Victor Hugo
Die Elenden. Dritter Theil. Marius
Victor Hugo

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Drittes Buch. Großvater und Enkel

I.
Ein Salon der alten Zeit

Als Gillenormand in der Rue Servandom wohnte, bewegte er sich in den höheren Kreisen der Gesellschaft, verkehrte mit Adeligen, trotzdem er nur ein Bürgerlicher war. Da er an sich ein geistvoller Mann war und man ihm außerdem noch mehr Geist zutraute, als er in Wirklichkeit besaß, bemühte sich die vornehme Welt sogar um seine Bekanntschaft. Dies war um so schmeichelhafter, als er nur solche Salons besuchte, wo man ihm die erste Rolle einräumte. Manche Menschen wollen durchaus, daß man sich mit ihnen beschäftige und begnügen sich, wo man ihnen nicht den Gefallen thun will, sie als Orakel zu verehren, damit, den Hanswurst zu spielen. Zu diesen Leuten gehörte Gillenormand nicht. In den royalistischen Kreisen, wo er verkehrte, hatte er nicht nöthig, seiner Würde etwas zu vergeben. Er wurde überall als Orakel respektirt.

Um 1817 brachte er regelmäßig zwei Nachmittage in der Woche bei der Baronin von T. zu, einer achtbaren Dame, deren Mann unter Ludwig XVI. französischer Botschafter in Berlin gewesen war, aber kein Vermögen hinterlassen hatte. Die Baronin lebte fern vom Hofe, wo ihr die Gesellschaft »zu gemischt« war, in würdevoller, stolzer und dürftiger Einsamkeit. Indessen vereinigte sie zweimal wöchentlich einige Freunde um ihr bescheidenes Kaminfeuer und bildete so einen Salon, wo man zweifelsohne königlich gesinnt war, königlicher, als der König selber. In dieser Gesellschaft seufzte man oder entrüstete sich über die neue Zeit, die liberale Verfassung, die Buonapartisten, die Verleihung des Ordens vom heiligen Geist an Bürgerliche, über den Jakobinismus Ludwigs XVIII.; freute sich auf die schöne Zeit, wo der hoffnungsvolle Bruder des Königs, der spätere Karl X., regieren würde; lauschte mit Entzücken gemeinen Gassenhauern und dummen Spottliedern über die Revolutionäre, Napoleon u. s. w., lachte mit kindlichem Behagen über harmlose Kalauer, mit denen man die politischen Gegner zu widerlegen, niederzuschmettern meinte, und parodirte, trotz des ehrlichsten Widerwillens gegen die Grausamkeit der Revolution, die blutdürstigen Lieder eben derselben Revolutionäre, indem man ganz einfach die Buonapartisten statt der Aristokraten an die Laternen zu hängen empfahl.

So schroff diese Kreise jede Berührung und jeden Kompromiß mit Republikanern und Buonapartisten abwiesen, so nachsichtig waren sie gegen die anrüchigsten Elemente ihrer eigenen Partei. Im Salon der Baronin von T. spielte neben Gillenormand der Graf von Lamothe-Valois, der an dem berühmten Halsbandschwindel einen hervorragenden Antheil genommen, die Hauptrolle, gerade wegen seiner »Berühmtheit« und weil er den Namen Valois führte.

In dem Salon der Baronin von T. erfreute sich Gillenormand einer großen Beliebtheit, besonders wegen einiger Scherzworte und Witze, in denen der Geist des achtzehnten Jahrhunderts einen angemessenen Ausdruck fand. Z. B. als der König von Preußen inkognito als Graf von Ruppin Ludwig XVIII. einen Besuch abstattete, wurde er zum Lohn dafür, daß er ihn auf den Thron von Frankreich hatte einsetzen helfen, von dem Nachkommen Ludwigs XIV. mit einer gewissen ungezogenen Höflichkeit empfangen, so zu sagen wie ein Marquis von Brandenburg behandelt. Dies billigte Gillenormand: »Abgesehen von dem König von Frankreich giebt es ja nur Provinzkönige.«

Als er bei einem Tedeum, das zum Andenken an die Rückkehr der Bourbonen abgehalten wurde, den Fürsten von Talleyrand erblickte, rief er: »Da geht Se. Excellenz der Böse.«

Zu den Soireen der Baronin von T. nahm Gillenormand gewöhnlich seine Tochter mit, so wie einen hübschen, rothbackigen Knaben, der glücklich und zutraulich dreinschaute, und bei dessen Erscheinen Alles ausrief: »Wie hübsch er ist! Wie schade! Armes Kind!« Man bedauerte ihn nämlich, weil er der Sohn des sogenannten Räubers von der Loire war.

Dieser Räuber war Gillenormands schon erwähnter Schwiegersohn, den er einen Schandfleck für seine Familie nannte.

II.
Eines von den rothen Gespenstern jener Zeit

Wer zu jener Zeit über die monumentale Brücke der Stadt Vernon ging und einen Blick über das Geländer warf, sah unten oft einen ungefähr fünfzigjährigen schon ziemlich hinfälligen, von der Sonne gebräunten, im Gesicht von einer breiten Narbe entstellten Mann, der mit einer Ledermütze, einer grauen Tuchhose und Jacke nebst Ordensband und mit Holzschuhen angethan, auf einem an der Seine gelegenen, von Mauern umschlossenen Grundstück mit Spaten und Hippe hantierte. Der Mann, der hier mit einer Wirtschafterin wohnte, war berühmt wegen der schönen Blumen, die er in seinem Garten zog. Es war ihm durch Fleiß, Ausdauer und sorgfältige Beobachtung geglückt, die Schöpfung zu vervollständigen, gewisse Tulpen- und Georginenarten zu erfinden, die von der Natur vergessen worden waren. Ferner hatte er es schon vor Soulange Bodin verstanden, Heideerde zum Anbau seltener und kostbarer, amerikanischer und chinesischer Sträucher zu verwenden; er war auch im Sommer schon mit Tagesanbruch auf den Beinen und lag fleißig seiner Arbeit ob, von der ihn nur sein Hang zu schwermüthiger Träumerei ablenkte. Er führte einen sehr bescheidenen Tisch und trank mehr Milch, als Wein. Von Charakter war er gutmüthig, sanft und so blöde, daß er sich vor den Menschen zu fürchten schien. Er ging selten aus und sprach nur mit den Armen, die bei ihm anklopften, und mit dem guten, alten Abt Mabeuf, seinem Pfarrer. Indessen empfing er auch freundlich die ersten besten Ortsangehörigen und Auswärtigen, die sich seine schönen Tulpen und Rosen ansehen wollten. Dieser Mann war der sogenannte Räuber von der Loire.

Wer zu derselben Zeit die militärischen Denkschriften, Biographien, den Moniteur und die Berichte der großen Armee las, stieß oft auf den Namen Georges Pontmercy. Dieser Pontmercy diente in seiner Jugend in dem Regiment Saintonge, kämpfte bei Speier, Worms, Neustadt, Türkheim, Alzey, Mainz, wo er zu der Nachhut Houchard gehörte. Er vertheidigte, selbzwölfter, den alten Wall von Andernach gegen das Armeekorps des Prinzen von Hessen und zog sich erst zu dem Gros des Heeres zurück, als der Feind eine Bresche gelegt hatte. Dann focht er unter Kleber bei Marchiennes und bei Mont-Palissel, wo ihm eine Kartätschenkugel einen Arm zerschmetterte. Hierauf wurde er an die italienische Grenze geschickt und war einer der dreißig Grenadiere, die mit Joubert den Col di Tenda vertheidigten. Daselbst wurde er Unterlieutenant. Dann nahm er Theil an der Erstürmung der Brücke von Lodi und sah Joubert bei Novi fallen. Als er hierauf mit seiner Kompagnie in einer Pinasse von Genua nach irgend einem kleinen Seehafen fuhr, begegnete er einer englischen Flotte von sieben bis acht Kriegsschiffen. Der genuesische Kapitän wollte die Kanonen ins Meer werfen, die Soldaten im Zwischendeck verstecken und in der Dämmerung sein Fahrzeug als Kauffahrteischiff durchschmuggeln. Pontmercy aber hißte seine Flagge und fuhr stolz an den brittischen Fregatten vorbei. Zwanzig Seemeilen weiter eroberte er, kühn geworden, mit seiner Pinasse ein mit Soldaten und Pferden schwer beladenes, großes englisches Transportschiff, das nach Sicilien bestimmt war. 1805 diente er bei der Division Malher, die den Erzherzog Ferdinand aus Günzburg vertrieb. Bei Austerlitz zeichnete er sich aus bei dem berühmten staffelförmigen Aufmarsch, der unter dem Feuer des Feindes vollzogen wurde. Als die russische Gardekavallerie ein Bataillon des vierten Linienregiments vernichtete, war Pontmercy Einer von Denen, die Wiedervergeltung übten und die Garde zurückschlugen. Für diese Waffenthat gab ihm der Kaiser das Kreuz der Ehrenlegion. Dann war er dabei, wie Wurmser in Mantua, Melas in Alexandria, Mack bei Ulm gefangen wurde und bei der Einnahme von Hamburg durch das achte Korps der großen Armee. Bei Eylau war er auf dem Kirchhofe, wo der heldenmüthige Hauptmann Louis Hugo, Oheim des Verfassers, allein mit seiner dreiundachtzig Mann starken Kompagnie zwei Stunden lang den Ansturm der ganzen feindlichen Armee aushielt. Pontmercy war Einer von den Dreien, die aus dem Kirchhof lebendig davonkamen. Dann kämpfte er bei Friedland, bei Moskau, an der Beresina, Lützen, Bautzen, Dresden, Wachau, Leipzig, Gelenhausen, Montmirail, Château-Thierry, Craon, an der Marne, der Aisne und bei Laon. Bei Arnay-le-Duc, wo er als Hauptmann kämpfte, säbelte er zehn Kosaken nieder und rettete, nicht seinen General, sondern seinen Korporal. Bei dieser Gelegenheit erhielt er so viel Wunden, daß ihm allein aus dem linken Arm siebenundzwanzig Knochensplitter herausgezogen wurden. Acht Tage vor der Uebergabe von Paris tauschte er mit einem Kameraden und trat in die Kavallerie über, begleitete Napoleon nach der Insel Elba und war bei Waterloo als Chef einer Kürassierschwadron. Hier eroberte er die Fahne des Bataillons Lüneburg und legte sie, im Gesicht verwundet und mit Blut bedeckt, zu den Füßen des Kaisers nieder. Der Kaiser rief ihm hocherfreut zu: »Du bist Oberst, du bist Baron, du bist Offizier der Ehrenlegion!« Pontmercy antwortete: »Ich danke Ew. Majestät im Namen meiner Witwe.« Eine Stunde später stürzte er in die Schlucht bei Ohain.

Dieser Georges Pontmercy war derselbe Mann, wie der Räuber von der Loire.

Wir haben schon erzählt, wie ihm in dem Hohlweg bei Ohain das Leben gerettet wurde. Von hier aus folgte er der geschlagenen Armee und gelangte, indem er sich von einer Ambulanz zur andern schleppte, in den Kantonnirungen an der Loire an.

Die Restauration setzte ihn auf Halbsold und schickte ihn, um ihn besser überwachen zu können, nach Vernon. König Ludwig XVIII. erkannte, weil sie während der Hundert Tage stattgefunden hatte, Pontmercy's Ernennung zum Offizier der Ehrenlegion, zum Obersten und Baron nicht an. Er dagegen unterließ es nie sich als »Oberst Baron Pontmercy« zu unterzeichnen und ging nie aus, ohne die Rosette der Ehrenlegion an seinen alten, blauen Rock, den einzigen, den er besaß, zu heften. Daraufhin ließ ihn der Staatsanwalt benachrichtigen, er würde zur Verantwortung gezogen werden, wenn er fortfahre, unberechtigter Weise jenen Orden zu tragen, Pontmercy antwortete mit bitterem Lächeln dem Vermittler: »Entweder verstehe ich nicht mehr meine Muttersprache, oder Sie wissen nicht, was das Wort ›unberechtigt‹ bedeutet.« Und die nächste Woche ging er jeden Tag mit seiner Rosette aus, ohne daß man wagte, ihn zu behelligen. Ebenso schickte er, ohne sie zu öffnen, mehrere Schreiben des Kriegsministers und des Departementskommandanten zurück, auf deren Adresse er als Major Pontmercy bezeichnet war. Wie Napoleon, der auf Sankt Helena die an den »General Buonaparte« gerichteten Briefe Sir Hudson Lowe's zurückwies.

So weigerten sich einst auch gefangene karthagische Soldaten, Flaminius zu grüßen. Auch sie hatten etwas von dem Geiste Hannibals.

Eines Tages begegnete Pontmercy auf der Straße dem Staatsanwalt, ging auf ihn zu und fragte: »Herr Staatsanwalt, ist es mir erlaubt, meine Narbe zu tragen?«

Er besaß nichts außer seinem geringen Halbsold und hatte in Vernon das kleinste Haus gemiethet, das zu finden war. Hier lebte er allein. Denn seine Frau, Fräulein Gillenormand, die ihr Vater ihm mit Widerstreben zur Frau gegeben, war 1815 gestorben, und das Söhnchen, das sie ihm hinterließ, hatte der Großvater zu sich genommen. Pontmercy hatte eingewilligt, weil sein Schwiegervater drohte, er werde seinen Enkel sonst enterben. Im Interesse des Kleinen entsagte er also dem Glück seinen Sohn um sich zu haben, und da er auch der Politik und allen Komplotten fern blieb, so hatte er keine andere Beschäftigung, als die Gärtnerei und die Erinnerung an seine Feldzüge.

Gillenormand unterhielt keinerlei Beziehungen zu seinem Schwiegersohn, der in seinen Augen nur ein »Bandit« war, so wie der Schwiegervater von Pontmercy nur ein alter Zopfmensch titulirt wurde. Gillenormand erwähnte nie den Obersten oder höchstens um sich über dessen »Baronie« lustig zu machen. Es war zwischen beiden Theilen ausdrücklich abgemacht, daß Pontmercy nie versuchen solle, seinen Sohn zu sehen oder anzureden. Für die Gillenormands war Marius Vater ein Aussätziger, Sie wollten das Kind in ihren Ideen erziehen. Vielleicht hatte der Oberst Unrecht, auf solche Bedingungen einzugehen, aber er glaubte recht zu handeln und nur sich zu opfern. Gillenormand, der Vater konnte zwar nicht viel hinterlassen, seine Tochter aber, deren von der Mutter ererbtes Vermögen sehr bedeutend war, desto mehr, und der Sohn ihrer Schwester war ihr natürlicher Erbe.

Marius wußte, daß er einen Vater hatte, aber nicht viel mehr, denn Niemand sprach mit ihm über das räudige Schaf der Familie. Da ein Kind aber stets seine Ideen aus seiner Umgebung bezieht, so verdichteten sich allmählich die verstohlenen Blicke, die Anspielungen, die man in seiner Gegenwart über seine Familienverhältnisse fallen ließ, in seinem Geiste zu einer vollständigen Abneigung gegen seinen Urheber. Marius lernte sich seines Vaters schämen.

Während er in diesen Gefühlen heranwuchs, kam der Oberst alle zwei oder drei Monate einmal heimlich, wie ein bannbrüchiger Sträfling, nach Paris und begab sich zu der Zeit, wo die Tante Gillenormand seinen Marius zur Messe führte, nach der Kirche Saint-Sulpice. Hier stellte er sich hinter einen Pfeiler und betrachtete unbeweglich und indem er kaum zu athmen wagte, seinen Sohn. Der alte Haudegen fürchtete sich vor einer alten Jungfer! Wenn sie sich plötzlich umdrehte und ihn ertappte!

Diese Reise nach Paris gab auch Anlaß zu seiner Bekanntschaft mit dem Pfarrer von Vernon, dem Abt Mabeuf.

Der wackere Priester war nämlich der Bruder des Kirchenvorstehers von Saint-Sulpice, dem der Alte mit der großen Narbe mehrere Mal aufgefallen war. Denn er sah so mannhaft aus und weinte doch wie ein Frauenzimmer! Das Gesicht also hatte sich ihm ins Gedächtniß eingegraben, und als er eines Tages auf Besuch nach Vernon zu seinem Bruder kam und er dem Obersten Pontmercy auf der Brücke begegnete, erkannte er ihn sofort wieder. Der Kirchenvorsteher sprach mit seinem Bruder darüber und Beide erfanden einen Vorwand dem Obersten eine Visite zu machen, der andere folgten. Anfangs sehr verschlossen, ließ Pontmercy den Kirchenvorsteher und den Pfarrer schließlich wissen, daß er seine Neigungen dem Glück seines Sohnes zum Opfer brachte. Diese Eröffnung hatte zur Folge, daß der Pfarrer Hochachtung und Zuneigung zu dem Obersten faßte, und dieser gewann seinerseits den Pfarrer lieb. Fühlen sich doch, wenn beide Theile aufrichtig und gutherzig sind, ein alter Priester und ein alter Soldat leicht zu einander hingezogen! Der moralische Charakter ist ja bei Beiden derselbe. Nur daß der Eine sich für das Vaterland hienieden, der Andere für das jenseitige aufgeopfert hat.

Zweimal jährlich, zum ersten Januar und zum heil. Georgsfest schrieb Marius an seinen Vater die pflichtschuldigen Glückwünsche, wie seine Tante sie ihm in die Feder diktirte, und die so förmlich waren, als seien sie aus einem Briefsteller abgeschrieben. Einen andern Verkehr duldete Gillenormand zwischen seinem Schwiegersohn und Marius nicht. Auf diese Glückwünsche antwortete der Oberst stets sehr zärtlich, aber der Großvater steckte die Briefe ungelesen in seine Tasche.

III.
Requiescant

Der Salon der Baronin von T. war Alles, was Marius von der Welt kannte, das einzige Guckloch, durch das er sich das Leben ansehen konnte, und es war nur ein recht unvollständiges und düsteres Bild, das hier seinen Augen gezeigt wurde. Das ursprünglich heiter veranlagte Kind nahm in dieser eigenartigen Welt eine schwermüthige, und was zu seinem Lebensalter noch weniger paßt, eine ernsthafte Gemüthsart an. Was für sonderbare, imposante, altmodische Leute sah er auch hier! Da waren u. A. adlige ehrwürdige Damen, die Mathan, Noah, Lewi hießen. Diese biblischen Namen erinnerten den Knaben an die Geschichten aus dem alten Testament, die er auswendig lernen mußte, und wenn sie alle so um das dürftige Kaminfeuer saßen, schwach beleuchtet von dem grünen Lampenlicht, mit ihren strengen Mienen, ihren grauen oder weißen Haaren, ihren langen, uralten Roben, und von Zeit zu Zeit würdevolle oder grimme Worte fallen ließen, so betrachtete der kleine Marius sie mit großen, erschrocknen Augen und meinte nicht Frauen, sondern Patriarchen und Magier, nicht wirkliche Wesen aus Fleisch und Blut, sondern Spukgestalten zu sehen.

Nicht minder vertrackte Gestelle waren die Männer, die bei der Baronin von T. aus- und eingingen, Sonderlinge die von der Welt eine unglaublich veraltete Anschauung besaßen. Allerdings sah man hier auch junge Leute, aber sie hatten kein Leben in sich. Alles, Herren und Diener, war mumienhaft, sah aus, als hätte es vielleicht früher einmal gelebt und sei jetzt ausgestopft. War doch auch »konserviren und konservativ« das Lieblingswort dieser vorsintfluthlichen Gesellschaft.

Und was für Unterhaltungen bekam der kleine Marius hier zu hören! Schon die grausigen Reminiscenzen aus der Revolutionszeit konnten genügen, ein kindliches Gemüth zu verdüstern. Da erzählte beispielsweise ein Herr de Port de Guy, wie er 1793 als sechszehnjähriger, junger Mensch, weil er seiner Militärpflicht nicht genügen wollte, im Bagno von Toulon mit dem achtzigjährigen Bischof von Mirepoix, der als Priester der Republik gleichfalls den Eid weigerte, zusammengeschmiedet wurde. Beide mußten des Nachts die Köpfe und Leiber der am Tage Hingerichteten vom Schaffot wegschaffen. Das Blut von diesen Leichen, die sie auf ihrem Rücken davontrugen, bildete eine dicke Kruste auf ihren rothen Kapuzen! Dergleichen schauerliche Geschichten liebte man im Salon der Baronin von T., freute sich aber über die Schandthaten des Royalisten Trestaillon nicht weniger, als man sich über die Grausamkeiten Marat's entsetzte.

Den Eindrücken, die Marius hier empfing, wirkte leider auch seine übrige Erziehung nicht entgegen. Als seine Tante Gillenormand ihn nichts mehr lehren konnte, übergab ihn sein Großvater einem braven alten Lehrer, dessen klassicistische Unschuld durch keinerlei Bekanntschaft mit moderner Litteratur und Wissenschaft getrübt war. Dann besuchte er das Gymnasium und studirte darauf Jura. Auf diese Weise wurde er ein Royalist, ein Schwarmgeist, ein Ascet. Mit seinem Großvater hatte er wenig Sympathie, weil dessen Lustigkeit und Cynismus ihm zuwider waren, und gegen seinen Vater hegte er eine feindselige Gesinnung.

Im Uebrigen war er innerlich feurig und äußerlich kalt, hochherzig, stolz, religiös, exaltirt und unbeugsam rechtschaffen.

IV.
Der Tod des Räubers

Marius beendete seine Schulstudien zu derselben Zeit, wo Gillenormand sich von allem gesellschaftlichen Verkehr zurückzog. Der alte Herr sagte der Vorstadt Saint-Germain und der Baronin von T. Lebewohl und siedelte in das ihm gehörige Haus in der Rue des Filles-du-Calvaire über.

1827, als Marius siebzehn Jahr alt geworden, trat ihm eines Abends, als er nach Hause zurückkehrte, sein Großvater mit einem Briefe in der Hand entgegen.

»Marius«, sagte Gillenormand, »Du mußt morgen nach Vernon reisen.«

»Weswegen?«

»Deinen Vater zu besuchen.«

Marius fuhr zusammen. Er hatte an Alles, nur nicht daran gedacht, daß er eines Tages mit seinem Vater zusammenkommen müßte. Gillenormand's Ankündigung überraschte ihn, um die Wahrheit zu sagen, in peinlicher Weise. Er hätte sich dieses Wiedersehen gern erspart.

Denn abgesehen davon, daß ihn seine politischen Ansichten seinem Vater abhold machten, lebte Marius der Ueberzeugung, daß Dieser, der Säbelraßler, wie ihn Gillenormand nannte, ihn nicht liebte; sonst hätte er ihn, seinen Sohn, nicht von sich gelassen, nicht Anderen anvertraut. Wenn man ihm keine Liebe entgegenbrachte, so brauchte auch er keine zu empfinden, meinte er.

So verdutzt war er jetzt, daß er keine Frage that. Der Großvater sagte ihm aber von selber Bescheid:

»Er schreibt, er wäre schwer krank, und wünscht Dich zu sprechen.«

Dann fuhr er nach einer Pause fort:

»Reise morgen früh. Um sechs Uhr Morgens, wenn mir recht ist, fährt aus der Cour des Fontaines ein Wagen ab, der am Abend in Vernon ankommt. Fahre mit dem. Er schreibt, er könne nicht warten.«

Mit diesen Worten zerknitterte er den Brief und steckte ihn in die Tasche. Marius hätte noch an demselben Abend aufbrechen und bei seinem Vater schon am nächsten Morgen eintreffen können. Denn es fuhr damals eine Diligence von der Rue du Bouloi nach Rouen über Vernon des Abends. Aber weder Gillenormand noch Marius fiel es ein, sich genauer zu erkundigen.

Den nächsten Tag kam Marius in der Dämmerung, als man in den Häusern die Lichter anzuzünden anfing, in Vernon an und fragte den ersten Besten, dem er begegnete, nach der Wohnung des »Herrn« Pontmercy. Er erkannte, eben so wenig, wie die derweiligen Machthaber, seinen Vater als Baron und Oberst an.

Man zeigte ihm das Haus. Er klingelte und eine Frau, die eine kleine Lampe in der Hand hielt, öffnete die Thür.

»Kann ich Herrn Pontmercy sprechen?« fragte Marius.

Die Frau antwortete nicht.

»Bin ich denn hier richtig?«

Die Frau nickte bejahend.

»Wollen Sie mich zu ihm bringen?«

Die Frau schüttelte den Kopf.

»Ich bin sein Sohn. Er erwartet mich.«

»Er wartet nicht mehr auf Sie«, antwortete die Frau.

Jetzt erst bemerkte Marius, daß sie weinte.

Sie zeigte auf eine kleine Thür. Marius öffnete sie und trat in ein niedriges Zimmer, auf dessen Kamin ein Talglicht stand. In diesem Raum befanden sich drei Männer; Einer stand, ein Anderer kniete und der Dritte lag im Hemd und lang ausgestreckt auf dem Steinboden. Letzterer war der Oberst.

Die beiden Anderen waren ein Arzt und ein Priester, der bei dem Toten betete.

Vor drei Tagen hatte den Obersten ein Hirnfieber befallen. Sofort schrieb er unter dem Einfluß eines bangen Vorgefühls an Gillenormand und bat ihn, Marius zu ihm kommen zu lassen. Das Leiden hatte sich auch rasch verschlimmert und am Abend vor Marius Ankunft war sogar der Oberst in einem Anfall von Fieberwahn aufgestanden, trotzdem ihn die Magd zurückzuhalten suchte, indem er rief: »Mein Sohn kommt nicht. Ich gehe ihm entgegen.« Dann war er in dem Vorzimmer entseelt zu Boden gesunken.

Sein Arzt, sein Pfarrer, sein Sohn kamen Alle zu spät.

Bei der matten Beleuchtung sah man auf der blassen Wange des Obersten noch eine schwere Thräne, die er über das Ausbleiben seines Sohnes geweint.

Marius betrachtete den Verstorbenen, den er an jenem Tage zum ersten und zum letzten Male sah, das ehrwürdige und männliche Gesicht, die offenen starren Augen, die weißen Haare, die starken Glieder mit ihren zahlreichen Wundenmalen, die breite Narbe auf dem Heldenantlitz, das doch auch das Gepräge der Herzensgüte trug. Aber obwohl dieser Mann sein Vater war, blieb er kalt und gleichgültig.

Er empfand kein anderes Trauergefühl, als das der Anblick irgend eines beliebigen Toten in ihm erregt hätte.

Und doch war der Verstorbene ein Mann gewesen, dessen Tod auf seine Umgebung keinen gewöhnlichen Eindruck gemacht hatte. Die Magd jammerte laut um ihn, der Pfarrer schluchzte beim Beten, der Arzt trocknete sich die Augen. Alle Drei sahen, ohne ein Wort zu sprechen, auf Marius, der allein wie ein Fremder ungerührt dabeistand. Er empfand ihnen gegenüber Verlegenheit und ließ, als überwältige ihn der Kummer, seinen Hut, den er in der Hand hielt, auf die Erde fallen, schämte sich aber dann sofort dieser Heuchelei und kam sich verächtlich vor. Traf ihn aber irgend welche Schuld wegen seines Verhaltens? Er hatte nun einmal seinen Vater nicht lieben gelernt.

Der Oberst hinterließ nichts. Mit dem Erlös des Mobiliars wurden kaum die Begräbnißkosten gedeckt. An Papieren fand die Magd nur einen Zettel, auf dem Folgendes geschrieben stand:

»An meinen Sohn. – Der Kaiser hat mich auf dem Schlachtfeld von Waterloo zum Baron ernannt. Da die jetzige Regierung mir diesen Titel, den ich mit meinem Blut bezahlt habe, streitig macht, so soll mein Sohn ihn annehmen und führen. Es versteht sich von selbst, daß er desselben würdig sein wird.«

Auf demselben Zettel stand noch folgende Notiz:

»Gleichfalls in der Schlacht bei Waterloo hat mir ein Sergeant, Namens Thénardier, das Leben gerettet. In der letzten Zeit hielt dieser Mann, wenn ich recht berichtet bin, eine kleine Herberge in einem Dorf bei Paris, in Chelles oder in Montfermeil. Sollte mein Sohn ihm je begegnen, so möge er Thénardier so viel Gutes erweisen, wie in seinen Kräften steht.«

Nicht aus Pietät gegen seinen Vater, sondern kraft jener Achtung, die jeder Mensch vor dem Willen eines Toten hegt, nahm Marius das Papier an sich und steckte es sorgfältig ein.

Sonst blieb kein Andenken an den Obersten übrig. Gillenormand ließ seinen Degen und seine Uniform an einen Trödler verkaufen. Den Garten plünderten die Nachbaren; die Gewächse die sie übrig ließen, wurden von Dornen und Unkraut überwuchert.

Nur achtundvierzig Stunden hielt sich Marius in Vernon auf. Er kehrte sofort nach dem Begräbnis nach Paris zurück und setzte seine juristischen Studien fort, ohne weiter an seinen Vater zu denken. In zwei Tagen war der Oberst beerdigt und nach drei Tagen vergessen. Nur daß Marius Flor am Hut trug.

V.
Wie Einer in der Kirche zum Revolutionär werden kann

Marius hatte die religiösen Gewohnheiten seiner Kindheit beibehalten. Eines Sonntags nun, als er in der Kirche Saint-Sulpice der Messe anwohnte, und zwar in derselben Kapelle, in die ihn ehedem seine Tante mitzunehmen pflegte, traf es sich, daß er ungewöhnlich zerstreut war. Er kniete auf einen Sammtstuhl nieder, an dessen Lehne »Mabeuf, Kirchenvorsteher« geschrieben stand. Kaum aber hatte die Messe angefangen, so trat ein alter Herr an ihn heran und sagte:

»Mein Herr, dies ist mein Platz.«

Marius trat eifrig bei Seite, und der alte Herr nahm seinen Stuhl in Besitz.

Nach Beendigung des Gottesdienstes redete der Greis Marius wieder an:

»Ich bitte Sie um Verzeihung, daß ich vorhin gestört habe und es jetzt wieder thue; aber Sie müssen mich für recht quenglig gehalten haben, und ich bin Ihnen eine Erklärung meines Verhaltens schuldig.«

»Nicht doch, mein Herr!«

»Doch, doch! Ich will nicht, daß Sie schlecht von mir denken. Sehen Sie, mir liegt viel gerade an diesem Platz. Mir ist, als stimmte er mich andächtiger. An diesem Platz nämlich hat zehn Jahre lang, einmal in je zwei oder drei Monaten, ein unglücklicher Vater gestanden, der sonst keine Gelegenheit fand, seinen Sohn zu sehen. Er kam also zu der Zeit, wo er wußte, daß der Kleine in die Kirche geführt wurde. Der aber ahnte nicht, daß sein Vater hinter ihm stand, wußte vielleicht in seiner Einfalt auch nicht, daß er überhaupt einen Vater hatte. Während dessen stand der Vater hinter diesem Pfeiler und weinte helle Thränen bei dem Anblick seines Lieblings. Dabei habe ich ihn beobachtet, und der Platz ist für mich gewissermaßen geheiligt. Ich ziehe ihn dem Sitz vor, auf den ich als Kirchenvorsteher Anspruch erheben kann. Ich habe übrigens den bedauernswerten, alten Herrn, etwas näher gekannt. Er hatte einen Schwiegervater, und eine reiche Tante, die das Kind zu enterben drohten, wenn er sich nicht von ihm fern hielte. Er brachte also dies Opfer, damit sein Sohn einmal reich und glücklich werden sollte. Und an alle dem war Verschiedenheit der politischen Meinungen schuld. Du lieber Himmel, ich habe ja gegen die Politik nichts einzuwenden, aber manche Leute gehen in der Hinsicht doch zu weit. Wenn Einer bei Waterloo gekämpft hat, ist er darum noch kein Ungeheuer, und man hat doch nicht das Recht eine Scheidewand zwischen Vater und Sohn aufzurichten. Der Mann war ein Oberst Buonaparte's. Jetzt ist er tot. Ich habe nämlich in Vernon, wo er wohnte, einen Bruder. Er hieß Pontmarie oder Montpercy oder so ähnlich. Eine furchtbare Schmarre hatte er im Gesicht . . .«

»Pontmercy?« fragte Marius und erblaßte.

»Ganz richtig. Haben Sie ihn denn gekannt?«

»Er war mein Vater!«

Der alte Kirchenvorsteher schlug die Hände über dem Kopf zusammen und rief:

»Also Sie sind jenes Kind! Hören Sie, junger Mann, Sie können sagen, daß Sie einen Vater gehabt haben, der Sie lieb hatte!«

Marius bot dem alten Herrn den Arm und geleitete ihn bis zu seiner Wohnung. Am nächsten Tage aber sagte er zu Gillenormand:

»Ich habe mich mit einigen Freunden zu einer Jagd verabredet. Gestatten Sie, daß ich drei Tage von Hause wegbleibe?«

»Vier Tage, wenn Du willst. Geh und amüsire Dich!«

Dabei blinzelte er seiner Tochter zu und flüsterte:

»Er hat was Liebes!«

VI.
Was bei einer Begegnung mit einem Kirchenvorsteher Alles herauskommen kann

Marius blieb drei Tage fort, kam dann nach Paris zurück, begab sich direkt nach der Bibliothek der juristischen Fakultät und ließ sich eine Menge Jahrgänge des Moniteur geben.

Diese studirte er mit glühendem Eifer, las alle Geschichtswerke über die Republik und das Kaiserreich, las Napoleons Memoiren, alle erdenklichen Denkschriften, Zeitungen, Berichte, Proklamationen. Als ihm zum ersten Mal der Name seines Vaters aufstieß, hatte er vor Aufregung eine Woche lang das Fieber. Dann suchte er alle Generäle auf, unter denen sein Vater gedient hatte, u. A. auch den Grafen H., und ließ sich von dem Kirchenvorsteher Alles, was Dieser über die Lebensweise seines Vaters in Vernon, über seine Gärtnerei wußte, erzählen. Auf diese Weise gelang es Marius sich ein klares Bild von ihm zusammenzustellen, dieses herrliche Gemisch von Löwe und Lamm zu verstehen.

Da diese Beschäftigung alle seine freie Zeit ebenso vollständig in Anspruch nahm, wie seine Gedanken, kam er mit den Gillenormands nur noch bei Tische zusammen; suchte man ihn zu einer andern Zeit auf, so war er nicht da. Darüber murrte die Tante, während Vater Gillenormand verständnißinnig schmunzelte: »Na ja! Er ist in den Jahren, wo Einem die Mädel im Kopf herumgehen. –« Bisweilen aber meinte er doch: »Alle Wetter! Der betreibt ja die Sache mit Leidenschaft!«

Eine Leidenschaft war es allerdings, die sich unseres Marius bemächtigte, die Liebe zu seinem Vater.

Zu gleicher Zeit vollzog sich auch in seiner Gedankenwelt eine vollständige Umwandlung, deren Phasen wir hier verfolgen wollen, da sie für viele unserer Zeitgenossen charakteristisch sind.

Das Studium der Geschichte brachte sein Denken ganz aus dem altgewohnten Geleise.

Anfangs war er wie geblendet.

Mit den Worten Republik und Kaiserreich hatte er bisher nur ungeheuerliche, dunkle Begriffe verbunden. Republik und Guillotine, Kaiserthum und Säbel – anderen Ideenassociationen vermochte sein Verstand nicht Raum zu geben. Jetzt aber, wo er in das Chaos hineinblickte, strahlten ihm aus der dichten Finsterniß, die er darin zu finden erwartet hatte, eine Menge herrlicher Gestirne entgegen, Mirabeau, Vergniaud, Saint-Just, Robespierre, Camille Desmoulins, Danton und nach ihnen stieg eine Sonne, Napoleon, empor. Ihm schwindelte bei dem Anblick der Wunderwelt, die er jetzt durchforschen lernte. Als aber das erste Erstaunen einer ruhigeren Ueberlegung wich und sein Blick sich geschärft hatte, ballten sich ihm die beiden Gruppen von Erscheinungen zu zwei großen Thatsachen zusammen, indem er richtig erkannte, daß die Republik die Wiedereroberung der bürgerlichen Rechte durch die breiten Volksinassen und das Kaiserthum die Ausbreitung der französischen Civilisation über Europa bedeutete. Und er mußte bekennen, daß alles dies gut war.

Was er in seinem Bewunderungsrausch bei dieser ersten, viel zu allgemeinen Beurtheilung unbeachtet ließ, brauchen wir hier nicht zu erörtern. Uns ist ja nur darum zu thun, den Entwickelungsgang seiner neuen, politischen Anschauungen klar zu legen. Ein Fortschritt wird nicht gleich mit dem ersten Sprung erreicht. Dies gilt auch von Allem, was wir noch über Marius historische Studien zu berichten haben. Fahren wir also fort.

Marius wurde inne, daß er bis zu jenem Augenblick die geschichtliche Rolle seines Vaterlandes eben so wenig verstanden hatte, wie den Charakter seines Vaters. Umnachtete er früher doch selber durch absichtliche Unwissenheit seinen Geist. Jetzt aber wurde es hell in ihm; jetzt bewunderte und liebte er.

Nun machte er sich auch Vorwürfe und beklagte, daß er nur an einem Grabe sagen konnte, was er jetzt empfand. O wäre sein Vater doch noch am Leben gewesen! Wie eifrig wäre er zu ihm geeilt, um ihm zuzurufen: »Vater, hier bin ich! Ich verstehe Dich! Jetzt bin ich wahrhaft Dein Sohn!« Wie zärtlich hätte er den Greis umarmt; wie gern sich in seinen Armen ausgeweint, ihm Beweise seiner kindlichen Bewunderung und Ehrfurcht gegeben! Warum war doch sein Vater gestorben, ehe ihm Gerechtigkeit und die Liebe seines Sohnes zu Theil werden konnten! Der Kummer hierüber ließ Marius keinen Augenblick Ruhe und verlieh seinem Charakter, der ohnehin schon ernst genug geartet war, ein noch ernsteres Gepräge, seinen Ueberzeugungen einen festeren Halt. Fortwährend drang eine neue lichtvollere Wahrheit in seinen Verstand ein und bereicherte seinen Ideenschatz. Sein innerer Mensch wuchs erstaunlich rasch, seitdem ihm die beiden neuen Erkenntnißquellen zuflossen, die Geschichte seines Landes und die Liebe zu dem Urheber seiner Tage.

Nachdem Marius gelernt hatte, das Gedächtniß seines Vaters in Ehren zu halten, wurde es ihm auch möglich, Napoleon besser zu würdigen.

Hierzu gehörte allerdings ein beträchtlicher Grad von Selbstüberwindung.

Von Kindheit an waren ihm die Anschauungen der 1814 zur Herrschaft gelangten Partei über Bonaparte eingeimpft worden. Nun wurden aber die Machthaber der Restaurationszeit durch alle ihre Vorurtheile, Interessen, Neigungen dazu getrieben, Napoleons Charakterbild zu entstellen. Sie verabscheuten ihn noch mehr als Robespierre und spielten ziemlich geschickt den Ueberdruß der Nation und die Furcht aller Mütter vor neuen Kriegen als Trumpf gegen ihn aus. Auf diese Weise hatten sie den verhaßten Bonaparte zu einer Art fabelhaftem Unhold karrikirt, ihn dem Volke, das in Bezug auf seine Phantasie mit den Kindern Aehnlichkeit hat, als eine theils furchtbare, theils lächerliche Schreckgestalt, als einen Tiberius, einen Popanz, vorgespiegelt. Dieser wilde Haß der Royalisten gegen Bonaparte nahm natürlich auch Marius' Gemüth so vollständig ein, daß er keiner andern Vorstellung daneben Raum zu geben vermochte, und war um so tiefer eingewurzelt, als er von Natur eine große Hartnäckigkeit besaß.

Allein, als er die Geschichte studirte, namentlich aber, als er zu den Quellen hinaufging, zerriß allmählich der Schleier, der ihn gehindert hatte, Napoleons wahre Gestalt zu erkennen. Er ahnte sofort, daß er einer großartigen Erscheinung gegenüberstand und vermuthete, daß er sich in Bezug auf Bonaparte eben so gut getäuscht habe, wie über alles Andere. Dann aber stieg er in dem Maße, wie seine Einsicht wuchs, anfangs mit Widerstreben, später trunken vor Wonne, von finsterer Abneigung zu dem lichtesten Enthusiasmus empor.

Eines Nachts saß er allein in seinem Dachstübchen und las bei dem Schein seines Stearinlichts. Das Fenster stand offen und mit dem Eindruck, den das Gelesene auf seinen Geist machte, vermischten sich die Empfindungen, die in ihm die reine Nachtluft, die unbestimmbaren Geräusche, die er vernahm, der Anblick des unermeßlichen Raumes, der funkelnden Sterne hervorriefen.

Er las die Berichte der Großen Armee, auf dem Schlachtfeld geschriebene Epen, sah hier und dort den Namen seines Vaters, überall den Namen des Kaisers, die ganze Herrlichkeit dieser Heroenzeit entrollte sich vor seinem inneren Auge; er hatte die Empfindung, als schwelle eine Fluth in ihm empor; ihm war dann und wann, als eile sein Vater wie ein Hauch an ihm vorüber und flüstere leise Worte in sein Ohr. Da ward ihm seltsam zu Muthe und er glaubte Trommelwirbel, Kanonendonner, Trompetengeschmetter, den dumpfen Tritt marschirender Bataillone und Pferdegetrappel zu hören. Dann ließ er wieder seine Blicke zum Fenster hinausschweifen, das erhabene Schauspiel zu bewundern, das die gewaltigen Himmelskörper am Firmament darboten und lenkte sie alsbald wieder dem Buche zu, das ihm von anderen erhabenen Dingen und gewaltigen Thaten erzählte. Dabei fühlte er eine eigene Beklommenheit, er keuchte, bebte und plötzlich, ohne zu wissen, was in ihm vorging und welchem Gefühl er gehorchte, richtete er sich zu seiner ganzen Höhe empor, streckte beide Arme zum Fenster hinaus, sah festen Blickes in die Finsternis, die feierliche Stille der Nacht, den unendlichen Raum hinaus und rief: »Es lebe der Kaiser!«

Dieser Augenblick bezeichnete eine Wendung in seinem Geistesleben. Der korsische Unhold, der Usurpator, der Wütherich, der Schandbube, der mit seinen Schwestern Blutschande getrieben, der Menschenverächter, der bei Talma Unterricht genommen, um besser schauspielern zu lernen, der Vergifter der Pestkranken in Jaffa, der Tiger, Buonaparte war vergessen und verdrängt durch das hehre, von einer Glorie umstrahlte Marmorbild des modernen Cäsar. Der Kaiser war für Pontmercy den Vater nur ein geliebter, bewunderter Feldherr gewesen, für den man gern sein Leben hingiebt; seinem Sohn Marius war er mehr. Der sah in ihm den Mann, den das Schicksal auserkoren, nach dem römischen Weltreich die Weltherrschaft Frankreichs zu begründen, den Nachfolger Karls des Großen, Ludwigs XI., Heinrichs IV., Richelieus, Ludwigs XIV., des Komittees der öffentlichen Wohlfahrt; einen mit menschlichen Mängeln und Schwächen behafteten Menschen, der aber doch ein großer Mann war. Hauptsächlich aber stellte er für Marius das von der Vorsehung auserwählte Genie das, das die anderen Völker zwang, die Franzosen die große Nation zu nennen, die Verkörperung Frankreichs, insofern er Europa mit seinem Degen eroberte und das Weltall mittelst der Aufklärung, die er verbreitete, Frankreich unterwarf. Er erkannte auch in Bonaparte den Retter der Zukunft, der an Frankreichs Grenze Wache hält; einen Despoten, der aber als Diktator gegen die Feinde seines Landes kämpfte, der die Nachfolge der Republik übernahm und die Ergebnisse der Revolution wahrte. Wie Jesus der Gottmensch ist, so wurde Napoleon für Marius der Volkmensch.

Wie alle Neubekehrten wußte er sich nicht zu mäßigen, überstürzte sich, ging zu weit. Das lag in seiner Natur; war er einmal auf eine abschüssige Bahn gefahren, so war es ihm so gut wie unmöglich, seinen Wagen aufzuhalten. Die Begeisterung für kriegerische Erfolge überwucherte in seinem Geiste die richtige Würdigung der Ideen. Er merkte nicht, daß er neben dem Genie und ohne zu unterscheiden, die Gewalt bewunderte, ein göttliches Element und die Rohheit mit gleicher Verehrung umfaßte. Er war jetzt in einer andern Art Irrthümer als früher befangen, indem er Alles gleich gut hieß. Man kann ja auch, indem man der Wahrheit zusteuert, dem Irrthum begegnen. Bei der Verurteilung des alten Königthums und der Bewundrung für Napoleons Größe, ließ er die mildernden und erschwerenden Umstände unbeachtet.

Sei dem, wie ihm wolle, Marius that einen gewaltigen Schritt vorwärts. Wo er einst nur den Sturz der alten Monarchie hatte sehen können, zeigte sich seinen Augen jetzt der Aufschwung Frankreichs. Was ihm früher als der Untergang alles Rechtes gegolten, bedeutete jetzt für ihn den Anfang einer neuen, schöneren Weltordnung.

Seine Familie merkte unterdessen nichts von der großen Umgestaltung seiner Anschauungen.

Als endlich diese verborgene Umwandlung zu Ende gediehen, als er seine ultraroyalistische und aristokratische Haut abgestreift, und er eine durch und durch revolutionäre, entschieden demokratische und beinahe republikanische Denkweise angenommen, bestellte er bei einem Kunststecher auf dem Quai-des-Orfèvres hundert Visitenkarten für den »Baron Marius Pontmercy.«

Eine logische Konsequenz seiner inneren Verändrung, die seinen Vater zum Ausgangspunkt hatte. Da er aber keinen gesellschaftlichen Verkehr hatte, und seine Karten nicht bei den Portiers los werden konnte, so steckte er sie in seine Tasche.

Vermöge einer andern, eben so natürlichen Konsequenz fühlte er sich in dem Maße, wie die Ideenwelt, für die sein Vater fünfundzwanzig Jahre gestritten und gelitten hatte, ihn anzog, von seinem Großvater abgestoßen. Wir haben schon erwähnt, daß ihm Gillenormand's Charakter nicht zusagte. Es bestanden schon zwischen ihnen jene Mißklänge, wie sie bei dem Zusammenspiel eines leichtfertigen Alten und eines ernsten Jünglings unvermeidlich sind. So lange Beide dieselben politischen Meinungen theilten, konnten sie sich auf einer Brücke entgegenkommen. Nachdem aber die Brücke eingestürzt war, trennte sie eine breite Kluft von einander. Vor allen Dingen oder empörte es Marius, daß Gillenormand ihn aus einem nichtigen Beweggrund der Liebe seines Vaters entrissen hatte.

Aber er ließ sich von seiner Sinnesänderung nichts merken. Allerdings ließ er sich immer seltener im Hause sehen und zeigte sich weniger gesprächig und kälter, wenn er mit den Gillenormands bei Tische zusammenkam. Schalt ihn die Tante deswegen, so entschuldigte er sich sehr sanftmüthig mit seinen vielen Arbeiten, Vorlesungen, Prüfungen u. s. w. Damit brachte er aber seinen Schlaukopf von Großvater nicht von seiner vorgefaßten Meinung ab: »Mir macht er nichts weiß! Er läuft den Mädels nach!«

Ebenso wenig bekam seine Familie den Grund zu erfahren, warum er von Zeit zu Zeit auf einige Tage verreiste.

Das eine Mal fuhr er nach Montfermeil und erkundigte sich, wie sein Vater es ihn geheißen hatte, nach dem ehemaligen Sergeanten und gegenwärtigen Gastwirt Thénardier. Er erfuhr, daß dieser fallirt habe, und man wisse nicht, was aus ihm geworden sei. Zu diesen Nachforschungen brauchte Marius vier Tage.

»Er wird wirklich ungeheuer lüderlich!« bemerkte stillvergnügt der Großvater.

Außerdem fiel auf, daß er auf der Brust, unter dem Hemde, etwas an einer schwarzen Halsschnur trug.

VII.
Irgend eine Schürze

Der Kavallerieoffizier, von dem wir schon gesprochen haben, war ein Urgroßneffe Gillenormand's, der als Junggesell ein Garnisonleben führte. Der Lieutenant Théodule Gillenormand erfüllte alle Bedingungen, die erforderlich sind, wenn man ein »hübscher Offizier« sein will. Er hatte eine wahre »Wespentaille,« eine sieghafte Art seinen Säbel an der Erde nach sich zu schleifen, einen martialisch aufgedrehten Schnurrbart. Nach Paris kam er selten, so selten daß er mit Marius nie zusammengetroffen war. Beide Vettern kannten sich also nur dem Namen nach. Er war aber der Günstling der Tante Gillenormand, weil sie ihn nicht oft zu sehen bekam. Wen man nicht sieht, dem kann man alle möglichen Vorzüge und guten Eigenschaften zuschreiben.

Eines Morgens kam Fräulein Gillenormand in einer Aufregung nach Hause, die von ihrer gewohnten Gleichmüthigkeit stark abstach. Denn Marius hatte wieder einmal seinen Großvater um die Erlaubniß gebeten, einige wenige Tage von Hause wegbleiben zu dürfen, mit der Bemerkung, er gedenke noch an demselben Tage abzureisen. »Geh!« hatte der Großvater geantwortet, und innerlich, indem er beide Brauen hoch hinaufschob, hinzugefügt: »Aha! Nun hat er anderwärts eine regelmäßige Unterkunft zur Nacht gefunden!« Fräulein Gillenormand aber, deren Neugierde aufs höchste gespannt war, begab sich auf ihr Zimmer und sagte auf der Treppe: »Das ist aber stark! Wo er blos hingeht?« Auch sie dachte an ein mehr oder minder sündhaftes Liebesabenteuer, in das sie ganz gern ihre Nase gesteckt hätte. Die Erforschung derartiger Geheimnisse hat ja für fromme Seelen einen eigenen Reiz.

Von dieser Neugierde gepeinigt, nahm sie, zur Beruhigung der Nerven, ihre Zuflucht zu ihrer Kunstfertigkeit und languettirte mit Baumwollfaden auf Baumwollcanevas Kabrioletträder aus, eine Art Stickerei, die zur Zeit des Kaiserreichs und der Restauration bei den Damen beliebt war. Mit dieser Geduldsprobe quälte sie sich seit einigen Stunden herum, als die Thür aufging. Sie blickte von ihrer Arbeit auf und sah vor sich den Lieutenant Théodule, der sie militärisch grüßte. Sie antwortete mit einem Freudenschrei. Auch alte, zimperliche, fromme Tanten sehen gern einen Kavallerieoffizier als Besuch bei sich.

»Du bist hier, Théodule?«

»Auf der Durchreise.«

»So gieb mir doch einen Kuß!«

»Da!«

Tante Gillenormand ging an ihren Sekretär und schloß ihn auf.

»Hoffentlich bleibst Du dies Mal mindestens eine Woche bei uns!«

»Tante, ich reise heute Abend weiter!«

»Nicht möglich!«

»Leider ist es mathematisch gewiß.«

»So bleibe doch bei uns, lieber Théodule; ich bitte Dich!«

»Das Herz willigt ein, aber die Pflicht sagt Nein. Die Sache ist sehr einfach. Wir werden in eine andere Garnison verlegt. Von Melun nach Gaillon. Dabei kommen wir durch Paris hindurch, und da habe ich mir gesagt: »Eine willkommene Gelegenheit meine Tante zu besuchen!«

»Bravo! Hier hast Du auch was für Deine Mühe!«

Damit steckte sie ihm zehn Louisd'or in die Hand.

»Sie meinen für mein Vergnügen, liebe Tante!«

Er umarmte sie zum zweiten Mal, wobei sie die Freude hatte, daß ihr der Hals durch die Litzen seiner Uniform etwas gekratzt wurde.

»Reitest Du mit Deinem Regiment?« fragte sie ihn.

»Nein, Tante. Mir lag daran, Sie wieder zu sehen. Ich bin hier auf Urlaub. Mein Pferd nimmt mein Bursche mit. Ich reise per Postkutsche. Und bei der Gelegenheit möchte ich Sie etwas fragen.«

»Was denn?«

»Reist denn mein Vetter Marius Pontmercy auch?«

»Woher weißt Du das?« fragte die Tante, deren Neugierde sich mächtig regte.

»Bei meiner Ankunft habe ich mich sofort nach dem Postbüreau begeben, um einen Platz auf dem Verdeck zu belegen.«

»Nun, und . . .?«

»Es war mir schon Jemand zuvorgekommen, und ich habe seinen Namen in dem Postbuch gelesen.«

»Welchen Namen?«

»Marius Pontmercy.«

»Der Lüderjahn! Ja ja, Dein Vetter ist nicht so ordentlich wie Du. Wenn man denkt, daß er sich die Nacht in einer Diligence verdirbt!«

»Wie ich auch.«

»Das ist was Anderes. Du thust es, weil es Deine Pflicht ist. Er weil er schwiemeln will.«

»Sieh Einer an!«

Da geschah plötzlich etwas Außerordentliches, Unerhörtes: Tante Gillenormand hatte einen Gedanken. Wäre sie ein Mann gewesen, so hätte sie sich vor die Stirn geschlagen. Sie fragte Théodule:

»Du weißt doch, daß Dein Vetter Dich nicht kennt?«

»Nein. Ich habe ihn gesehen, aber er hat nie geruht, Notiz von mir zu nehmen.«

»Ihr werdet also zusammen im Postwagen reisen?«

»Er auf dem Verdeck, ich im Kabriolett.«

»Wohin geht die Fahrt?«

»Nach Les Andelys.«

»Da will Marius hin?«

»Wofern er nicht, wie ich, irgendwo unterwegs aussteigt. Ich fahre blos bis Vernon und dort steige ich um. Marius Reiseziel ist mir unbekannt.«

»Marius! Was für ein häßlicher Name! Wie konnten ihn seine Eltern Marius taufen lassen! Da hört sich Théodule doch ganz anders an!«

»Ich möchte lieber Alfred heißen.«

»Höre, was ich Dir zu sagen habe, Théodule.«

»Ich höre, Tantchen.«

»Passe gut auf!«

»Ich passe auf.«

»Wirst Du's auch begreifen?«

»Ich denke!«

»Also Marius bleibt manchmal von Hause weg.«

»Hm, hm!«

»Er macht Reisen.«

»Aha!«

»Er schläft also manche Nächte außer dem Hause!«

»Oho!«

»Wir möchten wissen, was dahinter steckt.«

Théodule antwortete im Tone der tiefsten moralischen Wurschtigkeit:

»Irgend eine Schürze.«

Und mit dem spitzbübischen Lächeln eines Menschen, der seiner Sache sicher ist:

»Ein Mädel.«

»Ganz gewiß!« bekräftigte die Tante. Da ihr Liebling Théodule dieselbe Witterung hatte wie der Großvater, in demselben sicheren Tone von den »Mädels« sprach, waren alle ihre Zweifel endgiltig gehoben. Sie fuhr fort:

»Thu uns einen Gefallen. Gehe Marius nach und sieh, wo er hingeht. Da er Dich nicht kennt, ist es leicht für Dich. Bringe heraus, wer die Person ist, und schreibe uns Alles. Das wird Großpapa Spaß machen.«

Solch ein Spionagedienst war gerade nicht nach Théodules Geschmack; aber die zehn Louisd'or hatten einen tiefen Eindruck auf sein Gemüth gemacht, und da ihm ein »Fortsetzung folgt!« im Bereiche der Möglichkeit zu liegen schien, hielt er es für gerathen den Auftrag anzunehmen.

»Wie Sie wünschen, liebe Tante!«

»Ich und Tugendwächter!« dachte er dabei.

Fräulein Gillenormand fiel ihm um den Hals.

»Solche Streiche würdest Du Dir nicht zu Schulden kommen lassen, Théodule. Du bist ein Sklave der Disciplin, der Pflicht, ein gewissenhafter Mann, der nicht von seiner Familie wegrennen würde, um einem lüderlichen Geschöpf nachzulaufen.«

Der Lieutenant machte ein Gesicht wie ein Spitzbube, der Komplimente über seine Ehrlichkeit zu kosten bekommt.

Als Marius am Abend desselben Tages in den Postwagen stieg, ahnte er natürlich nicht, daß ihm ein Aufseher beigegeben war. Dieser Aufseher aber entledigte sich zunächst seiner Pflicht in der Weise, daß er sich sofort in Morpheus Arme warf und die ganze Nacht hindurch kräftig schnarchte.

Erst bei Tagesanbruch, als der Kondukteur rief »Vernon! Wer nach Vernon will, aussteigen!« erwachte der Lieutenant Théodule.

»Richtig! Hier steige ich ja auch aus!« brummte er noch schlaftrunken.

Dann, als er allmählich muntrer wurde, und sein Gedächtniß wieder zu arbeiten begann, entsann er sich seiner Tante, der zehn Louisd'or und des Auftrags, den er bekommen, über Marius Thun und Treiben Bericht zu erstatten. Die Sache kam ihm komisch vor.

»Wer weiß, ob er noch im Wagen ist,« dachte er während er seine Toilette in Ordnung brachte. »Er ist vielleicht in der Nacht, wer weiß wo ausgestiegen, und Tantchen kann ihm nachpfeifen. Aber was zum Teufel soll ich nun der guten, alten Schachtel schreiben?«

In diesem Augenblick sah er durch die Scheibe des Kabriolettfensters ein Paar schwarz bekleidete Beine von dem Verdeck heruntersteigen. Es war Marius.

Unten erwartete ein Bauernmädchen die Reisenden und bot ihnen Blumen an.

»Meine Herren, kaufen Sie Blumen für Ihre Damen!«

Marius trat auf sie zu und kaufte ihr das Beste und Schönste ab, was sie hatte.

Théodule staunte.

»Nun fange ich wirklich an selber neugierig zu werden. Das muß ja was extra Feines sein. Diejenige, welcher mein Freund Marius solch ein famoses Bouquet verehrt. Die möchte ich sehen.«

Und nun folgte er Marius mit um so größerem Eifer, als er ein persönliches Interesse an der Suche hatte, wie ein Jagdhund, der auf eigene Rechnung ein Wild hetzt.

Marius seinerseits achtete nicht auf Théodule und sah nicht einmal einige elegante Damen an, die mit ihm aus der Diligence stiegen.

»Muß Der verliebt sein!« dachte Théodule.

Marius ging auf die Kirche zu.

»So ist's recht!« meinte Théodule. »Mit ein bißchen Feierlichkeit gewürzt schmeckt ein Stelldichein um so pikanter. Unter Gottes Obhut liebt es sich noch mal so nett.«

Aber vor der Kirche angelangt, trat Marius nicht hinein, sondern ging um sie herum, bis er hinter einem Strebepfeiler der Apsis verschwand.

»Auch gut!« dachte Théodule. »Sie treffen sich draußen. Wenn ich nur die Schöne zu Gesicht bekomme!«

Und vorsichtig schlich er auf den Zehenspitzen bis an den Punkt, wo Marius verschwunden war.

An dieser Stelle blieb er plötzlich, fest gebannt von grenzenlosem Erstaunen, stehen.

Marius kniete schluchzend und die Stirn in beide Hände gedrückt, im Gras vor einem Grabe, das er mit Blumenblättern bestreut hatte. An dem Kopfende, das durch eine leichte Erhöhung gekennzeichnet war, sah man ein schwarzes Holzkreuz, auf dem mit weißen Buchstaben folgende Worte geschrieben standen: »Der Oberst Baron Pontmercy.«

Das war das »Mädel«.

VIII.
Marmor und Granit

Hierhin hatte sich Marius begeben, als er das erste Mal von Paris wegreiste. Hierher kam er jedes Mal, wenn Gillenormand sagte: »Er schläft auswärts.«

Der Lieutenant Théodule verlor alle Fassung bei dem Anblick; ein ihm unerklärliches, ebenso unheimliches, wie eigenthümliches Gefühl überkam ihn, aber es war ein Gemisch von religiöser Andacht und Subordination. Der Tod trat ihm hier mit großen Epauletten gegenüber und es fehlte nicht viel, so hätte er ihn salutirt. Jedenfalls zog er sich respektvoll zurück und ließ Marius allein auf dem Kirchhof. Was sollte er nun aber der Tante melden? Vor lauter Verlegenheit beschloß er, ihr überhaupt nichts zu schreiben, und vielleicht hätte Théodule's Entdeckung gar keine Folgen nach sich gezogen, wenn nicht das geheimnißvolle Spiel des Zufalls in Paris eine Nachwirkung des Vorfalls in Vernon herbeigeführt hätte.

Marius kehrte aus Vernon am dritten Tage in aller Frühe zurück, ging nach Hause, stieg rasch in sein Zimmer hinauf, legte seinen Reiserock und das schwarze Band, das er um den Hals trug, ab und ging ins Bad, um sich von den Strapazen der Reise und den beiden schlaflos in der Diligence zugebrachten Nächten zu erholen.

Gillenormand, der wie alle rüstigen, alten Leute früh aufstand, eilte, als er Marius Tritte auf der Treppe hörte, so schnell es ihm seine alten Beine gestatteten, zur Dachstube hinauf, um den Don Juan zu begrüßen und auszufragen.

Aber der junge Mann war zu flink gewesen für den achtzigjährigen Alten, und als Vater Gillenormand oben anlangte, war der Vogel schon wieder ausgeflogen.

Dagegen lagen auf dem unberührten Bett der Rock und das schwarze Band.

»Desto besser!« dachte Gillenormand.

Wenige Augenblicke später trat er mit einer Triumphatormiene, in der einen Hand den Rock, in der andern das Band, in das Zimmer ein, wo seine Tochter saß und Kabrioletträder auslanguettirte.

»Hurrah! Jetzt werden wir den Schleier lüften, jetzt kommen wir hinter seine Schliche. Hier ist der Schlüssel zu dem großen Geheimniß unseres Nachtbummlers. Ich habe das Porträt!«

An dem Band hing nämlich ein ledernes Etui, das einem Medaillon ähnlich war.

Ehe er das Etui aufmachte, betrachtete er es eine Weile so verzückt, so schwermüthig, so ärgerlich, wie ein armer Teufel, der gute Speisen riecht und weiß, daß er nichts davon abbekommen wird.

»Es ist ganz gewiß ein Porträt. Ich kenne mich aus. Solch ein Bildniß von seinem Liebchen trägt jeder dumme Junge auf dem Herzen. Wahrscheinlich irgend eine recht mittelmäßige Fratze, die ihn aber in Entzücken versetzt. Das junge Volk heutzutage hat ja keinen Geschmack!«

»So machen Sie doch, Vater!« drängte die alte Jungfer.

Als sie aber das Etui durch einen Druck auf die Knopffeder öffneten, fanden sie nur ein sorgsam zusammengefaltetes Stück Papier.

»Von Ihr an Ihn!« meinte Gillenormand und lachte. »Ich weiß schon, was das ist. Ein Liebesbrief.«

»Das wollen wir doch schnell lesen!« sagte die Tante und setzte schleunigst ihre Brille auf.

Sie entfalteten das Papier und lasen:

»An meinen Sohn. – Der Kaiser hat mich auf dem Schlachtfeld von Waterloo zum Baron ernannt. Da die jetzige Regierung mir diesen Titel, den ich mit meinem Blut bezahlt habe, streitig macht, so soll mein Sohn ihn annehmen und führen. Es versteht sich von selbst, daß er desselben würdig sein wird.«

Was Vater und Tochter empfanden, läßt sich nicht beschreiben.

Es war ihnen zu Muthe, als wenn ein Totenkopf sie eisig anhauchte. Sie tauschten kein Wort mit einander aus. Nur Gillenormand sagte leise und halb für sich.

»Das hat der Säbelraßler geschrieben.«

Die Tante sah sich den Zettel sorgfältig an, drehte ihn lange in der Hand herum und steckte ihn schließlich wieder in das Etui.

In dem Augenblick fiel ein langes viereckiges Packetchen, das in blaues Papier eingewickelt war, aus einer Tasche des Rockes; Fräulein Gillenormand hob es auf und nahm den blauen Umschlag ab. Es waren Marius' Visitenkarten. Sie reichte eine ihrem Vater, und Dieser las: Baron Marius Pontmercy.

Der Greis klingelte. Nicolette kam. Gillenormand nahm Schnur, Etui und Rock, warf alles mitten im Zimmer auf den Fußboden und befahl:

»Tragen Sie den Plunder fort!«

Eine lange Stunde verging, ohne daß ein Wort gesprochen wurde. Der Alte und seine Tochter saßen mit dem Rücken gegen einander und hingen Jedes wahrscheinlich denselben Gedanken nach. Endlich rief die Tante:

»Eine nette Geschichte!«

Bald darauf kam Marius zurück. Noch hatte er die Schwelle des Zimmers nicht überschritten, als er sah, daß sein Großvater eine von seinen Visitenkarten in der Hand hielt, und in demselben Augenblick redete ihn Dieser auch schon mit grimmigem, vernichtendem Hohne an:

»Sieh da! Sieh da! Du bist jetzt Baron. Ich gratulire Dir. Was soll das heißen?«

Marius erröthete leicht und antwortete:

»Das soll heißen, daß ich der Sohn meines Vaters bin.«

Gillenormand lachte nicht mehr und antwortete mit harter Stimme:

»Dein Vater bin ich!«

»Mein Vater,« entgegnete Marius mit niedergeschlagenen Augen und finsterer Miene, »war ein bescheidener und heldenhafter Mann, der Frankreich und der Republik mit Ehren gedient, der einen ruhmvollen Antheil an den größten Ruhmesthaten der Weltgeschichte genommen, der ein Vierteljahrhundert im Bivouac gelebt, bei Tage sich den Kartätschen, bei Nacht dem Schnee, dem Regen ausgesetzt, der zwei Fahnen erobert, zwanzig Wunden erhalten hat, der im Elend und in der Vergessenheit gestorben ist und der nur darin gefehlt hat, daß er zwei Undankbare, sein Vaterland und mich, zu sehr geliebt hat.«

Dies war mehr, als Gillenormand geduldig anzuhören im Stande war. Bei dem Wort Republik war er aufgestanden und hatte sich hoch aufgerichtet. Marius Worte hatten auf ihn dieselbe Wirkung hervorgebracht, als wenn ein Blasebalg Kohlen entflammt. Anfangs düster, war er roth und röther geworden.

»Marius!« schrie er. »Ich weiß nicht, was für ein Mann Dein Vater war, Du abscheulicher Junge! Ich will es auch nicht wissen. Ich weiß es, weiß es absolut nicht. Aber das weiß ich, daß alle jene Menschen lauter Gesindel gewesen sind! Alle waren Lumpe, Mörder, Revolutionäre, Diebe. Wohl gemerkt, Alle. Ich kenne Keinen von ihnen. Aber Alle waren Kanaillen. Verstanden Marius? Du bist solch ein Baron, wie meine Nachtmütze einer ist. Alle waren Banditen, die Robespierre, Räuber, die Buonaparte gedient, Schufte, die ihren rechtmäßigen König verrathen, verrathen, verrathen haben! Alle waren Feiglinge, die bei Waterloo vor den Preußen und Engländern ausgekniffen sind! Das ist, was ich weiß. Wenn Dein Herr Vater dabei war, so weiß ich es nicht, so thut es mir leid; aber ich kann mir nicht helfen.«

Jetzt ging es Marius wie dem Feuerbrand, der durch einen Blasebalg in Flammengluth versetzt wird. Er bebte an allen Gliedern, wußte nicht, wo er hin sollte. Ihm war zu Muthe, wie dem Priester, vor dessen Augen man die Hostie mit Füßen tritt, wie dem Fakir, dessen Götzenbild man anspeit. Es war doch nicht möglich, daß so etwas ungestraft in seiner Gegenwart gesagt werden durfte! Aber was thun? Sein Vater war geschmäht und beschimpft worden. Aber – von seinem Großvater. Wie den Einen rächen, ohne dem Andern zu nahe zu treten? Es war nicht daran zu denken, daß er seinen Großvater insultirte, und ebenso wenig, daß er für seinen Vater keine Rache nahm. Einerseits ein Grab, andererseits weiße Haare, die respektirt sein wollten. So stand er denn, während alle diese Gedanken in seinem Hirn herumwirbelten, wie ein Betrunkener da; endlich aber hob er die Augen auf, sah seinen Großvater fest an und schrie mit Donnerstimme:

»Nieder mit den Bourbons und dem dicken Schwein Ludwig XVIII.!«

Ludwig XVIII. war seit vier Jahren tot, aber das kümmerte ihn in seinem Aerger nicht.

Das Gesicht des Alten, das eben noch puterrot gewesen, wurde plötzlich noch weißer als die Haare auf seinem Kopfe. Er wandte sich nach einer Büste des Herzogs von Berry, die auf dem Kaminsims stand und verneigte sich würdevoll vor ihr. Dann ging er langsam und schweigend zweimal vom Kamin bis zum Fenster und vom Fenster bis zum Kamin, schweren Schrittes, so daß die Dielen krachten, als marschire eine steinerne Statue über sie hin. Das zweite Mal neigte er sich zu seiner Tochter nieder, die verdutzt und lautlos dem Wortkampf zugehört hatte und sagte, indem er sich zu einem ruhigen Lächeln zwang:

»Ein Baron wie der junge Herr da und ein Bürgerlicher wie ich können nicht unter demselben Dache bleiben.«

Gleich darauf aber richtete er sich hoch empor, reckte den Arm nach Marius hin und schrie blaß, zitternd und in wildester Wuth:

»Fort mit Dir!«

Marius verließ das Haus sofort.

Am nächsten Tage sagte Gillenormand zu seiner Tochter: »Schicken Sie alle halbe Jahr dem wüthigen Burschen sechzig Pistolen und erwähnen Sie ihn nie in meiner Gegenwart.«

Denn er hatte noch einen großen Rest von Wuth zu verausgaben, und da er nicht wußte, wie er ihn los werden sollte, so redete er länger als drei Monate hindurch seine Tochter mit »Sie« an.

Ebenso wüthend war Marius gegangen. Und es kam noch ein Umstand hinzu, der seine Erbitterung verschärfte, einer von jenen unbedeutenden Zufällen, durch die häusliche Zwistigkeiten noch heftiger angefacht werden, ohne daß doch die feindlichen Parteien sich dadurch eines größeren Unrechts schuldig machen. Als nämlich Nicolette, auf Befehl des Großvaters, Marius »Plunder« eiligst in sein Zimmer hinauftrug, hatte sie, ohne es zu merken, – wahrscheinlich auf der dunklen Stiege des oberen Stockwerks – das Etui mit dem Zettel fallen lassen, und da es nicht wieder aufgefunden werden konnte, war Marius überzeugt, daß »Herr Gillenormand« – so nannte er ihn immer von jenem Tage an – »das Testament seines Vaters« ins Feuer geworfen habe. Er wußte die von dem Obersten hinterlassenen Zeilen auswendig, und folglich war, im Grunde genommen, nichts verloren. Aber der Zettel, die Handschrift waren Reliquien, an denen sein Herz hing. Warum hatte man ihm die geraubt?

Marius war gegangen, ohne anzugeben, wohin er sich wenden würde, ohne es selber zu wissen, mit dreißig Franken, seiner Taschenuhr, und einigen Kleidungsstücken in einem Reisesack. Dann hatte er ein Miethskabriolett auf Zeit genommen und sich aufs Gerathewohl nach dem Studentenviertel fahren lassen.

Was sollte nun aus ihm werden?


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