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Was der Sperling im Walde ist, das ist der Straßenjunge in Paris.
Vermählet die Begriffe Paris und Kindheit, so erzeugen sie ein kleines Lebewesen, einen humunico, wie Plautus sich ausdrückt, ein Menschlein.
Das Menschlein ist vergnügt. Es ißt sich nicht jeden Tag satt, geht aber jeden Abend, wenn es ihm beliebt ins Theater. Es hat kein Hemd am Leibe, keine Stiefel an den Füßen, kein Obdach über seinem Haupt; es gleicht den Fliegen unter dem Himmelsgewölbe, die alles dies auch nicht haben. Es ist sieben bis dreizehn Jahr alt, lebt in Rudeln, tummelt sich gern auf gepflasterten Straßen, logirt im Freien, trägt eine alte Hose von Vatern, die ihm bis unter die Hacken reicht, einen alten Hut von einem andern »Vater«, der bis über die Ohren hinabgeht, einen Hosenträger aus gelbem Sohlband, bummelt, späht nach Beute, bettelt, schlägt die Zeit tot, raucht Pfeifen an, flucht wie ein Heide, besucht Kneipen, pflegt Umgang mit Spitzbuben, duzt sich mit Dirnen, spricht die Gaunersprache, singt zotige Lieder und hat doch nichts Schlechtes im Herzen. Denn in seiner Seele hat er eine Perle, die Unschuld, und Perlen zergehen nicht im Koth. Das Kind soll unschuldig sein, so will es Gott.
Würde man die Riesenstadt fragen: Was ist denn das für Einer? so würde sie antworten: »Mein Kleiner.«
Um uns keiner Uebertreibung schuldig zu machen, wollen wir gestehen, daß unser Rinnsteincherub bisweilen doch ein Hemd hat, aber dann ist's auch nur ein einziges; bisweilen besitzt er auch Schuhe oder Stiefel, aber die haben keine Sohlen; er hat auch manchmal eine Wohnung und hält sich gern darin auf, weil er seine Mutter dort trifft; aber die Straße, wo er die Freiheit trifft, ist ihm lieber. Er hat eigene Spiele, eigene Bosheiten, mit denen er seinem Groll gegen die besser situirten Leute Luft macht, eigene Metaphern, eigene Gewerbe, z. B. Droschkenthüren aufmachen.
Er hat auch seine eigene Fauna, allerhand Ungeziefer, dem er ein eingehendes Studium widmet: Marienwürmchen, Blattläuse, Weberknechte, Ohrwürmer, greuliche Erdmolche, die zwischen den Steinen abzufassen eine Heldenthat ist. Ein anderer Hauptspaß besteht darin, daß man plötzlich einen Pflasterstein aus der Erde reißt und einen Schwarm lichtscheuer Asseln überrascht.
Selbstredend hat die Straßenjugend auch eine eigene, zoologische Geographie von Paris. So ist z. B. das Pantheonviertel wegen seiner Tausendfüße berühmt, die Gräben des Champ de Mars zeichnen sich aus durch ihre Kaulquappen u. s. w.
An Witzen und geistvollen Einfällen ist der Pariser Straßenjunge so reich wie Talleyrand. Er ist auch nicht weniger cynisch, aber rechtschaffener als Dieser.
Bei einem Begräbniß befindet sich unter den Leidtragenden auch ein Arzt. »Nanu!« meint ein Straßenjunge. »Das ist ja ganz was Neues: Ein Doktor, der seine Arbeit persönlich abliefert!«
Des Abends verschafft sich das Menschlein vermittelst einiger Sous, die es immer aufzutreiben weiß, Eintritt in ein Theater. Indem er die magische Schwelle desselben überschreitet, geht mit ihm eine Umwandlung vor, der auch ein Name entspricht: Er heißt nun nicht mehr ein Straßenjunge, sondern ein Titi. Die Theater gleichen umgekehrten Schiffen, deren Kiel sich oben befindet. So eng, dumpfig, stickig, schmutzig, dunkel, ungesund dieser widerwärtige Kielraum auch sein mag, die Anwesenheit der Titis mit ihrer naiven Begeisterung und hellen Freude genügt, ihn in einen »Olymp« zu verwandeln.
Man gebe einem Menschen das Entbehrliche und nehme ihm das Nothwendige, so hat man den Pariser Straßenjungen.
Er ist nicht ohne litterarischen Geschmack. Allerdings kann er sich, – wie wir mit dem gebührlichen Quantum Bedauern konstatiren müssen – für unsere klassische Litteratur nicht begeistern. Er liebt das akademische Genre nicht. Fand er doch sogar an Fräulein Mars, die sich sonst seiner Gunst erfreute, Mancherlei auszusetzen, und spöttelte etwas über ihr langweilig korrektes Spiel.
Der Pariser Straßenjunge ist ein Rabelais im Kleinen, der mit Allem den ungeheuerlichsten Ulk treibt, in den Kloaken fischt, dem Unflat eine lustige Seite abgewinnt, sich im Koth suhlt und sich daraus emporrafft, um sich mit Ruhm zu bedecken.
Er wundert sich über Weniges, fürchtet sich noch weniger, verhöhnt den Aberglauben, ist ein Feind des Bombastes und der Uebertreibung, zieht die Mysterien in den Staub, zeigt dem Spuk die Zunge. Nicht als ob er prosaisch wäre, aber er zieht buntscheckige Possen feierlichen Visionen vor.
Paris fängt mit dem Maulaffen an und endet mit dem Straßenjungen, zweien Wesen, die keine andere Stadt hervorbringt. Einerseits die höchste Passivität, die ihr Genüge hat am Ansehen, andererseits eine unerschöpfliche Initiative. Der eine, der Maulaffe, ist der Träger der Monarchie, der Andere die Stütze der Anarchie.
Das blasse Kind der Pariser Vorstädte lebt und entwickelt sich im Elend und als nachdenklicher Zeuge des allgemeinen Elends, der Erbärmlichkeit der menschlichen Einrichtungen. Er hält sich selber für gleichgültig und sorglos, ist es aber keineswegs. Er lacht wohl über Alles, ist aber noch zu etwas Anderem fähig. Vorurtheil, Mißbräuche, Unterdrückung, Ungerechtigkeit, Despotismus, Fanatismus, hütet Euch vor dem Bengel, der auf Alles aufpaßt!
Der Kleine wird groß werden. Der Geist des großen Paris kann den geringen Krug zu einer herrlichen Amphora umarbeiten.
Der Straßenjunge liebt die Stadt, auch die Einsamkeit, da er etwas philosophisch veranlagt ist. Ein urbis amator wie Fuscus, ein ruris amator wie Flaccus.
Jeder, der wie wir das Gebiet durchstreift hat, wo das Land anfängt und Paris aufhört, hat auch an ganz menschenleeren Orten, hinter einer dürftigen Hecke oder in irgend einem Winkel an einer Mauer, einen Schwarm lärmender, zerlumpter, schmutziger, staubiger, struwweliger Kinder spielen sehen und unanständige Lieder singen hören. Sobald sie einen Spaziergänger erblicken, entsinnen sie sich, daß sie ihr Brod verdienen müssen und bieten ihm einen Strumpf voller Maikäfer oder einen Fliederstrauß zum Verkauf an.
Die Grenzzone ist das Ende des Erdkreises für die Pariser Straßenjungen. Nie wagen sie sich darüber hinaus. Sie können eben so wenig die Pariser Luft entbehren wie der Fisch das Wasser.
Zu der Zeit, wo unsere Geschichte spielt, stand nicht an jeder Straßenecke ein Schutzmann, und es trieben sich eine Menge Kinder in Paris herum. Laut statistischen Berichten wurden jährlich von der Polizei durchschnittlich zweihundert sechzig obdachlose Kinder auf uneingefriedigten Grundstücken, in Neubauten und unter den Brücken aufgelesen. Kein schlimmeres Symptom als dieses für einen Staat! Aus einem Kind, das vagabundirt hat, kann sich nur ein Verbrecher entwickeln.
Mit Ausnahme von Paris indessen. Während in jeder andern Großstadt ein vagabundirendes Kind als Mann moralisch zu Grunde geht, während sonst überall verwahrloste Kinder in Laster versinken, die ihnen Rechtschaffenheit und Gewissen rauben, bleibt der Pariser Straßenjunge, obgleich äußerlich angefressen, doch innerlich im Großen und Ganzen heil. Es ist eine herrliche Thatsache, die in der vom siegreichen Volke bei allen Revolutionen bewiesenen Ehrlichkeit einen glänzenden Ausdruck findet, daß die Pariser Luft in gewissem Grade vor moralischer Verderbniß schützt, wie das Salz des Oceans vor physischer Verwesung.
Trotzdem wird es jedem gefühlvollen Menschen wehe ums Herz werden, sieht er ein Kind, das mit keinem Faden mehr an seine Familie geknüpft ist. In unserm gegenwärtigen Kulturleben sind dergleichen Lostrennungen leider nichts Ungewöhnliches. Ein Jeder weiß, was die Redensart »auf das Pariser Pflaster geworfen werden« bedeutet.
Beiläufig gesagt, that die ehemalige Monarchie nichts gegen solche Verstoßungen von Kindern. Den höheren Gesellschaftsklassen paßte es sehr gut in ihr Programm, wenn es in den unteren Schichten sehr zigeunerisch herging. Daß die Kinder des Volkes keinen Unterricht bekommen dürften, war ein Dogma. Wozu eine halbe Aufklärung? lautete die Losung.
Uebrigens bedurfte auch die Monarchie ab und zu der Kinder, und fand es alsdann bequem, auf der Straße aufzusuchen, was sie brauchte.
Unter Ludwig XIV., um nicht weiter zurück zu gehen, sollte eine Flotte geschaffen werden. Der Gedanke war ein lobenswerther. Aber betrachten wir das Mittel, das man anwendete, um das Ziel zu erreichen. Zu dem Kriegssegelschiff, das leicht ein Spielball der Winde wird und deshalb ins Schlepptau genommen werden muß, gehört durchaus ein Fahrzeug, das vollständigere Bewegungsfreiheit hat. Diesen Zweck erfüllen heutzutage die Dampfschiffe, im siebzehnten Jahrhundert hatte man Galeren, Fahrzeuge, die gerudert wurden. Der Minister Colbert hatte also ein Interesse daran, daß möglichst viel Menschen zur Galerenstrafe verurtheilt wurden, und die Richter erwiesen sich ihm auch sehr gefällig in dieser Hinsicht. Behielt Jemand vor einer Procession den Hut auf dem Kopfe, so hieß es: »Aha! ein Protestant!« und der Mann kam auf eine Galere. Fand man einen obdachlosen jungen Menschen auf der Straße, der nicht unter fünfzehn Jahr alt war, so kam er auf eine Galere. Und so etwas war nothwendig unter der ruhmreichen Regierung eines großen Königs.
Unter Ludwig XV. verschwanden eine Menge Kinder in Paris; sie wurden zu einem geheimnißvollen Zweck gebraucht, zu den Purpurbädern des Königs, wie Manche munkelten. Jedenfalls erwähnt Barbier in aller Naivetät die Sache. Es kam vor, daß die Polizisten in Ermanglung andere Kinder aufgriffen, die Eltern hatten. Vergriffen sich diese dann in ihrer Verzweiflung an den Polizeibeamten, so mischte sich das Parlament ein und schickte – nicht die Polizisten, sondern – die Eltern an den Galgen.
Die Pariser Straßenjugend bildet so zu sagen eine Kaste. Man darf behaupten, daß nicht jeder Beliebige ihr angehören kann.
Die Gründe, die einem Straßenjungen die Hochachtung von Seinesgleichen verschaffen, sind ebenso mannigfaltig, wie eigenartig. Einer, den wir kannten, erfreute sich großer Bewunderung, weil er einen Mann von einem Turm der Notredamekirche hatte herabstürzen sehen; ein Anderer, weil es ihm gelungen war, sich auf einen Hof zu schleichen, wo zeitweilig die Statuen des Invalidendoms aufbewahrt wurden, und Stücke Blei abzubrechen und zu stibitzen; ein Dritter, weil er eine Diligence hatte umfallen sehen; ein Anderer, weil er einen Soldaten kannte, der einem Civilisten beinah ein Auge ausgeschlagen hätte.
Auf diese Weise erklärt sich eine Aeußerung eines Pariser Kindes, über dessen tiefe Logik das Publikum mit Unrecht zu lachen pflegt, weil es sie nicht versteht: »Gott, was bin ich für ein Pechvogel! Daß ich doch noch nie dazu gekommen bin, wenn Einer aus einem fünften Stockwerk gefallen ist!«
Sehr hoch angerechnet wird Einem ein Unglücksfall. So hat man Anspruch auf besondere Hochachtung, wenn man sich bis auf den Knochen schneidet. Oder wenn man schielt.
Sehr geschätzt wird eine starke Faust. Am liebsten schüchtert man seinen Gegner mit den Worten ein: »Ich bin eklig stark!« Eine Linkhand zu sein ist ein beneidenswertes Glück.
»Vater So und So, warum habt Ihr Eure Frau an ihrer Krankheit sterben lassen, ohne nach einem Arzt zu schicken?« »Je nun, mein Herr, wir armen Leute müssen ohne Hülfe sterben können!« Wenn diese Aeußerung der Passivität unserer Bauern einen recht passenden Ausdruck leiht, so ist folgende Anekdote nicht minder charakteristisch für die Freigeisterei der Pariser Straßenjugend: Ein armer Sünder, der zur Guillotine gefahren wird, hört die Ermahnungen seines Beichtvaters an. »Er hat 'n Bammel!« schreit ein Junge.
Den Hinrichtungen beizuwohnen hält der Pariser für eine Pflicht. Dabei ist ihm jeder Sitz recht, von dem aus er gut sehen kann. Er erklettert Mauern, Balkons, Bäume, Dächer und scheut keine Gefahr, wenn ihm nur von dem Spaß, dem schönsten, den er sich denken kann, nichts entgeht. Da werden Witze über die Guillotine gerissen, der Delinquent verhöhnt, wenn er nicht genug Kourage zeigt oder mit Beifall empfangen, wenn er keck auftritt. So erzählte seiner Zeit der berüchtigte Mörder Lacenaire, er sei neidisch auf den Muth gewesen, den Dautun vor dem Schaffot zeigte.
Im Sommer nimmt der Pariser Straßenjunge eine Metamorphose mit sich vor, die ihn zu einem Verwandten des Frosches macht. Er stürzt sich nämlich des Abends von den Kohlenschiffen und Prahmen in die Seine, selbstredend unter völligster Nichtachtung aller Scham und der Polizeiverordnungen. Aber die Schutzleute paßten auf, und schufen dadurch hochdramatische Situationen, die Anlaß zur Entstehung eines denkwürdigen Signalschreies gaben. Dieser Warnungsruf war üblich um das Jahr 1830, wurde kunstvoll skandirt wie ein antiker Vers und hatte eine so schwierige, komplicirte Modulation, wie die eleusische Melopee des Panathenäenfestes oder das Evohe der Bacchantinnen: »Holla, Titi, Holla! Die Greifer sind da! Verdufte mit deinen sieben Sachen durch die Kloaken!«
Manche unter ihnen können lesen, Einige auch schreiben; »malen« haben sie alle gelernt. Gegenseitig unterrichten sie sich auch in allerhand Künsten, die in irgend einer symbolischen Beziehung zur Politik stehen. So gefielen sie sich 1815 bis 1330, unter der Regierung Ludwigs XVIII., darin, das Gekoller des Truthahns nachzuahmen; 1830 bis 1848, unter Louis Philipp beschmierten sie alle Mauern mit Abbildungen einer Birne. An einem Sommerabend sah Louis Philipp selber, als er zu Fuß von einem Spaziergang zurückkehrte, einen Käsehoch, der mühsam auf den Zehen stand, um eine riesige Birne auf einen Pfeiler des Thores von Neuilly zu zeichnen. Gemüthlich, wie sein Vorfahr Heinrich IV., half der König bei der Karikirung seines eigenen Gesichtes und schenkte dann dem Bengel einen Louisd'or mit den Worten: »Hier ist auch eine Birne darauf.«
Die Geistlichen kann der Straßenjunge natürlich nicht leiden. So machte einst Einer vor Nr. 69., Rue de l'Université, eine lange Nase. »Warum thust du das?« fragte ihn Jemand, der zugegen war. »Hier wohnt ein Pfaffe!« Er meinte den Nuntius des Papstes. – Ein so guter Voltairianer er aber auch sein mag, der pariser Straßenjunge läßt sich doch bisweilen, wenn sich eine Gelegenheit bietet, dazu herbei, das Amt eines Chorknaben zu übernehmen, und in diesem Fall benimmt er sich ganz manierlich in der Kirche.
Der vollkommene Straßenjunge kennt die Schutzleute dem Namen und dem Charakter nach. »Der da,« erzählt er, »ist tückisch! Ein Anderer ist sehr nichtswürdig oder albern u. s. w. Der hier bildet sich ein, der Pont-Neuf gehöre ihm und verbietet einem an der Außenseite des Brückengeländers entlang zu spazieren. Der da hat die Angewohnheit, Einen am Ohr zu ziepen!« U. s. w.
Etwas von dem Geiste und Charakter des Pariser Kindes besaß Molière, ein Sohn der Markthallen. Ebenso Beaumarchais. Eine gewisse Art Ungezogenheit gehört eben zum Wesen des Galliers. Mit Mutterwitz und gesundem Menschenverstand verquickt, hat er eine ähnliche Kraft, wie der Alkohol im Wein. Freilich artet dieser Vorzug auch wohl zu einem Fehler aus, z. B. bei Voltaire.
Der Pariser Straßenjunge ist des Respektes fähig, zur Ironie aufgelegt und unverschämt. Er hat schlechte Zähne, weil er schlecht genährt ist und am Magen leidet, und schöne Augen, weil er Verstand hat. Vor Jehowahs Angesicht wäre er im Stande, auf einem Fuß die Stufen des Paradieses hinaufzuhüpfen. Er zeichnet sich aus in der Kunst, mit den Beinen zu fechten. Er ist jeder Art von Entwicklung fähig. Er spielt im Rinnstein und richtet sich zum Helden empor, wenn der Aufruhr in den Straßen tobt. Den Kanonen gegenüber bleibt er frech. War doch auch der Trommler Bara ein Pariser Straßenjunge.
Dieses Kind des Kothes ist auch das Kind des Ideals.
In kurzen Worten ausgedrückt, der Pariser Straßenjunge ist ein Wesen, das sich amüsirt, weil es unglücklich ist.
Das Pariser Straßenkind ist ein Schmuck der Nation und zu gleicher Zeit ein Krankheitssymptom. Wie ist die Heilung herbeizuführen? Durch Aufklärung.
Jeder fortschrittliche Aufschwung hat die Wissenschaft, die Litteratur, die Künste, die Belehrung zur Voraussatzung. Ziehet Männer heran und kläret sie auf; nur solche können der Welt nützen. Früher oder später wird sich das herrliche Problem des allgemeinen Schulunterrichts der Menschheit mit der unwiderstehlichen Gewalt der Wahrheit aufdrängen, und dann werden diejenigen, welche als Vorkämpfer der französischen Civilisation auftreten wollen, sich dazu entschließen müssen, die Pariser Straßenjungen zu Kindern Frankreichs zu erheben.
Das Straßenkind ist die Quintessenz von Paris, und Paris die Quintessenz der Welt.
Wer Paris sieht, vor dessen Augen entrollt sich das ganze Buch der Geschichte. Es enthält alle Errungenschaften, alle Vorzüge der vergangnen und gegenwärtigen Civilisationen. Paris hat ein Kapitol, nämlich sein Rathhaus; ein Parthenon, die Kirche Notredame; einen Mons Aventinus, die Vorstadt Saint-Antoine; ein Asinarium, die Sorbonne; ein Pantheon, das Panthéon, eine Via Sacra, den Boulevard des Italiens; einen Turm der Winde, die öffentliche Meinung; es ersetzt die Gemonien durch den Fluch der Lächerlichkeit. Es hat seine Mahos, seine Transteveriner, seine Hammals, seine Lazzaroni, seine Cockneys, kurz Alles, was andere Völker auch haben. Dumarsais's Fischhändlerin ist so zungenfix, wie Euripides' Hökerin; der Diskuswerfer Nejanus war nicht interessanter, als der Seiltänzer Forioso; Rameau's Neffe und der Schmarotzer Curculio passen zu einander; Aulus Gellius blieb auch nicht länger vor Congrio stehen, als Charles Nodier vor Polichinelle; der Zudringliche, der Einen im Tuilerieengarten am Rockknopf festbält, erinnert nach zweitausend Jahren an Thesprio's Ausruf: Quis properantem me prehendit hallio? Suresne cultivirt einen eben so berühmten Krätzer wie einst Alba; Ergaphilas lebte in Caglistro wieder auf; der Brahmane Wâsafaniâ verkörperte sich in dem Grafen von Saint-Germain; auf dem Kirchhof des Saint-Médard geschehen eben so echte Wunder, wie in der Moschee Umumieh zu Damaskus. Paris hat auch seine Orakel, so gut wie Delphi und rückt Tische, wie einst Dodona Dreifüße. Es erhebt Grisetten auf den Thron, wie das alte Rom Courtisanen, und wenn Ludwig XV. ein nichtswürdigerer Mensch war, als der Kaiser Claudius, so taugte dafür die Gräfin Dubarry immer noch mehr als Messalina.
Obschon Plutarch meint, Tyrannen würden nicht alt, so beugte sich Rom doch unter das Joch Sulla's, so wie Domitian's. Der Tiber war ein Lethe, wenn man Varus Vibiscus Glauben schenken darf: Contra Gracchos Tiberim habemus. Bibere Tiberim, id est seditionem oblivisci. Paris trinkt eine Million Liter Wasser jeden Tag, schlägt aber darum doch gelegentlich den Generalmarsch und läutet die Sturmglocke.
Hiervon abgesehen ist Paris sehr gutmüthig und läßt sich Alles gefallen. Wenn es lacht, läßt es Gnade für Recht ergehen, belustigt und freut sich über das Häßliche, Abnorme, das Laster; sogar über die Heuchelei erbost es sich nicht.
Paris ist ein Synonym von Kosmos. Paris ist Athen, Rom, Sybaris, Jerusalem, Pantin zusammengenommen. Es birgt in seinem Schoße alle Civilisationen – und auch jede Art Barbarei. Es wäre ihm nicht recht, wenn es der Guillotine ermangelte.
Eine kleine Richtstätte hat ihr Gutes. Was wäre das ewige Amüsement von Paris, ohne eine solche Würze? Das hat unsere Gesetzgebung begriffen und dafür gesorgt, daß die große Harlekinade mit Blut bespritzt wird.
Die Macht von Paris kennt keine Grenzen. Keine Stadt hat wie Paris Diejenigen, die sie beherrschte, verspotten dürfen. »Was thue ich nicht Alles, um von Euch gelobt zu werden, Athener!« rief Alexander der Große. Paris schafft Gesetz, Moden, Sitten und Gebräuche. Paris darf sich, wenn es ihm beliebt, gestatten dumm zu sein; dann macht es ihm das Weltall nach, bis Paris sich eines andern besinnt und dem Menschengeschlecht ins Gesicht lacht. Wunderbare Stadt! Merkwürdig, wie so viel Großartiges und Burleskes sich mit einander vertragen können, wie derselbe Mund heute in die Posaune des jüngsten Gerichts stoßen und morgen die Zwiebelflöte blasen kann! Aber es giebt den Völkern sehr gut mustergültige Karikaturen, wie mustergültige Ideen, Ideale.
Paris hat durch die Erstürmung der Bastille den Erdkreis befreit, durch den Schwur im Ballspielhause die Macht der Monarchie bei allen Nationen gebrochen, in der Nacht des 4. August binnen drei Stunden die tausendjährige Herrschaft des Feudalismus niedergeworfen; es bestimmt vermittelst seiner Logik alle Bestrebungen des Menschengeschlechts, vervielfältigt sich unter allen Gestalten des Erhabenen, erfüllt mit seinem Lichte Washington, Kosciusko, Bolivar, Botzaris, Riego, Bein, Manin, Lopez, John Aroron, Garibaldi; ist mit seinem Geiste bei allen großen historischen Momenten zugegen, 1779 in Boston, bei der Erhebung der Amerikaner gegen die Engländer, 1820 auf der Insel Leon, 1848 in Pesth, 1860 in Palermo; es raunt bei Harper's Ferry den nordamerikanischen Abolitionisten und den in der Herberge Gozzi versammelten Patrioten das gewaltige Wort Freiheit zu; es giebt den Großthaten des Konaris, Quiroga, Pisacane das Entstehen; von seinem Hauch getrieben geht Byron nach Missolunghi, stirbt Mazet in Barcelona. Seine Kunst, seine Wissenschaft, seine Litteratur, seine Philosophie sind maßgebend für die Menschheit; es formulirt alle fortschrittlichen Ideen, alle Freiheitsdogmen, begeistert durch seine Denker und Dichter seit 1789 die Helden aller Völker und dabei ist es doch voller Schalkhaftigkeit und Schelmerei.
Warum aber leistet Paris so überaus Großes? Weil es Wagemuth hat.
Die Fähigkeit zu wagen ist die Vorbedingung jedes Fortschritts.
Alle bedeutenden Errungenschaften der Menschheit sind mehr oder weniger Belohnungen für Kühnheit gewesen. Zur großen Revolution des Jahres 1789 gehörte nicht bloß, daß Montesqieu sie vorausahnte, Diderot den Aufruhr predigte, Beaumarchais eine neue Zeit verkündete, Voltaire und Rousseau systematisch auf die Zerstörung des Alten hinarbeiteten; es mußte auch ein Danton auftreten und die Menge zur Kühnheit entflammen.
Der Ruf: Kühnheit, Kühnheit und noch einmal Kühnheit! ist ein fiat lux! Solcher Unterweisungen im Muthe bedürfen die Völker, damit das Werk des Fortschritts gefördert werde.
Das Pariser Volk ist in geistiger und moralischer Hinsicht wesentlich ebenso geartet, wie die Straßenjugend. Wer diese schildert, lehrt also die Bevölkerung der Stadt kennen.
Die Pariser Rasse ist, so behaupten wir mit Nachdruck, hauptsächlich in den Vorstädten zu finden; hier wohnen die echten, die Vollblutpariser; denn hier arbeitet und leidet das Volk, Arbeiten und Leiden aber sind die Hauptbetätigungen des Menschen. »Hefe der Stadt, Pöbel, Gesindel, Janhagel!« höhnen Viele. Dergleichen Worte sind bald gesagt. Aber was thut es zur Sache, daß die Armen barfuß gehen und nicht lesen können? Darf man sie darum ihrem traurigen Schicksal überlassen, ihnen ihr Elend als ein Verbrechen anrechnen? Kann Aufklärung und Bildung nicht Licht in ihrem Gehirn schaffen? Gewiß! Gehet hin, Ihr Philosophen und lehret öffentlich Eure Weisheit und Wissenschaft und benutzet die Begeisterung für das Wahre und Gute, die in den Lumpenmätzen schlummert, zur Eroberung des Ideals. Werft den gemeinen Sand, den Ihr mit Füßen tretet, in den Hochofen, schmelzt und verarbeitet ihn richtig, so wird er schönes und nützliches Glas werden.
Acht oder neun Jahre nach den im zweiten Theil dieser Geschichte erzählten Begebenheiten, tauchte auf dem Boulevard du Temple und in der Nähe des Chateau d'Eau ein elf- bis zwölfjähriger Junge auf, der das oben entworfene Ideal des Pariser Straßenkindes sehr gut verwirklicht haben würde, hätte es nicht, trotz des Lächelns seiner Lippen, in seinem Herzen völlig düster und öde ausgesehen. Der Kleine trug wohl eine Manneshose; aber es war nicht sein Vater, der sie ihm geschenkt hatte. Er trug auch eine Frauenjacke, aber sie stammte nicht von seiner Mutter. Mitleidige Menschen hatten mit diesen abgelegten Kleidungsstücken seine Blöße gedeckt. Und doch hatte er Eltern. Aber sein Vater bekümmerte sich nicht um ihn und seine Mutter konnte ihn nicht leiden. Er war eines jener besonders bejammernswerten Geschöpfe, die Eltern haben und doch Waisenkinder sind.
Diesem armen Jungen war nie so wohl, als wenn er sich auf dem Pflaster herumtreiben konnte. Die Steine waren nicht so hart gegen ihn, wie das Herz seiner Mutter.
Er sah blaß und kränklich aus, war aber zählebig, behend und munter. Er sang und lärmte viel; durchforschte die Rinnsteine; stibitzte, was er bekommen konnte, aber vergnügt und gemüthlich, wie die Katzen und die Sperlinge; lachte, wenn man ihn einen Lümmel oder Bengel, und wurde wüthend, wenn man ihn eine Kanaille schimpfte. Er hatte kein Obdach, kein Bett, kein Brot, keinen Heerd, Keinen, der ihn liebte; war aber lustig, weil er frei war.
Wachsen dergleichen Unglückliche zu Männern heran, so gerathen sie fast immer zwischen die Mühlsteine der Gesellschaftsordnung und werden zermalmt; aber so lange sie noch klein sind, finden sie leichter ein Loch, wo sie sich verkriechen können.
Aber so herzlos seine Eltern gegen den Jungen handelten, so geschah es doch, daß er alle zwei oder drei Monate einmal bei sich dachte: »Ich muß doch mal sehen, was Mutter macht!« Dann ließ er die Boulevards hinter sich liegen, ging tiefer in die Stadt hinein, über die Seine und trat schließlich in das dem Leser bekannte Gorbeau'sche Haus, Nr. 50 und 52, ein.
Zu jener Zeit hatte dieses Gebäude, vor dem sonst immer der Miethszettel heraushing, mehrere Miether, die, wie dies in Paris immer der Fall ist, in keinen Beziehungen und keinem Verkehr mit einander standen. Alle gehörten zu der ärmsten Klasse, die mit heruntergekommenen Leuten der besseren Stände anfängt und bis zum Straßenfeger und Lumpensammler hinunterreicht.
Die Vicewirtin, die zur Zeit Jean Valjean's hier hauste, war gestorben und durch ein ganz ähnliches Exemplar derselben Gattung ersetzt worden. Fehlt es doch nie an alten Weibern, wie ein Philosoph behauptet hat.
Die neue Alte hieß Frau Burgon und ihr Lebensgang bot nichts Bemerkenswerthes dar, außer einer Dynastie von drei Papageien, die nach einander über ihr Herz geherrscht hatten.
Die Aermsten unter den Bewohnern des Gorbeau'schen Hauses waren vier Personen, Vater, Mutter und zwei erwachsene Töchter, die alle zusammen in ein und derselben Dachstube eingepfercht waren.
Diese Familie hatte nichts Besonderes, als ihre außerordentliche Armuth. Der Vater gab, als er die Wohnung miethete, an, er heiße Jondrette. Später, einige Zeit nachdem die Familie, merkwürdig wenig mit Möbeln beschwert, eingezogen war, sagte Jondrette zu Frau Burgon: »Mutterchen, sollte Jemand kommen und nach einem Polen oder Italiener oder vielleicht auch Spanier fragen, so bin ich Derjenige.«
Das war also die Familie des lustigen Straßenjungen, von dem wir oben sprachen. Hier kam er hin und fand die höchste Dürftigkeit und, was schlimmer war, keinen freundlichen Empfang. Einen kalten Heerd und kalte Herzen. – »Wo kommst Du her?« hieß es, wenn er eintrat. »Von der Straße.« Und auf die Frage »Wo gehst du hin?« antwortete er: »Auf die Straße!« Eine gewöhnliche Frage seiner Mutter lautete: »Was hast Du hier zu suchen?«
Diesen Mangel an Liebe ertrug der Kleine wie die Pflanzen, die im Keller wachsen, den Mangel an Licht. Er gelangte ihm nicht zum Bewußtsein, und er war Niemandem böse darum. Woher hätte er wissen sollen, wie rechte Eltern sind?
Uebrigens liebte die Mutter seine Schwestern.
Wir haben vergessen zu erwähnen, daß man auf dem Boulevard du Temple den armen Jungen den kleinen Gavroche nannte. Warum Gavroche? Weil sein Vater Jondrette hieß?
Es ist, als wären dergleichen Familien mit der Auflösung der blutsverwandtschaftlichen Bande noch nicht zufrieden. Auch der gemeinschaftliche Name wird aufgegeben.
Die Stube der Familie Jondrette war die letzte zu Ende des Flurs. Neben ihnen wohnte ein sehr armer, junger Mann Namens Marius, dessen Bekanntschaft wir jetzt machen wollen.