsinnig geworden.

»Wenn Sie mir mein Gemälde nicht abkaufen, theurer Wohlthäter, so bleibt mir nichts mehr übrig, als ins Wasser zu gehen und meinem Leben ein Ende zu machen. Wenn ich bedenke, daß ich meine Töchter die Anfertigung von feineren Papparbeiten erlernen lassen wollte! Aber es gehört zu viel dazu. Ein Tisch mit einem Brett, damit die Gläser nicht herunterfallen; eine besondere Art eiserner Ofen; ein Topf mit drei Abtheilen für die verschiedenen Stärken, die der Leim haben muß, je nachdem er auf Holz, Papier oder Zeug gestrichen werden soll; ein Kneif, die Pappe zu schneiden; ein Modellbrett; ein Hammer; eine Zange und wer weiß, was noch! Und das Alles um mit vierzehn Stunden Arbeit vier Sous zu verdienen. Jede Schachtel geht dreizehn Mal durch die Hände der Arbeiterin. Und das Papier muß naß gemacht werden, ohne daß es schmutzig werden soll. Und der Leim soll immer warm gehalten werden. Vier Sous den Tag! Hol's der Teufel! Wie soll ein Mensch damit auskommen?«

Während er so sprach, sah er Leblanc, der ihn beobachtete, nicht an, sondern nach der Thür. Marius' Augen wanderten von dem Einen zu dem Andern. Leblanc schien sich zu fragen: »Ist der Mann geisteskrank?« Namentlich als Jondrette in ein langgedehntes flehentliches Gewinsel überging und zwei bis drei Mal wiederholte: »Mir bleibt nichts übrig als daß ich mich ertränke. Ich bin schon neulich bei dem Pont d' Austerlitz drei Stufen von der Treppe hinuntergegangen, die in den Fluß hinabgeht!«

Plötzlich aber leuchtete ein unheimliches Feuer in seinen glanzlosen Augen auf; der kleine Mann richtete sich zu seiner ganzen Höhe empor, trat an Leblanc heran und schrie ihn mit einer Donnerstimme an:

»Erkennen Sie mich?«

XX.
In der Falle

Die Thür war plötzlich geöffnet worden und drei neue Ankömmlinge waren erschienen, alle Drei in blauen Leinwandkitteln und mit Masken aus schwarzem Papier. Der Erste war mager und trug einen langen mit Eisen beschlagenen Knüttel. Der Zweite, ein wahrer Koloß, war mit einer langen Axt bewaffnet. Der Dritte, ein vierschrötiger Kerl, der weniger dürr als der Erste und nicht so plump wie der Zweite war, hielt einen ungeheuren Thorschlüssel in der Faust.

Auf die Ankunft dieser drei Halunken hatte Jondrette offenbar noch gewartet. Sofort entspann sich ein Gespräch zwischen ihm und dem Mann mit dem Knüttel, dem Dürren.

»Ist alles fertig?« fragte Jondrette.

»Ja«, antwortete der Dürre.

»Wo ist denn Montparnasse?«

»Das Gigerl hält sich mit Deiner Tochter auf und schwatzt mit ihr.«

»Welche?«

»Die Aelteste.«

»Steht eine Droschke unten?«

»Ja.«

»Ist der Wagen bei der Hand?«

»Ja wohl. Mit zwei tüchtigen Pferden davor.«

»Er wartet, wo ich ihn hinbestellt habe?«

»Ja.«

»Gut!« sagte Jondrette.

Leblanc war sehr blaß. Es war augenscheinlich, daß er seine gefährliche Lage begriff, aber während er den Kopf langsam und erstaunt nach allen Seiten wandte, zeigte sein Gesicht keine Spur von Furcht. Er hatte sich hinter den Tisch, wie hinter einen improvisirten Wall zurückgezogen, und während er noch eben nichts als ein harmloser alter Herr zu sein schien, stand er jetzt in der Positur eines kampfbereiten Athleten, die Stuhllehne in der gewaltigen Faust und mit drohender Miene.

Dieser Greis, der einer so fürchterlichen Gefahr so entschlossen und kühn entgegentrat, gehörte offenbar zu jenen Menschen, für die der Muth ebenso selbstverständlich und einfach ist, wie ihre Herzensgüte, und Marius war stolz auf ihn. Ist doch der Vater der Geliebten nie ein Fremder für uns.

Drei von den vier angeblichen Ofensetzern hatten aus dem Haufen Eisenwerkzeuge, der Eine eine Blechschere, der Zweite eine Zange, der Dritte einen Hammer genommen und sich, ohne ein Wort zu sprechen, quer vor die Thür gestellt. Der Vierte, ein Alter mit weißen Haaren, war sitzen geblieben, hatte aber seine schläfrige Haltung aufgegeben und die Augen geöffnet. Neben ihm saß jetzt Frau Jondrette.

Marius glaubte jetzt, binnen wenigen Sekunden werde der Zeitpunkt eintreten, wo er sich in die Sache einmischen mußte, und hob schon, die Hand am Hahn, das Terzerol empor nach der Decke und dem Flur hin.

Nach dem Gespräch mit dem Knüttelträger wandte sich Jondrette wieder zu Leblanc hin und wiederholte seine Frage mit dem ihm eigenen leisen, unterdrückten, fürchterlichen Lachen.

»Sie erkennen mich also nicht?«

Leblanc sah ihn fest an und antwortete: »Nein.«

Nun trat Jondrette bis an den Tisch heran, beugte sich mit verschränkten Armen über das Talglicht, bis sein von Grimm verzerrtes Raubthiergesicht Leblanc's ruhevolles Antlitz beinah berührte und schrie:

»Ich heiße nicht Fabantou! Ich heiße nicht Jondrette! Mein Name ist Thénardier. Ich bin der Gastwirth aus Montfermeil. Haben Sie's gehört? Thénardier! Erkennen Sie mich jetzt?«

Eine leichte, kaum bemerkbare Röthe stieg in Leblanc's Stirn und ohne daß seine Stimme zitterte oder lauter wurde, sagte er mit seiner gewohnten Seelenruhe:

»Noch immer nicht.«

Diese Antwort hörte Marius nicht mehr. Verstört, fast besinnungslos, wie versteinert stand er da. Als Jondrette sagte: »Mein Name ist Thénardier!« zitterte Marius an allen Gliedern und lehnte sich an die Wand, als wäre ihm eine Stahlklinge durch das Herz gefahren. Dann sank der Arm, der den Signalschuß abfeuern sollte, langsam herab, und in dem Augenblick, wo Jondrette »Haben Sie's gehört! Thénardier!« wiederholte, hätten Marius kraftlose Finger beinah das Terzerol fallen lassen. Nicht Leblanc hatten Jondrette's Worte erschüttert, sondern Marius in die höchste Bestürzung versetzt. Was bedeutete nicht alles dieser Name für ihn! Einen Kultus, der mit dem Andenken seines hochverehrten Vaters aufs innigste verknüpft war. Und nun, wo er den so lange und sehnsuchtsvoll Gesuchten vor sich sah, nun war der Mann, dem er so gern die höchsten Opfer gebracht hätte, ein Bandit, ein ruchloser Verbrecher, der augenscheinlich sich eben anschickte, ein frevelhaftes Attentat – wahrscheinlich einen Mord – zu begehen. Und an wem? Großer Gott! Welch bitterer Hohn des Schicksals! Jetzt stand er vor der furchtbaren Wahl, ob er den Retter seines Vaters dem Henker überliefern oder den Vater des Mädchens, das er leidenschaftlich liebte, sollte umkommen lassen. Und keine Zeit sich zu besinnen! Die Kniee drohten ihm den Dienst zu versagen, und er fühlte sich einer Ohnmacht nahe.

Währenddem raste Thénardier mit wildem Triumphe vor dem Tische hin und her.

Mit einem Mal nahm er den Leuchter in die Faust und stampfte ihn so heftig auf den Kaminsims, daß der Docht beinah erlosch und der geschmolzene Talg an die Wand spritzte.

Dann wandte er sich wieder zu Leblanc hin und verhöhnte ihn:

»Futschikato! Reingefallen! Im Wurschtkessel!«

Und während er wieder auf und abrannte, jubelte er mit heller Schadenfreude:

»Also finde ich Sie endlich wieder, Herr Philanthrop, Herr Millionär mit dem schäbigen Rock, Herr Puppenverschenker! Alter Alfanz! Also, Sie erkennen mich nicht? Nein, Sie sind nicht derjenige, der vor acht Jahren, Weihnachten 1823, nach Montfermeil in meiner Herberge eingekehrt ist! Sie haben nicht das Kind der Fantine, die Lerche, aus meinem Hause weggeführt! Sie trugen keinen gelben Rock! Bewahre! Kein Bündel mit Kleidungsstücken in der Hand, wie jetzt eben! Sag mal, Frau, das ist eine Schrulle von ihm, daß er überall Bündel mit alten Strümpfen hinbringt, die gute, alte, mildthätige Seele! Sind Sie denn Strumpfwirker, Herr Millionär, daß Sie die Leute mit alten Sachen beglücken, die Sie nicht verkaufen können? Nein, so ein verlogener Mucker! Also, Sie erkennen mich nicht? Na, ein Glück, daß ich Sie kenne; ich habe Sie den Augenblick wieder erkannt, wo Sie Ihre Nase hier hereingesteckt haben. Na, jetzt sollen Sie aber sehen, daß es Einem nicht immer ungestraft hingeht, wenn man sich in die Häuser schleicht, als Lumpenmatz verkleidet, die Leute hintergeht, den Freigebigen spielt, ihnen ihren Broderwerb nimmt, und im Walde den Knüttel gegen sie schwingt. Damit ist's nicht abgemacht, daß man nachher, wenn die Leute ruinirt sind, sie mit einem zu weiten Ueberzieher und ein paar elenden Decken abspeisen will, Sie alter Spitzbube, Sie Kinderdieb!

Er hielt inne und schien eine Weile mit sich selber zu sprechen. Seine Wut verschwand mit einem Mal, sozusagen wie die Rhone, die plötzlich an einer Stelle unter der Erde weiter fließt. Diesen Monolog beendete er aber, indem er mit der Faust auf den Tisch schlug und wieder laut sprach:

»Mit einem so einfältigen, gutmüthigen Gesicht!«

Und zu Leblanc gewendet:

»Damals haben Sie über mich gelacht! Sie sind an allem meinem Unglück schuld. Sie haben für fünfzehnhundert Franken ein Mädchen bekommen, das ganz gewiß reicher Leute Kind war, die mir schon viel Geld eingebracht hatte, und aus der ich noch mehr herausgeschlagen hätte, so viel daß ich sorgenfrei hätte leben können. Die hätte mich für alle meine Verluste entschädigt, für das Vermögen, das ich in der verdammten Herberge ans Bein gebunden habe. Andere hielten große Gelage bei mir, und ich wurde dabei zum Bettler. O ich wünschte, all der Wein, den ich ihnen eingeschenkt habe, wäre zu Gift geworden! Aber das ist nun Nebensache. Nicht wahr, ich bin Ihnen komisch vorgekommen, als Sie mit der Lerche abgezogen sind. Sie hatten Ihren Knüttel und waren der Stärkere. Jetzt kann ich Ihnen aber das vergelten. Heute habe ich alle Trümpfe in der Hand, und Sie sind in der Klemme, guter Mann. Nein, was ich mich jecke! Wie er sich hat nasführen lassen! Ich habe ihm weis gemacht, ich wäre Schauspieler, mein Hauswirt wollte morgen sein Geld haben! Der Dämlack weiß nicht mal, daß die Miethen am 8. Januar, nicht am 4. Februar fällig sind. Und vier erbärmliche Louisd'or bringt mir der alte Gauner, hat nicht so viel Kourage in der Tasche, daß er sich die runde Hundert abknöpfen kann. Und wie er auf meine Schweifwedelei reingefallen ist! Das hat mir Spaß gemacht. Ich dachte bei mir: Du Trottel! Jetzt katzbuckle ich; heute Abend fetze ich Dir die Kaldaunen aus dem Leibe.«

Er kam nicht weiter. Er hatte sich außer Athem geredet, und seine schmale Brust ging auf und nieder wie ein Blasebalg. In seinen Augen aber leuchtete noch die gemeine Schadenfreude des Schwachen, Grausamen und Feigen, der endlich einen starken Feind niedertreten kann, die Freude des Schakals, der einen halbtoten, wehrlosen Stier zerfleischen und sich an seinen Qualen weiden kann.

Leblanc fiel ihm nicht ins Wort, sondern sprach erst, als Thénardier von selbst zu reden aufhörte.

»Ich weiß nicht, was Sie meinen. Sie irren sich. Ich bin ein unbemittelter Mann, nichts weniger als ein Millionär. Ich kenne Sie nicht. Sie halten mich für einen Andern.«

»So eine alberne Finte!« krächzte Thenardier. »Sie scheinen Vergnügen an dem faulen Witz zu finden. Da sind Sie aber auf dem Holzwege, Alterchen! Also, Sie erinnern sich nicht? Sie sehen nicht, wer ich bin?«

»Entschuldigen Sie, Herr Thénardier,« antwortete Leblanc mit einer Höflichkeit, die in Anbetracht seiner gefährlichen Lage ebenso imponirend wie sonderbar klang. »Ich sehe, daß Sie ein Bandit sind.«

Wer hat nicht beobachtet, daß nichtswürdige Menschen in gewissen Dingen empfindlich kitzlich sind. Bei dem Wort »Bandit« sprang Frau Thénardier vom Bett auf, und er packte den Stuhl so grimmig, als wollte er ihn in seinen Händen zerbrechen. »Du bleibst da!« herrschte er seine Frau an; und zu Leblanc gewendet, fuhr er fort:

»Bandit? Ja, ich weiß, daß Ihr Herren Reichen uns so nennt. Also weil ich fallirt habe, mich verstecken muß, kein Brod, keinen Heller Geld habe, bin ich ein Bandit! Ich habe drei Tage lang nichts gegessen; folglich bin ich ein Bandit. So so! Ihr habt warme Öfen, ganze Stiefel, wattirte Röcke; Ihr wohnt in feinen Häusern, eßt Trüffeln, eßt Spargel im Monat Januar, das Bund zu vierzig Franken, und wenn Ihr wissen wollt, ob es kalt ist, so lest Ihr in der Zeitung nach, auf wieviel Grad Chevallier's Thermometer steht. Wir müssen selber Thermometer sein, wir brauchen nicht auf dem Boulevard nachsehen, wie niedrig das Thermometer steht, wir fühlen die Kälte daran, daß uns das Blut in den Adern gerinnt, daß sich uns Eis ums Herz legt, und wir sagen: ›Es giebt keinen Gott!‹ Und dann kommt Ihr in unsere Schlupfwinkel und nennt uns Banditen! Aber wir werden Euch mit Haut und Haaren auffressen, Euch Jammerlappen. Merken Sie Sich, Herr Millionär, ich bin ein Mann gewesen, der ein Geschäft gehabt hat; ich bin Wähler gewesen, ich bin Bürger; und wer weiß, ob Sie einer sind!«

Hier trat er einen Schritt gegen die Männer vor, die an der Thür standen und sagte bebend vor Wuth:

»Wenn man denkt, daß der sich untersteht, mit mir in meiner Wohnung wie mit einem Schuhflicker zu reden!«

Durch diese seine Worte zu erneuerter Wuth gereizt, fuhr er fort:

»Und merken Sie Sich noch, Herr Philantrop, daß ich nicht zu den dunkeln Existenzen gehöre, wie Sie! Ich bin nicht ein Mann, dessen Namen Keiner kennt, und der Kinder stiehlt. Ich bin ein ehemaliger französischer Soldat, der einen Orden verdient hätte. Ich habe bei Waterloo gekämpft, habe einen General, einen Grafen So und So gerettet. Er hat mir seinen Namen gesagt; aber der Jammerkerl sprach so leise, daß ich ihn nicht verstanden habe. Nur: ›Merci‹ habe ich gehört. Ich hätte es lieber gesehen, wenn ich seinen Namen hätte erfahren können. Dann würde ich ihn aufgesucht haben. Das Gemälde hier, das David in Bruqueselles gemalt hat, wissen Sie, wen das vorstellt? Mich! David hatte die That für wert gehalten, daß sie in alle Ewigkeit verherrlicht würde. Ich trage hier den General auf dem Rücken durch den Kugelhagel. Das ist eine geschichtliche Thatsache. Der General hat aber nichts für mich gethan. Er war auch nicht besser als die Andern. Jetzt aber, nachdem ich so gut gewesen bin, Ihnen dies Alles zu sagen, wollen wir ein Ende machen. Also ich brauche Geld, viel, ungeheuer viel Geld oder ein Donnerwetter soll mir in die Gebeine fahren, wenn ich Ihnen nicht das Genick umdrehe.«

Marius war seiner Beklemmung wieder einigermaßen Herr geworden. Der letzte Zweifel war zu Nichte geworden. Der Mann war wirklich der in dem Testament des Oberst Pontmercy bezeichnete Thénardier. Marius erbebte bei dem Vorwurf, der gegen seinen Vater erhoben wurde, und den er eben im Begriff stand, zu rechtfertigen. Seine Verlegenheit nahm auch in Folge dessen noch mehr zu. Andererseits machten Thénardiers Worte, seine Geberden, Blicke, der rückhaltslose Wuthausbruch, das Gemisch von Prahlerei und niedriger Gesinnung, von Hochmuth und Kleinlichkeit, von Raserei und Albernheit, das Chaos von berechtigten Klagen und falschen Empfindungen auf den jungen Marius einen gemischten Eindruck: Sie wirkten abschreckend wie das Böse und ergreifend wie die Wahrheit.

Da Thénardier nicht mehr zwischen dem »Gemälde« und dem Guckloch stand, konnte Marius es jetzt sehen. Er erkannte auch, daß die Kleckse eine Schlacht, Pulverdampf und einen Mann bedeuteten, der einen andern trug. An diesem Anblick berauschte sich Marius so zu sagen; er hörte sein Blut in den Schläfen hämmern, die Kanonen in seinen Ohren donnern und ihn dünkte, sein Vater starre ihn aus dem Gemälde an.

Als Thénardier wieder Athem geschöpft hatte, heftete er auf Leblanc seine wuthentbrannten Augen und stieß mit leiser Stimme die Frage hervor:

»Was hast Du zu sagen, ehe wir Dich in Stücken hauen?«

Leblanc schwieg.

»Wenn Holz gehauen werden soll, so wendet Euch nur an mich!« ulkte auf dem Korridor der Mann mit der Axt und zeigte grinsend sein scheußliches, fahles Gesicht und sein nicht mit Zähnen, sondern mit Hauern bewaffnetes Maul in der Thüröffnung.

»Warum hast Du Deine Maske abgenommen?« fuhr ihn Thénardier an.

»Weil ich lachen wollte,« antwortete er.

Leblanc verfolgte und beobachtete schon seit einiger Zeit alle Bewegungen Thénardiers, der von seiner eigenen Wuth geblendet und berauscht, in der Räuberhöhle auf und ab rannte, ohne auf sein Opfer besonders zu achten. War doch die Thür bewacht und ein Wehrloser in den Händen von neun Männern, vorausgesetzt, daß Frau Thénardier nur als Ein Mann gerechnet wurde. So drehte er denn auch, als er den Mann mit der Axt anherrschte, Leblanc den Rücken zu.

Dieser benutzte die Gelegenheit, stieß mit dem Fuß den Stuhl, mit der Hand den Tisch zurück und sprang, noch ehe Thénardier die Zeit gehabt hatte, sich wieder umzudrehen, mit unglaublicher Gewandtheit an das Fenster. Es öffnen, auf die Brüstung klettern, den Fuß hinaussetzen, war das Werk einer Sekunde. Schon war er zur Hälfte draußen, da packten ihn sechs kräftige Fäuste und rissen ihn in die Räuberhöhle zurück. Es waren die drei »Ofensetzer,« die sich auf ihn gestürzt hatten. Zugleich hatte ihn auch Frau Thenardier bei den Haaren gefaßt.

Bei dem Getrampel, das dabei entstand, eilten die andern Banditen aus dem Korridor herbei. Der Alte, der auf dem Bett saß und angetrunken schien, erhob sich von dem Bett und taumelte mit einem großen Hammer in der Hand herbei.

Einer der »Ofensetzer,« dessen schwarzes Gesicht von dem Talglicht beleuchtet war, und in dem Marius Bigrenaille erkannte, schwang gleichfalls gegen Leblanc eine eiserne Stange, die an beiden Enden mit Bleikugeln versehen war.

Bei diesem Anblick hielt es Marius nicht länger aus. – »Vater, verzeihe mir!« rief er innerlich und legte den Finger an den Hahn des Terzerols. Als er aber eben den Schuß abfeuern wollte, hörte er Thénardier rufen:

»Thut ihm nichts!«

Statt ihn zu reizen, wirkte der verzweifelte Rettungsversuch seines Opfers beruhigend auf Thénardier. Sein Charakter setzte sich aus Bösartigkeit und Schlauheit zusammen. So lange er nun den Besitz seiner Beute für gesichert hielt, ließ er seiner Bosheit freien Lauf. Als aber der Gefangene anfing sich zu wehren, bekam Thénardiers klügeres Ich wieder die Herrschaft über ihn.

»Thut ihm nichts!« rief er zum zweiten Male. Und seine Mäßigung empfing auch sofort einen Lohn, von dem er freilich nichts ahnen konnte. Denn Marius hielt es Angesichts dieser neuen Wendung der Dinge nicht mehr für dringlich, den Signalschuß abzufeuern. Es konnte sich ja etwas ereignen, das ihn vor der schrecklichen Alternative bewahrte, Ursulas Vater umkommen zu lassen oder den Retter des Obersten zu Grunde zu richten.

Unterdessen tobte nebenan ein furchtbarer Kampf. Von einem gewaltigen Faustschlag auf die Brust getroffen, taumelte der weißhaarige Bandit bis in die Mitte des Zimmers zurück. Dann warf Leblanc zu gleicher Zeit zwei andere nieder und stemmte ihnen seine Kniee auf den Leib, so daß sie ächzten, als laste ein Mühlstein auf ihnen. Aber die vier andern Angreifer hielten den starken Greis an den Armen und am Genick gepackt und drückten ihn von oben gegen die beiden »Ofensetzer« nieder. Indem er so die Einen in seiner Gewalt hatte und von den Andern niedergezwungen wurde, verschwand er in dem Haufen Banditen wie ein wilder Eber in einer Meute Rüden.

Endlich gelang es ihnen, ihn bis auf das nächste Bett zu schleppen und ihn hier fest zu halten. Auch die Thénardier hatte seine Haare noch immer in ihren Krallen.

»Misch Du Dich doch nicht ein!« fuhr ihr Mann sie an, »Du wirst Dir bloß Dein Tuch zerreißen.«

Sie gehorchte wie eine Wölfin ihrem Männchen gehorcht, nämlich knurrend.

»Ihr, visitirt ihn,« kommandirte Thénardier weiter.

Leblanc schien jeden ferneren Widerstand aufgegeben zu haben.

Die Banditen durchsuchten seine Taschen, fanden aber nur eine lederne Börse, die sechs Franken enthielt, und ein Taschentuch.

Dieses Taschentuch steckte Thénardier ein.

»Was? Kein Portefeuille?« fragte er.

»Und keine Uhr,« sagte einer der »Ofensetzer«.

»Das muß man sagen,« murmelte mit einer Bauchrednerstimme der Maskirte, der mit dem großen Schlüssel bewaffnet war. »Der Alte ist ein hagebüchener Kerl.«

Thénardier ging nach der Ecke und hob ein Paket Stricke auf, das er ihnen zuwarf.

»Bindet ihn an den Fuß des Bettes!«

Zugleich bemerkte er den Alten, der noch immer auf dem Boden lag und kein Lebenszeichen gab.

»Ist Boulatruelle tot?« fragte er.

»Nein, blos besoffen,« antwortete Bigrenaille.

»Schmeißt ihn in die Ecke!« befahl Thénardier.

Zwei von den »Ofensetzern« stießen den Trunkenbold mit den Füßen bis zu dem Haufen Eisen hin.

»Weshalb hast Du so viel Leute mitgebracht, Babet,« fragte Thénardier leise den Mann mit dem Knüttel, »das war nicht nöthig.«

»Je nun, sie wollten mit. In dieser schlechten Jahreszeit macht man keine Geschäfte.«

Mittlerweile banden die Räuber Leblanc, der an keinen Widerstand mehr dachte, mit den Füßen an denjenigen hölzernen Pfosten des Bettes, der dem Kamin zunächst war.

Als der letzte Knoten geknüpft war, nahm Thénardier einen Stuhl und setzte sich Leblanc ungefähr gegenüber. Sein Gesicht war vollständig verändert; statt unbändiger Heftigkeit ruhige, pfiffige Selbstbeherrschung. Marius staunte über diese unglaubliche, unheimliche Verwandlung, und ihm war zu Muthe, wie einem Menschen, der einen Tiger eine Advokatenphysiognomie aufstecken sähe.

»Mein Herr,« begann Thénardier, winkte dann aber erst die Banditen ab, die Leblanc noch immer fest hielten.

»Tretet ein wenig zurück und laßt mich mit dem Herrn sprechen.«

Alle zogen sich bis zur Thür zurück.

»Mein Herr, Sie haben nicht wohl daran gethan, daß Sie zum Fenster hinausspringen wollten. Sie hätten sich die Beine brechen können. Jetzt aber wollen wir, wenn Sie erlauben, in aller Ruhe ein paar Worte mit einander reden. Zunächst also muß ich Ihnen eine Beobachtung mittheilen, die ich gemacht habe: Sie haben bisher noch nicht den geringsten Schrei ausgestoßen.«

Thénardier hatte Recht. Es war dies allerdings eine auffällige Thatsache, obgleich Marius in seiner Verwirrung sie nicht beachtet hatte.

Thénardier fuhr fort:

»Mein Gott, ich hätte ja gar nichts dagegen gehabt, wenn Sie um Hülfe geschrieen hätten. Es ist ganz natürlich, daß man Skandal macht, wenn man sich unter Leuten befindet, die einem wenig Vertrauen einflößen. Hätten Sie zu diesem Mittel Ihre Zuflucht genommen, – wir würden Ihnen nichts zu Leide gethan, Sie nicht einmal geknebelt haben. Und zwar aus folgendem einfachen Grunde. Dieses Zimmer ist sehr dumpf. Es hat nur diesen einzigen Vortheil, aber den hat es. Man könnte hier eine Kanone abfeuern, so würde man auf dem nächsten Wachtposten glauben, es schnarche ein schlafender Trunkenbold. Meine Wohnung hat also ihr Gutes. Aber kurz und gut, Sie haben nicht um Hülfe gerufen, und das ist um so besser. Ich gratulire Ihnen dazu und will Ihnen jetzt sagen, was ich daraus schließe. Mein bester Herr, wer kommt, wenn man schreit? Die Polizei und nach der Polizei die Justiz. Es liegt Ihnen also ebenso wenig wie uns daran, daß Polizei und Justiz sich in Ihre Angelegenheiten mischen. Sie haben folglich, wie mir schon lange geschwant hat, irgend ein Interesse daran, irgend etwas geheim zu halten. Uns geht es ebenso. Mithin liegt eine Möglichkeit vor, daß wir uns verständigen.«

Während er so sprach, sah er seinen Gefangenen so scharf an, als wolle er sich mit seinen Blicken bis ins Innerste seines Herzens hineinbohren. Dabei war seine Sprache, obgleich noch etwas unverschämt und tückisch, doch eine gewähltere, und man konnte wohl merken, daß der Elende, der sich eben noch wie ein gemeiner Räuber gebärdete, einst in einem Priesterseminar studiert hatte.

Das vorsichtige Stillschweigen, das der Gefangene mit Gefahr seines Lebens beobachtet hatte, sein Widerstand gegen den so mächtigen Selbsterhaltungstrieb, machte auch auf Marius, seitdem seine Aufmerksamkeit auf diesen eigenthümlichen Umstand gelenkt war, einen Eindruck, der peinlicher Natur war.

Thénardier's wohl begründete Bemerkung verdichtete noch für Marius das Dunkel, das Leblanc's merkwürdige Persönlichkeit umgab. Aber was für ein Mensch er auch sein mochte, er bewahrte die denkbar vollkommenste Seelenruhe, mit Stricken gebunden, von Raubmördern umgeben, in einer Lage, die sich immer bedrohlicher gestaltete, sowohl vor Thénardier's wilder Wuth, als auch seiner Mäßigung gegenüber, und deshalb konnte auch Marius nicht umhin, die würdevolle Sanftmuth des Gefangenen zu bewundern.

Während der Pause, die nun folgte, trat Thénardier mit einer Miene, als wenn es sich um nichts Besonderes handle, an den Kamin und schob die spanische Wand an das andere Bett, so daß der Gefangene den weißglühenden Kaltmeißel in der Feuerkieke sehen konnte.

Dann setzte er sich wieder vor Leblanc hin.

»Ich fahre fort,« sagte er, »Wir können uns verständigen. Einigen wir uns in Güte. Es war unrecht von mir, daß ich mich vergessen habe. Ich weiß nicht, wo ich meinen Verstand hatte; ich bin zu weit gegangen. Da habe ich u. a., weil Sie Millionär sind, gesagt, ich gebrauche Geld, viel, kolossal viel Geld. Das ginge wider die gesunde Vernunft. Mein Gott, wenn Sie reich sind, so haben Sie doch auch eine Menge Verbindlichkeiten und Ausgaben wie jeder Andere auch. Ich will Sie nicht ruiniren. Ich bin kein Blutsauger. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die einen Vortheil mißbrauchen und sich lächerlich machen. Und damit Sie sehen, daß ich der Vernunft zugänglich bin, komme ich Ihnen entgegen und bringe ein Opfer. Ich verlange jetzt bloß zweihunderttausend Franken.«

Leblanc antwortete mit keinem Sterbenswörtchen, und Thénardier fuhr fort:

»Sie sehen, daß ich mich zu mäßigen verstehe. Ich kenne Ihr Vermögen nicht, aber ich weiß, daß es Ihnen aufs Geld nicht ankommt, und ein mildthätiger Mann wie Sie, kann ganz gut einem Familienvater, dem es nicht gut geht, zweihunderttausend Franken geben. Gewiß sind auch Sie Ihrerseits vernünftig und bilden Sich nicht ein, ich würde mir so viel Mühe geben, eine so sorgfältig überlegte Kombination, wie die Herren hier bestätigen werden, ins Werk zu setzen, wenn ich dafür nicht etwas mehr haben sollte, als zum dürftigsten Lebensunterhalt gehört. Zweihunderttausend Franken ist die Sache schon wert. Sobald Sie Sich dieser Kleinigkeit entäußert haben, stehe ich Ihnen dafür, das alles erledigt ist, und Sie keine weitere Belästigung zu befürchten haben. Sie werden einwenden, daß Sie die zweihunderttausend Franken nicht bei sich haben. Nun, ich verlange ja auch nicht, daß Sie mir das Geld sogleich baar hinzählen. Worum ich Sie aber ersuche, ist, daß Sie die Güte haben, etwas zu schreiben, was ich Ihnen jetzt diktiren will.«

Hier hielt Thénardier einen Augenblick inne und fuhr dann fort, mit bedeutungsvollem Nachdruck und mit einem Lächeln, um das ein Großinquisitor ihn beneidet hätte:

»Wohl bemerkt, den Einwand, daß Sie nicht schreiben können, würde ich nicht gelten lassen.«

Hierauf schob er Leblanc den Tisch hin und nahm ein Tintenfaß, eine Feder und ein Blatt Papier aus der Schublade, die er halb offen ließ und in der man das lange Messer glänzen sah.

»Schreiben Sie!« sagte er, indem er das Blatt Papier vor Leblanc hinlegte.

Jetzt endlich brach der Gefangene sein Stillschweigen.

»Wie soll ich schreiben? Ich bin ja gebunden.«

»Ach richtig! Ich bitte Sie um Verzeihung, Sie haben Recht.«

Und zu Bigrenaille:

»Binden Sie dem Herrn den rechten Arm los.«

Bigrenaille vollzog Thénardier's Befehl. Als die rechte Hand des Gefangenen frei war, tauchte Thénardier die Feder in die Tinte und hielt sie ihm hin.

»Bedenken Sie ja, mein Herr, daß Sie vollständig in unserer Gewalt sind, daß keine menschliche Macht Sie aus Ihrer Lage befreien kann, und daß es uns recht leid thun würde, sollten wir zu unangenehmen Mitteln greifen müssen. Ich weiß weder wie Sie heißen noch wo Sie wohnen; aber ich benachrichtige Sie, daß Sie angebunden bleiben werden, bis der Ueberbringer des Briefes zurückkommt. Jetzt haben Sie die Güte und schreiben Sie.«

»Was?« fragte der Gefangene.

»Was ich Ihnen diktieren werde:«

»Liebe Tochter . . .«

Der Gefangene erschrak und sah zu Thénardier empor:

»Schreiben Sie ›Theuerste Tochter!‹« Leblanc gehorchte und Thénardier fuhr fort:

»Komm auf der Stelle.« – »Nicht wahr, Sie duzen sie?«

»Wen?« fragte Leblanc.

»Nun, die Kleine, die Lerche.«

Leblanc antwortete ohne die geringste sichtbare Erregtheit:

»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

»Schreiben Sie nur weiter:«

»Komm auf der Stelle. Ich habe nothwendig mit Dir zu sprechen. Die Ueberbringerin dieses Briefes hat den Auftrag, Dich zu mir zu führen. Komm ohne Furcht.«

»Nein! Streichen Sie die letzten drei Worte wieder aus. Das könnte zu dem Glauben Anlaß geben, daß die Sache nicht einfach ist, und Mißtrauen erregen.«

Leblanc strich die drei Worte durch.

»Nun unterschreiben Sie. Wie heißen Sie?«

Der Gefangene aber legte die Feder aus der Hand und fragte:

»Für wen ist dieser Brief bestimmt?«

»Sie wissen ja. Für die Kleine. Ich hab's Ihnen ja schon gesagt.«

Es sprang in die Augen, daß Thénardier das fragliche junge Mädchen nicht bei ihrem Namen nennen wollte. Diese Vorsicht gebrauchte er, weil er als schlauer Mann seine Spießgesellen möglichst wenig in sein Geheimniß einweihen wollte.

»Unterschreiben Sie also. Wie heißen Sie?«

»Urbain Fabre!«

Flink wie eine Katze, die eine Maus fangen will, griff Thénardier in seine Tasche und holte das Leblanc abgenommene Taschentuch hervor. Er suchte das Wäschezeichen und hielt es an das Licht.

»Richtig. U. F. Urbain Fabre. Also unterschreiben Sie U. F.«

Der Gefangne gehorchte.

»Nun, schreiben Sie die Adresse. Ich weiß, daß Sie nicht weit von hier wohnen, unweit der Kirche Saint-Jacques-du-Haut-Pas; denn dort besuchen Sie ja täglich die Messe, aber ich weiß die Straße nicht. Ich sehe indeß, daß Sie Ihre Lage begreifen. Da Sie mir keinen falschen Namen gesagt haben, werden Sie auch keine falsche Adresse aufschreiben.«

Der Gefangene sann einen Augenblick nach, ergriff dann die Feder und schrieb:

»An Fräulein Fabre, per Adresse des Herrn Urbain Fabre, Rue Saint-Dominique d'Enfer Nr. 17.«

Thénardier fiel mit fieberhafter Hast über den Brief her.

»Frau!« rief er.

Die Thénardier kam herbei.

»Hier ist der Brief. Du weißt, was Du zu thun hast. Unten wartet schon die Droschke. Geh sofort und komm bald wieder.«

»Du,« sagte er dann zu dem Mann mit der Axt, »da Du schon Deine Maske abgenommen hast, kannst Du meine Frau begleiten. Steige hinten auf. Du weißt doch, wo Du den Wagen gelassen hast?«

»Na gewiß!« antwortete der Mann, stellte seine Axt in eine Ecke und ging Frau Thénardier nach.

»Verliere vor allen Dingen den Brief nicht!« rief ihr Mann hinter ihr her. »Du trägst zweihundert Tausend Franken bei Dir. Bedenke das!«

»Sei unbesorgt. Ich habe ihn in meinen Busen gesteckt.«

Eine Minute war noch nicht vergangen, so hörte man Peitschengeknall, das sich rasch entfernte und bald verstummte.

»Bravo!« murmelte Thénardier. »Sie fahren fix. Auf die Weise kann sie in drei Viertelstunden schon zurück sein.«

Dann rückte er einen Stuhl vor den Kamin, setzte sich, verschränkte die Arme und hielt die Füße an das Feuer.

In dem Zimmer befanden sich jetzt nur noch Thénardier, der Gefangne und fünf Banditen. Diese Leute sahen schläfrig und stumpf aus; man merkte ihnen an, daß sie ein Verbrechen zu verüben pflegten, wie Andere ein Stück Arbeit, bei voller Gemüthsruhe, ohne Zorn und ohne Erbarmen, gleichgültig, gelangweilt. Sie saßen in einer Ecke wie Vieh zusammengepfercht und schwiegen. Thénardier wärmte sich die Füße, und der Gefangne verhielt sich wieder vollkommen ruhig. Eine unheimliche Stille herrschte jetzt nach dem wilden Lärm, der hier noch vor wenigen Augenblicken geherrscht hatte.

Das Licht, an dem sich eine große Schuppe gebildet hatte, erhellte nur schwach den großen Raum; die Kohlen waren heruntergebrannt und an den Wänden zeichneten sich ungeheuerliche Schatten ab.

Es ließ sich kein anderes Geräusch vernehmen, als der friedliche Athemzug des betrunknen Alten.

Marius' Angst nahm unterdessen nur noch zu. War doch das Räthsel jetzt noch verwickelter geworden. Wer war »die Kleine«, »die Lerche?« Seine Ursula? Der Gefangne hatte bei ihrer Erwähnung keine Erregtheit gezeigt. Andrerseits waren jetzt die Buchstaben U. F. erklärt: Ursula hieß nicht mehr Ursula. Das war die einzige Aufklärung, die ihm bis jetzt zu Theil geworden war. Er blieb also wie gebannt auf seinem Beobachtungsposten und wartete, zu jedweder geregelten Ueberlegung und Bewegung so gut wie unfähig, ob nicht irgend ein Zwischenfall den Dingen eine entscheidende Wendung geben würde.

»Jedenfalls,« dachte er, »werde ich ja sehen, ob sie mit der »Lerche« gemeint ist, denn die Thénardier wird sie ja herbringen. In dem Fall werde ich wissen, woran ich bin. Dann setze ich mein Leben aufs Spiel, um sie zu befreien.«

So verging ungefähr eine halbe Stunde im tiefsten Schweigen. Indessen glaubte Marius ein leises Geräusch zu hören, das von dem Gefangnen herkam.

Plötzlich sagte Thénardier zu Leblanc:

»Herr Fabre, ich will Ihnen lieber gleich sagen, wie die Sache abgewickelt werden soll.«

Dies sah nach einer Einleitung zu einer wichtigen Auseinandersetzung aus, und Marius spitzte deshalb die Ohren.

»Meine Frau wird bald wiederkommen. Gedulden Sie Sich nur noch ein kleines Weilchen. Ich denke mir, die Lerche ist wirklich Ihre Tochter, und finde es sehr natürlich und billig, daß Sie sie behalten. Aber nun hören Sie. Meine Frau übergiebt ihr den Brief und holt sie. Deshalb habe ich ihr ja auch gesagt, sie sollte ein wenig Toilette machen, damit das Fräulein keine Schwierigkeiten erhebt, ihr zu folgen. Sie steigen also Beide in die Droschke, und mein Freund sitzt hinten auf. Vor einem gewissen Thor erwartet sie ein mit zwei guten Pferden bespannter Wagen. In den steigt mein Freund mit dem Fräulein hinein, und meine Frau fährt mit der Droschke hierher zurück. Dem Fräulein wird Niemand etwas zu Leide thun; sie wird nur an einen sichern Ort gebracht und sobald Sie mir die zweihundert Tausend Franken ausgehändigt haben, wieder in Freiheit gesetzt. Lassen Sie mich aber arretiren, so drückt mein Freund der Lerche die Kehle zu. So! Das hatte ich Ihnen mitzutheilen.«

Der Gefangne sprach kein Wort. Thénardier aber fuhr nach einer Pause fort:

»Die Sache ist, wie Sie sehen, sehr einfach. Es wird nichts Schlimmes geschehen, wenn Sie es nicht durchaus wollen. – Sobald also meine Frau zurückkommt und mir gemeldet hat, daß die Lerche unterwegs ist, lassen wir Sie frei.«

Schreckliche Bilder entrollten sich bei dieser Rede vor dem geistigen Auge des geängstigten Marius. Also das junge Mädchen sollte nicht zurückkommen, und diejenige die er liebte – denn die »Lerche« und das zu entführende Fräulein waren doch gewiß ein und dieselbe Person – einem Räuber und Mörder überantwortet werden! Was thun? Den Schuß abfeuern? Dann zog er selber das Verderben auf ihr Haupt herab!

Plötzlich wurde das schauerliche Stillschweigen, das jetzt wieder herrschte, durch das Geknarr der Hausthür unterbrochen und gleich darauf stürzte Frau Thénardier, athemlos und wuthentbrannt, in das Zimmer:

»Die Adresse war falsch!« kreischte sie und schlug sich mit beiden Händen zugleich auf die Schenkel.

Jetzt trat auch der Bandit, den sie mitgenommen hatte, hinter ihr in das Zimmer und griff nach seinem Schlachtbeil.

»Was sagst Du?« fragte Thénardier.

»In der Rue Saint-Dominique Nr. 17 wohnt kein Herr Urbain Fabre!«

Sie konnte vor Wuth nicht weiter sprechen und hielt einen Augenblick inne. Dann fuhr sie fort:

»Thénardier, der Alte hat Dich an der Nase herumgeführt. Siehst Du, das hast Du davon, daß Du zu gutmüthig bist! Ich hätte ihm von vorn herein die Zähne eingeschlagen, und wenn er gemuckst hätte, ihn bei lebendigem Leibe gebraten. Er hätte mir schon sagen sollen, wo das Mädchen ist und wo er sein Geld versteckt hält. So würde ich die Sache eingefädelt haben! Es ist doch ganz richtig, was man immer sagt, daß die Männer dümmer sind, als die Frauen! Nr. l7 Rue Dominique wohnt kein Fabre!«

Marius athmete wieder auf. Sie, Ursula oder die Lerche, war gerettet.

Während seine Frau tobte und schimpfte, hatte sich Thénardier auf den Tisch gesetzt und schaukelte, ohne ein Wort zu sagen, das rechte Bein hin und her, indem er nachdenklich die Feuerkieke betrachtete.

Endlich sagte er langsam und in einem Schauder erregenden, grimmigen Tone:

»Was für einen Gewinn hast Du Dir eigentlich davon versprochen, daß Du eine falsche Adresse gegeben hast?«

»Zeit wollte ich gewinnen!« rief der Gefangene.

Und in demselben Augenblick schüttelte er auch die Stricke, die ihn fesselten, von sich ab. Nur das eine Bein blieb an den Bettpfosten angebunden.

Ehe die sieben Männer sich besinnen und über ihn herfallen konnten, streckte er dann die Hand nach der Feuerkieke hin, und jetzt wich das ganze Räubergesindel erschrocken in den Hintergrund des Zimmers zurück. Der riesenstarke Gefangene hatte jetzt eine Waffe, den glühenden Kaltmeißel, den er drohend über seinem Haupte schwang.

Bei der gerichtlichen Untersuchung, die später in dem Gorbeauschen Hause vorgenommen wurde, fand man eine der Länge nach gespaltene Kupfermünze nebst einer mikroskopischen Säge aus blauem Stahl. Diesen Apparat führen Zuchthaussträflinge bei sich oder fabriciren ihn im Gefängniß. Nachdem sie die Münze, oft nur vermittelst eines elenden alten Messers, gespalten haben, höhlen sie dieselbe so weit aus, daß sie eine Uhrfeder darin verstecken können, und bringen ein Schraubengewinde in dem Rande der Münze an, so daß sich die beiden Stücke zusammenlegen lassen.

Wahrscheinlich hatte der Gefangene, als die Räuber ihn visitirten, die Kupfermünze in der Hand verborgen gehalten, sie dann auseinandergeschraubt und mit der Säge die Stricke zerschnitten. So erklärte sich auch das leise Geräusch, das Marius gehört hatte, und gewisse kaum bemerkbare Bewegungen des Gefangenen.

Da er aber aus Furcht sich zu verrathen, nicht gewagt hatte, sich zu bücken, so hatte er die Stricke, mit denen sein linkes Bein festgebunden war, nicht durchsägen können.

Als die Banditen sich von ihrer ersten Ueberraschung erholt hatten, sagte Bigrenaille zu Thénardier:

»Sei unbesorgt. Er kommt nicht los. Sein eines Bein ist noch angebunden, und die Stricke habe ich verknüppert.«

Jetzt erhob der Gefangene seine Stimme.

»An meinem Leben ist zu wenig gelegen, als daß ich mir viel Mühe geben sollte, es zu vertheidigen, und wenn Ihr Euch einbildet, Ihr könntet mich zwingen etwas zu sagen oder zu schreiben, was ich nicht sagen und schreiben will, so – Seht her!« Mit diesen Worten streifte er den Rockärmel zurück und legte den glühenden Meißel auf seinen linken Arm.

Man hörte das verbrannte Fleisch zischen und ein schrecklicher Geruch verbreitete sich in dem Zimmer, Marius fuhr entsetzt zurück, und sogar die Banditen schauderten. Allein der merkwürdige, alte Mann verzog kaum das Gesicht bei dem grimmigen Schmerze und heftete in würdevoller Haltung seine Augen ruhevoll und ohne Haß auf Thénardier.

»Elende!« rief er dann, »fürchtet Euch vor mir nicht mehr, als ich mich vor Euch fürchte!«

Sprach es, riß den Meißel aus der Wunde und warf ihn zum Fenster hinaus, das noch immer offen stand,

»So! Nun thut mit mir, was ihr wollt!«

»Packt ihn!« gebot Thénardier.

Zwei von den Räubern legten ihm die Hand auf die Schulter und der Maskirte mit der Bauchstimme stellte sich vor ihn hin, den Schlüssel in der Hand, um ihm bei der geringsten Bewegung den Schädel einzuschlagen.

Zu gleicher Zeit hörte Marius dicht unter sich ein leises Zwiegespräch.

»Jetzt können wir weiter nichts thun als«

»Ihn kalt machen.«

»Ganz richtig.«

Es waren Thénardier und seine Frau, die sich berathschlagten.

Nun ging Thénardier langsam auf den Tisch zu, zog die Schublade auf und nahm das Messer heraus.

Marius hatte also vergeblich gehofft, er würde ein Mittel finden, den Gefangenen zu retten, ohne gegen das Testament seines Vaters zu verstoßen. Da sah er, als er, sinnlos vor Angst, seine Blicke mechanisch um sich schweifen ließ, plötzlich im Licht des Vollmonds das weiße Blatt, worauf Thénardiers älteste Tochter am Morgen mit großen Buchstaben: »Die Greifer sind da!« geschrieben hatte.

Ein Lichtstrahl blitzte durch sein Hirn. Er kniete auf die Kommode hin, ergriff das Blatt, wickelte es um ein Stück Kalk, das er aus der Wand brach, und schnellte es durch das Guckloch in das Nachbarzimmer hinein.

Es war die höchste Zeit. Thénardier hatte nach einigen Zaudern seine letzten Bedenken oder Gewissensbisse besiegt und schritt auf den Gefangenen zu. Da rief plötzlich Frau Thénardier:

»Da fällt etwas!«

»Was?« fragte ihr Mann.

Sie eilte hin, hob das Papier auf und reichte es ihrem Mann.

»Wo ist das hergekommen?« forschte er.

»Na wo denn sonst als durchs Fenster!«

»Ich habe es vorbeifliegen sehen!« bekräftigte Bigrenaille.

Thénardier faltete den Zettel auseinander und hielt ihn ans Licht.

»Eponinens Schrift. Alle Wetter!«

Er winkte seine Frau heran und zeigte ihr das Geschriebene. Dann rief er mit gedämpfter Stimme:

»Schnell die Strickleiter her. Wir müssen absocken.«

»Ohne dem Kerl den Hals abzuschneiden?« fragte Frau Thénardier.

»Dazu haben wir keine Zeit.«

»Wo sollen wir raus?« fragte Bigrenaille.

»Zum Fenster hinaus. Da Ponine den Stein von daher hereingeworfen hat, kann das Haus nach der Seite hin nicht bewacht sein.«

Der maskirte Bauchredner legte seinen Schlüssel auf den Fußboden, hob beide Arme empor und schlug, ohne ein Wort zusprechen, dreimal die Hände zusammen. Bei diesem Signal ließen die Räuber den Gefangenen los, befestigten das eine Ende der Strickleiter am Fenster und warfen das andere hinaus, während der Gefangene auf nichts achtete und zu träumen oder zu beten schien.

»So, nun komm!« rief Thénardier seiner Frau zu, als alles fertig war und stürzte auf das Fenster zu.

Aber als er eben den Fuß hinaussetzte, packte ihn Bigrenaille derb am Kragen.

»I Du bist wohl garnicht gescheidt. Du alter Schlauberger. Erst kommen wir!«

»Ja wohl; erst kommen wir!« stimmten die Banditen ein.

»So seid doch nicht kindisch!« meinte Thénardier. »Auf die Weise verlieren wir bloß Zeit.«

»Gut, so wollen wir loosen, wer zuerst hinaussteigen soll,« sagte einer der Banditen.

Thénardier protestirte entrüstet:

»Leute, seid Ihr denn verrückt? Also loosen wollen wir? Dazu gehören aber Strohhalme, oder wollt Ihr, damit noch mehr Zeit hingebracht wird, daß wir Jeder fein säuberlich unsere Namen aufschreiben und die Zettel in eine Mütze legen?«

»Darf ich den Herren vielleicht meinen Hut anbieten?«

Auf der Thürschwelle stand Javert und hielt lächelnd seinen Hut hin.

XXI.
Immer erst den Angegriffenen arretiren!

Beim Einbruch der Nacht hatte Javert seine Leute auf die Lauer gestellt und sich selber hinter die Bäume der Rue de la Barrière des Gobelins, die dem Gorbeauschen Hause gegenüber in den Boulevard mündet, versteckt, um von hier aus alles zu beobachten. Zunächst hatte er vor, Thénardiers Töchter dingfest zu machen, aber er wurde nur Azelma's habhaft. Eponine, die ihren Posten verlassen hatte, entkam ihm. Dann hatte er auf das verabredete Signal gewartet, schließlich aber die Geduld verloren. Denn daß in dem Hause etwas los war, und daß er einen guten Fang machen würde, darüber konnte kein Zweifel bestehen, nachdem er die Droschke beobachtet und mehrere ihm wohlbekannte Strolche sich in das Haus hineingeschlichen hatten. Demzufolge entschloß er sich endlich vorzugehen, ohne den Schuß abzuwarten.

Als er erschien, stürzten sich die Räuber auf die Waffen, die sie so eben in allen Winkeln hatten liegen lassen, und scharten sich kampfbereit zusammen. Auch Frau Thénardier schwang einen großen Pflasterstein, den ihre Töchter als Schemel benutzten.

Javert setzte den Hut wieder aus den Kopf und trat mit gekreuzten Armen, den Stock unter dem Arm und den Degen in der Scheide, in das Zimmer hinein.

»Halt!« rief er. »Nicht durch das Fenster, sondern hübsch durch die Thür. Das ist weniger riskant. Ihr seid Eurer sieben, wir fünfzehn. Vermeiden wir jede unanständige Katzbalgerei.«

Bigrenaille holte eine Pistole, die er unter seinem Kittel versteckt hielt, hervor und steckte sie Thénardier in die Hand, indem er ihm leise ins Ohr flüsterte:

»Das ist Javert. Auf den getrau' ich mich nicht zu schießen. Wagst Du's?«

»Na ob!« antwortete Thénardier und zielte auf Javert.

Dieser, der drei Schritte vor ihm. stand, sah ihn fest an und sagte ruhig:

»Laß das doch; Dein Schießprügel geht ja doch nicht los.«

Thénardier drückte los und – das Pistol versagte.

»Siehst Du wohl!« bemerkte Javert.

Jetzt warf Bigrenaille seinen Totschläger vor Javert hin.

»Du bist der Kaiser der Teufel! Ich ergebe mich.«

»Und Ihr?« fragte Javert die Andern.

»Wir gleichfalls!« antworteten sie im Chor.

»So ist's recht, Kinder. Ich dachte mir gleich, daß Ihr artig sein würdet.«

»Ich bitte nur um eins,« sagte Bigrenaille, »daß man mir den Tabak nicht versagt.«

»Zugestanden!« antwortete Javert.

»So! Nun kommt herein!« rief er hinter sich.

Ein Schwarm bewaffneter Polizisten stürzte herbei und fesselte die Banditen.

»Allen die Daumschrauben anlegen!« kommandirte Javert.

»Kommt doch näher, wenn Ihr's wagt!« rief eine nicht männliche, aber durchaus unweibliche Stimme.

Es war Frau Thénardier, die in einem Winkel am Fenster vor ihrem Mann Posto gefaßt und wie eine Gigantin ihren Stein mit beiden Händen über ihrem Kopf schwang.

Die Polizisten wichen zurück, und Frau Thénardier blickte verächtlich auf die Banditen, die sich hatten binden lassen.

»Die Feiglinge!«

Javert aber lächelte und trat mitten in den Raum, aus dem seine Leute eben zurückgewichen waren.

»Bleib mir vom Leibe, oder ich zermalme Dich!«

»Welch ein Grenadier! Mutter, Du hast einen Bart, wie ein Mann, aber ich habe Krallen wie ein Frauenzimmer!« sagte Javert und ging weiter auf sie los.

Frau Thénardier spreizte die Füße auseinander, neigte sich nach hinten zurück und schleuderte, rasend vor Wuth, den Stein nach Javert. Dieser bückte sich. Der Stein flog über ihn weg, prallte von der Mauer ab und flog bis zu Javert's Füßen zurück.

In demselben Augenblick legte auch schon Javert die eine seiner breiten Hände auf die Schulter der Frau Thénardier und die andere auf den Kopf ihres Mannes.

»Daumschrauben!« kommandirte er.

Die Polizisten eilten wieder aus dem Korridor herbei, und in wenigen Sekunden war Javert's Befehl vollstreckt.

Frau Thénardier starrte vernichtet auf ihre und ihres Mannes gefesselte Hände, sank zu Boden und jammerte:

»Meine Töchter!«

»Die sind in Nummer Sicher!« sagte Javert.

Währenddem bemerkten die Polizisten den betrunknen Schläfer hinter der Thür und rüttelten ihn. Er erwachte und lallte:

»Ist's schon vorbei, Jondrette?«

»Ja wohl!« meinte gemüthlich Javert.

Dann wandte er sich zu den sechs Banditen, die gebunden da standen:

»Behaltet Eure Masken vor!« sagte er zu den Maskirten.

Und indem er sie musterte, wie Friedrich der Große seine Garde, sagte er zu den drei »Ofensetzern«:

»Guten Abend, Bigrenaille. Guten Abend, Brujon. Guten Abend, Deux-Milliards.«

Und zu dem Mann mit dem Schlachtbeil:

»Guten Abend, Gueulemer.«

Zu dem Mann mit dem Knüttel:

»Guten Abend, Babet.«

Zu dem Bauchredner:

»Ich grüße Dich, Claquesous.«

In diesem Augenblick bemerkte er den Gefangnen der Banditen, der seit dem Erscheinen der Polizei kein Wort gesprochen halte und den Kopf zur Erde geneigt hielt.

»Bindet den Herrn los und laßt Niemand hinaus!«

Hierauf setzte er sich majestätisch und feierlich an den Tisch, auf dem noch das Licht und das Tintenfaß standen, zog einen Bogen Stempelpapier aus der Tasche und begann sein Protokoll aufzusetzen.

Nachdem er die ersten Zeilen geschrieben hatte, hob er die Augen auf.

»Bringt den Herrn her, den die Herren da angebunden haben.«

Die Polizisten sahen sich suchend um.

»Nun, wo ist er?«

Der Gefangne war verschwunden.

Als die Polizisten ihn von seinen Banden befreit hatten, war er inmitten des allgemeinen Tumults und von der Dunkelheit begünstigt zum Fenster hinausgeklettert. Die Strickleiter schwankte noch, aber draußen war Niemand zu sehen.

»Hol's der Teufel! murmelte Javert. »Das ist höchst wahrscheinlich der Wichtigste gewesen.«

 


 


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