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Marius war damals ein hübscher, junger Mann, von mittelgroßer Statur, mit starkem, schwarzem Haarwuchs, hoher und intelligenter Stirn, weiten, auf einen leidenschaftlichen Sinn deutenden Nasenflügeln, offenherziger und ruhevoller Miene und einem stolzen, nachdenklichen Gesichtsausdruck. Sein Profil, dessen Linien sämtlich abgerundet und doch energisch waren, hatte jene germanische Sanftheit, die, durch das Elsaß und Lothringen zu uns gelangt, sich dem französischen Typus zugesellt hat. Er befand sich in jenem Lebensalter, wo der Verstand der Menschen, die zu denken verstehen, zu gleichen Theilen aus Tiefe und Naivität zusammengesetzt ist. In einer schwierigen Lage wäre er wohl im Stande gewesen, sich recht einfältig zu benehmen; hätte aber dann das Schicksal die Seiten noch höher gespannt, so wäre er mit großen Ehren aus der Prüfung hervorgegangen. Im Verkehr mit Andern war er zurückhaltend, kalt, höflich, wenig mittheilsam. Da er einen hübschen Mund, intensiv rothe Lippen und überaus weiße Zähne hatte, so milderte sein Lächeln die Strenge seines Gesichtsausdruckes und bei gewissen Gelegenheiten bildete seine edle Stirn mit diesem sinnlichen Lächeln einen eigenthümlichen Kontrast. Er hatte kleine Augen, und doch lag etwas Hehres in seinem Blick.
Zur Zeit seines tiefsten Elends beobachtete er, daß die jungen Mädchen sich umwandten, wenn er vorbeiging, und lief davon oder versteckte sich voller Wuth und Scham. Er glaubte, sie sähen ihn wegen seiner schäbigen Kleidung so an und wollten ihn auslachen. Statt dessen sahen sie ihm nach, weil er ihnen gefiel und Eindruck auf sie machte.
Dieses stumme Mißverständniß zwischen ihm und den jungen Mädchen hatte ihn scheu gemacht. Er traf keine Wahl unter ihnen, aus dem einfachen Grunde, weil er vor allen davonlief, und hatte – dummer Weise, wie Courfeyrac behauptete – nie ein Liebesverhältniß.
»Sei doch nicht so ehrpuslig!« belehrte dieser ihn. »Stecke, wenn Du einen guten Rath annehmen willst, Deine Nase etwas weniger oft in die Bücher und vertiefe Dich statt dessen etwas mehr in das Studium von Frauengesichtern. Du wirst dabei Manches lernen, was wissenswerth ist. Wenn Du vor den hübschen Mädchen immer davonläufst und schüchtern erröthest, wirst Du ein Rindvieh an Dummheit werden.«
Oder Courfeyrac begrüßte ihn, wenn er ihm begegnete, mit den Worten:
»Guten Tag, mein lieber Mönch.«
Nach jeder solchen moralischen Pauke ging Marius acht Tage lang allen Mädchen und Frauen, jungen und alten, mehr als je aus dem Wege und seinem Freunde Courfeyrac obendrein.
Dennoch gab es in dem großen Weltall zwei weibliche Wesen, die Marius nicht mied, und die keinen Eindruck auf ihn machten. Die Eine war die alte Vicewirtin, die bärtig war, so daß Courfeyrac spottete: »Da sich seine Aufwärterin einen Bart stehen läßt, will Marius sich keinen stehen lassen.« Die Andere war ein junges Mädchen, dem Marius oft begegnete und das er nie beachtete.
Seit einem Jahr und länger fielen nämlich Marius in einer einsamen Allee des Jardin du Luxembourg, nahe der Baumschule, ein Mann und ein ganz junges Mädchen auf, die an dem ödesten Ende der Allee, nach der Rue de l'Ouest hin, neben einander auf derselben Bank saßen. Jedes Mal, wenn der Zufall unsern Träumer hierher führte – und dies geschah fast täglich, begegnete er diesem Paar. Der Mann mochte sechzig Jahr alt sein; er sah traurig und ernst aus; seiner kräftigen, aber abgespannten Körperbeschaffenheit nach zu urtheilen, war er ein Militär, der den Dienst quittirt hatte. Hätte er einen Orden gehabt, so hätte Marius bestimmt geglaubt, der Mann sei ein ehemaliger Offizier. Obgleich auf seinem Gesicht ein Ausdruck großer Güte lag, war er doch nicht entgegenkommend und ließ nie seinen Blick lange auf irgend Jemand ruhen. Er trug blaue Beinkleider, einen blauen Ueberzieher und einen breitkrempigen Hut, die sämmtlich immer neu aussahen; eine schwarze Kravatte und ein blendend weißes, aber grobes Hemde. Eine Arbeiterin, die eines Tages an ihm vorüberging, meinte: »Das ist ein sehr propperer Wittwer.« Seine Haare waren ganz weiß.
Das junge Mädchen mochte dreizehn oder vierzehn Jahr alt sein. Sie war mager bis zur Häßlichkeit, linkisch, unbedeutend; nur die Augen versprachen einmal schön zu sein. Vorläufig hatten sie aber einen Ausdruck von Dreistigkeit, der unangenehm war. Sie trug ein ungeschickt zugeschnittenes Kleid aus grober, schwarzer Merinowolle, eine zugleich alte und kindliche Tracht, wie sie bei Klosterschülerinnen gewöhnlich ist.
Es schienen Vater und Tochter zu sein.
Marius musterte zwei oder drei Mal den Alten, der noch kein Greis war, und den Backfisch, beachtete sie dann aber nicht mehr. Die Beiden ihrerseits schienen ihn nicht einmal zu sehen. Sie unterhielten sich in friedfertiger Weise und, wie es schien, von gleichgiltigen Dingen. Das junge Mädchen plapperte unaufhörlich und sehr vergnügt. Der Alte sprach wenig und richtete von Zeit zu Zeit Blicke voll väterlicher Liebe auf sie.
Marius hatte sich angewöhnt, in dieser Allee regelmäßig spazieren zu gehen, und zwar begann er an dem entgegengesetzten Ende derselben, durchmaß sie dann ihrer ganzen Länge nach, ging an ihrer Bank vorbei, und machte dann Kehrt, ging bis zum Anfang zurück und kam auf diese Weise wohl fünf bis sechs Mal an ihrer Bank vorüber. Dieses Manöver wiederholte er fast jeden Tag in der Woche, ohne daß beide Theile Bekanntschaft mit einander angeknüpft oder auch nur sich gegrüßt hätten.
Obgleich aber und vielleicht weil dieses Paar es vermeiden wollte, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, war es doch den wenigen Studenten etwas aufgefallen, die in der Nähe der Baumschule nach dem Besuch der Kollegien oder nach dem Billardspiel dann und wann spazieren gingen. Auch Courfeyrac hatte sie einige Zeit lang beobachtet, fand aber das Mädchen häßlich und hütete sich dann sorgfältig mit ihnen in Berührung zu treten. Ehe er sich aber zur Flucht wandte, schoß er noch einen Partherpfeil auf sie ab. Er nannte nämlich den Backfisch nach ihrem schwarzen Kleide Fräulein Lanoire und den Vater nach seinen weißen Haaren Herrn Leblanc. Da Niemand den wahren Namen der Beiden kannte, blieben auch die Spitznamen an ihnen haften, und die Studenten, so wie Marius nannten sie von da an nie anders.
Auch wir wollen der Bequemlichkeit halber den alten Herrn Leblanc nennen.
Marius begegnete Beiden ein Jahr hindurch fast täglich zu derselben Stunde. Der Mann gefiel ihm, aber das junge Mädchen war nicht nach seinem Geschmack.
Im zweiten Jahre fügte es sich, – Marius wußte selbst nicht, wie – daß er von der Gewohnheit, im Jardin du Luxembourg spazieren zu gehen, abkam und ungefähr sechs Monate lang keinen Fuß in seine Lieblingsallee setzte. Eines Tages indessen kehrte er dahin zurück. Es war an einem heitern Vormittag im Sommer, und Marius war vergnügt, wie man es bei schönem Wetter zu sein pflegt. Der Jubelgesang der Vogel und die sonnige Himmelsbläue hatten in seinem Herzen die süßesten Wonnegefühle geweckt.
Er begab sich sofort nach »seiner« Allee und bemerkte, als er bis zu dem andern Ende gelangt war, seine beiden alten Bekannten auf derselben Bank. Aber nur der Mann war derselbe geblieben; das junge Mädchen hatte sich sehr zu seinem Vortheil verändert. Sie war groß und schön geworden, ihre Körperformen hatten schon etwas Frauenhaftes und doch noch die naive Anmuth des Kindes, zwei Gegensätze, die sich nur auf kurze Zeit mit einander vertragen und das fünfzehnte Lebensjahr der weiblichen Jugend charakterisiren. Wunderbar schönes, kastanienbraunes Haar mit goldigem Schimmer, eine marmorweiße Stirn, Wangen von der Farbe eines Rosenblatts, ein ätherisch zarter Teint, fein geschwungene Lippen, die dazu geschaffen schienen, lieblich zu lächeln und wohllautend zu sprechen; ein Kopf, den Raphael der Jungfrau Maria und ein Hals, den Jean Goujon der Venus gegeben hätte. Und damit der reizenden Gestalt keine Vollkommenheit mangele, war die Nase nicht klassisch schön, sondern niedlich; weder grade, noch gebogen; weder eine italienische noch griechische, sondern eine Pariserinnennase; also etwas Intelligentes, Feines, Unregelmäßiges, das die Maler zur Verzweiflung bringt und die Dichter entzückt.
Als Marius an ihr vorüberkam, konnte er ihre Augen, die sie zur Erde gesenkt hielt, nicht sehen. Er sah nur ihre langen, dunkeln und sittsamen Wimpern.
Im ersten Augenblick dachte Marius, sie wäre eine andere Tochter desselben Mannes, eine Schwester des ersten jungen Mädchens. Aber als ihn sein gewöhnlicher Spaziergang zum zweiten Mal in die Nähe der Bank führte, und er sie aufmerksam betrachtet hatte, erkannte er, daß es wirklich Dieselbe war. In den sechs Monaten war das kleine Mädchen ganz einfach ein junges Mädchen geworden, eine Erscheinung, die ja nicht selten ist. Es tritt eine Zeit ein, wo die Mädchen sich so zu sagen im Umsehen, wie Rosen, entfalten. Gestern noch Kinder, machen sie heute ihrer Mutter schon Sorgen.
Diese war nicht nur groß geworden, sondern auch schön. Wie im April gewisse Bäume nur drei Tage brauchen, um sich mit Blüthen zu bedecken, so hatten auch bei ihr sechs Monate genügt, um sie zu einer vollendeten Schönheit zu entwickeln. Auch ihr April war gekommen.
Man sieht bisweilen arme und von Sorgen gequälte Leute gewissermaßen sich ermuntern, von der Dürftigkeit zum Luxus übergehen, sich allerhand Ausgaben gestatten. Dies kommt daher, daß sie eine Erbschaft gemacht oder auf irgend eine andere Weise zu Gelde gekommen sind. Auch dem unbekannten jungen Mädchen war ein Kapital zugefallen.
Außerdem war sie nicht mehr wie ein Schulmädchen gekleidet, trug nicht mehr einen Plüschhut, ein Merinokleid, plumpe Schuhe und hatte keine rothen Hände mehr. Mit der Schönheit hatte sich auch guter Geschmack eingestellt. Ihre Toilette wies ein gewisses Gepräge von einfacher, reicher, unverkünstelter Eleganz auf. Sie trug eine schwarze Damast-Robe, ein Mäntelchen von demselben Stoffe und einen schwarzen Krepphut. Ihre weißen Handschuhe zeigten die Feinheit ihrer Hand, die mit dem Elfenbeingriff ihres Sonnenschirmes spielte, und an ihren seidnen Schnürstiefeln zeichneten sich sehr kleine Füßchen ab. Wenn man an ihr vorüberging, strömte aus ihrer ganzen Toilette ein jugendlicher und starker Duft entgegen.
Was den Mann anbetrifft, so war er derselbe geblieben.
Als Marius das zweite Mal in ihre Nähe kam, schlug das junge Mädchen die Augenlider empor. Ihre Augen waren von einem tiefen Himmelblau, aber sie schauten noch mit kindlicher Unschuld drein. Auch Marius warf sie denselben gleichgültigen Blick zu, mit dem sie wohl einen Knaben betrachtete, der unter den Sykomoren spielte, oder die Marmorvase, die ihren Schatten auf die Bank warf; und Marius seinerseits setzte seinen Spaziergang fort, indem er an etwas Anderes dachte.
Er ging dann noch vier- bis fünfmal an ihrer Bank vorüber, aber ohne auch nur die Augen auf sie zu richten.
Die nächsten Tage besuchte er wie gewöhnlich den Jardin du Luxembourg und fand dort wie gewöhnlich »den Vater und die Tochter«, beachtete sie aber nicht mehr. Er dachte an das junge Mädchen jetzt, wo sie schön, nicht mehr als früher, wo sie häßlich war. Wenn er an ihrer Bank sehr nahe vorüberkam, so hatte er dazu keinen andern Beweggrund als daß es seine Gewohnheit so mit sich brachte.
Eines Tages wehten linde Lüfte, schien die Sonne freundlich auf den Garten herab; der Himmel war so rein, als hätten ihn die Engel am Morgen gescheuert und die Vögel zwitscherten in den Kronen der Kastanienbäume. Marius hatte seine ganze Seele der Natur geöffnet und dachte an nichts, sondern lebte und athmete in vollen Zügen, als er wieder an der bewußten Bank vorüberkam. Wie schon öfter hob das junge Mädchen die Augen zu ihm auf und ihre Blicke begegneten sich.
Dies Mal sah sie ihn auf eine ganz besondere Weise an. Worin der Unterschied gegen sonst bestand, hätte Marius nicht angeben können, Ueber solch ein Thema läßt sich eben alles und nichts sagen.
Sie schlug die Augen sofort wieder zu Boden und er setzte seinen Weg fort.
Nicht in das simple unbefangne Auge eines Kindes hatte er dies Mal hineingeschaut, sondern in eine geheimnißvolle Tiefe.
Es kommt eine Zeit, wo jedes junge Mädchen solche gefährliche Blicke thut.
Diese erste Aufschließung eines Herzens, das sich noch nicht kennt, gleicht der Morgenröthe am Himmel. Es strahlt plötzlich etwas Unbekanntes auf. Keine Beschreibung kann den bestrickenden Zauber schildern, den ein, zu einem neuen Leben erwachendes, junges Wesen auszuüben vermag, und der auf einer glücklichen Vermählung von Unschuld und Sinnlichkeit beruht. Es ist das unbestimmte, unbewußte Bedürfnis nach Liebe, das suchend um sich schaut. Die Unschuld stellt auf diese Weise, ohne sich dessen klar zu sein, Fallen, in denen sie Herzen fängt, ohne es zu wollen.
Es ist selten, daß ein solcher Blick da, wo er hingefallen ist, nicht zündet. Solch ein Augenstrahl ist wirksamer, als die berechneten Liebesblicke der schlausten Koketten und bringt die Blume der Liebe, deren süßer Duft so gefahrvoll für den Menschen ist, mit wunderbarer Schnelligkeit zur Entfaltung.
Als Marius am Abend in sein Dachstübchen heimkehrte, warf er einen prüfenden Blick auf seine Kleidung und bemerkte zum ersten Mal, daß er sich der unerhörten Unsauberkeit, Unschicklichkeit und Dummheit schuldig gemacht hatte, nach dem Jardin du Luxembourg in seinem Alltagsanzug spazieren zu gehen, mit einem Hut, der entzwei war, plumpen Fuhrmannsstiefeln, schwarzen Beinkleidern, die an den Knieen durchgescheuert, und einem schwarzen Rock, dessen Ellbogen weißlich glänzten.
Am nächsten Tage nahm Marius zur gewöhnlichen Stunde seinen neuen Rock, seine neuen Beinkleider, seinen neuen Hut und seine neuen Stiefel aus dem Schrank, legte diese volle Galarüstung an, kaufte sich in einem Anfall von großartiger Verschwendungssucht ein Paar neue Handschuhe und steuerte dem Jardin du Luxembourg zu.
Unterwegs begegnete er Courfayrac und that, als sähe er ihn nicht. Dieser erzählte, als er nach Hause kam, seinen Freunden: »Ich bin so eben Marius' neuem Hut und neuem Anzug begegnet, in dem Marius drin steckte. Wahrscheinlich ging er in ein Examen. Er sah ganz dumm aus.«
Im Garten angelangt, ging Marius um die Fontaine herum und sah den Schwänen zu, dann betrachtete er lange mit großer Aufmerksamkeit eine uralte Statue, deren Kopf mit Schimmel und Moos bedeckt war, und der eine Hüfte fehlte. Auch hörte er einem alten, dicken Philister zu, der einen fünfjährigen Knaben an der Hand führte und ihm weisheitsvolle Ermahnungen zu Theil werden ließ: »Mein Sohn, vermeide jedes Uebermaß. Halte Dich von dem Despotismus und der Anarchie gleich fern.« U. dergl. mehr. Endlich, nachdem er noch einmal die Fontaine umwandert, lenkte Marius seine Schritte langsam und wie mit Unlust nach seiner Allee. Es war, als sei er zu gleicher Zeit gezwungen und verhindert gewesen, dorthin zu gehen. Aber dieses Gefühl kam ihm nicht zum Bewußtsein, und er glaubte, er thäte dasselbe, wie an allen andern Tagen.
Als er die Allee betrat, bemerkte er sofort an dem andern Ende derselben Herrn Leblanc und das junge Mädchen. Er knöpfte sich den Rock bis oben zu, zog ihn straff, damit er keine Falten schlüge, prüfte mit einem gewissen Wohlgefallen die Glanzreflexe seiner Beinkleider und marschierte auf die Bank zu. Es lag in diesem Draufgehen eine unverkennbare Erobrerkühnheit. Deshalb sage ich auch: »Er marschirte auf die Bank zu«, wie ich sagen würde: »Hannibal marschirte auf Rom zu.«
Im Uebrigen waren alle seine Bewegungen ganz mechanisch, und sein Geist beschäftigte sich mit denselben Gedanken wie gewöhnlich. In diesem Augenblick dachte er, das »Handbuch für die Abiturienten der Gymnasien« sei doch ein recht dummes Buch und müsse von ganz exquisen Eseln abgefaßt sein, weil darin drei Tragödien von Racine und nur ein Lustspiel von Molière als Meisterwerke besprochen wurden. Dabei pfiff es ihm eigenthümlich in den Ohren. Während er näher an die Bank herankam, strich er noch einmal die Falten aus seinem Rock, und seine Augen hefteten sich auf das junge Mädchen. Ihm war, als erfülle sie das Ende der Allee mit einem bläulichen Lichtglanz.
Je näher er kam, desto langsamer wurde sein Gang, und als er noch eine gewisse Strecke von der Bank entfernt war, blieb er stehen und machte plötzlich Kehrt, ohne sich Rechenschaft geben zu können, warum. Er wurde sich nicht einmal bewußt, daß er die Allee noch nicht zu Ende gegangen war. Kaum, daß die junge Dame ihn von fern bemerken und sehen konnte, wie fein er in seinen neuen Kleidern aussah. Indessen ging er recht gerade, um eine hübsche Haltung zu haben, für den Fall, daß Jemand hinter ihm ginge und ihn beobachtete.
Als er an dem entgegengesetzten Ende der Allee angelangt war, kehrte er um und näherte sich dies Mal etwas mehr der Bank, so weit, daß nur noch vier Bäume davor standen; hier aber war ihm zu Muthe, als sei es ihm unmöglich, weiter zu gehen, und er zauderte. Hatte er doch zu bemerken geglaubt, daß die junge Dame ihr Gesicht nach ihm hinneige. Indessen that er sich mannhaft Gewalt an, überwand seine Bedenken und setzte seinen Weg fort. Einige Sekunden darauf ging er, gerade aufgerichtet, festen Schritts und roth bis über die Ohren, vor der Bank vorbei, ohne daß er es wagte, nach rechts oder nach links zu blicken, und die Hand unter dem Rock wie ein Staatsmann. In dem Augenblick, wo er – so zu sagen unter den Kanonen der feindlichen Festung – vorbeiging, klopfte ihm das Herz ganz fürchterlich. Sie trug wie Tags zuvor ihr Damastkleid und ihren Krepphut. Auch hörte er eine unbeschreiblich liebliche Stimme, jedenfalls die »ihrige«. Sie war sehr hübsch. Das fühlte er, obschon er sich nicht erkühnte, sie anzusehen. – »Sie würde doch nicht umhin können,« dachte er, »mich ihrer Achtung und Aufmerksamkeit für wert zu halten, wüßte sie, daß ich der wahre Verfasser der Dissertation über Marcos Obregon de la Ronda bin, die Herr Francis de Neufchâteau als sein Werk in seine Ausgabe des Gil Blas aufgenommen hat!«
Er ging über die Bank hinaus, bis an das ganz nahe Ende der Allee, machte hier Kehrt und ging wieder an dem schönen Mädchen vorbei. Dies Mal war er sehr bleich. Denn es war ihm nichts weniger als angenehm bei der ganzen Geschichte zu Muthe. Er entfernte sich von der Bank und der jungen Dame, und bildete sich, trotzdem er ihr den Rücken wandte, ein, sie sehe ihm nach und in Folge dessen wurde sein Gang unsicher.
Nun versuchte er nicht mehr, in die Nähe der Bank zu kommen, sondern setzte sich, was er sonst nie that, in der Mitte der Allee hin. Hier riskierte er Seitenblicke und dachte in den dunkelsten Tiefen seines Geistes, es müßte doch mit sonderbaren Dingen zugehen, wenn eine gewisse Dame, deren weißes Hütchen und schwarze Robe er bewunderte, gegen seine eleganten Beinkleider und seinen neuen Rock gleichgültig bleiben sollte.
Nach Verlauf einer Viertelstunde erhob er sich von seinem Sitze, als wolle er sich wieder anschicken, auf die Bank loszugehen, die für seine Augen von einer Glorie umwoben war. Gleichwohl blieb er unbeweglich stehen, und zum ersten Mal seit anderthalb Jahren sagte er sich, der Herr, der sich mit seiner Tochter alle Tage auf die Bank setzte, müßte ihn bemerkt haben und fände gewiß sein Gebahren sonderbar und zudringlich.
Zum ersten Male auch empfand er, daß es wider die Schicklichkeit verstoße, den Unbekannten, wenn auch nur in seinen Gedanken, bei einem Spitznamen »Herr Leblanc« zu nennen.
So blieb er denn einige Minuten lang, den Kopf zur Erde geneigt, stehen und zeichnete mit einer Gerte Figuren in den Sand.
Dann aber wandte er sich von der Bank, wo Leblanc mit seiner Tochter saß, ab und ging nach Hause.
An jenem Abend vergaß er zu Tisch zu gehen. Erst um acht Uhr Abends wurde er diese Versäumniß inne, wunderte sich und aß, da es zu spät war, um nach der Rue Saint-Jacques zu gehen, ein Stück Brod.
Aber zu Bett ging er erst, nachdem er seinen Rock abgebürstet und mit Sorgfalt zusammengelegt hatte.
Den nächsten Tag bemerkte Frau Burgon zu ihrer unsagbaren Verwunderung, daß Herr Marius wieder seinen neuen Anzug anhatte.
Er ging wieder nach dem Jardin du Luxembourg und setzte sich wieder in der Mitte der Allee hin. Von hier aus sah er deutlich den weißen Hut, das schwarze Kleid und besonders die blaue Glorie. Er rührte sich auch nicht vom Flecke und blieb sitzen, bis der Garten geschlossen wurde. Leblanc und seine Tochter sah er nicht gehen und schloß daraus, daß sie sich durch das Thor, das der Rue de l'Ouest gegenüberliegt, entfernt hätten. Später, Wochen lang nachher, konnte er sich, wenn er daran zurückdachte, nicht besinnen, wo er an jenem Tage zu Abend gegessen habe.
Den nächsten, also den dritten Tag, wurde Frau Burgon abermals versteinert, denn Marius ging wieder in seinem neuen Anzug aus.
Sie ging ihm nach, aber Marius marschirte sehr schnell und machte große Schritte, so daß es aussah, als wolle ein Nilpferd eine Gemse einholen. Sie verlor ihn nach zwei Minuten aus den Augen und kehrte um, halbtot vor Athemnoth und wüthend: »Ob das wohl Sinn und Verstand hat, alle Tage seine besten Kleider anzuziehen und zu rennen, daß Keiner nachkommen kann!«
Marius begab sich natürlich wieder nach dem Jardin du Luxembourg.
Die junge Dame war wieder da mit Herrn Leblanc, Marius ging so nahe als möglich an sie heran, indem er sich stellte, als sei er in ein Buch vertieft. Aber er hielt sich doch noch ziemlich fern von den Beiden, kehrte um und setzte sich wieder auf seine Bank. Hier sah er vier Stunden lang den Spatzen zu, die in der Allee herumhüpften, und hatte eine gewisse Empfindung, als mokirten die sich über ihn.
So verflossen vierzehn Tage. Marius ging nach dem Jardin du Luxembourg nicht mehr, um spazieren zu gehen, sondern um sich immer an derselben Stelle hinzusetzen und ohne zu wissen, zu welchem Zweck. Hier angelangt, rührte er sich nicht mehr vom Flecke. Seinen neuen Anzug legte er aber jeden Morgen an, trotzdem er nie vor seiner Schönen vorbeiparadirte, und den nächsten Tag begann dasselbe Spiel von neuem.
Sie war aber auch wirklich wunderbar schön! Die einzige, einem Tadel ähnliche Bemerkung, die man hätte machen können, wäre gewesen, daß der Widerspruch zwischen ihrem schwermüthigen Blick und ihrem fröhlichen Lächeln etwas nach Geistesverwirrung aussah, so daß ihr sanftes Gesicht zeitweise einen sonderbaren Ausdruck annahm, obschon es reizend dabei blieb.
Zu Ende der zweiten Woche saß einst Marius, wie gewöhnlich, auf seiner Bank und hielt in der Hand ein Buch, in dem er seit zwei Stunden kein Blatt umgewendet hatte. Plötzlich schrak er zusammen. An dem Ende der Allee ereignete sich etwas Außerordentliches. Leblanc und seine Tochter standen von ihrer Bank auf, die Tochter faßte ihren Vater unter und Beide gingen langsamen Schrittes nach der Mitte der Allee, dorthin, wo Marius saß. Dieser klappte sein Buch zu, schlug es wieder auf und quälte sich, darin zu lesen. Die Glorie kam gerade auf ihn zu! »Um Gottes Willen!« dachte er. »Ich werde nicht die Zeit haben, eine gute Haltung anzunehmen.« Mittlerweile näherten sich der Mann mit den weißen Haaren und die junge Dame. Es kam ihm vor, als daure das eine Ewigkeit und dann wieder, als währe es eine Sekunde. – »Was mögen sie hier blos wollen?« dachte er. »Wie? Sie wird hier vorbeigehen? Ihre Füße werden den Sand da dicht vor mir treten?« – Er wußte nicht, wie er bekehrt war. Wenn er doch recht hübsch aussehen könnte! Wenn er doch einen Orden hätte! Schon vernahm er das leise, regelmäßige Geräusch ihrer Schritte. Jetzt bildete er sich ein, Herr Leblanc werfe ihm zornige Blicke zu. »Ob er mich anreden wird?« dachte er und ließ den Kopf hängen. Als er ihn wieder emporhob, waren sie dicht in seiner Nähe. Im Vorübergehen sah ihn das junge Mädchen fest an, sanft und sinnend, so daß Marius von Kopf bis zu Fuß erbebte. Er empfing den Eindruck, als mache sie ihm Vorwürfe, daß er so lange gezögert habe sich ihr zu nähern, und als wollte sie sagen: »Also ich muß kommen!« Marius war wie geblendet von dem Glanz ihrer tiefen Augen.
Sein Kopf glühte wie im Fieber. Sie war zu ihm gekommen! Welche Freude! Und wie sie ihn angesehen hatte! Sie kam ihm noch schöner vor als je zuvor. Zugleich weiblich und engelhaft schön; ein Petrarca hätte sie besungen; ein Dante wäre vor ihr niedergekniet. Ihm war, als schwimme er oben im blauen Aether. Daneben ärgerte er sich freilich auch, weil seine Stiefel staubig waren.
Er war fest überzeugt, daß sie auch seine Stiefel gesehen hatte.
Er sah ihr nach, bis sie verschwunden war. Dann rannte er im Garten wie ein Irrsinniger herum, lachte ab und zu und sprach laut. Hierauf blieb er tief nachdenklich bei den Kindermädchen stehen, so daß Jede glaubte, er sei in sie verliebt.
Endlich eilte er aus dem Garten hinaus in der Hoffnung, er werde sie draußen in irgend einer Straße antreffen.
Statt dessen begegnete er Courfeyrac unter den Arkaden des Odeons und lud ihn zum Essen ein. Sie gingen zu Rousseau und verpraßten sechs Franken. Marius aß wie ein Scheunendrescher und gab dem Kellner sechs Sous Trinkgeld. Beim Nachtisch fragte er Courfeyrac: »Hast Du die Zeitung gelesen? Was für eine schöne Rede hat Audry de Puyraveau gehalten!«
Er war närrisch verliebt.
Nach dem Essen bemerkte er: »Komm mit mir ins Theater. Ich bezahle.« Sie gingen nach dem Theater der Porte-Saint-Martin und bewunderten den berühmten Schauspieler Frédérick in der Auberge des Adrets. Marius amüsirte sich kolossal.
Dabei war er spröder als je. Als sie aus dem Theater kamen, wollte er nicht nach dem Strumpfband einer Modistin, die über einen Rinnstein schritt, hinsehen, und als Courfeyrac bemerkte: »Die möchte ich mir leisten können!« schauderte ihm beinahe.
Als sie Abschied von einander nahmen, lud Courfeyrac seinen Freund für den nächsten Tag nach dem Café Voltaire zu einem Gabelfrühstück ein. Marius ging hin und aß noch mehr, als am Tage zuvor. Er war ganz nachdenklich und sehr aufgeräumt. Man hätte meinen sollen, er benutze jede Gelegenheit um laut aufzulachen, und er umarmte sehr zärtlich einen Provincialen, der ihm vorgestellt wurde. An einem vernünftigen Gespräch Theil zu nehmen, war ihm unmöglich. Es fanden sich eine Anzahl Studenten um seinen Tisch zusammen und unterhielten sich über das dumme Zeug, das die Herren Professoren dem Publikum in der Sorbonne vortrugen, und das der Staat mit schwerem Gelde bezahle. Darauf kam die Rede auf die Fehler und Lücken in den Wörterbüchern und in den Quicherat'schen Prosodieen. Diese Discussion unterbrach Marius mit den Worten: »Es ist doch recht angenehm, wenn man einen Orden hat!«
»Das nenne ich mal komisch!« raunte Courfeyrac Jean Prouvaire ins Ohr!
»Mir kommt's desto ernster vor!« meinte Jean Prouvaire. Es handelte sich in der That um etwas sehr Ernstes. Marius befand sich in jener wonnigen Gemüthsverfassung, die den Anfang jeder leidenschaftlichen Liebe bildet.
Und das hatte ihm ein einziger Blick angethan.
Freilich, wenn eine Mine geladen ist, genügt ein Funke um sie zu entflammen.
Es war um Marius geschehen. Er liebte. Sein Geschick steuerte in ein unbekanntes Meer hinein.
Der Blick der Frauen gleicht gewissen Maschinen, die dem Anschein nach sehr harmlos, in Wirklichkeit aber sehr gefährlich sind. Man geht an ihnen alle Tage ruhig und ungestraft vorüber und beachtet sie nicht, ja vergißt schließlich ganz, daß sie überhaupt da sind. Plötzlich packt es Einen. Die Maschine, der Blick hält sein Opfer fest; er hat es gefaßt, irgendwo, irgendwie, weil es nicht auf alle seine Gedanken Acht gegeben, weil es in einem schwachen Augenblick nicht aufgemerkt hat. Man ist verloren. Vergebens wehrt man sich. Keine Möglichkeit, daß menschliche Hülfe hier retten kann. Man wird von einem Rad auf das andere, von einer Angst, einer Qual in die andere geworfen, und je nachdem man in die Gewalt eines nichtswürdigen Geschöpfes oder eines edlen Weibes geräth, geht man, zum Schurken entstellt oder durch die Liebe verklärt, aus der furchtbaren Maschine hervor.
Die Abgeschiedenheit von der Welt, Stolz, Liebe zur Unabhängigkeit, die Freude an der Natur, der Mangel an regelmäßiger, rastloser Thätigkeit, die Vertiefung in sich selbst, die Zurückdrängung der sinnlichen Triebe, die verzückte Bewundrung der ganzen Schöpfung hatten der Leidenschaft, die Marius jetzt in Besitz genommen, den Weg gebahnt. Die Verehrung, die er dem Andenken seines Vaters gewidmet, war zu einer Art Religion geworden und als solche naturgemäß in den Hintergrund getreten. Der Vordergrund mußte also besetzt werden, und da trat die Liebe auf.
Es verstrich mindestens ein Monat, und Marius ging jeden Tag nach dem Jardin du Luxembourg. War die Stunde gekommen, so konnte ihn keine Macht der Welt zurückhalten. »Er hat Dienst!« spottete Courfeyrac. Marius schwamm in einem Meer von Wonne. War er doch jetzt sicher, daß die junge Dame ihn ansah.
Er war allmählich dreister geworden und wagte sich jetzt in die Nähe der Bank. Jedoch ging er nicht mehr vor derselben vorbei, zum Theil aus Schüchternheit, zum Theil aus Berechnung. Er hielt es für gerathen, nicht die Aufmerksamkeit des Vaters auf sich zu lenken. Pfiffig wie Macchiavelli, versteckte er sich hinter Bäume und Statuensockel um sich dem jungen Mädchen zu zeigen und sich den Blicken des alten Herrn möglichst zu entziehen. Manchmal stand er halbe Stunden lang in dem Schatten irgend eines Leonidas oder Spartacus, ein Buch in der Hand, über das seine Augen zu ihr hinüber eilten, und sie ihrerseits wandte ihm mit einem verstohlenen, verständnißvollen Lächeln ihr reizendes Gesichtchen zu und sendete ihm, während sie in der denkbar natürlichsten und ruhigsten Weise mit dem alten Herrn sprach, die allerzärtlichsten Botschaften. Das uralte, ewig neue Manöver, das Eva schon am ersten Tage der Schöpfung übte, und dessen Kenntniß jedes weibliche Wesen schon mit der Geburt auf die Welt bringt. Auch Marius Freundin antwortete dem Einen mit dem Munde und dem Andern mit den Augen.
Indessen mußte Leblanc schließlich doch wohl etwas gemerkt haben, denn er stand oft von seinem Sitz auf, wenn Marius kam, und ging im Garten spazieren. Auch hatte er seinen alten Lieblingsplatz aufgegeben und sich an dem andern Ende der Alle die der Gladiatorstatue benachbarte Bank ausgewählt, als wollte er sehen, ob Marius ihm dorthin folgen würde. Marius merkte die List nicht und ließ sich zu dem Fehler verleiten. Nun fing der Vater an, unpünktlich zu werden und brachte seine Tochter nicht mehr jeden Tag mit. Da beging Marius einen zweiten Fehler: Er blieb nicht im Garten, wenn Leblanc allein dorthin kam.
Diese Zeichen beachtete Marius nicht, weil er vermöge jenes natürlichen und nothwendigen Fortschritts aus dem Stadium der Schüchternheit in das der Blindheit übergegangen war. Außerdem war ihm ein unverhofftes Glück passirt, das Oel auf das Feuer seiner Leidenschaft goß und seine Augen noch mehr trübte. Eines Abends fand er in der Dämmerung auf der Bank, wo »Herr Leblanc und seine Tochter« so eben gesessen hatten, ein Taschentuch, ein ganz einfaches Taschentuch ohne Stickerei, das aber weiß und fein war, und das ihm süßen Duft auszuströmen schien. Hochentzückt nahm er es an sich. Es war U. F. gezeichnet, und da Marius über die Dame seines Herzens nichts wußte, weder ihre Familie, noch ihren Namen, noch ihre Wohnung, so legte er sich die beiden anbetungswürdigen Buchstaben, das Erste, dessen er von ihr habhaft wurde, in seiner Weise zurecht. U konnte doch nur der Anfangsbuchstabe des Vornamens sein. Ursula! Was für ein reizender Name! Er küßte das Taschentuch, sog den »Wohlgeruch« desselben ein, trug es bei Tage auf seinem Herzen, am bloßen Leibe, und legte es des Nachts auf seine Lippen.
»Ihr ganzes Wesen strömt mir daraus entgegen,« dachte er.
Das Taschentuch gehörte aber dem alten Herrn, der es ganz einfach aus der Tasche hatte fallen lassen.
Mehrere Tage nachher küßte er fortwährend das Taschentuch oder drückte es an sein Herz. Das schöne Kind begriff nicht, was das Spiel bedeuten sollte, und gab es ihm mittelst kaum bemerklicher Zeichen zu verstehen.
»Wie schamhaft!« dachte Marius.
Da wir soeben von »Schamhaftigkeit« gesprochen haben, und da wir nichts zu verheimlichen pflegen, müssen wir erwähnen, daß »Ursula« doch einmal ihren verzückten Anbeter schmerzlich enttäuschte. Es war an einem jener Tage, wo sie Herrn Leblanc bewog, von der Bank aufzustehen und in der Allee auf und abzugehen. Es wehte ein lebhafter Maiwind und schüttelte die Kronen der Bäume. Vater und Tochter waren Arm in Arm vor Marius Bank vorbeispaziert. Dieser hatte sich gleichfalls erhoben und folgte seiner Schönen mit liebestrunkenen Blicken.
Plötzlich kam ein besonders muthwilliger Windstoß, der wohl im Dienste des schalkhaften Frühlingsgottes stand, von der Pflanzenschule her, stürmte in die Allee hinein, umkreiste das junge Mädchen, hob ihr Kleid, das ihm noch heiliger hätte sein sollen, als das Gewand der Isis, fast bis zur Höhe des Strumpfbandes empor und zeigte Marius, der darüber sonderbarer Weise im höchsten Grade entrüstet und wüthend war, ein Paar wunderbar schön gemodelte Beinchen.
Zwar beeilte sich das junge Mädchen voll reizender Verlegenheit ihr Kleid herunterzustreifen, aber er war darum nicht weniger ärgerlich. Er war ja allerdings allein in der Allee, aber es hätte doch noch ein Anderer bei dem Vorfall zugegen sein können. Nein, so was! Daß sie sich solch eine Abscheulichkeit passiren ließ! Wie man sieht, regte sich in Marius ohne welchen Grund herbe Eifersucht. Er war entschlossen unzufrieden zu sein und nicht weit davon entfernt, mit dem Schatten seiner Dame anzubinden, weil er sie unaufhörlich begleitete.
Als seine Ursula mit Leblanc an dem Ende der Allee umkehrte und vor der Bank, auf die sich Marius wieder niedergelassen hatte, vorbeikam, warf er ihr einen mürrischen und grimmigen Blick zu. Das junge Mädchen fuhr mit dem Kopf zurück und hob die Augenwimpern, als wollte sie sagen: »Was hat er denn?«
Dies war ihr erster Zank.
Marius hatte kaum diesen Auftritt mit den Augen gemacht, als Jemand durch die Allee kam. Es war ein ganz verhutzelter alter Invalide, voller Runzeln und mit schneeweißem Haar, in dessen einem Rockärmel der Arm fehlte, der ein hölzernes Bein hatte und ein silbernes Kinn. Diese Ruine nun, das bildete sich wenigstens Marius ein, sah ungemein vergnügt aus. Es kam ihm vor, als hätte der alte Sünder im Vorbeihinken ihn vertraulich und schelmisch angeblinzelt, als wenn er sich und ihm zu einem gemeinsam genossenen Vergnügen gratuliren wollte. Wie kam der elende Kriegstrottel dazu, sich zu freuen? »Er ist in der Nähe gewesen! Er hat es vielleicht gesehen!« dachte Marius rasend vor Eifersucht und hätte den Invaliden umbringen mögen.
Mit der Zeit stumpfen sich alle Spitzen ab. Marius' Aerger über Ursula verging, so viel Grund er auch zur Klage zu haben glaubte. Er verzieh ihr schließlich, aber das kostete ihn große Ueberwindung. Drei volle Tage schmollte er mit ihr.
Aber trotz und in Folge dieser kleinen Kabbelei nahm Marius' Liebe an Stärke und Narrheit zu.
Wir haben gesehen, wie Marius entdeckt hatte oder entdeckt zu haben glaubte, daß »sie« Ursula hieß.
Je mehr man liebt, je mehr will man lieben. Daß er ihren Namen errathen hatte, schien ihm zunächst ein großer Fortschritt, nachher aber war er nicht mehr zufrieden damit. Nach drei oder vier Wochen hatte er dies Glück ausgekostet und empfand Verlangen nach einem anderen. Er wollte herausbringen, wo sie wohnte.
Er hatte einen Fehler begangen, als er Leblanc nach der Gladiatorstatue folgte; einen zweiten, indem er nicht im Garten blieb, wenn der Alte ohne »sie« kam. Jetzt beging er einen dritten – kolossalen: Er ging »Ursula« nach.
Sie wohnte in dem einsamsten Theil der Rue de l'Ouest, in einem neuen dreistöckigen Hause von bescheidenem Aussehen.
Von nun an hatte Marius außer der Freude sie im Jardin du Luxembourg zu sehen, auch noch die, ihr folgen zu können, wenn sie nach Hause ging.
Sein Appetit nahm zu. Er wußte schon, wie sie hieß, wenigstens ihren Vornamen, der wichtigste, derjenige, dessen sich Liebe und Freundschaft bedienen. Er wußte ihre Adresse; nun wollte er in Erfahrung bringen, wer sie war.
Eines Abends, nachdem er ihnen bis nach ihrem Hause gefolgt war und sie in den Thorweg hatte verschwinden sehen, ging er hinter ihnen hinein und fragte kühn den Portier:
»Ist das der Herr aus dem ersten Stock, der so eben hier hereingegangen ist?«
»Nein!« antwortete der Portier. »Der Herr der drei Treppen hoch wohnt.«
Wieder einen Schritt vorwärts. Dieser Erfolg machte Marius dreister.
»Nach vorn hinaus?« fragte er.
»Nun natürlich. Nach hinten sind keine Fenster.«
»Was ist der Herr?«
»Ein Mann, der von seinen Renten lebt. Er thut den Armen viel Gutes, obgleich er nicht reich ist.«
»Wie heißt er?« fuhr Marius fort.
Der Portier sah ihn scharf an und fragte:
»Ist der Herr vielleicht ein Polizeispitzel?«
Marius zog sich verblüfft zurück, aber im Grunde seines Herzens war er hoch erfreut. War er doch etwas weiter gekommen.
Den nächsten Tag ließen sich Leblanc und seine Tochter nur auf kurze Zeit im Jardin du Luxembourg sehen, sie gingen, als es noch Heller Tag war. Auch dies Mal folgte ihnen Marius nach der Rue de l'Ouest. Als sie aber vor dem Thorweg ankamen, ließ Leblanc seine Tochter vorangehen, wandte sich um, ehe er die Schwelle überschritt, und sah Marius scharf an.
Den folgenden Tag kamen sie nicht nach dem Garten, wo Marius bis zum Abend auf sie wartete.
Nach Einbruch der Nacht begab er sich nach der Rue de l'Ouest und sah Licht im dritten Stock. Nun ging er vor dem Hause auf und ab, bis das Licht ausgelöscht wurde.
Am nächsten Tag wartete Marius wieder vergeblich und stand Schildwache unter den Fenstern. Darüber wurde es zehn Uhr und aus dem Abendessen wurde natürlich nichts. Den Kranken macht das Fieber und den Liebenden die Liebe satt.
So vergingen acht Tage. Leblanc und seine Tochter kamen nicht mehr nach dem Jardin du Luxembourg. Marius erging sich in trübseligen Vermuthungen, wagte aber nicht, das Haus am Tage zu beobachten. Er ließ sich daran genügen, des Abends die röthliche Beleuchtung der Fenster zu betrachten. Von Zeit zu Zeit sah er dahinter den Schatten von einer menschlichen Gestalt, und dann schlug ihm das Herz zum Zerspringen.
Als er am achten Abend vor dem Hause ankam, sah er kein Licht – »Sieh da, die Lampe ist noch nicht angezündet,« sagte er. »Es ist aber doch schon dunkel. Ob sie ausgegangen sind?« Er wartete bis zehn, zwölf, ein Uhr. Die Fenster des dritten Stocks blieben dunkel, und er sah Niemand in das Haus hineingehen. Da ging er schweren Herzens nach Hause.
Am nächsten Tage, – denn nun bewegten sich seine Gedanken immer nur um das Morgen, nie um das Heute – sah er wieder, wie er es erwartet hatte, Niemandem im Garten und sah auch kein Licht in dem dritten Stock des Hauses. Dies Mal waren sogar die Jalousien heruntergelassen, und die Wohnung wie ausgestorben.
Marius klopfte an die Hausthür, trat ein und fragte den Portier, was aus dem Bewohner des dritten Stocks geworden sei.
»Der ist ausgezogen.«
Marius konnte sich vor Schreck kaum aufrecht halten und sagte tonlos:
»Seit wann denn?«
»Seit gestern.«
»Wo wohnt er jetzt?«
»Das weiß ich nicht.«
»Er hat also seine Adresse nicht hinterlassen?«
»Nein.«
Hier sah er empor und erkannte Marius.