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Michael war etwa ein halbes Jahr in seinem neuen Amte, als Verena ihn mit Mario besuchte. Sie war inzwischen wirklich, wie es die Malve vermutet hatte, katholisch geworden und hatte ein von ihrem früheren so verschiedenes Wesen angenommen, daß Michael sich kaum in sie zu finden wußte. Es war um so verwirrender, als er schwanken mußte, ob sie mit ihrem Benehmen etwas bezwecke und irgendwelchen Eindruck auf ihn machen wolle, oder ob wirklich eine Veränderung in ihr vorgegangen sei; mehr und mehr neigte er dazu, dies letztere zu glauben. Sie begegnete ihm nicht mehr mit jener halb verstellten, halb natürlichen Feindseligkeit, mit jenem kalten Hohne, der verletzen sollte, sondern freundlich und sogar liebreich, wenn auch ohne herzliche Wärme. Überhaupt lag etwas Huldvolles in ihrer Art, die Menschen zu behandeln und von ihnen zu sprechen, was einen sonderbaren Gegensatz zu ihrer früheren Schärfe des Urteils bildete; nur im Umgange mit Protestanten legte sie mehr Herablassung und lächelnde Kühle in ihre Freundlichkeit.
Bald nach ihrer Ankunft bat sie Michael um Verzeihung wegen der Härte, mit der sie ihn früher behandelt hätte; denn er sei in ihren Augen ein durch Leidenschaft verblendeter und irregeführter Mensch, und solche müsse man nicht verachten, sondern zum Guten zurückzugewinnen suchen; nicht einmal Christus hätte die Menschen, die ja alle Sünder wären, verachtet, vielmehr bis zum Opfertode geliebt. Sie glaubte jetzt einen besseren Weg einzuschlagen, indem sie ihm ihre Freundschaft antrüge, wozu sie die gemeinsame Liebe und Pflicht gegen Mario mahnte; in diesem Sinne, damit Mario seinem Vater nicht entfremdet würde, hätte sie beschlossen, wenn es ihm recht wäre, einen Teil des Jahres, etwa den Winter, bei ihm zuzubringen; er würde sehen, daß sie ihn weder in seiner Lebensweise stören noch sonst in irgendeiner Beziehung einen Druck auf ihn ausüben würde. Michael kam es nicht gemütlich vor, beständig eine christliche Überlegenheit um sich her zu spüren, die ihn nur aus Großmut nicht verachtete und stets gerüstet war, seine reuige Bekehrung entgegenzunehmen; aber es wäre ihm unmöglich gewesen, Verenas klarer, sachgemäßer Freundlichkeit anders als freundlich, ja dankbar anerkennend zu begegnen. Auch erfüllte sie ihr Versprechen buchstäblich; sie beobachtete seine Gewohnheiten und richtete sich danach, ging ihm aus dem Wege, wenn sie glaubte, daß er allein sein wollte, ohne doch wieder so beflissen dabei zu sein, daß er es sich aus Höflichkeit nicht hätte gefallen lassen dürfen. Sie suchte keinen Einblick in sein inneres Leben zu gewinnen, sie vermied im Gespräch alles, was ihn unangenehm hätte berühren können, und gebot mit solcher Feinheit über einen unbefangenen Ton, daß er nicht umhin konnte, sie zu bewundern und ihr Dank zu wissen. Daß sie wünschen mußte, ihn zu ihrem neugewonnenen Glauben zu bekehren, lag auf der Hand, doch wenn sie es nicht auf unmerkliche Weise tat, hielt sie damit zurück bis auf gelegenere Zeit. In beiläufiger Weise plaudernd, erzählte sie ihm die Geschichte ihres Religionswechsels: wie ein Priester ihren religiösen Sinn, der bisher, wie Michael wüßte, ganz geschlummert hätte, geweckt, die Zweifel ihres Verstandes durch gründliche Unterweisung glänzend widerlegt und, indem er ihren Hochmut gebeugt, ihr trotziges, lastendes Herz erleichtert hätte. Gleichmütig, als ob sie von einer dritten Person spräche, erzählte sie, wie sie anfänglich sich in den Priester verliebt und nur aus Liebe, was er gesagt, für wahr gehalten, und was er gefordert, geglaubt hätte, wie er sie aber, ohne daß sie es ahnte, durchschaut, und nachdem er eine Weile zugesehen, ihr mit flammenden Worten ihre Schwachheit und Unzulänglichkeit vorgestellt hätte. Sie hätte sich tagelang und wochenlang in Verzweiflung, Zerknirschung und rasendem Trotze gewunden, bis sie zuletzt den Mut gefaßt hätte, dem Priester eine vollständige Beichte abzulegen, womit ihr Heil besiegelt gewesen wäre. Sie hätte zwar noch lange um den rechten Glauben kämpfen müssen, jetzt aber kehrten allmählich die Sicherheit und Heiterkeit in ihr Herz ein, die eine unverkennbare Bürgschaft der Rechtgläubigkeit und des Geborgenseins in Gott seien.
Diese Tatsachen, ihre Art, davon zu sprechen, und der unerschütterliche Hochmut ihres Auftretens hatten so viel Befremdendes, Lächerliches und Rührendes durcheinander für Michael, daß er es nicht sogleich zu sondern und richtigzustellen vermochte. Um auf sie einzugehen, fragte er sie, wie sie es mit dem und jenem Glaubenssatz hielte, welcher der Anschauungsweise von in protestantischen Kreisen aufgewachsenen Menschen nun einmal widerstrebe, worauf sie nach einigem Besinnen sagte, sie könne darauf wohl antworten und Mißverständnisse und törichte Auffassungen widerlegen, doch wolle sie jetzt über ihren schlichten Glauben nicht hinausgehen. Beweise suchen, wo es auf Glauben ankäme, sei die Eitelkeit der Protestanten; wenn er tatsächlich so viel Interesse für die Sache hätte, möchte er sich mit katholischen Geistlichen besprechen, die ihn besser als sie belehren könnten. Dieser Verzicht auf das Verfechten und Begründen von Meinungen, wobei sie früher gern ihren Verstand und ihre Gewandtheit gezeigt hatte, setzte Michael mehr als alles andere in Erstaunen und schien ihm auf eine wirkliche Sinnesänderung zu deuten, die er in diesem Falle, wie er scherzend zu ihr sagte, zu beklagen nicht umhin konnte. Sie hörte das augenscheinlich gern, ging aber trotzdem nicht von ihrem Vorsatz, sich der Dispute zu enthalten, ab.
Sie hatte jetzt wirklich eine gleichmäßige Heiterkeit, die zwar zuweilen etwas Leeres, Spielerisches haben konnte, aber doch den Verkehr mit ihr erleichterte; Michael wunderte sich oft, wie es möglich war, daß sie so friedfertig und munter miteinander verkehrten. Was ihr den Aufenthalt in der Anstalt besonders anziehend machte, war, daß der Direktor, Herr v. Sierstorp, ihr nicht nur den Hof machte, sondern ihr die feine ritterliche Verehrung eines vornehmen älteren Herrn widmete. Er verehrte ihre Schönheit, ihr Benehmen, ihre Kleidung, ihren Geist, und war glücklich, die langen Tage mit seiner Bewunderung ausfüllen zu können. Sie nahm seine Huldigung mit stolzer Liebenswürdigkeit an und nötigte ihm dadurch, wie sie das Verhältnis regierte und bei herzlicher Vertraulichkeit doch nie aus einer gemessenen Förmlichkeit heraustreten ließ, immer neue Anerkennung ab. Ihr Einfluß auf ihn wurde so groß, daß er anfing, auf Bemerkungen hin, die sie fallenließ, sich in die Angelegenheiten der Anstalt zu mischen und Wünsche zu äußern, die Michael nicht selten sehr unbequem waren. So hatte Michael die Öffnung der Anstalt für das Publikum, die vorgeschrieben war, auf das mindeste Maß beschränkt, da er nicht Lust hatte, mit den neugierigen Damen und dreisten Kindern, die kamen und planlos um die Aquarien herumstanden, Zeit zu verlieren. Plötzlich nun sagte der Direktor, welcher bis dahin einer Meinung mit Michael gewesen war, dies Abschließen sei gelehrter Hochmut, die Gelehrten müßten liberal denken, die Bildungsmittel müßten den besseren Ständen zugänglich gemacht werden, wenn es noch nicht vorhanden sei, müsse das Interesse geweckt werden. Er selbst und Verena waren künftig in den Stunden anwesend, wo die Anstalt für jedermann zugänglich war, und sie erregte durch die Eleganz ihrer Erscheinung, wie durch die Klugheit und Liebenswürdigkeit, mit der sie auf gestellte Fragen antwortete, weit größeres Aufsehen als die Fische.
Wenn Verena mit Michael allein war, sprach sie mit gutmütiger Herablassung von Herrn v. Sierstorp, dessen weltmännisches Wesen sie zwar unbedingt lobte, den sie aber übrigens für schwach und grundsatzlos zu halten behauptete. Es liege nur an ihr, sagte sie, ob sie ihn, der Protestant war, zum Katholiken machen wolle; dies müsse aber wohl überlegt werden, denn der Kirche sei keineswegs mit Konvertiten gedient, die ohne Überzeugung, nur aus persönlichen Gründen überträten. In der Tat zeigte Herr v. Sierstorp, der allen religiösen Fragen mit höflicher Kälte gegenübergestanden hatte, jetzt ein Entgegenkommen gegen die Kirche, das Michael höchst verdrießlich war. Verena hatte sich nämlich sofort mit dem Priester bekannt gemacht, zu dessen Kirchspiel die Anstalt gehörte; es war ein starkgebauter, knochiger Mann in den besten Jahren, mit knolligem Gesicht und langen, groben Gliedern, ohne Bildung, von dem Verena mit strenger Ehrerbietung sprach. Derselbe nahm seinen Beruf sehr ernst und betrachtete es als dessen hauptsächlichste Aufgabe, Leute, die, ohne verheiratet zu sein, zusammen lebten, was der Einfachheit wegen im Volke häufig vorkam, zum Heiraten zu überreden. Dies pflegte folgendermaßen vor sich zu gehen: Die betreffenden Paare mußten auf das Zimmer des Don Chrisostomo, so hieß der Priester, kommen, wo er ihnen laut und böse vorhielt, daß sie sich gegen Moral und Religion versündigt hätten, worauf sie sich damit entschuldigten, daß sie kein Geld hätten, um die erheblichen Kosten der zum Heiraten notwendigen Förmlichkeiten zu tragen und sich eine ehrbare Kleidung anzuschaffen, in der sie sich in der Kirche zeigen könnten. Nachdem Don Chrisostomo sich bereit erklärt hatte, die Kosten zu übernehmen, zu welchem Zwecke es eine von Freunden der Sittlichkeit gestiftete Kasse gab, versprachen die Leute, sich zu ehelichen, was denn auch geschah. Unter den unmittelbaren Bediensteten der Anstalt, wie unter denen, die nur zeitweilig beschäftigt wurden, gab es eine Anzahl solcher in wilder Ehe lebenden Paare, auf welche Don Chrisostomo, der unentwegt mit langen Schritten sein Kirchspiel nach dergleichen Sündern absuchte, schon seit geraumer Zeit ein Auge geworfen hatte. Verena ergriff diese Angelegenheit mit Eifer und brachte auch den Direktor bald dahin, es für notwendig zu erklären, daß mit Hilfe des begeisterten Don Chrisostomo die Sittlichkeit unter seinen Angestellten eingeführt würde. Michael war nicht zu bewegen, die Ersprießlichkeit dieser Veränderung einzusehen, da die Leute in den meisten Fällen ebenso wie Ehepaare zusammen lebten und zusammen blieben, mußte aber doch schließlich zugeben, daß sie dem Einfluß des Don Chrisostomo ausgeliefert wurden. Die nächste Folge davon war, daß eine Reihe von Tagen zum Zwecke von Hochzeitsfeiern freigegeben werden mußte, worauf wieder andere folgten, wo verschiedene Teilnehmer, die sich an Essen und Trinken übernommen hatten, zur Arbeit untauglich waren.
Übrigens bemerkte Michael, daß Verena, wenn es sich darum handelte, den Leuten in ihren Angelegenheiten zu raten und beizustehen, praktisch und vernünftig und ohne Sentimentalität hilfreich war. Er selbst hatte, dank den Erfahrungen, die er im Fischerdorfe gesammelt hatte, auch hier bald das Vertrauen der Bevölkerung, soweit er mit ihr in Berührung kam, erworben, so daß sie alle ihre Anliegen zu ihm trugen. Aber vor Verena, die im Glanze des Reichtums auftrat und alle ihre zugreifende Freundlichkeit doch von der Höhe der großen Dame herabfließen ließ, legten sie eine noch größere Ehrfurcht an den Tag. Michael mußte zuweilen denken, daß sie an der Seite eines großen Besitzers, von dem viele Menschen äußerlich und innerlich abhingen, eine nicht zu verachtende Ratgeberin und Gefährtin sein würde; trotzdem erwärmte ihr Walten nie sein Herz, und es schien ihm immer, als ob das Beste fehlte.
Eigentlich war ihr die Art dieses südlichen Volkes überhaupt zuwider; von Leuten der unteren Klassen gefielen ihr diejenigen, die arbeitsam, ordnungsliebend und unterwürfig waren, wie sie es in ihrer Heimat gewohnt war. Der Schmutz, die Nachlässigkeit, die Vergnügungssucht und Zutunlichkeit, die sie hier fand, waren ihr unleidlich, und mit der Beredsamkeit und dem Witz, der vielen eigen war, konnte sie sich nicht befreunden, weil sie selbst, in der fremden Sprache weniger beweglich, sich ihnen gegenüber unbeholfen vorkam. Wenn Michael, um seine Freunde zu entschuldigen, ihre Fehler den Priestern und katholischer Mißwirtschaft überhaupt zuschrieb, widersprach sie mit Entrüstung unter Hinweis auf Don Chrisostomo, der die Liederlichkeit des Volkes mit so viel Hingebung bekämpfte.
Je angenehmer sich im ganzen Michaels Beziehungen zu seiner Frau gestalteten, desto banger zog sich sein Herz zusammen, wenn er, allein mit sich, die Folgen davon fühlte und erwog. Solange sie sich hassend gegenübergestanden hatten, war das Kämpfen und Losreißen von ihrer Seite ihm natürlich gewesen; jetzt aber fing und fesselte sie ihn allmählich mit feinen Netzen von allen Seiten. Das war offenbar ihre Absicht, und er konnte ihr nicht einmal wegen ihres Planes, den sie klug und besonnen verfolgte, zürnen; denn im Grunde war es nichts, als was sich fast in jeder Hinsicht als ihre Pflicht ansehen ließ. Dennoch übermannte ihn zuweilen die Lust, das Gewebe zu zerreißen, sie abzuschütteln und wegzublasen wie eine Larve, ein ausgehöhltes, blutleeres Phantom, das spukhaft die langen, spitzen Finger nach ihm ausstreckte. Was jeden Ausbruch, zu dem es hätte kommen können, zurückhielt, war die Anwesenheit Marios; denn der war kein Spuk, sondern etwas Lebendiges, an sein Herz Gewachsenes, der, seit er lebte, nie aufgehört hatte, die Kinderarme weinend nach ihm auszustrecken, sowie er sich sehen ließ.
Michael hatte ihn zuletzt einen Augenblick gesehen, als er heimlich wie ein Flüchtling am Winterabend im Vaterhause war; damals war ihm zuerst aufgefallen, daß er das kleine Kind nicht mehr war, dessen runder, wonniger Körper zur Liebkosung anlockte, sondern ein magerer Junge mit Augen, die in dem schmal gewordenen Gesichte außerordentlich groß erschienen. In der Hilflosigkeit der schwachen Gestalt, die beständig eine Stütze zu suchen schien, hatte ein neuer Reiz gelegen, der sich auf die Dauer als mächtiger noch erwies, als der Paradiesesschmelz der unbewußten kleinen Seele. Inzwischen war er noch größer, magerer und schlottriger geworden und im Gesicht kaum schön zu nennen; nur daß die warmen, dunklen Augen noch denselben verführerischen Blick hatten, den Rose an dem einjährigen Kinde durch ein kaum wahrnehmbares Schielen erklärte. So wenig er Michael auch in den letzten Jahren gesehen hatte, hing er ihm doch mit immer gleicher, ausschließlicher, ergebungsvoller Liebe an. Seine Augen folgten seinen Bewegungen wie ein Stückchen Eisen dem Magnet; es war, als möchte er sich jeden Augenblick mit Leib und Seele hingeben, um sich immer wieder, indem er sein Leben aus des Vaters Hand empfing, ganz und gar als sein Kind zu fühlen. Obwohl Verena sich viel um ihn bekümmert und ihn nach vernünftigen Grundsätzen erzogen hatte, war kein spürbarer, innerer Zusammenhang zwischen ihnen. Wenn sein Vater ihm auftrug, sie beim Spazierengehen zu begleiten oder überhaupt in ihrer Gesellschaft zu bleiben, gehorchte er zwar widerspruchslos, tat es aber sichtlich ungern und wie einer, der in die Verbannung ziehen muß. Stellte Michael ihm vor, wieviel Dank er seiner Mutter schuldig sei, was alles sie für ihn getan hätte, so hörte er, die süßen schwarzen Augen beharrlich auf ihn gerichtet, still zu und sagte am Ende mit einem zarten Lächeln: »Ich liebe nur dich.«
Doch ließ er sich gern von ihr mitnehmen, wenn sie die Kirche besuchte; denn er liebte schöne, prächtige Gebäude, Bilder, Musik, Weihrauch und Feierlichkeit. Mit den katholischen Formeln und Gebräuchen, mit den Heiligen und ihren Legenden war er bald vertraut geworden und liebte es, sich beim Gottesdienst mit Bekreuzigen und Kniebeugen zu betätigen, was Verena gern sah und geschehen ließ. Auf eine Bemerkung Michaels, er wünsche nicht, daß Mario in religiöser Hinsicht beeinflußt würde, sagte sie ruhig, sie nähme ihn mit, weil er sonst überhaupt gar keine Kirche besuchen würde; über den Unterschied von Protestantismus und Katholizismus hätte sie nie mit ihm gesprochen und glaubte auch nicht, daß er sich darum bekümmere. Dies tat nun Mario freilich doch, aber er wußte seine Neigung für das Katholische sehr wohl mit seiner vergötternden Liebe zu seinem Vater, von dem er wußte, daß er anderer Meinung war, zu vereinigen. Ihn, der in seinen Augen hoch über allen anderen Menschen stand, hätte er sich überhaupt nicht in der Kirche, und vollends nicht auf den Knien betend, vorstellen können; er traute ihm zu, daß er seine eigenen Wege hatte, um mit Gott zu verkehren, und der Andacht mit der Gemeinde überhoben war. Auch er wollte, das war seine Meinung, nicht Katholik sein, sondern mit protestantischer Überlegenheit und zugleich herzlicher Sehnsucht durch die schönen Kirchen schlendern und heimlich ein verbotenes Kokettieren mit den lieben Heiligen treiben.
Mit dem Volke war Mario bald so vertraut, als ob er zwischen ihm geboren wäre, hatte in kurzer Zeit, man wußte nicht wie, seine Sprache gelernt und spielte mit den Arbeiterkindern am Meere. Er brachte Stunden damit zu, Muscheln zu suchen, Kahn zu fahren, im Meere zu baden und am Strande in der Sonne zu liegen, wobei er zusehends kräftiger und hübscher, braun und fest wurde. Verena drang zwar darauf, daß er arbeiten und Privatstunden nehmen sollte, denn sein Hang zum Schlendrian war ihr ein Greuel; aber in Michael fand er stets einen nachsichtigen Beschützer, wenn es galt, darum wegzukommen. Zunächst, meinte dieser, sei es wichtig, daß Mario in der Seeluft seine Gesundheit kräftige, und daß Sinn für die Schönheit der Natur in ihm erweckt würde. Insofern gingen Michaels und Verenas Meinungen, Marios Erziehung betreffend, stets auseinander; doch sah Michael wohl ein, daß Verena nicht unrecht habe, wenn sie ihn zur Arbeit anhalten wollte, und sie fühlte, daß Marios Neigung für die Kirche, die sie begünstigte, eben mit seinem verträumten Wesen, seinem Faulenzen und seiner Lust am Glänzenden, Prächtigen und Geheimnisvollen zusammenhing.
Es hatte damals in einer der nahe liegenden kleinen Ortschaften ein etwa zwölfjähriges Mädchen eine freistehende Scheune angezündet, um, wie sie selbst aussagte, den schönen Anblick eines lichterloh brennenden Hauses zu genießen. Der Fall hatte Aufsehen erregt, da das Mädchen durchaus nicht etwa als unzurechnungsfähig betrachtet werden konnte und ihre Handlungen doch nur durch krankhafte, entartete Triebe erklärbar zu sein schienen. Mario war von diesem Ereignis betört; er sah in dem Mädchen eine Zauberin und Heldin und gestand seinem Vater, daß er beständig von ihr träume und sich lange Geschichten ausdachte, in welchen sie die Hauptrolle spielte. Er schnitt ihren Namen, Liberata, in die Bäume und blieb allem Zureden seiner Mutter gegenüber verstockt, die ihm das Zugeständnis abringen wollte, das Mädchen hätte etwas sehr Schlechtes und Verabscheuungswürdiges getan. Gerade daß es ihr gleichgültig gewesen war, ob Vorräte von Heu und Getreide, Schafe und Rinder verbrannten, wenn sie nur den großen Flammenzauber sähe, fand er bewunderungswürdig und bekannte seinem Vater auf ernstes Befragen mit dem aufrichtigen Blick seiner spielenden Augen, daß er gern dasselbe tun würde, wenn er nicht zu feige wäre. Michael glaubte sich dabei beruhigen zu können und belustigte sich, wenn Verena immer wieder darauf zurückkam, in der Absicht, Marios Begriffe zu läutern, und dieser eigensinnig schweigend, von Zeit zu Zeit einen gutmütig kritischen Blick auf sie werfend, zuhörte.
Als Mario und Verena abreisten, kam es Michael erst zum Bewußtsein, welche Last auf seiner Brust gelegen hatte, solange sie da waren, und zwar hauptsächlich Marios wegen. So reizend auch seine zärtliche Gegenwart war, trug er doch schwer an dieser schwachen, saugenden Seele, die nicht selbst leben und alle Kraft aus seiner Seele ziehen wollte. Selbst seine anbetende Liebe war ein Zwang und eine Drohung: er war der erste, tiefe, schrankenlose Glaube des Kindes und verpflichtete ihn, nicht zu enttäuschen und damit vielleicht die Glaubensfähigkeit und Gesundheit des empfindlichen Herzens überhaupt anzutasten. War er nun auch am Tage wieder frei, so kam jetzt Mario geisterhaft bei Nacht, unabwehrbarer und quälender, als er in Wirklichkeit gewesen war. In schlaflosen Stunden zählte er jetzt oft die Jahre, die vergangen waren, seit er Rose kannte, die Jahre, die er schon gelebt hatte und die er etwa noch zu leben hätte, und es schien ihm dann, als müsse er eilen, daß ihm der Schweiß von der Stirne ränne, wenn er noch seine Ziele erreichen wollte; aber dann stellte sich Mario in den Weg, und immer, wenn er weiter wollte, stieß er an die schmale, geliebte Gestalt, die keinen Widerstand leistete, sondern ihn nur mit zärtlichen Augen vertrauend ansah. Auch Verena kam, aber nicht wie sie war, sondern mit traurigen Augen und gerungenen Händen, weiß wie Mondschein aus der Dunkelheit auftauchend und langsam wieder darin versinkend.
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Zur öffentlichen Anklage gegen den Freiherrn kam es nicht, weil seine zweite Ehe von der katholischen Kirche eingesegnet war und diese seine erste, nur bürgerlich geschlossene, als ungültig betrachtete, und da außerdem noch die zweite Frau sich von ihm trennte, hatte es damit sein Bewenden. Doch wurde der Freiherr seiner Professur, von der er durchaus nicht freiwillig zurücktreten wollte, entsetzt und entfaltete nun, da er zugleich aller übrigen Ämter und Ehrenämter ledig wurde, eine großartige Tätigkeit als Volksredner oder eigentlich Wanderprediger.
Er gründete eine Religionsgesellschaft, welche nebenbei den Zweck hatte, der Sozialdemokratie entgegenzuarbeiten, indem er den Leuten begreiflich machen wollte, daß sie weit mehr Interesse daran hätten, ihren Geist zu besorgen, der für die Ewigkeit gemacht wäre, als Gesellschaftsordnungen umzustoßen, deren Früchte, sie möchten noch so wohlschmeckend sein, sie nicht länger als ein Menschenalter genießen könnten. Am Schlusse seiner Vorträge durften Einwände gemacht und Fragen gestellt werden, wobei es sich durchweg zeigte, daß er nicht verstanden worden war; dies erzürnte ihn zuerst aufs äußerste; da sich aber trotzdem immer mehr Menschen an ihn anschlossen und ihm anhingen, ließ er es gehen und befliß sich nur größerer Deutlichkeit, die er durch lauteres Erheben seiner unerschöpflichen Stimme und durch eindringliches, aber gewähltes Schimpfen zu erreichen suchte.
Eines Abends versuchte er auseinanderzusetzen, daß es töricht sei, andere Menschen wegen günstigerer Lebensumstände zu beneiden, und sagte unter anderem: »In der Regel geht euer Unverstand nicht so weit, daß ihr andere Menschen um ihre Kinder beneidet, obwohl ihr häufig dazu Ursache hättet; ihr sucht vielmehr, wie die Meerkatze, ihre Garstigkeit als Lieblichkeit hinzustellen, indem ihr das Gefühl habt, daß niemand als ihr selbst daran schuld seid, wenn sie so und nicht anders sind. Die Verhältnisse, in denen ihr lebt, sind aber geradesogut euer Werk, kommen ebensogut aus eurem Innern heraus, wie eure Kinder, von deren Entstehen und Werden ihr keine Ahnung habt, die euch plötzlich unter großen Widerwärtigkeiten in den Schoß fallen und bleiben müssen, wie sie sind, wenn ihr sie durch Ziehen und Stoßen und Zerren auch ein wenig verbessern oder verschlimmern könnt. Und doch denkt ihr zuweilen: wäre ich doch der König! Aber nicht: wäre ich doch des alten Königs Kind! was vorangehen müßte, damit ihr König sein könntet, und wobei euch eher einfallen würde, wie verkehrt ihr gedacht habt.
Angenommen aber, ihr könntet König sein, so wären eure Untertanen nicht besser daran, als ihr es seid; daß ihr vor einer reicheren Tafel säßet, will ich freilich nicht leugnen. Wem daran etwas liegt, der beweist nur, daß es ihm nicht übel genug geht. Glaubt ihr, Gott hätte sich die Mühe gemacht, die ungeheure Welt in Bewegung zu setzen, damit ein paar menschlich geformte Würmer sich alle Tage satt essen können? Leiden, entbehren, darben, arbeiten und so weiter sollt ihr, wie jeder Teig geknetet werden muß, damit er aufgehen kann und leicht und reif wird.«
Während er sprach, fiel ihm unter seinen Zuhörern ein etwa achtzehnjähriger junger Mensch durch die angestrengte, ihm augenscheinlich Mühe verursachende Aufmerksamkeit auf, mit der er dem Vortrage zu folgen suchte. Er war groß und stark und hatte einen dicken, viereckigen Kopf, der mit kurzgeschorenen, graublonden Haaren bedeckt war; bedeutende Schwerfälligkeit und Beschränktheit des Geistes schienen ihm das Verständnis zu erschweren. Dabei hatte er das Rührende unbegabter Kinder, die gerne lernen möchten und bereit sind, durch unermüdlichen Eifer zu ersetzen, was ihnen an Scharfsinn abgeht. Am Ende des Vortrages hatte der Freiherr den Eindruck, daß der Junge etwas sagen oder fragen möchte, aber den Mut nicht habe, und forderte ihn auf, ohne Furcht auszusprechen, was er im Sinne hätte; worauf er dunkelrot wurde und in höchster Verlegenheit heftig den Kopf schüttelte. Beim Nachhausegehen sah der Freiherr den Jungen stehen, als ob er auf ihn wartete, nahm ihn mit und redete eine Weile zutraulich mit ihm, bis dieser plötzlich, einer Uhr ähnlich, an der man dreht und die auf einmal losschnurrt, seinerseits zu erzählen anfing, erstlich seine Lebensgeschichte und dann seine Lebensanschauung, welche ihn zu dem Entschlusse geführt hatten, eine große und schwere Tat, nämlich einen Königsmord, zu begehen. Auf die Frage des Freiherrn, was der König verbrochen hätte, daß er ihn ermorden wollte, sagte der Junge: das Verbrechen, König zu sein, kein anderes, und er schien dabei ein dunkles Gefühl von römischer Größe zu haben. Warum er ihm das erzählte? fragte der Freiherr; und der Junge sagte, er hätte, da die Tat in den nächsten Tagen ausgeführt sein müßte, das Bedürfnis gehabt, sich einem Menschen ganz zu eröffnen, damit, wenn er sterben müsse, man wisse, daß er aus edlen Beweggründen gehandelt habe; denn er wollte seiner Mutter, der einzigen Person, die er hinterließe, keine Schande bereiten.
Der Freiherr sagte: »Ich könnte jetzt Leute rufen, dich mit deren Hilfe binden und der Polizei ausliefern.« Der Junge schüttelte den Kopf und sagte ruhig: »Das werden Sie nicht tun; denn Sie haben mich gezwungen zu sprechen, und werden das nicht zu meinem Unglücke benützen.«
Der Freiherr, welchem die lobende Äußerung einfiel, die er einmal beiläufig über die Königsmörder gemacht hatte, und der sich sagte, daß er den merkwürdigen, ihm nicht unsympathischen Jungen möglicherweise in seinem Vorhaben bestärkt oder etwa gar dazu gereizt hätte, fühlte sich deswegen ganz besonders für ihn verantwortlich und suchte ihm seinen Plan als lächerlich und töricht auszureden, scheiterte aber mit allen Gründen an seinem maßlosen Eigensinn, den auch sein Kopf mit der stark vorgebauten Stirn andeutete. »Wenn du den König umbringst«, sagte der Freiherr, »tötest du vielleicht einen braven, vielleicht einen schlechten Mann, jedenfalls aber einen, der viel gescheiter ist als du.«
»Ich weiß, daß ich nicht gescheit bin«, sagte der Junge unbeirrt, »aber um einen Tyrannen zu ermorden, braucht man keinen Verstand, sondern Mut, und den habe ich.«
Der Freiherr verlor bei diesem aussichtslosen Gespräch allmählich die Geduld und geriet in einen Zorn, den er kaum beherrschen konnte. »Du bist ein Narr«, sagte er heftig, »renne in dein Verderben und hole dir, was du verdienst! Versprich mir aber, daß du nicht abreisen willst, ohne dich von mir zu verabschieden, wogegen ich dir verspreche, für deine Mutter zu sorgen, wenn es nötig werden sollte, und ihr zu beglaubigen, daß du ein dummer Teufel, aber kein Bösewicht bist.«
Der Junge gab feierlich das gewünschte Versprechen und erschien wirklich kurze Zeit darauf spätabends in der Wohnung des Freiherrn, blaß und aufgeregt, aber nichtsdestoweniger verbissen und entschlossen. Da sich der Freiherr nach der Waffe erkundigte, mit der er seine Tat vollbringen wollte, holte er ein langes Messer aus der Brusttasche hervor und ließ zu, daß es der Freiherr auf einen Nebentisch legte, bis sie zusammen den Abschied getrunken hätten; er stellte dabei ein Glas Wein vor den Burschen hin, das derselbe aber nicht berührte. Indessen ging der Freiherr im Zimmer auf und ab und stellte ihm vor, wie sein Unternehmen, er möchte sich anstellen wie er wolle, jedenfalls fehlschlagen und er keinen anderen als sich selbst verderben würde; dies sei zwar, wie die Dinge lägen, wünschenswerter als das Gegenteil, doch auch um ihn wäre es schade. Was läge schließlich daran, ob dieser oder jener König regierte, ja ob überhaupt ein König auf seinem Throne oder ein Präsident auf seinem Stuhle säße? Aber ob eine Seele lebte oder stürbe, das wäre wichtig; denn jede käme als Ansprecher einer Krone zur Welt, einer solchen Krone, die der Niedriggeborene so gut wie der im Purpur Geborene erringen könnte. »Helden und Erlöser der Menschheit«, sagte er, »sind aus dem Kehricht der Menschheit emporgestiegen; wer weiß, ob du nicht selbst ein Löwe unter den Menschen werden solltest und nun dein Leben wegwirfst, um eine Stubenfliege zu töten.«
In dem kindlich unausgebildeten Gesichte des Jungen, der steif auf seinem Stuhle saß und ihn mit den Augen verfolgte, sah der Freiherr, daß er mit seinen letzten Worten Eindruck gemacht hatte, und sprach nun lebhafter als zuvor in demselben Sinne weiter. Er hatte sich vorgesetzt, diesen querköpfigen Jungen zu bezwingen; nicht gewaltsam zurückhalten wollte er ihn, sondern freiwillig sollte er von seinem blödsinnigen Unternehmen abstehen und jede Erneuerung desselben in die Hände des Freiherrn abschwören. Er sprach von der Gemeinschaft, die er gründen wollte, von den höheren Menschen, die für die Zukunft herangebildet werden müßten, von dem Wissen, das er ihnen beibringen würde, so feurig und schwungvoll, daß der Junge bald aufhörte, etwas davon zu verstehen, aber überwältigt von der blendenden Aussicht, die sich ihm auftat, in atemloser Verzückung den Freiherrn anstarrte. Er fühlte sich zugleich erhoben und vernichtet durch die Stärke des Willens, der sich seiner bemächtigt hatte. »Ich habe auf dich gerechnet«, sagte der Freiherr; »durch deine Dummheit und Starrköpfigkeit und Verblendung hindurch habe ich ein Fünkchen glühen sehen, das ich anfachen will. Du sollst mir helfen, ein Reich Gottes unter den Menschen aufzubauen, ohne Blutvergießen und Güterverteilung, aus der Kraft des Geistes und Liebe des Herzens heraus. Hättest du den Mut, die Hand zurückzuweisen, die dich aus deiner Jämmerlichkeit reißen will, den Augenblick zu verpassen, wo du für dein langes Küchenmesser ein feuriges Schwert eintauschen kannst, um zwischen Engeln und Geistern zu kämpfen?«
Der Junge zitterte und weinte und sah mit großen Augen zu, wie der Freiherr sein Messer in ein Schubfach seines Schreibtisches warf und es abschloß; dann trank er auf sein Geheiß das Glas Wein aus, das noch unberührt vor ihm stand. Nachdem er sich ein wenig gefaßt und erholt hatte, entließ ihn der Freiherr mit den Worten: »Ich habe in dein Leben eingegriffen und bin jetzt verantwortlich für dich, das werde ich nicht vergessen. Vergiß du nicht, daß du dich von mir führen lassen mußt, zunächst noch wie ein Blinder; denn das bist du. Jetzt geh nach Hause und schlafe dich aus!« Er schwankte einen Augenblick, ob er ihn selbst begleiten sollte, überzeugte sich aber leicht, daß der arme Mensch gegenwärtig keinen anderen Willen hatte als den seinigen, und ließ ihn gehen. Er war erhitzt und erschöpft, so daß er froh war, sich in einen Stuhl werfen und ausruhen zu können – denn er hatte lange und mit beständiger Willensanspannung gesprochen –, zugleich aber befriedigt über den Erfolg. Er konnte nicht ohne Lachen an den großen, strohblonden, dummen Jungen denken, der sich von nun an ohne weiteres als seinen Diener betrachtete und ihm mit unbedingter, leidenschaftlicher Hingebung anhing.
Als Michael, auf einer Reise nach Hause begriffen, den Freiherrn aufsuchte, fand er ihn von Zufriedenheit strahlend, ganz erfüllt von seinem neuen Berufe. Das Beste von allem, erzählte er, sei aber doch, daß er durch die schwebende Anklage wegen Doppelehe von seiner Frau befreit worden sei. »Stellen Sie sich vor«, sagte er, »daß ich zehn Jahre lang keinen Teller Suppe essen konnte, ohne daß diese schmachtende Närrin mir gegenübersaß. Trotzdem wäre mein Glück nur halb, wenn es mir nicht gelungen wäre, sie gegen mich zu erbittern, einen bescheidenen Stachel aus der Fettschicht ihrer Seele zu locken, das halberstickte Feuerchen wieder anzublasen. Anfangs wollte sie, obwohl ich ihr vorstellte, welchen Betrug ich an ihr verübt hätte, und daß ich nunmehr deswegen ins Zuchthaus kommen würde, mich keineswegs verlassen, vielmehr Schande und Gefängnis mit mir teilen. Das würde ich lebhaft bedauern, sagte ich ernstlich erschrocken; denn diese Person könnte den ehrwürdigsten Kerker in ein fades Boudoir verwandeln. Du bist hübsch und friedlich, Julia, sagte ich zu ihr, aber langweilig. Ich habe dich liebgewonnen, weil du mir eine Feuerseele voll hoher Sehnsucht und kindischen Strebens zu sein schienest; als wir aber geheiratet hatten und ich sah, daß du durchaus nicht die ganze Welt, sondern mich allein umarmen wolltest und außer Lieben und Geliebtwerden dir alles gleichgültig war, belästigte mich deine Gegenwart ungemein, und ich besuchte täglich meine erste Frau, welche eine alte Dame, aber ebenso liebenswürdig wie interessant ist. So wie du bist, ist jede Äpfelverkäuferin auf dem Markte, die wenigstens durch Geschwätzigkeit ein geistiges Lebenszeichen von sich gibt, dir vorzuziehen; es kann aber noch viel aus dir werden, wenn du alles Ehrgefühl, Stolz und Willenskraft zusammennimmst, um vom Lotterbett der Liebe aufzustehen.
Durch viel solches Zureden angeregt, und da ihre Verwandtschaft dringend von ihr forderte, daß sie sich von mir trennte, wendete sie sich endlich entrüstet von mir ab; zwar wurde sie im letzten Augenblicke wieder schwankend, ließ sich aber durch die fröhliche Aussicht beschwichtigen, daß wir uns vielleicht nach zehn Jahren, beide gereift und geläutert, wieder sehen, wieder lieben und heiraten könnten.«
Michael sagte lachend: »Wenn Sie nur nicht schon vorher wieder in den verhängnisvollen Käfig eingesperrt sind!« Allein der Freiherr behauptete, sich zwischen seinem Königsmörder, seinem Sindbad und anderen Getreuen so wohl zu fühlen, daß er keinen Schritt mehr in die feine Welt täte, bei deren Damen er einst so viel Glück gehabt hätte. Sindbad nannte der Freiherr jenen Deutschrussen namens Isidor, den Michael im Anfang seiner Studienzeit kennengelernt hatte, und zwar aus folgendem Grunde: In einem Vortrage des Freiherrn hatte den Unglücklichen sein krankhafter Hang befallen, sich etwas Fremdes, das ihm zufällig ins Auge stach, anzueignen. Eine neben ihm sitzende Dame trug an einer vom Gürtel herabhängenden Kette ein kleines altertümliches Fläschchen mit zierlicher Goldverkleidung über dem Stöpsel, für Wohlgerüche bestimmt, das seine Aufmerksamkeit fesselte. Er sah, daß er es mit einiger Geschicklichkeit würde ablösen können, und machte sich damit zu tun, wurde aber von der Dame ertappt, die, den vornehmen Ständen angehörig, nicht ohne Mißtrauen in die Versammlung gegangen war, wohin viel arme Leute kamen, und sofort Lärm schlug. Dem Freiherrn gelang es nicht nur, die Dame, sondern auch Isidor zu beruhigen, der ihn seitdem wie einen Lebensretter, ja wie ein Götterwesen, das ihm das Leben ermöglichte, verehrte. Auf den Wunsch des Freiherrn hatte er ihm treu geschildert, was in ihm vorging, wenn er solch einen unsinnigen Diebstahl ausführte: wie er zuerst den betreffenden Gegenstand unablässig ansehen müsse, bis er das Gefühl hätte, er gehörte ihm eigentlich zu, wie es dann seine Hand hinzöge, wie sie plötzlich lebendig würde und wie ein hungriges Tier nach der Beute züngele, endlich zuschnappe und sie verschlinge, während er selbst in einer Art von Betäubung, entsetzt und ohnmächtig zusähe.
»Sie schleppen irgendeinen diebischen Urgroßvater in Ihrem Leibe herum«, sagte der Freiherr, »wo er nach göttlicher Absicht sein Fegefeuer durchzumachen hat, der zuweilen mächtiger als Sie wird, den Sie aber unerschrocken bekämpfen müssen, um ihn zu erlösen. Sie erinnern mich an jenen Sindbad, den Reisenden aus den Märchen von Tausendundeiner Nacht, dem, wenn mir recht ist, von ungefähr ein kleines altes Männchen auf die Schulter fiel, das er nicht abschütteln konnte, wieviel Mühe er sich auch gab, sondern als eine unheimliche, widerwärtige Last, als wäre es angewachsen, mit sich herumtragen mußte.«
Für Isidor hatte diese Vorstellung etwas Beruhigendes und Befreiendes gehabt; für Michael dagegen war sie abschreckend, und er bemühte sich vergebens, sie wieder loszuwerden. Als er in Arabells Wohnzimmer, die er nun aufsuchte, Isidor sitzen fand, war es ihm, wie in früherer Zeit, als ob ihn ein feuchtes, kriechendes Ungeziefer berührt hätte; der Eindruck trug dazu bei, ihm die Verhältnisse, in denen er Arabell antraf, noch trübseliger erscheinen zu lassen. Es hatte Boris nicht gelingen wollen, sich eine einträgliche Praxis zu gründen, sei es, daß die Bevölkerung kein Zutrauen zu dem Ausländer fassen mochte, oder daß seine politischen Überzeugungen ihm schadeten, oder daß seine Persönlichkeit nicht beliebt war. Wie Michael bereits durch den Freiherrn wußte, reichten seine Einnahmen kaum aus, um den Haushalt zu bestreiten, der mit den drei Kindern, die sich nacheinander eingestellt hatten, eine erhebliche Last bedeutete. Es war Michael eine Beruhigung, Arabell äußerlich ganz unverändert zu finden; nur ihre Gestalt war breiter und formloser geworden, wodurch aber der feine Kopf, den sie trug, nur noch kindlicher erschien. Indessen die Stimmung von uneingestandener Armut, die von der Straße, von dem Hause und von den Zimmern ausging, wo sie wohnte, und die Art, wie sie sich dazwischen bewegte, als fürchtete sie beständig, diese Armut zu berühren, schnürte ihm die Kehle zusammen. Es drängte ihn, sie zu fragen: Wie erträgst du das? Kann deine Seele hier schweben und tanzen? Aber die Anwesenheit Isidors beengte ihn, wie sie auch ihr die freie Bewegung zu rauben schien. Da sie ihm auf seinen Wunsch ihre drei Kinder vorstellte, mußte er lachen und sagte, er hätte sich von deren Leibhaftigkeit überzeugen wollen, und ob sie nicht nur als von der Ehe gehörenden Ausstattungsgegenständen von ihnen spräche; trotzdem er aber nun an die Kinder glauben müsse, sei es ihm noch immer unglaublich, daß sie die Mutter sei. »Zur Welt gebracht habe ich sie, das kann ich bezeugen«, sagte Arabell lächelnd, »und das berechtigt ja zum Titel Mutter. Übrigens verhalte ich mich zu ihnen wie Kassandra zu ihren Weissagungen, die sie, von einem unbekannten Gott geschüttelt, ausschreien mußte, um sie hernach fremd und grauend anzustarren.«
Indem sie vom Freiherrn sprachen, wurde Arabell lebhafter. »Es ist mein Schicksal«, sagte sie, »daß ich niemals mit ihm zusammentreffen kann. Jetzt verstehe ich, wie lächerlich und töricht ihm die Ansichten vorkommen mußten, die ich damals hatte. Damit konnte sich sein Geist freilich nicht abgeben, nachzugrübeln, warum der eine so viel und der andere so wenig verdiente, und warum dieser vor einer vollen und jener vor einer leeren Schüssel sitze. Mögen Tausende vor Hunger sterben, Tausende mit ungepflegtem Körper hinsiechen, Tausende vor Bergen von Elend nie die Sonne sehen, wenn nur über den Geopferten ein Glücklicher entsteht, der aus Blut und Tränen und Gelächter das Schöne schafft, das Ewige über dem Vergänglichen.«
Isidor sagte: »Der Freiherr nennt die Kunst eine Brücke zu Gott, die man hinter sich abbrennen kann, wenn man das Ziel erreicht hat.« – »Darum eben«, sagte Arabell, »verstehe ich ihn jetzt noch weniger als früher. Für mich existiert nur das Schöne; wenn man es mir entrisse, würde ich stürzen und sterben.« Ihre Augen loderten, indem sie das sagte, in einer Ekstase, die Michael krankhaft vorkam.
Als Isidor fort war, fragte Michael, ob er häufig zu ihr käme und ob es ihr lieb wäre. »Er kommt täglich«, sagte Arabell, »und es ist mir nicht lieb, sondern schrecklich; aber da er niemanden hat außer uns, und da er meines Mannes einziger Freund ist, kann ich ihn nicht wegschicken. Anfangs war es mir unerträglich, jetzt denke ich, ich muß ihn nehmen wie das Leben, das auch immer neben einem sitzt wie ein Alp, häßlich und quälend, ohne daß man weiß, warum es gekommen ist und warum es nicht fortgeht.«
»So dachten Sie doch früher vom Leben nicht«, sagte Michael erschrocken. Sie lachte und sah ihn mit ihren großen blauen Augen hell an. »Erinnern Sie sich nicht mehr?« fragte sie; »damals kannte ich es ja nicht. So urteile ich, seit ich es kenne.«
Für den Abend verabredeten sie ein Zusammentreffen in einem Wirtsgarten, damit Michael auch Boris sähe. Ihn fand Michael sehr verändert; er sah gealtert aus, sein Gesicht war voll Falten und sein elastischer Körper erschlafft. Zu seinen übrigen Sorgen hatte sich ein Ohrenleiden gesellt, das ihn für die Zukunft mit völliger Taubheit bedrohte und das ihm schon jetzt die Teilnahme an einem allgemeinen Gespräche sehr erschwerte. Sein gespanntes Hinhorchen, wenn andere sprachen, hatte für Michael etwas Beunruhigendes; aber am peinlichsten berührte es ihn, daß, obwohl Boris seine Frau häufig mit brennenden Blicken betrachtete, die von eifersüchtiger Liebe zeugten, eine heimliche Feindseligkeit zwischen ihnen zu liegen schien, die sie nur dadurch äußerten, daß jeder das, was der andere sagte, mit übertriebener Bitterkeit bekämpfte. Allerdings hatte sich ja auch Arabell aus dem Ideenkreise, in dem sie sich zuerst begegnet waren, gänzlich entfernt, was Boris, der desto hartnäckiger darin beharrte, fortwährend als persönliche Kränkung empfand. Die Kunst sei ein Luxusgegenstand für die Reichen, sagte er, und sowie sich eine Gelegenheit bot, machte er spöttische Bemerkungen darüber, daß Arabell, anstatt sich um die Küche oder um ihre Kinder zu bekümmern, halbe Tage über Büchern oder in Gemäldeausstellungen zubringe.
»Machst du mir das zum Vorwurf?« sagte Arabell scharf. »Davon lebe ich. Kinderwäsche und Suppe kochen und Strümpfe stopfen habe ich zum Überdruß; aber das gibt mir keine Antwort auf meine Fragen. Wenn die Schönheit von einem Gedicht oder von einem Bilde in meine Seele strömt, fühle ich, daß alle diese ekelhaften und törichten Kleinigkeiten, mit denen ich mich so schwer plagte, nur Träume waren, und daß nichts darin liegt, ob ich und zahllose andere im Traume glücklich oder elend sind.« Ihre Augen ruhten mitleidlos auf ihm, während sie grausame Dinge sagte, von denen sie wußte, daß sie sein Herz bluten machten. »Bei Kinderwäsche und Suppe kochen fühlt sich manche Frau überglücklich«, sagte Boris hart; »es ist nicht meine Schuld, daß dein Geschmack eine andere Richtung hat.«
Michael suchte zwischen ihnen zu vermitteln, obwohl er fühlte, daß es umsonst, ja daß es noch besser war, wenn sie mit Steinen nach ihren Meinungen warfen, als unmittelbar nach ihren Herzen. Es hatte etwas so Schmerzliches für ihn, diese beiden jungen Menschen zu sehen, für die das kaum begonnene Leben schon aus war, daß er zweifeln mochte, ob dies derselbe See und derselbe hohe Sternenhimmel wäre, unter dem sie so glückliche Tage voll Jugend und Hoffnung gelebt hatten. Aber ihm, das fühlte er zugleich, konnte das nichts anhaben. Hinter ihm lag ohnedies die Frühlingsstadt, und er mußte weiter zu lichteren Höhen. Was ihn zuweilen beängstigt hatte, daß die Ziele seines Lebens noch immer so fern vor ihm lagen, das erkannte er jetzt als hohe Glücksgunst; er war noch ein Junger und Hoffender, und der Kranz rauschte noch grün, den die schöne Hand des Lebens ernst und verheißend über seinem Haupte hielt.
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