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Fünftes Kapitel.
Nach einem Vierteljahrhundert


Wenn man, von Europa kommend, den Leuchtturm von Sandy-Hook in der Einfahrt des New Yorker Hafens passiert hat, so breitet sich linker Hand vom Bord des nach New York fahrenden Schiffes Staaten-Island aus, rechts zieht sich Long-Island mit seinen zahlreichen Villen, Parks, Gartenanlagen und Ortschaften hin, während geradeaus die Königin des atlantischen Oceans, das gewaltige New York, soweit der Sehkreis reicht, sein Häusermeer erstreckt, meist in Nebel gehüllt, den die zahllosen Rauchfänge, Kamine und Fabrikschlote über der Stadt ablagern. Geheimnisvoll, gleich einer Perle am Meeresgrund, umschlossen von unscheinbarer Hülle, liegt sie da, ernst, nebelumwogt, schattenhaft, die gewaltige Metropole der neuen Welt, während sich Long-Island im goldigen Sonnenlichte zu baden scheint.

Ganz im Süden Long-Islands, am äußersten Ende einer großen, mit zahlreichen, teils bewohnten, teils unbewohnten Inselchen bedeckten Bai, die durch eine lange, aber schmale Landzunge, einen natürlichen Wall gegen rauhe Winde vollständig geschützt ist, liegt die Villenstadt Canorsie.

Die Häuser, fast lauter zierliche Landhäuschen oder prunkvolle Villen in grüne Gärten gebettet, bauen sich auf der einen Seite eines Hügels auf, der sich in sanfter Neigung zum Strande hinabzieht und alle Unbill der Witterung, die vom Meere ihren Ursprung hat, von den Wohnungen und Gärten wie eine Mauer abhält. Gewaltige Baumriesen, die letzten Überreste des dichten Urwaldes, der einst die ganze Insel bedeckt hatte, stehen noch hier und da in den Straßen und Gartenanlagen. Feiertagsstille herrscht allenthalben, ungestört von dem ewig pulsierenden Leben und Treiben der nahen Weltstadt mit ihrem nie rastenden Gewoge und der Jagd nach Erwerb. Auf der Bai zwischen den Eilanden schaukeln Gigs, Yachten, Klipper, Schooner, Küstenfahrer, Goeletten von elegantester Bauart neben schmucklosen, schwerfälligen Fischerkähnen, die das ruhig geschützte Wasser der Bai häufig beutesuchend durchziehen, und manchen leckeren Fisch auf die Tafel der Bewohner von Canorsie liefern.

Eines Morgens, an einem der ersten Tage des Mai im Jahre 1889, saß ein alter Matrose auf einem Sandhügel am Strande, gegenüber einem der letzten Häuser des Ortes, und besserte mit flinker, kunstgeübter Hand ein Netz aus. Er war so recht das Muster eines alten, wetterharten Seebären, der den Kampf mit den Elementen in allen Meeren und Zonen der Erde durchgefochten hatte.

Der breite Oberkörper mit dem mächtigen Brustkasten saß auf leicht gekrümmten Beinen, sogenannten Seebeinen. Die ganze Gestalt untersetzt und stämmig, mit dem leicht vornüber gebeugtem Kopfe, wiegte beim Gehen, als ob sie selbst auf dem Festlande gegen das ewige Rollen des Schiffes ankämpfen müsse. Ein struppiger Bart, der einstmals blond gewesen, jetzt aber von den Jahren, der Sonne und dem Meerwasser gebleicht, in rostig gelblichen Tönen schimmerte, umrahmte das verwitterte, runzlige Gesicht. Die Oberlippe und das Kinn mochten vor einer Woche rasiert worden sein, denn auf so langes Wachstum deuteten die Stoppeln hin. Eine tiefe Narbe, welche von der Stirn ausging, über das linke Auge lief, verlor sich am Unterkiefer im Barte, den Kopf förmlich in zwei ungleich große Teile spaltend. Das rechte Auge, das einzige, das dem Seemann geblieben, war blau, klein und in ewiger Unruhe. Es machte ganz den Eindruck, als ob es die Sehkraft des verlorenen linken in sich aufgenommen und nun für zwei schauen wollte. Ein dicker goldener Ring hing im Läppchen des rechten Ohres und unter der alten verschossenen schirmlosen Matrosenkappe, drängten sich dünne Haare an der Stirn und den Schläfen hervor.

.

So emsig die Hände mit dem Netze beschäftigt waren, fanden sie doch von Zeit zu Zeit Muße, die Pfeife, die der Seemann fest in den Zähnen hielt, zurecht zu bringen und frisch zu stopfen. Auch wechselte er dann und wann einige Worte mit einem Jüngling, der sich neben ihm im weichen Sande hingebettet hatte und mit gelangweiltem Blicke die großen Zeitungsblätter des »New York Herald« durchflog.

Da ließ der junge Mann plötzlich einen langgezogenen Zischlaut der Verwunderung hören und überlas aufmerksam eine Stelle der Zeitung, die sein Interesse erweckt haben mochte.

»Na, was piepen Sie denn, Herr George? Ist was Besonderes los?« fragte der Matrose, die Pfeife aus dem Munde nehmend.

»Sieh her, Pieter, da lies selbst!« Er erhob sich rasch, reichte dem Seemanne das Blatt hin, auf eine Stelle deutend, die mit besonders großen Lettern so gedruckt war, daß sie jedem Leser sofort auffallen mußte.

Der alte Seemann nahm das Blatt in seine harten, schwieligen Hände, hielt es ungeschickt bald weit ab, bald nahe dem Gesichte und meinte dann verlegen:

»Hm – Sie wissen ja, Herr George – ich sehe nicht mehr gut, und dann – Gedrucktes kann ich so schwer lesen – die Schrift ist immer so niederträchtig klein, so winzig – hm, ja…«

»Na höre mal, die Buchstaben sind doch nicht klein; bald so dick, wie mein kleiner Finger. Sieh sie dir doch mal genau an, diese Riesen.«

»Ja, und gleich fünf Nullen hintereinander und die Fünfe erst; sieht bald aus, wie fünf Millionen. Nicht, Herr George?«

»Nein, das nicht, aber wie eine halbe Million,« erwiderte dieser lachend. »Na gieb her, ich sehe ja, das Lesen ist deine starke Seite nicht, Pieter. Ich will's dir vorlesen.«

»Da haben Sie mal den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich kann nämlich gar nicht lesen.«

»Das hättest du auch gleich sagen können. Na, höre jetzt zu!«

Der junge Mann nahm die Zeitung wieder an sich und las laut:

 

» 500 000 Dollars Belohnung!

werden demjenigen sofort ausbezahlt, der genaue Daten über den Verbleib eures gewissen Richard Werner geben kann, der sich am 29. September 1862 mit seinem Sohne Paul auf dem Dampfer ›Grant‹ eingeschifft hat und seither, ebenso wie der Sohn, verschollen ist. Alle Mitteilungen sind zu richten an: Mstr. Atkins, Oil-City. Penn. U. S. o. A

 

»Nun, was sagst du dazu?« fragte George, »eine halbe Million Dollars Belohnung.«

Der alte Matrose hörte die letzten Worte nicht mehr. In tiefes Sinnen versunken, starrte er vor sich hin und murmelte:

»Grant…, Werner…, Richard…, Paul Werner…«

»Was brummst du denn immer vor dich hin?«

»Ich kenne die Namen dort, Richard Werner, den kleinen Paul. Oh, ich kenne sie sehr gut und kannte ihre Träger.«

»Was, du kennst sie?« fragte George, wie elektrisiert. »Woher?«

»Ich war an Bord des ›Grant‹ als er schiffbrüchig wurde, vor bald siebenundzwanzig Jahren.«

»Was, du? Und davon hast du niemals etwas erzählt?«

»Ich bin es gewesen, der den armen Richard Werner und seinen Jungen rettete. Es war ein netter strammer Bengel.«

»Warum hast du die Sache nie erwähnt, während du doch sonst manchmal nicht wußtest, wo du den Stoff zu einem Garn hernehmen solltest?«

»Ich…, ich…, ich hatte die Geschichte vergessen! Ganz und gar vergessen!«

»Vergessen, wenn man zwei Menschenleben gerettet hat, das begreife ich nicht. Ich würde an so etwas immer und immer wieder denken und mich stets meiner That freuen!«

»Ja, Sie, Herr George. Aber unsereiner! Wie kann der immer all der Leute gedenken, die er mal bei irgend einer Gelegenheit, irgendwo, zu irgend einer Zeit aus der Patsche gezogen hat. Da müßte man ja ein Gedächtnis haben wie eine Teertonne.«

»Wie vielen du wohl beigestanden hast. Z. B. dem Oheim.«

»Schweigen Sie davon, Herr George!«

»Gut; aber mit diesen Werners, sage doch, was war's mit ihnen?«

»Also fünfmalhunderttausend Dollars sagen Sie…?«

»Ja, eine Belohnung in dieser Höhe ist dem zugesagt, der Näheres über die Gesuchten weiß. Aber willst du mir nicht…?«

»Hm, viel Geld, ein gewaltig Stück…!«

»Willst du es verdienen?«

»Warum nicht? Ich kann ja Angaben machen, wie vielleicht kein anderer mehr auf dieser Welt.«

»Ach bitte, erzähle mir doch endlich die Geschichte.«

»Nein, Herr George, das geht nicht. Erst muß ich mit Ihrem Oheim, dem Herrn Kommandanten darüber sprechen.«

»Das kannst du ja immer noch thun, später.«

»Nein, nein, erst der Herr Kommandant, dann Sie.«

»Wenn ich dich nun aber bitte! Du weißt ja, wie verschwiegen ich bin. Ich sage es gewiß niemand weiter.«

»Es thut mir herzlich leid, Ihnen die Bitte abschlagen zu müssen, aber es bleibt dabei!«

»Dann behalte dein Geheimnis für dich, alter Brummbär. Ich ärgere mich und schließlich steckt gar nicht mal was Besonderes dahinter.« George versuchte aus diese Weise den Seemann zum Sprechen zu bringen, verfehlte aber den Zweck seiner Absicht vollkommen, denn achselzuckend entgegnete der Matrose:

»Kann sein. Es handelt sich um den Herrn Kommandanten und mich und ehe ich nicht mit diesem gesprochen, kein Wort. Sie brauchen aber nicht böse zu sein und sich den Kopf zu zerbrechen, erfahren werden Sie doch alles in kürzester Zeit, da ich sogleich zum Herrn Kommandanten gehe.«

»Was willst du denn beim Kommandanten, alter Junge?« fragte plötzlich eine sonore Stimme.

George und der Matrose blickten sich überrascht um, wohl auch etwas verlegen durch das plötzliche Erscheinen einer dritten Person und gerade der, mit welcher sie sich eben lebhaft beschäftigt hatten.

Der, welcher das Gespräch unterbrach, war ein Mann von ungefähr fünfzig Jahren. Von mittlerer Größe, doch schlank, hatte der Körper seine Jugendfrische, seine Geschmeidigkeit und Kraft bewahrt. Die scharfen, ausdrucksvollen Gesichtszüge, sein energischer Blick, der zu Zeiten hart bis zur Unbeugsamkeit sein konnte, zusammen mit der kurzen Sprechweise und dem befehlenden Ton, riefen bei allen, die in seine Nähe kamen, ein Gefühl der Furcht hervor, das erst bei näherer Bekanntschaft schwand. Ein mildes, gütiges Lächeln, das zeitweilig sein Gesicht überstrahlte, ließ erkennen, daß in der rauhen Schale ein goldener Kern verborgen lag, fähig aller edleren Gefühle.

Es war Kapitän Parr, derselbe Offizier, den wir auf dem ›Grant‹ kennen gelernt haben. Beim Untergang des erbeuteten Schiffes von dem deutschen Dreimaster »Möve« gerettet, ließ er sich mit seiner Mannschaft in Kuba ans Land setzen und erreichte von dort aus, nicht ohne Abenteuer, Mühseligkeiten und Gefahren, die Flotte der Südstaaten im Golf von Mexiko. Bald darauf vertraute ihm die Regierung der konföderierten Staaten trotz des Mißerfolges des ersten Unternehmens das Kommando eines Kaperschiffes an, und seitdem galt Parr für einen der unerschrockensten und gefährlichsten Gegner der feindlichen Marine, auf dessen Unschädlichmachung große Preise ausgesetzt waren, ohne daß sie zur Auszahlung hätten gelangen können. Nach der Kapitulation der letzten Südtruppen, bei Kirby Smith und der Gefangennahme des Präsidenten der Südstaaten, Jefferson Davis, wodurch der amerikanische Bruderkrieg beendet war, hatte auch Kapitän Parrs Thätigkeit ihr Ende erreicht, da er den hohen Posten, den ihm die Admiralität anbot, ausschlug und den Dienst quittierte. Der gewissenhafte Mann wollte nicht dem Beispiele vieler seiner früheren Kameraden folgen und dem Lande dienen, das er kurz vorher bekämpft hatte.

Bald bereute er den Entschluß, der ihn zur Unthätigkeit zwang, die er, seitdem er denken konnte, verdammt hatte. Er sehnte sich nach dem abwechslungsreichen, aufregenden Leben auf See, die er mit jeder Faser seines Herzens liebte. Das Heimweh nach dem Meere, – eine Krankheit, die nur Seeleute kennen, – ergriff ihn, und ließ ihn nicht mehr los, bis er sich entschloß, nochmals die Meere zu durchkreuzen. Er trat in den Dienst einer großen Schiffahrtsgesellschaft, deren Dampfer er nach Ostindien führte. Eines Tages ward er auch dieser Thätigkeit müde, die ihm denn doch zu eintönig erschien, da sie ihn immer dieselbe Strecke zu durchfahren, dieselben Häfen anzulaufen zwang. So faßte er denn den Entschluß, aus dem Dienste zu scheiden. Er erstand in der kleinen Stadt Canorsie eine reizende Besitzung, die ihm den Ausblick auf die noch immer geliebte See gestattete und setzte sich nun endgültig zur Ruhe. Wenn er sich nicht aus seiner eleganten Yacht befand, die unweit seines Hauses im klaren Wasser der Bai fest verankert schaukelte, vertrieb er sich die Zeit mit dem Studium von Büchern und Zeitschriften, die alle von demselben Gegenstand, dem Meere, handelten.

Als der Matrose die Frage des Kapitäns nicht sofort beantwortete, wurde dieser ungeduldig und wiederholte nochmals: »Nun, Pieter, was hast du mir zu sagen?« George antwortete für den Gefragten:

»Er hat dir ein Geheimnis anzuvertrauen, das sich auf diese Anzeige hier bezieht!« Damit reichte er dem Oheim das Zeitungsblatt, auf die Ankündigung zeigend.

Parr nahm das Blatt und überlas rasch die Zeilen. Dann rief er plötzlich wie erschreckt: »Beim Untergang des ›Grant‹ verschwunden! Was soll denn das heißen? So viel mir bekannt, wurden nur fünf Matrosen über Bord geschwemmt, sonst ist mir von keinem Verlust beim Schiffbruche des ›Grant‹ etwas bekannt.«

»Entschuldigen Sie, Herr Kommandant, darüber kann ich bessere Auskunft geben.«

»Du, wieso, was weißt du davon?« meinte dieser verwundert.

»Soviel als jemand wissen kann, der sich beim Schiffbruch an Bord des ›Grant‹ befand.«

»Du?!«.

»Jawohl, Herr Kommandant, ich, Pieter Koopmann!«

»Davon hast du mir aber nie etwas gesagt.«

»Nein, Herr Kommandant.«

»Und darf ich fragen, warum?«

»Weil… weil… der Unfall…«

»Was soll das Zögern und Stottern, du weißt, das liebe ich nicht, heraus mit der Sprache!« fiel ihm Kapitän Parr rauh ins Wort.

Der alte Matrose warf einen bezeichnenden Blick auf George und schwieg.

»Ach so, ich verstehe, so komm denn. Du, George, magst inzwischen deine Zeitung hier weiter lesen und uns später ins Haus folgen!«

Der junge Mann konnte eine Regung des Unwillens nicht verbergen, hatte er doch bestimmt darauf gehofft, der Unterredung beiwohnen zu dürfen, und das Geheimnis zu erfahren, das ihn in die gespannteste Neugierde versetzte.

Gefolgt von Pieter, wandte sich der Kapitän dem Hause zu. Halb Villa, halb Schlößchen, lag es an einer kleinen Anhöhe auf einem hervorspringenden Punkte der Küste, umgeben von einem nicht großen, aber prächtig gehaltenen, im frischen Blumenschmuck prangendem Garten, aus dem zwei breite Marmortreppen ins Innere des Hauses führten. Ausblicke auf die benachbarte Inselwelt und die Bai waren zahlreich vorhanden.

Parr durchschritt rasch den Garten, erstieg die Marmortreppe und trat in sein Arbeitskabinett ein. Es war dies ganz im Stile einer Kapitänskajüte eingerichtet, enthielt zahlreiche Waffen, seltene Tiere in Gläsern und Glaskästen, Gebrauchsgegenstände fremder Völker und vieles andere mehr, das der Kapitän auf seinen Reisen gesammelt hatte. Es war ein Museum im Kleinen, doch trotz der Menge der aufgespeicherten Kuriositäten anheimelnd gemütlich und ebenso zum Studium, wie zur Ruhe einladend.

Parr nahm auf einem Schaukelstuhle Platz, in der Nähe eines großen Fensters, das eine herrliche Fernsicht über die sonnige Bai gewährte, und gab dem alten Matrosen ein Zeichen, sich eines der vielen Holzstühle zu bedienen, die im Zimmer verteilt waren. Der Alte blieb aber stehen, seine Mütze verlegen in den Händen drehend und sich leise räuspernd, als ob er seine Stimme für das Kommende präparieren wollte. So entstand eine längere Pause.

»Na vorwärts, altes Haus. Ich bin ganz Ohr!« mahnte endlich der Kapitän etwas ungeduldig.

»Ich weiß nicht recht, Herr Kommandant, wo ich beginnen soll,« meinte der andere verlegen.

»Beim Anfang! Erzähle mir kurz und bündig, was du vom ›Grant‹ weißt und wie du auf ihn gekommen sein willst!«

»Wirklich gekommen, Herr Kommandant. Also: bitte hören Sie! Ich kam mit dem Bremer Vollschiff ›Arminius‹ nach New York, nachdem wir fast ein Jahr lang südamerikanische Häfen besucht und Frachten von einer Seestadt zur andern gebracht hatten. Unser Kapitän, Lindrob hieß er, trank gerne mal über den Durst und war dann ein richtiger Stänkerer, dem es kein Mensch recht machen konnte. Flüche, Schimpfwörter und selbst Schläge regneten nur so, wenn er sich in seinem gewissen Zustande befand. Einige von unseren Deckhänden waren deshalb bei günstiger Gelegenheit ausgerissen, hatten aber dabei ihren Lohn eingebüßt. Mir juckte es auch in allen Gliedern auszukneifen, ich hatte aber keine Lust, meine Heuer zu verlieren, die ich dem Trunkenbolde nicht lassen wollte. Deshalb wartete ich sehnsüchtig auf New York, wo ich abmustern konnte. Ich war damals ein Hitzkopf, der sich nicht leicht was bieten ließ, ohne zu widerreden, und hatte dadurch manchen Streit mit dem Kapitän, der mich die erste Bekanntschaft mit den Ketten machen ließ. Na, alles nimmt mal ein Ende. So waren wir endlich in New York und ich, heidi, los. Ich kreuzte, ohne lange zu zögern, in der Stadt rum und kam erst spät wieder an den Hafen, dann aber abgebrannt wie ein Stoppelfeld im Herbste, wie man in meiner Heimat sagt. Keinen vertrockneten Cent hatte ich mehr in der Tasche. Da erfuhr ich beim Heuerbas, daß der ›Grant‹ Leute brauchte. Ich natürlich sofort an Bord. Da gab's kein langes Fragen und ich war angenommen. Das war mir sehr gelegen, denn ich wollte von Amerika nichts wissen, sondern nach Deutschland zurück und brauchte, da der ›Grant‹ mit Dampf fuhr, nicht auf einem langweiligen Segler mit dem Winde zu fahren und Zeit zu verlieren. In Liverpool, wohin der ›Grant‹ bestimmt war, hoffte ich bald Gelegenheit zur Überfahrt nach Hamburg oder Bremen zu finden. Am nächsten Morgen kamen die Passagiere an Bord, die Anker wurden gelichtet und schließlich ließen Sie sich noch ranrudern, ehe wir aus dem Hafen ganz draußen waren. Aber aus der Ankunft in England oder gar in Deutschland wurde nichts. Wie Sie den Dampfer nahmen, den Kapitän und die Offiziere überrumpelten, das brauche ich Ihnen wohl nicht zu erzählen…«

Der Kapitän lächelte leicht, an seine That denkend. Der Matrose fuhr fort:

»Es ging alles glatt und – heute kann ich es Ihnen sagen – ich hatte ein großes Stück Respekt vor Ihnen bekommen und mußte heimlich lachen, wenn ich an das Gesicht des gefesselten Kapitäns Longway dachte, das der in seiner Kajüte wohl aufgesteckt haben mochte. Denn mir war es ganz gleichgültig, ob ich dem Norden oder dem Süden diente, wenn ich meine Heuer nur richtig ausbezahlt erhielt. Als Sie uns aber ankündigten, daß wir nicht nach Europa, sondern nach dem Süden führen, das ging mir gegen den Strich und fuchste mich fürchterlich. Ich äußerte deshalb zu einem Kameraden: ›Wenn man wollte, könnte man doch…‹ und darüber sind Sie ganz wild geworden und schickten mich ins Eisen.«

»Das warst du, du Pieter Koopmann?« unterbrach ihn aufs höchste verwundert Kapitän Parr.

»Ach, mein armer alter Pieter. Ich glaubte immer, dich nie bestraft zu haben!«

»Nur das eine Mal, damals aber gründlich!«

»Wir sind seitdem zusammen alt geworden, guter Freund!«

»Alt und grau, aber noch lange nicht morsch und wrackig.«

Um dies zu bekräftigen, schlug sich Pieter mit den geballten Händen auf die breite Brust, daß es nur so dröhnte.

»Gut, Pieter, doch komme zur Sache.«

»Gleich, Herr Kommandant. Ich lag also im Eisen. Am ersten Tage ging die Sache noch ganz gut, wenn man davon absieht, daß der Boden verdammt wenig Ähnlichkeit mit einem Federbett hatte und meine Füße krabbelten, als ob sie in einem Ameisenhaufen steckten, aber ich konnte mich ausruhen, brauchte nicht zu arbeiten, schlief daher in einem fort. Am zweiten Tage fing die Geschichte an, mich zu langweilen. Dann war's so finster in dem engen Loche, daß Tag und Nacht gleich waren und ich schließlich nicht mehr wußte, ob's Morgen oder Abend, ob ich schlafen oder wachen sollte. Nur die Ratten hörte ich immer rumspazieren. Das freche Ungeziefer turnte um mich herum, sprang über meine Beine und ich mußte es mir gefallen lassen, daß sie an meinen Schuhen zu knappem anfingen, die ich glücklicherweise anbehalten hatte. Dabei rollte das Schiff in unverschämter Weise, mich hin und herbeutelnd, wie ein schlecht verstautes Stückfaß. Ich hatte Mühe, mich in meiner Lage zu erhalten und manches Mal verging mir geradezu hören und sehen. Dabei krachte der Kasten in allen Fugen, daß ich glaubte, jetzt ist Matthäi am letzten, jetzt geht er aus dem Leim. ›Aha,‹ dachte ich schadenfroh, ›da scheint's ja ganz nett zu blasen, denen an Deck ist lange nicht so behaglich, wie mir hier, wohlgeborgen und im Trocknen.‹ Trotz diesem Trost wär's mir aber doch lieber gewesen, mein Gesicht vom Regen und Meerwasser waschen zu lassen, als in dem Loche gerüttelt zu werden, wie ein Sack, der ausgeschüttet wird. Dann fing auch mein Magen zu knurren an und zu quälen nach Essen, denn wohl zwei Tage war er leer und niemand hatte daran gedacht, mich zu füttern. Ich rief, ich schrie endlich brüllte ich, bis ich stockheiser war, aber nichts rührte sich, um mir zu helfen.«

»Armer Kerl,« murmelte bedauernd der aufmerksame Zuhörer.

»Ich weiß nicht, wie lange die Geschichte gedauert hatte und ich so fluchend und hungernd gelegen haben mochte, als ich auf einmal eine merkwürdige Kühle an meinem Rücken spürte und deutlich fühlen konnte, wie sie höher und höher an mir emporstieg. Es war Wasser, salziges Wasser und da, Herr Kommandant, da – ich müßte lügen, wenn ich's leugnete – bekam ich Angst, wirkliche herzbeklemmende Angst.«

»Ich glaub's, armer Teufel, Grund genug war vorhanden.«

»Ich schrie wie ein Besessener, wenn ich auch wußte, daß es nutzlos sei, denn oben konnte mich keiner hören und dann hatten die auch alle Hände voll zu thun. Aber bald darauf meldete sich zu meiner Freude eine Stimme an der Thüre meines Gefängnisses. Nach einiger Zeit, die nur wenige Minuten dauerte, mir aber eine Ewigkeit schien, da das Wasser mir schon bis an die Schultern ging, wurde die Thüre mit einer Brechstange bearbeitet. Ein Krach, sie ging in Trümmer und bald war ich befreit. Es war aber auch die allerhöchste Zeit… eine Stunde später und Pieter wäre niemals nach Canorsie gekommen! Ohne mir meinen Retter auch nur anzusehen, stürzte ich aufs Deck hinauf. Das Schiff war verlassen! Es sank mit Schnelligkeit. Der Kapitän, die Mannschaft, die Passagiere, Mann und Maus, alle fort, verschwunden, niemand an Bord als ein kranker Mann, ein Kind, ich und die Ratten.«

»Was, ein Kranker, ein Kind wären damals auf dem ›Grant‹ geblieben?« schrie Parr ganz entsetzt von seinem Stuhle aufspringend.

»Ja, Herr Kommandant, und ich auch noch.«

»Entsetzlich!« stöhnte der Kapitän. »Aber weiter, weiter!«

»Zum Glück war ein unbeschädigtes Boot vorhanden. In dieses stiegen wir drei und fuhren auf das weite Meer hinaus.«

»Wer waren die beiden andern?«

»Richard Werner und sein Sohn Paul, ein Kind.«

»Die beiden, denen der Aufruf im ›New York Harald‹ gilt? Schrecklich!«

»Ja dieselben.«

»Warum hast du mir in den vielen Jahren unseres Beisammenseins nie etwas von der Sache erzählt?«

»Das weiß ich selbst nicht so recht!«

»Hattest du daran vergessen?«

»Nein, Herr Kommandant. Solche Stunden der Todesangst, die man für sich selbst und noch andere unbehilfliche Wesen, für die man denken und handeln muß, ausgestanden hat, vergißt man niemals! Aber man will…«

»Nun, was will man! Heraus mit der Sprache endlich.«

»Wenn es sein muß, so sei es denn! Sehen Sie, Herr Kommandant, als ich damals allein mit den beiden Unglücklichen an Bord des Wrackes stand, das jeden Augenblick in die Tiefe sinken und uns mit hinabzerren mußte; als ich zu denken gezwungen war, daß wir gegen jede Menschlichkeit treulos verlassen, von Ihnen verlassen wurden, der Sie die Pflicht hatten, als letzter von Bord zu gehen, nicht früher als bis jede Seele in Sicherheit gebracht war, da that ich das Gelöbnis: Sollte ich noch einmal im Leben mit Ihnen zusammenkommen, dann wollte ich Ihnen die Stunde heimzahlen mit Zins und Zinseszins! Ja, Herr Kommandant, und deshalb…«

»Hast du mir bei der ersten Gelegenheit das Leben gerettet!«

»Ich that's nicht deshalb, es war Christenpflicht. Hätte ich aber gewußt, daß Sie es wären…«

»Ich sehe aber noch immer nicht ein, warum du nicht trotzdem mit mir vom ›Grant‹ sprachst.«

»Richtig. Sobald ich damals wußte, daß Sie es waren, den ich gerettet hatte, war es auch mit meinem Haß gegen Sie vorüber. Es war, als ob nie ein solcher bestanden hätte. Ich hatte Sie als Offizier schätzen gelernt, und als ich mir gar erst den Kopf für Sie spalten ließ, da war es, als ob ich nicht mehr ohne Sie leben könnte, und Herr Kommandant, ich kann's auch nicht, und wenn Sie mich mal fortjagen und ich Sie und Herrn George nicht mehr haben sollte…«

Parr trat an den Erzähler heran, ergriff gerührt seine Hand, die er kräftig schüttelte.

»Vorläufig wollen wir noch einige Jährchen zusammenbleiben, Alter! du hast, wenn ich recht verstanden habe, nichts von der Sache erzählt, weil du mir die Aufregung ersparen wolltest!«

»So ist's. Ich weiß, daß Sie gut und edel sind und hätte Ihnen Kopfschmerzen mit der Erzählung gemacht, die ja doch ein gutes Ende gefunden hat. Ich hätte sie auch mit ins Grab genommen, wenn nicht der Aufruf in der Zeitung erschienen wäre.«

»Recht war's aber doch nicht, Pieter! Das Gefühl, das dich geleitet hat, ehrt dich, und es freut mich, deine Liebe und Treue nochmals bestätigt zu finden… laß mich aussprechen, ich bin ein Mann, der keine leeren Schmeicheleien sagt. Aber ich habe ein schweres Unrecht begangen, das ich hätte gut machen können, wäre ich früher, vor Jahren schon, davon in Kenntnis gesetzt worden. Selbst mußte ich die Räume des ›Grant‹ untersuchen, bevor ich ihn verließ, anstatt diese Aufgabe einem andern anzuvertrauen und seinen Worten Glauben zu schenken. Es war eine unverzeihliche Nachlässigkeit, die ich büßen werde, so lange, bis ich ihre Folgen ausgeglichen habe, wenn dies noch im Bereiche der Möglichkeit liegt. Nun fahre in deiner Erzählung fort.«

»Zwei Tage irrten wir im Boote auf dem Ocean umher, dann nahm uns ein Norweger auf. Er war auf der Fahrt nach Bombay. Beim Kap überfiel uns ein Sturm. Das Befinden Richard Werners, der ohnehin schon mit einem Fuße im Grabe stand, verschlimmerte sich dadurch derart, daß der Kapitän uns drei in Port Natal ans Land setzen ließ. Teils weil ich das Kind nicht verlassen wollte, das mir ans Herz gewachsen war, teils weil ich glaubte, dort leicht ein Schiff zur Heimreise zu finden, blieb ich bei Werners, trotzdem ich an Bord hätte bleiben können. Herr Werner, schon unfähig zu gehen, ließ sich in ein Hotel tragen und ich, sein Retter, wie er mich immer nannte, mußte mit. Ich bekam ein feines Zimmer, ne richtige Admiralskajüte, mit nem großen Bett, fein, wie für 'nen Prinzen und das Essen erst…, erste Kajüte Salondampfer. Prächtig war's! Das war alles zu schön, um lange dauern zu können. Richtig wurde der Wein bald Essig, strammer Essig, brrrr! Der alte Werner ließ mich so eines schönen Morgens zu sich kommen. Er lag im Bett, weiß wie sein Kissen, mager, daß der Mond durch seine Wangen scheinen konnte und Hände hatte er, wie die Spinnweben, dabei kühl, nein so recht kalt, wie sich ein toter Fisch anfühlt. Er winkte mich zu sich und ich mußte mich zu ihm hinunterbeugen, denn mit dem Sprechen war's schon nicht mehr zum Besten bestellt. Er zeigte mir eine schwarze Ledertasche, die er unter dem Kopfkissen hervorgeholt. ›In dieser,‹ sagte er mit leiser, kaum verständlicher Stimme, ›sind meine und meines Sohnes Pauls Papiere, Dokumente von großer Wichtigkeit und fünftausend Dollars. Das Geld ist für Euch, möge es Euch Glück und Segen bringen, für das, was Ihr an uns gethan. Die Papiere aber nehmt an Euch, bringt sie mit meinem Paul nach Amerika und übergebt, Kind und Dokumente an…‹ Da schauerte er… na… es war vorüber!«

»Armer Mann,« sagte Kapitän Parr leise. »Und sein Sohn?«

»Hören Sie weiter. Der Kleine weinte so bitterlich, daß es mir ins Herz schnitt. Ich bot alles auf, um ihn zu trösten, doch wollten meine Worte nicht recht verfangen. Ich blieb immer bei ihm, was ihn am meisten zu freuen schien. Im Hotel sagte man mir, daß ich den Todesfall beim amerikanischen Konsul anmelden müsse. Ich trollte dorthin. Der Konsul war abwesend, so empfing mich sein Sekretär. Ich erzählte ihm die ganze Geschichte und – ich Esel – auch von der Ledertasche und den Papieren. ›Die muß ich sehen‹, sagte der Sekretär, der mir gerade nicht besonders gefiel. Ich ins Hotel zurück und meine Tasche geholt. Vorher nahm ich das Geld heraus. Hatte ich doch das Recht dazu, da es mir der Tote geschenkt hatte. Der Sekretär las jedes einzelne der Dokumente genau durch, verschloß dann die Tasche und die Papiere in seinem Schreibtische. ›Nein, Herr,‹ sagte ich ›die Papiere muß ich haben.‹ ›So,‹ antwortete der höhnisch, ›das wollen wir erst untersuchen. Wo ist denn das Geld, das in der Ledertasche war?‹ ›Welches Geld?‹ ›Nun, das aus der Ledertasche.‹ ›Das, mein lieber Herr, ist nicht Ihre Sache; das Geld hat mir der Verstorbene gegeben und ich behalte es auch.‹ Hu, was der Sekretär für Augen machte, als er mich anblaffte: ›Heraus mit dem Gelde, du Schurke, du hast es gestohlen!‹ Das war mir aber doch zu stark. Das Blut schoß mir zu Kopfe, mir flimmerte es vor den Augen, meine Fäuste ballten sich. ›Warte, Junge, den Dieb sollst du mir bezahlen!‹ Ich los auf die Heuschrecke, na – und der Faustschlag war nicht von schlechten Eltern. Er schrie wie ein Besessener: ›Räuber, Mörder, Diebe!‹ und rannte von einer Ecke des Zimmers in die andere. Fünf oder sechs Kerle stürzten nun herein, warfen sich auf mich, rissen mich zu Boden, durchsuchten meine Taschen, nahmen mir das Geld ab und schleppten mich ins Gefängnis. Ein elendes Hundeloch, heiß wie ein Backofen und eng, daß ich, der ich doch wirklich kein Riese an Körpergröße bin, kaum aufrecht stehen konnte. Da blieb ich zwei Tage und Nächte, ehe man mich wieder frei ließ. Man hätte sich getäuscht, ich sei unschuldig und könne gehen, war die ganze Entschuldigung. Ich sofort wieder aufs Konsulat. Dem Herrn Sekretär wollte ich im Vertrauen ein paar spaßige Worte erzählen, mit Mund, Herz und Hand. Dort erfuhr ich, daß der Spitzbube das Weite gesucht, die Dokumente und mein Geld hatte er nicht mitzunehmen vergessen. Von einer Verfolgung konnte keine Rede sein, da er sich ins Innere Afrikas gewandt hatte. Jedenfalls sei die Polizei benachrichtigt, sagte man mir, Erfolg aber kaum zu erwarten. Da wars nun aus; aus mit meinem Gelde, meinen Zukunftsträumen. Hin ist hin, dachte ich. Nun ins Hotel. Während meiner Gefangenschaft hatte mich der Gedanke an das hilflose Kind gequält und richtig erfüllten sich meine bösen Ahnungen. Nach meinem Weggange aus dem Hotel war auch Paul auf die Straße geeilt und seitdem nicht wieder zurückgekehrt. Ich durchlief die ganze Stadt, jeden Winkel suchte ich ab, jeden, der mir Auskunft hätte geben können, fragte ich, doch vergebens – der Knabe war und blieb verschwunden, als ob ihn die Erde verschluckt hätte. Alle Schiffe im Hafen wurden von mir abgeklopft vom Dreimaster bis zum Fischerboot, nichts! Endlich nach vier Tagen, als der alte Werner längst im Armenwinkel des Kirchhofes eingescharrt war, erhielt ich einen Fingerzeig. Eine Gesellschaft protestantischer Missionare hatte auf der Reise nach dem Innern die Stadt passiert und einer von ihnen soll einen kleinen Knaben, der allein auf der Straße herumgeirrt, mit sich genommen haben. Weiteres erfuhr ich nicht; keinen Namen, keinen Bestimmungsort. Mein erster Entschluß, sofort den Missionaren nachzureisen, erwies sich leider als unausführbar, da mir auch nicht ein Heller Barschaft geblieben war und man zum Reisen in Afrika, wie überall Geld und wieder Geld gebraucht.«

»Auch später hast du nichts mehr von der Waise gehört?«

»Nie mehr. Kein Sterbenswörtchen. Ich kam auch seitdem nicht wieder nach Natal, so oft ich auch Gelegenheit dazu suchte.«

»Und was wurde aus dir?«

»Ich ließ mich auf ein Schiff heuern, das nach Boston bestimmt war, und wäre auch gut dorthin gekommen, wenn uns nicht ein Kaper der Südstaaten abgefangen hätte.«

»Wohl die ›Georgia‹?«

»Die uns auf den ›Räuber‹ brachte.«

»Den ich kommandierte und mit dem ich den ›Donner‹ nahm.«

»Das war ein heißer Tag, Herr Kommandant…«

»Der mich das Leben gekostet hätte, wenn du, Pieter, den Schlag des Enterbeils nicht mit deinem Kopf aufgefangen hättest.«

»Na, lassen wir die alten Geschichten ruhen – es ist Gras darüber gewachsen und mein Schädel längst wieder heil, wenn auch nicht mehr so schön, wie er früher war. Schnurrig war's doch, als mir zum erstenmale der Verband abgenommen wurde. Sie an meinem Bette standen, mir die Hand reichten und herzlich dankten… gerade Sie, an dem ich mich rächen wollte. Sprechen wir nicht mehr davon!«

»Gut. Bleiben wir bei der Hauptsache. Man bietet also demjenigen fünfmalhunderttausend Dollars, der Auskunft über den Verbleib von Richard Werner und seinen Sohn Paul Werner erteilen kann. Wie mir dünkt, bist du wohl hierzu besser geeignet, als irgend ein anderer. Die Neugierde, die diesen Aufruf veranlaßt, muß jedenfalls einen tiefen Grund haben, denn die Belohnung ist eine ganz ungewöhnlich hohe. Gleich eine halbe Million! Tausend noch mal. Wie heißt denn eigentlich der Wißbegierige?« Parr nahm nochmals die Anzeige zur Hand.

»Atkins, und wohnt Oil-City in Pennsylvanien. Vielleicht giebt uns der hier stehende Artikel Aufschlüsse über die Gründe seiner noblen Handlungsweise.«

Kapitän Paar las laut den Nachsatz vor, der sich an die Ankündigung schloß und den ein findiger Reporter der Zeitung verfaßt hatte.

»Herr Edward Atkins, der Vetter und einzige Erbe der verschollenen Werner, Vater und Sohn, hat das Gesuch eingereicht, ihm die auf zwanzig Millionen Dollars geschätzte Hinterlassenschaft der Genannten auszuhändigen. Der Gerichtshof lehnte jedoch kurzer Hand diesen Antrag mit der Begründung ab, daß weder der Tod der beiden Werner erwiesen sei, noch daß der Antragsteller als einziger Erbe anerkannt werden könne, so lange er dies nicht bewiesen habe. Es sei ihm daher vorerst anheim zu stellen, die Totenscheine der Verschollenen beizubringen, worauf man sofort die Sachlage prüfen und nach Recht entscheiden werde.«

»Nun weiß ich, was ich wissen will,« erklärte Kapitän Parr.

»Dieser Edward Atkins sucht die Beweise vom Tode oder Leben seiner Verwandten, entweder, um sie zu beerben oder um ihnen ihr Eigentum, ein fürstliches Vermögen, zurückzugeben. Beerbt er sie, dann kann er von zwanzig leicht eine halbe Million zahlen. Fallen ihm ja noch immer neunzehnundeinhalb Millionen in den Schoß. Finden sie sich aber, dann zahlen die Angehörigen und nicht er die Summe aus. Eines aber ist mir noch unklar. Sagtest du nicht, daß dir auch von jenem Konsularbeamten in Natal die Papiere genommen wurden, Pieter?«

»So ist es, Herr Kapitän! Alle hat er mir geraubt, nicht einen Lappen behielt ich zurück.«

»Ich kann es mir nun gar nicht erklären, warum der spätere Besitzer der Papiere in den zwanzig und soviel Jahren niemals den Versuch gemacht hat, sich mit ihrer Hilfe einen Vorteil zu verschaffen. Weshalb raubte er sie denn?«

»Woher wissen Sie denn, Herr Kapitän, daß er nichts dergleichen gethan hat?« fragte Pieter.

»Das liegt doch klar auf der Hand. Hätte er die Papiere zu seinem Nutzen verwendet, dann wären sie doch zuerst dem vorgelegt worden, der das Vermögen der Werner in Händen hat, also Atkins. Wäre dieser vom Verbleib der Dokumente unterrichtet, dann müßte er auch wissen, daß Richard Werner gestorben ist und er nur den jungen Werner, nicht aber den Vater zu suchen hätte.«

»Das kann richtig sein.«

»Es ist richtig, du kannst es mir glauben. Klar ist die Geschichte deshalb noch lange nicht, doch läßt sich das Rätsel durchs bloßes Philosophieren kaum lösen. Willst du nun den Versuch machen, die schöne Belohnung zu verdienen?«

»Bramsegel und Klüverbaum, warum denn nicht, Herr Kommandant. Ist doch nen Versuch wert, so'n Sack voll Dollars einzuheimsen! So viel hab ich im ganzen Leben noch garnicht beisammen gesehen!«

»Das will ich dir glauben, alter Bursche! Ich werde dir dabei behilflich sein, soweit ich es vermag. Es ist dies nichts weiter als meine Pflicht. Trage ich doch die Hauptschuld an allem, was sich ereignet. Wenn ich auch den Tod von Richard Werner nicht direkt auf dem Gewissen habe, so hat doch meine Nachlässigkeit ihn jedenfalls beschleunigt und ich bin die Veranlassung, daß sein Sohn Paul sich nicht im Besitze seines Vermögens, befindet. Was in meiner Macht steht, das Unheil, daß ich unwissentlich heraufbeschworen, gut zu machen, will ich thun, keine Mühe, kein Opfer hierfür scheuen. Das erste ist jedenfalls, dir die Möglichkeit zu geben, dich mit Atkins auszusprechen. Auf deine Mitteilungen hin, kann er dann forschen und will es Gott, auch den armen Paul finden. Jetzt, Pieter, heißt es, Herrn Edward Atkins aufsuchen und dies unverzüglich!«

»Ich bin ganz zu Ihrem Befehle, Herr Kommandant.«

»Morgen reisen wir; mache alles zurecht. Ich begleite dich, Alter.«

»Wie Sie befehlen, Herr Kommandant!«

»Jetzt gehe wieder an deine Arbeit, ich will mir die Sache nochmals durch den Kopf gehen lassen und in aller Ruhe überlegen. Sprich aber von deiner Geschichte und unseren Plänen zu keinem Menschen, zu keinem, auch deinem Freunde George nicht. Du hast mich verstanden, Pieter?«

»Allerdings, Herr Kommandant. Ich werde schweigen!«

Der alte Matrose verließ darauf das Arbeitszimmer seines Herrn. Das erste, was er beim Austritt that, war seine braungebrannte Thonpfeife hervorzuholen, sie zu stopfen, nach alter Seemannsweise mit Stahl und Schwamm zu entzünden, und mit innigem Behagen kräftige Dampfwolken in die Luft zu paffen; dann erst begab er sich zum Strande zu seinen Netzen zurück.

George erwartete ihn mit lebhafter Ungeduld.

»Das hat ja lange gedauert, Pieter. Wovon sprachst du mit Onkel Parr?«

»Alte Zeiten haben wir aufgewärmt, längst vergangene Tage, wo wir beide, der Herr Kommandant und ich noch jung und lebensfroh waren. Er wird es Ihnen schon mal selbst erzählen.«

»Wirst du dich um die halbe Million bewerben?«

»Ich glaube so, Herr George.«

»Dann wünsche ich dir besten Erfolg.«

»Danke schön, Herr George.«

»Also willst du mir nichts weiter erzählen?«

»Darf es nicht. Die Sache ist zu ernst. Onkel hat's verboten, darf mit niemandem darüber sprechen.«

»Na, dann nicht! Erfahren werde ich sie doch, wenn auch später!«

»Allerdings, Herr George.«

Ärgerlich verließ der Jüngling den wieder fleißig arbeitenden und rauchenden Pieter, der froh war, mit seinen Gedanken allein bleiben zu dürfen, die sich mit der Vergangenheit beschäftigten, ohne der goldglänzenden Zukunft auch nur einen Augenblick zu gedenken.


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