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Zweites Kapitel.
Ein Handstreich


Am 29. September 1862 verließ der stattliche Raddampfer ›Grant‹ den Hafen von New-York und durchfuhr die Meerenge, welche Long-Island von Staaten-Island trennt und den Zugang zu der weiten Bai bildet, an der sich das Häusermeer der nordamerikanischen Metropole anschließt.

Das Schiff fuhr mit halbem Dampfe; nur langsam tauchten die großen Schaufeln in das stille Wasser der Durchfahrt, die durch zahlreiche Kriegsdampfer und Kreuzer der Vereinigten Staaten-Marine fast ganz gesperrt war. Es war drei Tage vor den soeben berichteten Ereignissen. Man befand sich mitten im großen amerikanischen Bürgerkriege, den Nord gegen Süd mit Erbitterung ausfocht. Der ›Grant‹ war eines der stattlichsten Schiffe der amerikanischen Handelsflotte. Erst kürzlich auf der Schiffswerft zu Brooklyn gebaut, galt der zwölfhundert Tonnen fassende Dampfer für eines der schnellsten Schiffe, die jemals eine Werft verlassen. Von der Rhederei für den Passagier- und Warentransport zwischen New-York und Kuba bestimmt, fuhr er, seit Ausbruch des Krieges nach England, da man sonst seine Wegnahme durch südstaatliche Kaper hätte befürchten müssen. Die Bemannung bestand aus zwanzig Leuten, die erst kurz vor der Fahrt angemustert worden waren; dem Kapitän Longway, vier Deckoffizieren, einem Ingenieur und einem Zimmermann. Außer siebenundsiebzig Passagieren hatte der ›Grant‹ eine bedeutende Baumwollen-Fracht an Bord.

Das Ziel der Reise war Liverpool.

An der Seite des Kapitäns auf der Kommandobrücke, in einem Anzuge, blau wie das Seewasser, die Kappe mit den breiten Goldschnüren am Kopfe, den Kautabak im Munde, stand der Lotse, ein alter Seebär mit wettergebräuntem Gesichte. Seine Hand winkte dem Untersteuermann Befehle über die Handhabung des Steuers zu, während der Ingenieur solche durch das in den Maschinenraum führende Sprachrohr erhielt.

»Gutes Wetter, Kommandant,« sagte der Lotse zum Kapitän.

»Ja, hoffe gute Überfahrt zu haben,« antwortete dieser.

»Hoffe? Mit einem solchen Schiffe unter den Füßen, da braucht Ihr nicht daran zu zweifeln, Kapitän.«

»Gewiß nicht, Stevens; aber mit solcher Menge Passagiere an Bord ist's bei schlechtem Wetter immer mißlich; und dann kennt man seine Deckhände auch nicht genug, man weiß nie, wen und was man vor sich hat. In jetzigen Zeitläufen sind gute Matrosen selten wie weiße Raben. Man nimmt eben aufs Geratewohl, was einem zwischen die Finger läuft. Unter den zwanzig Mann, die ich an Bord habe, sind höchstens zehn befahrene Seeleute, auf die ich mich verlassen kann. Die andern sind gewöhnliche Arbeiter, die weiß Gott woher gekommen sind und angeworben wurden ohne lange Fragerei und vieles Federlesen.«

»Stimmt, Kapitän. Was will das aber alles sagen bei einem Schiffe, wie der ›Grant‹. Ein Staatsschiff, ein Kasten, wie gemalt. Was würden die Südstaatler um einen solchen Dampfer geben! Das wäre ein Kaper, wie es keinen zweiten in der Welt giebt.«

»Glaub's gern, Stevens. Aber solange ich's Kommando führe und ein Wort zu sagen habe, soll mir keiner von den Konföderierten an Bord, so wahr ich Longway heiße und christlich getauft bin. Die Hand, die sich nach dem ›Grant‹ ausstreckt, wird eklig geklopft, das versichere ich Euch.«

»Als ob das einer ausdrücklichen Versicherung bedarf,« erwiderte der Lotse achselzuckend.

Dann wendete er sich um und sagte auf ein Segel deutend, welches sich dem Dampfer näherte: »Dort kommt mein Boot.«

Er sah nach seiner großen Uhr, die ein starkes, wasserdichtes Gehäuse umgab.

»Halb fünf,« meinte er, »wir sind gut gefahren. Habt mich nun nicht mehr nötig, kann wieder an Land gehen.«

Er beugte sich auf das Mundstück des Sprachrohrs nieder und rief ein kräftiges »Halt« hinein.

Sofort hörten die Räder auf das Wasser aufzuwühlen und das Geräusch der Maschine verstummte. Das Schiff verlangsamte seinen Lauf, machte noch einige Faden auf seiner Bahn vorwärts und blieb dann fast ganz unbeweglich stehen, nur unmerklich in der Strömung treibend.

An die Brüstung der Kommandobrücke gelehnt, dem Vorderteil des Schiffes den Rücken zukehrend, betrachtete der Seebär sein schwarzgestrichenes Boot, an dessen Mastspitzen die Lotsenflagge lustig wehte und daß sich dem ›Grant‹ immer mehr näherte.

»Was ist denn das dahinten?« rief er plötzlich dem Kapitän zu.

»Da seh ich doch vor Steuerbord noch ein Boot dahinschießen. Man sollte glauben, daß es auf uns losstürmte.«

Kapitän Longway legte die Hand über seine Augen zum Schutze gegen die Sonnenstrahlen, scharf in die angegebene Richtung blickend.

»Ja, Maat, das ist allerdings ein großes Boot mit mehreren Leuten; wie die sich in die Riemen legen!«

Dann rief er dem Untersteuermann zu: »Mein Fernrohr!«

Der Matrose reichte dem Kapitän das Glas und dieser richtete es auf das pfeilschnell sich dem ›Grant‹ nähernde Boot, das anscheinend von kräftigen seegewohnten Männern gerudert wurde.

»Ein langes schmales Fahrzeug,« sagte der Kapitän nach einer Weile, »mit neun Mann an Bord, wenn ich richtig gesehen.^

»Vielleicht ein Reisender, der die Abfahrt verpaßt hat und noch mit will,« bemerkte der Lotse, verschmitzt lächelnd.

»Möglich,« sagte der Kapitän, dem die Sache nicht ganz recht zu sein schien. »Sie halten richtig auf uns zu. Na, wir werden ja sehen, was dahinter steckt.«

Inzwischen war das Boot auf Schußweite herangekommen. Es schien mit dem Lotsenkutter um die Wette fahren oder wenigstens gleichzeitig mit ihm den Dampfer erreichen zu wollen.

Die Passagiere, welche sich auf Deck versammelt hatten, sahen mit gespanntestem Interesse der Wettfahrt zu und bald waren unter ihnen, wie es bei Amerikanern stets der Fall, Wetten im vollsten Gange.

Bald schien der Kutter, der mit geblähten Segeln über die Wogenkämme hinwegglitt, einen Vorsprung zu haben, bald das meisterhaft gesteuerte Boot.

Eine Viertelstunde später und fast gleichzeitig langten beide Fahrzeuge beim Ziele, dem »Grant,« an.

Während Stevens, der Lotse, nachdem er dem Kapitän gute Reise gewünscht und noch rasch einen Abschiedstrunk zu sich genommen hatte, sich über Steuerbord in seinen Kutter hinabließ, ergriff einer der Männer im anderen Boote ein ihm zugeworfenes Tau, schwang sich gewandt auf die Strickleiter und war mit zwei Sprüngen auf Deck.

Es war ein hochgewachsener, elegant gekleideter Mann von ungefähr fünfundzwanzig Jahren, mit energischen, doch angenehmen Zügen im wettergebräunten Antlitze.

Der Fremde näherte sich dem in gespannter Erwartung stehenden Kapitän, grüßte sehr höflich und sagte: »Ich muß vielmals um Entschuldigung bitten, daß ich mich auf diese sonderbare Art auf Ihrem Schiffe einführe; mir blieb aber keine Wahl. Ich hatte leider die Stunde der Abfahrt des ›Grant‹ verpaßt, da sie mir ungenau angegeben war. Da ich aber unter allen Umständen mit ihm reisen muß, vertraute ich mich dem Boote an, das seine Aufgabe, Sie zu erreichen, in vorzüglichster Weise gelöst hat, wenn es auch tolle Mühe kostete. Ich hoffe, Kommandant, daß Sie gegen die eigentümliche Art der Einschiffung und gegen mein Hierbleiben keinen Einspruch erheben werden.«

Während dieser im verbindlichsten Tone gehaltenen Ansprache hatte der Fremde eine elegante, reich mit Geldscheinen gefüllte Tasche hervorgezogen; er entnahm ihr eine Anzahl Banknoten, die er mit liebenswürdigem Lächeln dem Kapitän Longway hinreichte. Das Benehmen des Ankömmlings wie das Geld besänftigten den biederen Seemann bald, und dem Fremden die Hand entgegenstreckend, erwiderte er freundlich: »Bleiben Sie in Gottes Namen ruhig da. Es würde mir leid thun, wenn Sie Ihre tolle Fahrt mit dem Winde umsonst gemacht hätten.«

Ein Stewart wurde herbeigerufen und ihm aufgetragen, dem Reisenden eine Kabine anzuweisen und seinen Namen in die Passagierliste einzutragen.

Das rasche Boot hatte sich inzwischen längst vom ›Grant‹ entfernt, noch ehe der Kapitän des ›Grant‹ seine Einwilligung zum Bleiben des neuen Passagiers gegeben hatte. Alles war zu sehr mit diesem beschäftigt, um dieses auffällige Gebahren zu beobachten.

»Wenn der Mann eine Landratte ist, so will ich ihn mit Haut und Haar auffressen,« brummte ein alter Matrose in seinen struppigen Bart. »Wie der an Bord kam, das kann nur eine richtige Teerjacke; und meine Branntweinration will ich gegen einen Priem Kautabak verwetten, wenn der nicht schon viele tüchtige Teer-Planken mit seinen Stiefeln gescheuert hat.«

Der ›Grant‹ hatte die Fahrt wieder aufgenommen und durchschnitt mit gen Osten gehendem Bug die mächtig heranwallenden Wogen des Atlantischen Oceans.

Das Deck belebte sich mehr und mehr. Nachdem sie sich in den Kajüten eingerichtet hatten, erschien ein Reisender nach dem andern auf Deck, um sich vor der Mahlzeit noch in der angenehmen Seeluft zu erfrischen und die Mitreisenden, die, bunt zusammengewürfelt, den Dampfer füllten, mit Neugierde zu betrachten. Jeder sah seinen Nachbar mit Aufmerksamkeit an, zu der sich eine gewisse Zaghaftigkeit gesellte, die erst längeres Beisammensein verscheuchen sollte. Wer einen früheren Bekannten entdeckte, jubelte laut und schloß sich ihm enger an, als dies jemals am Lande geschehen war.

Am Hinterdecke, das zum Teil den Passagieren der ersten Klasse reserviert war, befanden sich zwei Personen, die sich um das Treiben ringsumher nicht im geringsten zu kümmern, ja, es kaum zu bemerken schienen. Der ältere von beiden, ein Mann im Anfange der vierziger Jahre, lehnte müde in einem Klappstuhle. Die bleiche Farbe des abgespannten Gesichts, die glanzlosen eingefallenen Augen zeugten von einer schweren Krankheit, die der Reisende eben überwunden haben mochte. Die durchsichtige weiße Hand lag auf dem Scheitel eines Kindes, das sich zwischen die Kniee des Sitzenden geklemmt hatte. Die Ähnlichkeit der Gesichtszüge, hier bleich, dort rosig zart, ließen den Kleinen als den Sohn des Kranken erscheinen. Der Vater erklärte dem Knaben, so gut er es vermochte, die Arbeiten der Mannschaften, die Maschine und ihre Aufgaben, die einzelnen Teile des Schiffes, welchen Zwecken sie dienten, nannte sie mit Namen und beantwortete, so weit er es selbst wußte, die immer neuen Fragen des aufgeweckten Knaben, der vom Hundertsten ins Tausendste fiel, wie es Kinderart ist. Wir haben Richard Werner und seinen Sohn Paul vor uns.

Als fünfzehnjähriger Jüngling hatte Werner sein geliebtes Vaterland, Norddeutschland, verlassen, als eine Epidemie ihm in kurzer Zeit die Eltern geraubt und eine kleine Erbschaft ihn in den Stand setzte, seine Sucht, ferne Länder zu schauen, zu erfüllen. New-York war sein erstes Ziel. Viel hatte er durchgemacht, weit war er herum gekommen, ohne daß das Glück ihm lächeln wollte. Er hatte gehungert, gefroren, ehe es ihm gelang, eine Stellung zu erlangen, die ihm gestattete, kleine Ersparnisse zu machen. Da entdeckte im Jahre 1857 Colonel Drack den Petroleumreichtum Pennsylvaniens, der jetzt die halbe Welt mit dem Leuchtöle versorgt. Groß war die Aufregung, die sich in der alten und neuen Welt allenthalben verbreitete, als die Kunde des Fundes bekannt geworden war, eine Aufregung, fast ebenso groß, wie die kurz vorher durch die Auffindung des Goldes in Kalifornien hervorgerufen. Alles strömte nach Pennsylvanien. Ärzte ohne Patienten, Kaufleute ohne Geschäft, Offiziere ohne Stellung, Lehrer, Bergleute, Apotheker, Gelehrte, Schuldner, die vor ihren Gläubigern flohen, sie alle wandten sich dem neuen Eldorado zu, um den Boden nach dem flüssigen Golde zu durchwühlen.

Richard Werner war einer der ersten, der sich der Völkerwanderung nach dem Öldistrikte anschloß. Sein kleines Kapital wurde in Grundbesitz angelegt, der noch zu bescheidenen Preisen zu haben war und Dame Fortuna, die ihn bis jetzt übersehen hatte, schüttete auf einmal ihr ganzes Füllhorn über ihn aus. Wie sich nach und nach herausstellte, barg sein Besitz unermeßliche Schätze an Petroleum und Werner wurde in garnicht langer Zeit reich und zwar so reich, wie man es eben nur in den Vereinigten Staaten werden kann.

Werner verheiratete sich und sein Glück kannte keine Grenzen, als ihm ein Sohn geboren wurde. Leider mußte er bald darauf den Tod seiner geliebten Frau beweinen, die ein schweres Leiden hinwegraffte. Den Kummer zu betäuben, vergrub sich der Trauernde in Arbeit, der er sich mit solchem ruhelosen Eifer hingab, daß seine Gesundheit schwer darunter litt.

Als die Ärzte immer dringender zu Erholung und zu einer Luftveränderung rieten, entschloß sich Werner, einen langgehegten Lieblingsplan zur Ausführung zu bringen – einen Besuch zu machen in seinem teuren Vaterlande, die Stätte wieder zu sehen, die er als Kind seine Heimat genannt, an den Gräbern zu beten, die seine geliebten Eltern bargen. Er schiffte sich auf dem ›Grant‹ ein, entschlossen, während der ganzen Dauer des Krieges in seiner Heimat zu weilen und seinen Sohn Paul der Obhut deutscher Lehrer zu übergeben.

Während seiner Abwesenheit sollte ein Vetter seiner verstorbenen Frau seine Geschäfte leiten und die Interessen von Vater und Sohn wahren. Edward Atkins war, trotz seiner Jugend, ein tüchtiger, weitblickender Kaufmann, vollkommen vertraut mit allen Dingen, die sich auf den Handel und die Gewinnung des Petroleums bezogen. Da Atkins Werner auch treu ergeben zu sein schien, glaubte dieser seine Angelegenheiten aufs Beste geordnet zu haben…


Überraschend schnell war die Nacht angebrochen und die Reisenden stiegen in den Salon hinab, um dort die Stunde des Mittagbrotes abzuwarten.

Das Diner ging ziemlich schweigsam vorüber. Noch waren nicht viele Bekanntschaften angeknüpft worden und der Amerikaner spricht selten oder nie mit einem unbekannten Tischgenossen. Auch machten sich bei einigen der Passagiere die Vorboten der unausbleiblichen Seekrankheit bemerklich. Einer dieser Unglücklichen nach dem andern verschwand, so schnell es die Füße erlaubten von der Tafel, um nicht wieder zum Vorschein zu kommen.

Der zuletzt an Bord gekommene Reisende schien sich ganz in seinem Elemente zu befinden. Mit größtem Appetite sprach er den Speisen zu, ließ sich die Getränke bestens munden und hielt dem Kapitän, einem sattelfesten Trinker erster Ordnung wacker stand. Sie unterhielten sich miteinander, lachten und scherzten, und Kapitän Longway fand großen Gefallen an seinem Nachbar. Er war glücklich darüber, solch einen entzückend angenehmen Reisegefährten gefunden zu haben und konnte nicht genug Worte finden, seiner Freude darüber Ausdruck zu geben.

»Ich habe mich auf allen Weltmeeren als Reisender herumgetrieben,« beantwortete der Fremde leichten Tones eine Frage des Kapitäns, »kenne das Meer, liebe es, aber fürchte es nicht.«

Es war inzwischen acht Uhr geworden und die Matrosen des Vorderdecks bezogen unter Befehl des ersten Leutnants die Wache. Da das Wetter rauh, doch im ganzen gut war, so machten es sich die Leute möglichst bequem. Die einen lagerten sich längs der Schanzverkleidung hin, die andern auf Taue, Kästen und in der Nähe des Kompaßhäuschens, kurz an allen Stellen, die Schutz vor dem Winde boten. Der wachthabende Offizier wanderte auf der Kommandobrücke auf und ab, welche das Deck in seiner ganzen Breite überspannte und die beiden Radkästen miteinander verband. Der Untersteuermann, auf die Handhaben des Steuerrades gestützt, warf von Zeit zu Zeit einen Blick auf den hellbeleuchteten Kompaß und regelte dann durch eine kleine Drehung des Rades den Lauf des Dampfers. Er summte ein Matrosenlied vor sich hin, um sich den Schlaf fernzuhalten, der bleiern auf seinen Lidern lag. Der Wind fuhr seufzend durch das Tauwerk, daß es erklang, als ob die Saiten einer gigantischen Äolsharfe ertönten. Die Schaufeln der großen Räder schlugen taktmäßig das Wasser und ab und zu brach sich eine Woge an den Flanken des Schiffes mit unheimlich dumpfem Getöse.

Gegen elf Uhr setzte sich der Offizier, müde des Hin- und Herwanderns, das Nachtfernrohr im Arme, auf eine Bank, die zum Gebrauche des Wachthabenden auf der Brücke angebracht war. Das eintönige Geräusch verfehlte seine einschläfernde Wirkung nicht und im Gefühle vollster Sicherheit entschlummerte er. Auch der Untersteuermann war verstummt und alles auf dem ›Grant‹ hatte sich vollkommener sorgloser Ruhe hingegeben. Da tauchte plötzlich die schattenhafte Gestalt des zu spät gekommenen Passagiers in der Thüre auf, die zu den Kajüten erster Klasse führte. Er hatte sich in einen dunklen Mantel gehüllt, seinen Kopf bedeckte ein schwarzer breitrandiger Hut, der sein Gesicht beschattete.

Lautlos, wie auf Filzsohlen, bewegte er sich einige Schritte vorwärts, blieb einen Augenblick stehen, warf schnelle Blicke um sich, die die Finsternis zu durchdringen schienen und wandte sich dann der Treppe zu, welche die Kommandobrücke mit dem Deck verband. Am Fuße derselben lagen und saßen einige Matrosen, die sich bei der Annäherung des Reisenden rasch aber ohne Geräusch, erhoben. Er flüsterte ihnen einige Worte zu und erstieg behutsam die Stufen zur Kommandobrücke. Das Geräusch der Räder, das Wehen des Windes übertönte seine Schritte und ungehört konnte er sich dem Wachthabenden nähern, der im Halbschlafe vor sich hinträumte, die Arme auf die Brüstung gelehnt, auf welche er seinen Kopf stützte.

Plötzlich umspannten die beiden Hände des Fremden mit einer blitzschnellen Bewegung den Hals des Nichtsahnenden, und drückten ihn fest zusammen. Zwei Matrosen waren gefolgt und noch ehe der Überraschte seiner Sinne ganz mächtig geworden, war er an Händen und Füßen gefesselt, mit einem Knebel zwischen seinen Zähnen.

»Den Helmstock des Steuers ganz nach Steuerbord, das Vorderteil nach Süden,« kommandierte der Fremde und der Untersteuermann führte mechanisch, ohne Arges zu denken, den Befehl aus. Der ›Grant‹ wendete langsam gegen Süden, dem Drucke des Steuers gehorchend.

»Nun zum Ingenieur!« befahl der neue Kommandant.

Der gefesselte Offizier blieb unter Aufsicht eines Matrosen zurück und der Geheimnisvolle wandte sich mit zwei Matrosen dem Maschinenraum zu. Als er denselben betreten wollte, trat ihm der Ingenieur entgegen.

»Wohin wollen Sie?« fragte dieser erstaunt.

»Zu Ihnen, um Sie zum Gefangenen zu machen,« antwortete der Fremde ruhig.

»Also Seeraub!« rief der Ingenieur, zog einen Revolver aus der Tasche, den er auf den Fremden anlegte.

Ehe er aber noch Zeit fand, loszudrücken, sank er, von einem kräftigen Faustschlage getroffen, zu Boden.

Sofort bemächtigten sich zwei Matrosen des Niedergeschlagenen, der, betäubt von dem Faustschlage und dem Sturze, ohne Widerstand leisten zu können, geknebelt wurde, wie der wachthabende Offizier.

»Zwei wären abgethan,« murmelte der Eindringling vor sich hin, »nun zur Hauptsache, dem Kapitän!«

Von den beiden Matrosen, wie von seinem Schatten gefolgt, richtete der neue Kommandant seine Schritte der Kapitänskajüte zu, in welcher Longway den Schlaf des Gerechten schlief, wie das Schnarchen bezeugte, das zu den Horchenden drang. Ein Matrose stieß derb an die Kajütenthür.

»Was giebt's, zum Donnerwetter?« fragte der aus dem ersten Schlummer erschreckt emporfahrende Kapitän.

»Der Wachthabende schickt mich, um zu melden, daß hinter uns ein Licht sichtbar ist, welches direkt auf uns zukommt. Vielleicht ist es ein Kaper, meint er,« antwortete der Matrose, nachdem ihn der Fremde kurz vorher instruiert hatte.

»Ich komme sofort. Man soll inzwischen stärker feuern und mit Volldampf fahren!«

Noch einige Augenblicke und Kapitän Longway in höchst mangelhafter Toilette erschien auf Deck. Er wurde sofort gefesselt, geknebelt und wieder auf das Lager geworfen, von dem er sich wenige Minuten vorher schimpfend und fluchend erhoben hatte.

Der Fremde trat an das Bett heran, auf dem sich Longway in ohnmächtigem Zorne wälzte. Ernst und bestimmt klangen die Worte, die er an den Kapitän richtete.

»Sie sind mein Gefangener, Kapitän! Ich bin Schiffsleutnant Parr von der Marine der Amerikanischen Südstaaten. Ihr Schiff ist vollständig in meiner Gewalt und jeder Widerstand Ihrerseits ist vollkommen nutzlos und würde Ihre Lage nur verschlimmern. Ich wäre zu meinem Bedauern genötigt. Sie in Eisen legen oder erschießen zu lassen. Deshalb empfehle ich Ihnen ein Fügen ins Unabänderliche in Ihrem eigenen Interesse und in dem Ihrer Mannschaft.«

Der Mann sah ganz danach aus, seine Drohung zu verwirklichen, was auch dem vor Wut schäumenden Kapitän nicht entging. Parr begab sich nun zu den Kabinen der anderen noch übrigen Offiziere, die auf gleiche Weise unschädlich gemacht wurden. Nachdem dies erledigt, bestieg Parr die Kommandobrücke. Die Bootsmannpfeife rief die Wachmannschaft zusammen und der neue Kommandeur richtete folgende Ansprache an die Leute: »Der ›Grant‹ ist in unserm Besitze, Jungens! Dank eurer Tüchtigkeit und eurem Gehorsam ist alles gut und ohne Blutvergießen von statten gegangen. Unsere Führer werden es euch ebenso danken, wie ich es thue. Jetzt bleibt nur noch übrig, euch der Kameraden am Hinterdeck zu bemächtigen. Also vorwärts mit Gott! Jeder auf seinen Posten! Thue jeder seine Pflicht!«

Der kühne Handstreich, durch den der abenteuerlustige Seeoffizier sich des »Grant,« eines der besten Schiffe der feindlichen Marine bemächtigt hatte, war seit langer Hand von ihm geplant und vorbereitet. Die Konföderierten kannten die Vorzüge des Dampfers zu genau, als daß sich nicht in ihnen das Verlangen geregt hätte, das Schiff um jeden Preis zu erlangen, sei es mit List oder Gewalt. Da der »Grant,« wie sie wußten, gerade im Begriffe stand, eine neue Reise anzutreten und ihnen die Schwierigkeiten bekannt waren, die mit der Ergänzung der Deckhände verknüpft waren, faßten sie den Plan, die gegebenen Umstände zu benutzen und mit List ihren Wunsch nach dem Besitze des Schiffes zu erreichen. Sieben Matrosen von ihrer Marine, ein Offizier, ein Seekadett und ein Ingenieur begaben sich getrennt nach New-York. Dort stellten sie sich einzeln dem Kapitän Longway vor, der sie ahnungslos alle anwarb, sehr froh darüber, daß es ihm möglich war, sein Personal einigermaßen zu komplettieren und Leute zu finden, die wenigstens das Aussehen von Seemännern hatten. Es war dies während des Krieges geradezu ein Glück und der Kommandant des ›Grant‹ rieb sich vergnügt die Hände, als die Leute vollzählig an Bord waren. Leutnant Parr, der Leiter des Unternehmens, hatte sich inzwischen an einem sicheren Orte verborgen gehalten, um der Möglichkeit auszuweichen, mit irgend einem Bekannten zusammen zu treffen, der seinen Rang kannte. Er hatte von seinem Posten aus den ›Grant‹ beobachtet, um sich im letzten Augenblick, wenn jede Gefahr des Erkanntwerdens vorüber, auf ihm einzuschiffen. Wie es ihm gelungen, haben wir gesehen. Ein Boot seiner Marine, bemannt mit Matrosen eines südstaatlichen Schiffes, hatte die Wettfahrt ausgeführt. Jedem einzelnen der südstaatlichen Matrosen, die sich von Kapitän Longway anwerben ließen, war die zu spielende Rolle, genau bis ins kleinste Detail vorher eingeprägt worden; nichts sollte bei dem kühnen Unternehmen dem Zufalle anheimgestellt werden. Die erste Aufgabe der Verschwörer war, es so einzurichten, daß sie alle zusammen zu einer Wache gehörten. Für den Augenblick der Ausführung war ebenfalls jeder Mann genau instruiert und wußte, wo er hingehörte, was er zu thun hatte. Auf diese Weise eingeleitet, mußte das Komplott gelingen, was denn auch über alle Erwartung gut eintraf.

Um Mitternacht ließ Leutnant Parr die zweite Matrosenabteilung zur Ablösung seiner Leute auf Deck rufen. Ohne die leiseste Ahnung der ihrer wartenden sonderbaren Überraschung, stieg die Mannschaft auf Deck, wo sie sofort von den Matrosen des Leutnants Parr umzingelt wurden. Der neue Kommandant trat vor sie hin: »Von nun an, Jungens, kommandiere ich hier an Bord, statt Kapitän Longway, der ebenso wie seine Offiziere, meine Gefangenen sind. Der ›Grant‹ ist von heute an ein Schiff der Südstaaten. Wenn ihr gehorcht und eure Pflicht thut, erhaltet ihr doppelte Rationen. Dem ersten aber, der widerspenstig ist, dem jage ich eine Kugel vor die Stirn. So, jetzt jeder an seinen Posten; aber alle bleiben auf dem Verdeck.« Durch die strengen Worte und Blicke und durch das entschlossene Auftreten Parrs eingeschüchtert, entfernten sich die Leute. Nur einer murmelte halblaut: »Wenn man wollte, so könnte man die Sache…« Weiter kam er nicht; denn Leutnant Parr donnerte: »Ins Eisen mit dem Schwätzer!« Vier Matrosen griffen sofort zu, hoben den jungen Mann auf und zerrten ihn mehr, als sie ihn trugen, die Treppe hinab in eine Koje, wo sie ihn fesselten.

»Ob ich's nicht gleich gewußt habe, daß der keine Landratte ist, wie er das Fallrepp 'rauf kam,« brummte ein alter Matrose.

»Was giebt's da zu murmeln, Alter,« fuhr ihn einer der Südstaatler an.

»Daß es ein Vergnügen ist, sagte ich, unter dem Befehl eines Kommandanten zu stehen, wie der dort ist. Ob Nordstaatler oder Konföderiert ist gleich. Die Strammheit, das ist die Hauptsache. Nicht viele Worte, aber die er spricht, die haben Hand und Fuß! So lieb ich's!«

Der Rest der Nacht verging ohne weiteren Zwischenfall.

Am nächsten Morgen, als die Passagiere aus den engen dumpfen Kabinen an Deck kamen, um sich in der herrlichen Seeluft zu erfrischen, ahnte noch keiner das Geringste von der folgenschweren Umwälzung, die sich während der Nacht so geräuschlos und rasch vollzogen hatte.

Erst als jeder an der Frühstückstafel saß, erschien der neue Kapitän des ›Grant‹ und nahm auf dem Sitze Platz, den bis gestern Kapitän Longway eingenommen hatte. Bevor er sich jedoch niederließ, musterte er mit raschen Blicken die Versammlung, wie um ihre Physiognomien zu studieren. Dann begann er, sich nach allen Seiten hin höflich verneigend:

»Seit gestern abend haben sich hier an Bord Dinge zugetragen, die ich mich verpflichtet fühle, Ihnen, meine Damen und Herren, des Näheren auseinander zu setzen.«

Er hielt nach diesen einleitenden Worten einen Augenblick mit dem Sprechen inne, während alle Augen gespannt an seinen Lippen hingen. Dann fuhr Leutnant Parr fort:

»Ich bin kein gewöhnlicher Passagier, der den ›Grant‹ zu einer Geschäfts- oder Vergnügungsreise benutzt, sondern Offizier der Marine der konföderierten Südstaaten von Amerika. Ich habe mich lediglich zu dem Zwecke auf diesem Dampfer eingeschifft, denselben in meine Hände zu bringen, was mir auch mit Gottes Hilfe, dank dem unbedingten Gehorsam meiner Leute, glücklich gelang, ohne daß auch nur ein Tropfen Blut geflossen wäre. Der ›Grant‹ gehört daher jetzt mir. Ich bitte Sie alle, sich ins Unvermeidliche zu fügen. Es wird Ihnen keinerlei Ungemach zustoßen, das ich verhindern kann, und Sie werden mit derselben Rücksicht behandelt werden, wie es geschah, als Kapitän Longway das Kommando führte. Nach England aber kann ich Sie leider nicht bringen. Seit gestern abend haben wir den Kurs nach Süden genommen. Es wird dies die Pläne von manchem von Ihnen durchkreuzen, doch kann ich es nicht ändern, es ist eben Kriegsrecht. Ich verspreche Ihnen aber, Sie auf das erste uns begegnende Schiff überzusetzen, das in der Richtung nach Liverpool fährt. Sie haben daher wohl nichts, als eine kleine Zeitversäumnis zu beklagen.«

Tiefes Schweigen folgte diesen Erklärungen Parrs; doch bald wurden einzelne Stimmen von Nordamerikanern laut, die Proteste gegen die Wegnahme erhoben. Die Arme gekreuzt, furchtlos die Sprecher anblickend, entgegnete Parr, ruhig und gemessen, jedes Wort betonend:

»Sie werden mich wohl nicht in die unangenehme Lage versetzen, Ihnen in aller Strenge zu beweisen, daß ich nächst Gott der alleinige unumschränkte Gebieter auf dem ›Grant‹ bin und auf Ihren unbedingten Gehorsam rechne!«

Darauf setzte er sich ruhig an die Tafel und gab den Stewards ein Zeichen, mit dem Auftragen zu beginnen.

Mit der ausgesuchtesten Liebenswürdigkeit verkehrte Parr von diesem Augenblicke an mit den Passagieren, höflich gegen die Herren, zuvorkommend gegen die Damen, doch gelang es ihm nicht ganz, die Mißstimmung zu verscheuchen. Die meisten Passagiere gingen in Geschäften über den Ocean und die voraussichtlich lange Verzögerung der Reise erzeugte nicht gerade eine rosige Laune. Besonders Richard Werner litt unter der veränderten Sachlage. Seine Fieberanfälle ließen es wünschenswert erscheinen, statt die Fahrt auszudehnen, sie abzukürzen. Dann bemitleidete er seinen Sohn Paul, der infolge der Krankheit des Vaters sich zuviel selbst überlassen blieb und Langeweile empfand, die das wohlerzogene Kind aber nicht zu unnützen Streichen veranlaßte. Stundenlang konnte Paul am Lager seines Vaters sitzen, sich mit kleinen Spielen beschäftigen, so sehr es ihn auch drängte, sich auf Deck unter den Matrosen zu bewegen, die er mit einer Art Ehrfurcht betrachtete. Der Vater wünschte nicht, daß er allein auf das Deck gehe und das war Grund genug, den Knaben in die dumpfe Kajüte zu bannen.


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