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Michael reiste sofort ab, damit Verena ihn jetzt nicht mehr sähe; denn er begriff, daß ihr sein Anblick unleidlich sein müsse. Er dachte an den kleinen Mario, der nach ihm weinen würde und an dessen Bette nun die leidende Frau mit dem zerrissenen Herzen saß, und es war ihm sehr weh zumute; dennoch genoß er ein Gefühl von Frieden wie nach einem gut bestandenen Kampfe, der ihm viel Blut aus tiefen Wunden gekostet hatte. Erst bei seiner Abreise beschloß er, nicht sofort zur Universität zu reisen, sondern zuvor Rose aufzusuchen, die den Winter ihrer Studien wegen in einer großen Stadt zugebracht hatte; er wollte bei ihr innewerden, daß es gut so war. Als er kaum ihre Nähe fühlte, erschien ihm alles, was er gelitten hatte, gering neben dem Glück, das ihm von ihr wurde, und es kam ihm überflüssig vor, ihr durch Erzählung dessen, was er durchgemacht hatte, Unruhe und Schmerz zu bereiten. Indessen so flüchtig er sich auch ausdrückte, ahnte sie doch, was in Wirklichkeit gewesen war, und überströmte ihn mit der ganzen Liebe und Fülle und dem Balsam ihres Wesens. »Warum weinst du?« fragte er leise, zu ihr aufsehend, während seine Hände in ihrem Schoße gefaltet lagen. »Du wirst mir doch nie ganz gehören«, sagte sie; »aber sprich nicht davon, denn ich habe dich jetzt und will nicht weiter denken.« Er wollte auffahren und ihr widersprechen, allein sie küßte ihn auf den Mund und sagte bestimmt: »Was du auch sagst und wie fest auch dein Wille ist, mein Gefühl weiß es besser und läßt sich nichts ausreden; laß uns aber heute nicht von der Zukunft sprechen.«
Er wurde traurig und fragte mit Vorwurf, ob sie ihm nicht vertraue, so daß sie die Worte fast bereute und erklärend hinzufügte: »Ich habe gesagt, was mir durch den Sinn flog, wie ich es mit dir gewohnt bin, und anders mußt du es nicht nehmen, da ich selbst nicht weiß, wie anders ich schon morgen darüber denke. Störe mich nicht in meinem Glücke! Könnte nicht einer glücklich sein, wenn er auch wüßte, daß er die nächste Stunde sterben müßte? Es ist ja nur, weil wir uns allzusehr lieben, daß ich nicht glauben kann, wir sollten uns jemals ganz besitzen.«
Das eben, sagte Michael, der Aberglaube, ein volles Glück könne keinem Sterblichen zuteil werden, lähme die Menschen und drücke sie nieder. Man müsse den Mut haben, es zu wollen, dann hätte man auch die Kraft, es zu erringen, und das Recht, es zu genießen. Noch fühle er sich ungebrochen, so viel auch an ihm gerüttelt worden, ja oft empfände er gerade im Schmerz, wie er an Kräften gewachsen wäre.
Da Rose an ihrem jetzigen Aufenthaltsorte nicht bleiben wollte, suchten sie zusammen ein kleines Städtchen auf, das ihr wegen seiner lieblichen Lage gerühmt worden war, wo sie für die nächste Zeit ihren Wohnsitz aufschlagen wollte. Sie kamen in später Nachmittagsstunde an, als die sinkende Sonne nach einem schönen Tage über dem Flusse stand, an dem das Städtchen lag. Sie mußten, da der Bahnhof vor dem Tore lag, etwa eine Viertelstunde an dem schilfreichen Ufer des Flusses entlanggehen, vor sich waldige Höhen über den alten Türmen und Giebeln des kleinen Ortes. Sie gingen Arm in Arm und atmeten mit Entzücken die kühle, feuchte Luft, die vom Wasser herwehte; es floß mit Gold und Purpur in weichen grünen Wellen und glich einem Strom der Freude, der Glückliche in ein Land der Wonne führt. Über dem altertümlichen Stadttor war eine Nische, in der ein Marienbild mit Blumen geschmückt stand, und die schmalen Häuser waren mit Fenstervorsätzen versehen, wo hochrote Pelargonien in Töpfen blühten und brennende Nelken, die ihre Köpfe an langen Stengeln an der Mauer herunterließen. Auf holperigem Pflaster liefen Mädchen und Knaben barfüßig und trieben schnatternde Gänse in ihre Ställe; aber auf dem Marktplatz waren verschiedene Geschäfte mit Auslagen und auch eine Buchhandlung, vor der sie stehenblieben und die Titel verschollener Bücher auf vergilbtem Umschlag lasen. Auf einem anderen, ganz engen und winkligen Platze erhob sich eine große, schwärzliche Kirche von gemischter Bauart mit einem sehr hohen Turme, der in dieser Umgebung riesig erschien. Sie fanden unfern eine passende Wohnung für Rose, und nachdem ihre Sachen eingetroffen und untergebracht waren, sahen sie aus dem kleinen Fenster auf den Dom, der in der Dämmerung, die inzwischen eingebrochen war, einem geisterhaften Berge gleich wurde. Michael sagte, er glaube bemerkt zu haben, daß die Wirtin sie mit einem mißtrauischen Blick betrachtet hätte, und Rose möchte ihm die Bitte erfüllen, sich als seine Frau auszugeben; es wäre nicht anzunehmen, daß ihr an diesem kleinen, abgelegenen Orte Unannehmlichkeiten daraus erwüchsen. Sie sah ihn ruhig an und sagte nach einer Weile ja. »Ist es auch dir so«, fragte er, »daß es dir jeden Tag erscheint, als liebtest du mich inniger als am vergangenen?«, wozu sie lächelte und nickte.
Sie waren dennoch beide ungeduldig, wieder an ihre Arbeit zu gehen, und trennten sich schon am folgenden Tage, leichter als je zuvor, da sie sich ein Wiedersehen im Laufe desselben Jahres versprochen hatten. Der Freiherr wünschte nämlich ein von ihm verfaßtes zoologisches Werk mit Bildern ausgestattet zu sehen, die er nur einem guten und gebildeten Künstler anvertrauen wollte, und Michael hatte sogleich an Rose gedacht, nicht etwa weil ihm das Gelegenheit geben würde, sie zu sehen, sondern weil er wußte, daß eine solche Arbeit, bot sie ihr auch in künstlerischer Beziehung nicht viel, wegen der damit verbundenen Belehrung ihr äußerst erwünscht sein würde. Der Gedanke hatte großen Reiz für ihn, daß sie sich mit Dingen eingehend beschäftigte, die ihm so viel Genuß gewährten, ebenso daß sie den Freiherrn kennenlernen würde. Denn obwohl ihm schon die Vorstellung, ein Mann könne ihr Kleid mit Zärtlichkeit streifen, unerträglichen Schmerz verursachte, so drängte es ihn doch stets, ihr alles mitzuteilen, was ihn anregte, und die Menschen, die ihm lieb waren, aus ihren goldenen Augen verschönert zurückzuempfangen.
Der Freiherr, der den Vorschlag lebhaft ergriff, sagte: »Dies Fräulein ist es, das Sie lieben, das zu merken bedarf es keiner Sehergabe. Mögen Sie mir vertrauen, so sagen Sie mir, was die Ursache Ihrer Leiden ist; denn über verschmähte Liebe werden Sie wohl nicht zu klagen haben.« Wenn Michael bisher von seiner Liebe zu Rose hatte sprechen müssen, hatte er es getan, wie ein unbeteiligter Berichterstatter eine Tatsache feststellt; auch jetzt kam es ihm nicht leicht von den Lippen, und doch tat es ihm wohl, sich dem Freiherrn gegenüber zu äußern. »Sie haben einen schönen Mund«, sagte der Freiherr, indem er ihn freundlich betrachtete, »der die Bescheidenheit vornehmer Gesinnung ausdrückt; allzu jungfräulich verschlossen, um eines Dichters Mund zu sein, der von Wohllaut rauscht, aber süß und reif genug, um schön zu reden und zu küssen.« Michael errötete und sagte: »Nein, ich bin unbeholfen und spröde im Ausdruck, und ich danke Ihnen oft im Innern, daß Sie verstehen, wie viel Sie mir sind, ohne daß ich es ausspreche.«
In bezug auf das, was Michael ihm erzählt hatte, sagte der Freiherr: »Das sind großenteils überflüssige Schmerzen. Die Freiheit Ihrer Entwicklung muß Ihre Familie Ihnen gönnen, ob nun freiwillig oder weil sie sich fügt, und den Segen einer echten Leidenschaft zu genießen, können Ihnen weder Menschen noch Götter verwehren; den Schmerzen, die sie mit sich bringen muß, werden Sie sich nicht entziehen wollen.«
»Und meine Frau, die ich unglücklich mache, und mein Kind, das ich verlieren soll?« sagte Michael.
Der Freiherr lachte ingrimmig und antwortete: »Ich merke schon, der Gaul wittert den Stall. Michael, soll ich Sie, meinen Erzengel, unter den Talgfressern sehen? Freilich wenn Sie das Fräulein heiraten wollen, damit verschütten Sie alles! Fühlen Sie denn gar nicht, wie häßlich, gemein und dürftig dies stete Beieinanderkauern in der Ehe ist? Proserpina verfiel der Unterwelt, weil sie vom Apfel gegessen hatte, daran denken Sie.«
»Das begreife ich jetzt besser, als ich es früher gekonnt hätte«, sagte Michael. »Trotzdem bleibt das: solange ich der Gatte meiner Frau bin, wird sie Liebe von mir verlangen, die ich ihr nicht geben kann, und solange ich der Mann derer, die ich liebe, nicht bin, setze ich sie der Bosheit schmähsüchtiger Menschen aus.«
»Ich kann mir nicht denken«, entgegnete der Freiherr, »daß eine Frau, die Sie geheiratet haben, der Liebe unwert ist; nach allem, was Sie mir mitgeteilt haben, müssen Sie sie liebhaben können, wenn Sie kein Schuft sind. Was die andere betrifft, ist sie nichts als ein feuriges Weibchen, die keine Ruhe findet, bis sie ihre Bestimmung zu lieben und zu leiden erfüllt hat, so mag sie wie ein Maikäfer oder eine Eintagsfliege zugrunde gehen, und das mag Sie meinetwegen rühren, darf Sie aber nicht aus dem Geleise werfen. Ist sie ein Mensch, dessen Bestimmung es ist, zu kämpfen und zu werden, so wäre es unbillig, wenn Ihre größte Sorge wäre, ihr das Nest recht weich zu machen. Geben Sie einem solchen Menschen die Schätze Ihrer Liebe und lassen Sie sich darin durch kein Gesetz und keine Rücksicht irremachen, dann haben Sie alles gegeben, was er von Ihnen wollen konnte.«
Michael schüttelte den Kopf und sagte: »Wir werden uns nie ganz verstehen, weil Sie über vielem stehen, wovon ich ganz umfangen bin. Auch ist im Leben nicht alles anwendbar, was fein und groß gedacht ist. Man braucht doch Geld zum Leben und ist an eine gewisse Weite der Bewegung gewöhnt. Da wir die Gesellschaft brauchen, wie dürfen wir sie dazu herausfordern, uns auszustoßen?«
»Die Gesellschaft ist eine Bestie«, sagte der Freiherr, »die sich duckt, wenn man sie furchtlos anschaut. Was man für recht hält, soll man zu sagen und zu tun nie unterlassen aus Furcht vor dem blökenden und brüllenden Haufen; nur soll man, wie der Tierbändiger, nie die Peitsche aus der Hand lassen.«
Daß der Freiherr nach diesem Grundsatz handelte, hatte er eben jetzt Gelegenheit zu zeigen, da folgender Vorfall die Gemüter bewegte: In der Hauptstadt war zu einer Gemäldeausstellung ein Bild eingereicht und angenommen worden, welches »die heilige Agnes« betitelt war und die keusche Märtyrerin im Hause der Unzucht, wohin die Henker sie geschleppt haben, von Freudenmädchen umringt darstellte, in dem Augenblick, als der heidnische Liebhaber, ehe er sie berühren kann, vom Blitz Gottes getroffen zu Boden sinkt. Das Bild hatte einige Stunden in der Ausstellung gehangen, als es auf Befehl der Regierung als anstößig und unsittlich entfernt wurde, was die größte und allgemeinste Überraschung hervorrief, die sich noch steigerte, als verlautete, es werde ein Gesetz ausgearbeitet, das für die Zukunft das Ausstellen anstößiger Bilder unmöglich mache, und eine starke Regierungspartei werde die Annahme desselben erzwingen.
Es wurden nun, um dem entgegenzuarbeiten, allerorten Unterschriften gesammelt, Versammlungen und Reden gehalten, Vereine gegründet, wobei die verschiedensten politischen Richtungen ausnahmsweise einig vorgingen; doch entfalteten die Sozialdemokraten eine besonders lebhafte Tätigkeit. Auch der Freiherr wurde von vielen Seiten angegangen, in öffentlicher Rede seine Meinung zu sagen; denn seinen berühmten Namen wollten die Aufgeregten gern unter ihre Mitkämpfer zählen, auch gab es in der Universitätsstadt keinen, dessen Worte so zündend zu wirken pflegten. Zunächst wehrte er sich gegen diese Zumutung mit Entrüstung; er scheute jede Verbindung mit den Sozialdemokraten, die hier an der Spitze standen, innigst, war noch nie als Volksredner aufgetreten und fand es überhaupt eines Narren würdig, seine Meinung einem blöden Haufen aufzudrängen, der dieselbe zwar annehmen, aber nicht richtig verstehen und jedenfalls so dumm wie zuvor bleiben würde. Trotzdem gab er schließlich nach, weil es ihn lockte, in dieser Angelegenheit seine Meinung öffentlich zu äußern, und weil es doch immerhin besser sei, daß er Vernunft predige, als daß irgendein Esel die Gelegenheit zu aufgeblasenen Redensarten benütze, die nachher von Hunderten zum Ekel nachgeschwatzt würden.
O Stadt der Jugend, der Freiheit und der Hoffnung! Über den dunkelblauen See fegten geblähte Segel zwischen Ruderkähnen und den flinken schwarzen Dampfbooten, über denen leichte Wölkchen Rauch in die sengende Sommerhitze schwebten. Lachen und Singen war über dem flimmernden Spiegel und auf den rauschenden Höhen. Am muntersten bewegt waren die Scharen, die zur Universität hinaufströmten, wo gegen Abend die Rede des Freiherrn stattfinden sollte; sie hatten sich zeitig aufgemacht und standen unterwegs unzählige Male still im lebhaften Gespräch oder um andere zu begrüßen. Als der Freiherr daherkam, von weitem sichtbar und kenntlich an seiner hohen Gestalt und seiner gebieterischen Nase, wichen alle ein wenig zurück, um zu grüßen und sich an seiner Art zu freuen, wie er den breitrandigen Strohhut mit gemessener Bewegung etwas lüftete und einen streng musternden Blick über die Umstehenden gleiten ließ, als wollte er jede Ungebühr im voraus unterdrücken. Auch diejenigen, die ihn fürchteten oder sein aristokratisches Wesen bemängelten, liebten ihn an diesem Tage, weil er eine Angelegenheit der Freiheit verfocht, und liebten ihn um so mehr, weil er es mit vornehmen Gebärden und herrischer Haltung tat. Als er, durch anhaltendes Händeklatschen begrüßt, das erhöhte Pult bestieg, nahm er wahr, daß seine Allergetreuesten in der vordersten Reihe saßen und Arabells Augen groß und feierlich erwartungsvoll an ihm hingen; neben ihr saß ein Mädchen, das er noch nicht kannte. Es fiel ihm sofort ein, daß das Rose sein müsse, welche die Bilder zu seinem Werke machen sollte und die Michael liebte; er betrachtete ihr kindlich weiches, harmonisches Gesicht, das ihn mit stillen Götteraugen ansah, voll Überraschung und Teilnahme. Der Lärm der Begrüßung war schon verstummt, als er noch umhersah und Michael zulächelte; er fühlte sich der Gedanken und des Wortes so mächtig, daß ihm das gespannte Horchen der begierigen Menge nicht die leiseste Unruhe verursachte, vielmehr schien er sich selbst über diese ihm ungewohnte Lage zu belustigen.
Er fing damit an, zu erklären, daß er das Bild, um welches der Streit entbrannt war, für in der Tat anstößig erklärte; denn es veranschaulichte einen höchst erbaulichen Gegenstand vom Standpunkte eines gottlosen Menschen, welcher der Legende erhabenen Sinn nicht erfaßt und den Gegenstand augenscheinlich nur gewählt habe, um Gelegenheit zur Wiedergabe vieler nackter und halbnackter Figuren zu haben, in dem weitverbreiteten Irrtum befangen, das Nackte müsse unter allen Umständen schön sein. Diejenigen Herren, welche das Bild in die Ausstellung aufgenommen hätten, seien dazu durch große technische Vorzüge, die das Bild haben sollte, bewogen worden und hätten das vor ihrem künstlerischen Gewissen und dem Publikum zu verantworten; auf das schärfste zu tadeln seien sie aber, daß sie die erteilte Erlaubnis zur Ausstellung auf den Wunsch eines Unbefugten rückgängig gemacht hätten.
Befugt sei nämlich keiner, die Ausstellung von Kunstwerken unmöglich zu machen, so schädlich solche unter Umständen auch wirken könnten. Freilich wenn es Menschen gäbe, die göttliche Urteilskraft besäßen, wäre es höchst vorteilhaft, wenn diese vorschrieben, was der Menge an Kunst vor die Augen kommen sollte; denn die Kunst sei für viele Menschen die einzige Quelle, aus der sie Anregung schöpfen, um sich aus dem Sumpf ihres Alltagslebens zu erheben, und traurig und gefährlich wäre es, wenn dieses Band sie, anstatt durch schöne Ideen mit Gott, durch Sinnenreiz noch enger mit der Welt verknüpfte. Aber leider besäßen solche schiedsrichterliche Gabe am seltensten die Menschen, die ihre Urteile am ehesten vollziehen lassen können. »Es gibt«, sagte er, »unter den lebenden Wesen Seelen, Fleisch und Geist. Seelen sind die Tiere, Fleisch die meisten und Geist sehr wenige Menschen. Die meisten Seelen nämlich, wenn ihnen die Augen aufgehen, schnappen ohne Besinnen nach dem Fleisch und andern guten Schüsseln, wovon sie immer größeren Hunger bekommen, und schließlich, wenn ihr wohlgemästeter Körper sich einmal aufgelöst hat, zeigt es sich, daß alles Geistige längst verdampft ist und von der wohlgenährten Majestät nichts übrigbleibt als Moder oder Asche. Man kann das Märchen von des Herrschers Kleidern nicht oft genug wiederholen; was am meisten blendet, wovor man die Knie beugt, dem man nachläuft, was man begafft, das ist tatsächlich nichts; nichts als ein Gaukelwerk, das so lange eine Rolle spielt, als sich Menschen zum Narren halten lassen. Denn was in zehn oder zwanzig oder hundert Jahren nichts mehr ist, ist das jemals etwas? Nennen wir dies aufgeblasene Nichts die Welt, so ist leicht einzusehen, daß die Weltleute, nämlich die Quacksalber und Gaffer in dieser Marktbude, gut darin fortkommen und die Kinder Gottes in der Welt beherrschen. Auch ist dagegen, weil es billig und folgerichtig ist, nichts einzuwenden, nur das bleibe fern, daß sie auch in geistigen Dingen, mit denen sie keine Berührung haben, den Ausschlag geben. Es mögen Könige und Fürsten, Bankiers, Kanonengießer und andere Machthaber zuweilen rechtliche und gescheite Leute gewesen sein, die Geschichte verzeichnet solche Beispiele, häufig aber werden sie in den Haupt- und Nebengebäuden des Lebens besser zu Hause sein als in den Dachkammern, wo man nach den Sternen sieht und Gedichte macht. Mögen sie auch ferner sich erzählen lassen, wieviel und was für Gerichte auf den Tisch des Königs kommen, was für Kleider die Prinzen und die Prinzessinnen auf dem Hofball trugen und welche Pferde bei dem letzten Rennen gewonnen haben. Mögen die Weltleute Kirchen bauen, Soldaten in die Kirche treiben, den Namen Gottes, der im Geist und in der Wahrheit angebetet werden will, im kauenden Munde führen, wenn sie nur dem Volke nicht seine Kunstgenüsse zurichten und nichts für die Hebung der Religion im Volke tun und dem Baumeister nicht dreinreden wollen, der die Kirche baut. Die Kinder Gottes sollen die Weltleute ihr Erbteil ohne Neid verprassen sehen und begreifen, daß es ihnen mit Recht zukommt, aber wachsam sein, daß sie sich nicht anmaßen, was in den Bereich des Geistes gehört. Mögen die Weltleute auf Thronen sitzen und die Kinder Gottes in Dürftigkeit schmachten, mag man die Standbilder der Fürsten, Generale und anderer Weltleute sieben Ellen höher machen als die der Geistesfürsten, diese werden dennoch leuchtende Genien auf seligen Gefilden sein und jene bleierne Schatten, Namen im Munde der Unmündigen.«
Er ging nun zu etwas anderem über, indem er auf den möglichen Fall hinwies, daß der Baumeister, der die Kirche baut, auch zu den Weltleuten gehöre. Daß die Vertreter der Wissenschaften und Künste, solche, die sich Geistesmenschen nennen und sich unsterblicher Dinge unterfingen, von der Natur des Geistes so wenig Witterung hätten wie die Weltleute, vielmehr beständig nach dem Braten schnüffelten, den jene am Spieße drehten, das wäre das wahre Unglück und das wahre Verbrechen. Man könne sich anstellen wie man wolle, alles Essen, seien es Pasteten oder Kartoffeln, könne man nur im Darme verdauen, nicht im Gehirn, und Dreck bleibe Dreck, der talentvolle so gut wie der talentlose. Auch eine Leberwurst könne mit Geist gemalt werden, aber die heilige Agnes selbst könne ins Badezimmer eines alten Lebemannes passen, wenn der Maler einen unkeuschen Pinsel geführt habe. Künstler, die in Bildern und Gedichten ihren gedeckten Tisch und ihre Schäferstündchen feierten, damit sie und andere Weltleute dergleichen Freuden frönen und sich dabei für gottbegeisterte Genies halten könnten, seien strafwürdiger als Staatsmänner, die sich aus natürlicher Herrschsucht täppische Übergriffe auf ein Gebiet erlaubten, wo sie nichts zu sagen hätten. Wenn Künstler ihr Reich an die Ungläubigen verrieten, dann wäre es freilich in der Ordnung, daß die gleisnerische Gemeinde ihre Freiheit verlöre und in Sklaverei verfiele; göttliche Kunst könnten Gottlose, wie sie sich auch gebärdeten, doch nicht antasten, sondern Gottes Blitz würde sie so gut fällen wie vor Jahrhunderten den Freier der heiligen Agnes.
Diese Auslassungen waren gegen mehrere Künstler und Kunstfreunde gerichtet, die sich unter den Vorkämpfern der Bewegung befanden, was aber dem Beifall, den der Vortrag entfesselte, keinen Abbruch tat; sei es, weil viele für den engsten Idealismus empfängliche junge Leute darunter waren, sei es, weil viele hauptsächlich das verstanden hatten, daß mit Geringschätzung von den herrschenden Klassen gesprochen worden. Freunde und Verehrer des Freiherrn hatten nach dem Vortrage eine Festlichkeit veranstaltet, an der er teilnahm und die in gehobener Stimmung verlief. Ein junger Maler sagte halblaut zu seinem Nachbar: »Wir ermangeln zwar alle des Ruhmes in seinen Augen, die wir in keiner schiefen Dachkammer hausen, aber solange er Professor ist und seinen Frack mit Seide gefüttert trägt, muß er doch mit uns vorliebnehmen«, was der Freiherr hörte und mit einem heiteren Aufblitzen seiner Augen beantwortete. Nachdem auf das Wohl des Redners getrunken war, sagte Robert Hertzen leise zu Michael: »Er ist eigentlich doch ein Unberauschter; in dieser Rede, welche die Kunst betraf, war nicht einmal von Schönheit, nur von Geist die Rede. Er hat die allertiefsten Mysterien nicht ergriffen, und was er heute abend gesagt hat, kann ich nicht hochschätzen; aber ihn selbst finde ich anbetungswürdig.«
Rose sprach wenig, doch nahm sie an allem mit neugierigem Vergnügen Anteil; denn sie las die Zeitungen nicht regelmäßig und wußte nicht Bescheid in den öffentlichen Zuständen. Die Bedeutung und der Zweck der politischen Parteien waren ihr größtenteils fremd, und sie hatte bei den meisten Dingen, die besprochen wurden, Mühe, sich zurechtzufinden. Man fragte sie verwundert, ob sie sich für das Ereignis, das den Vortrag veranlaßt hatte und das doch eben ihre Kunst beträfe, nicht lebhaft interessiert hätte. Sie sagte: »Ich habe zufällig nichts davon gehört, und im Grunde geht es mich auch wenig an; denn meine Bilder wird schwerlich jemals irgendein König oder sonst einer von den Weltleuten, wie der Freiherr sie nannte, bemerken.« Der Freiherr hatte aufmerksam zugehört und rief mit sichtlicher Freude: »Sie göttliches Kind! Sie sprechen das unschuldig aus, was ich hätte sagen sollen: die Kinder Gottes malen Bilder, welche die Weltleute nicht einmal sehen. Das ist das Umgekehrte von des Kaisers Kleidern; es gibt Schönes, Strahlendes, Verehrungswürdiges, aber weil es himmlisch ist und nur mit Geistesaugen gesehen werden kann, ist es für die Weltleute nicht da. Wundert euch nicht, wenn ihr für die Weltleute malt, daß sie die Hand auf euch legen. Die römischen Weltkaiser haben von Christus, dem Erlöser der Welt, dem Herrlichsten unter allen Menschen, die lebten, ja dem einzigen Gottmenschen, der ihr Zeitgenosse war, nichts gewußt. Das Schöne geht seinen Weg in der Stille; erst das Falsche und Häßliche, das sich verderblich daranhängt, lenkt die Blicke der Welt darauf.«
An diese Worte knüpften sich lebhafte Gespräche, die der Freiherr aber wenig mehr beachtete, da Rose sein Interesse erweckt hatte. Er besprach die Arbeit mit ihr, die sie für ihn ausführen wollte, und wunderte sich über das schnelle Verständnis, mit dem sie ihm entgegenkam; sie erklärte ihm, daß sie stets die Tiere geliebt habe und eigentlich Tiermalerin sei und sich deswegen von Michael ein wenig in der Zoologie hätte unterrichten lassen. »Sie haben einen guten Lehrer«, sagte der Freiherr, doch ohne irgendein Mitwissen oder Erraten ausdrücken zu wollen, sondern mit der Selbstverständlichkeit eines liebevollen Freundes.
Als sie mit Michael allein war, sagte sie: »Mit dem Freiherrn könnte ich glücklich leben, wenn ich dich nicht liebte.« Michael sah sie zweifelnd an und fügte hinzu: »Vielleicht auch, obwohl du mich liebst?« Rose lachte und sagte: »Das weiß ich nicht, nur daß ich ihn nicht lieben und doch mit ihm glücklich sein könnte.« Michael fühlte, obschon er gleichfalls lachte, eine ungekannte, tolle, furchtbare Verzweiflung in sein Herz schleichen, indem er ihr harmlos glückliches Gesicht betrachtete. »O du Rätselhafte, Entsetzliche«, sagte er, »ich möchte dich hassen und muß dich nur desto glühender lieben.« – »Du hast auch nur dazu, nicht zum Hasse Ursache«, sagte sie und küßte ihn; dennoch wollte ein Gefühl, das, fern von Eifersucht, nur ein unbestimmtes Elendsein war, noch den nächsten Tag nicht aus seinem Herzen weichen.
*
Sie müsse sich wundern, sagte Rose zu Michael, daß er sie über den hübschen, klugen und interessanten Mädchen, die er kennengelernt hätte und mit denen er so häufig verkehrt, nicht vergessen hätte. Er antwortete: »Wären sie noch viel schöner und klüger und wirklich unendlich viel schöner und klüger als du, wärest du mir doch die Einzige, Unvergleichliche, und wenn Krankheit oder Alter von dir nichts übrigließe als eben das Leben, würdest du mir doch die Allerschönste sein.« Sie sann ein wenig nach und sagte: »Ich glaube dir, weil ich ohne diesen Glauben so gut wie ohne Luft nicht leben könnte.« Dann legte sie ihre kühlen Hände auf seine beiden Augen und sagte: »Ich habe sie bezaubert, daß sie mich immer in meiner Schönheit sehen.«
Michaels Freunde empfingen Rose, deren Beziehungen zu ihm sie kannten, ohne daß davon gesprochen wurde, mit Liebe und Bewunderung; sie beneideten sie um ihre Kunst und ihr Schaffen, Rose hingegen jene um ihr Wissen und ihre stets sich erweiternde Erkenntnis. Doch bemerkten sie oft, daß Rose durchaus nicht ohne Kenntnisse war und namentlich, daß sie sich aus jeder wissenschaftlichen Tatsache, mit der sie bekannt wurde, eine Menge von Ergebnissen und Aussichten ableitete. »Sie sind wie das Königskind«, sagte Arabell, »das aus einer Nußschale goldene und silberne Kleider zog.«
Eines Abends gingen alle, auch der Freiherr, in das Theater, wo eine neuere Oper gegeben wurde, deren Aufführung wegen außerordentlicher Anforderungen an die Ausstattung auch an Bühnen größerer Städte eine Seltenheit und für Musikfreunde ein Ereignis war. Der Freiherr war der einzige, dem sie bekannt, und obwohl er sie nicht liebte, ging er hin, um den Eindruck zu beobachten, den sie machen würde. Fast alle waren mehr oder weniger gepackt und hingerissen, am meisten Arabell und Robert Hertzen, die, betäubt und fassungslos wie nach einer göttlichen Erscheinung, den übrigen nach einem großen Wirtsgarten am See folgten, wo die warme Nacht beschlossen werden sollte. Sie nahmen anfänglich an dem Gespräch, das sich entspann, nicht teil, bis Michael zu Arabell sagte: »Ich glaube, Ihre Seele übt einen neuen Tanz ein, und wir müssen warten, bis sie fertig ist.« Sie seufzte wie ein Schläfer, den man beim Namen gerufen hat und der ungern erwacht, und es schien, als ob sie langsam wiedererkannte, was sie umgab. »Ich habe noch nie einen so starken Eindruck gehabt«, sagte sie. »Dies gibt es, und ich kannte es nicht! Ja, meine Seele tanzt einen Tanz, gegen den alle ihre früheren Bewegungen lahm und irdisch waren; denn diese Musik verhält sich zu der, die in mir war und mir oft so süß klang, wie Gottes Ich und hohes Bewußtsein sich zu unserem Ich und Bewußtsein verhalten mag.«
»Nein«, rief der Freiherr heftig, »wenn der Vergleich stimmte, hätten Sie die Musik gar nicht verstanden, vielmehr bewegte sie Sie so gewaltig, weil Sie ihre eigenen Träume und Melodien darin stark und geschickt nach außen in die Sinnenwelt versetzt finden.« Arabell schüttelte den Kopf und entgegnete: »Ersehnt habe ich diese Klänge wohl, wie man ja auch Gott ersehnt, ohne sich mit ihm vergleichen zu können. Mir war bei den ersten Akkorden zumute wie einem, der lange vor dem Standbilde der verschleierten Isis gekniet und gebetet und geharrt hat, und der plötzlich sieht, daß die Hülle zittert und rauscht und im nächsten Augenblick den Götterleib erscheinen lassen wird.«
»Ich hätte mir's denken können«, rief der Freiherr unmutig, »Sie gehören auch zu den Ratten, die des Rattenfängers Flöte nachlaufen und sich in voller Begeisterung in den Sumpf locken lassen und ersaufen.«
Nun äußerte jeder seine Meinung. Boris verstand nicht viel von Musik, ereiferte sich aber nichtsdestoweniger zugunsten der eben vernommenen, nicht nur um Arabells Meinung zu verfechten, sondern weil darin der Aberglaube der alten Musik vernichtet, ihre engen Formen zerbrochen und aufgelöst wären, so daß sie die Freiheit gegenüber der Gebundenheit verträte und recht eigentlich die Musik der neuen Gesellschaftsordnung wäre. Er gab zwar darin dem Freiherrn recht, daß sie das Wühlen und Treiben der menschlichen Seele ausdrücke, das sei aber eben ihr höchstes Verdienst; der in künstliche Tonverbindungen eingezwängten alten Musik hätte kein Gefühl der eigenen Brust entsprochen. Robert Hertzen meinte, die neue Musik hätte verschüttete Gefühlsgänge in uns aufgedeckt, den Stein von der Erdspalte gewälzt, aus der heilige Dämpfe aufstiegen, die den kalten Verstand einschläferten und die Gabe der Weissagung erweckten; sie hätte die farbenglühende Mystik unserer Gefühle, die engherzige Eiferer mit Tünche verklebt hätten, frei gemacht, so daß unter ihrem Zauber im Tempel unseres Inneren keine tote Stelle bliebe, alles loderte und leuchtete.
Arabell sah beängstigt auf Robert, dessen Äußerungen sie stets in ihren sozialdemokratischen Überzeugungen gekränkt hatten und sie zugleich doch mächtig anlockten. Indem sie ihn wegen seiner Ansichten haßte, spürte sie doch etwas darin und in seinem Wesen, das ihr ein Gefühl gab, als würde er, wenn er sie bei der Hand nähme und mit sich führte, sie zu irgendeinem lieben Geheimnis oder Wunder bringen, das sie aus Träumen oder alten Märchen kannte. Es verursachte ihr ebensoviel Unbehagen und Schrecken, daß er jetzt mit Leidenschaft aussprach, was sie fühlte, wie daß der Freiherr es mit Hohn bekämpfte. Sie heftete ihre großen Augen flehentlich auf diesen und sagte: »Ich weiß nicht, was mir den Mut gibt, Ihnen zu widersprechen; aber ich könnte Ihnen eher mein Leben als mein Gefühl für diese Musik opfern!« »Das Leben wird Sie opfern!« rief der Freiherr, »Sie sind schon mit dem Kranze geschmückt.« Boris konnte kaum seinen Ärger über diese Bemerkung unterdrücken, die ihm sinnlos und gesucht vorkam; indessen Robert betrachtete entzückt das feine, leuchtende Gesicht unter dem aschblonden Haar, das sich weich, wie ein Blumenkranz, darum schmiegte, und sagte: »Ja, so denke ich mir eine christliche Heilige, die, während die wilden Tiere gegen sie brüllen, den Gott in Wolken sieht, der ihr winkt.« Michael wendete sich zum Freiherrn und sagte lachend: »Geben Sie zu, daß, wenn das Fräulein irrt, sie von der Natur dazu bestimmt ist, da der Irrtum zuweilen süßer und schöner ist als die Wahrheit?« »Da haben Sie recht«, sagte der Freiherr gutgelaunt, »zum Vertreter der Wahrheit, die man kalt und häßlich nennt, eigne ich mich, was Sie höflicherweise unausgesprochen ließen, besser als unsere junge Freundin.«
Rose hatte unterdessen, ohne dem Gespräch der anderen zu folgen, unverwandt auf den See geblickt, der mit beleuchteten Kähnen und größeren Schiffen bedeckt war. Sie bewegten sich langsam, weil ihrer so viele waren, und glitten wie flimmernde Schlangen auf dem dunklen Wasser, das sie widerspiegelte, aneinander vorüber. Das allergrößte, auf dem Musik war, war so durchaus mit bunten Lämpchen besetzt, daß es in der Ferne schien, als ob es aus lauter Kränzen von blühenden Rosen gemacht wäre. Es war Mitternacht vorüber, und die Schiffe lagen schon verdunkelt am Ufer, als die Gesellschaft aufbrach; alle waren müde, nur der Freiherr war gesammelt und rege wie immer, und in Boris kochte die Leidenschaft jeden Augenblick über. Er war an diesem Abend so munter und zugänglich, wie Michael nicht geglaubt hatte, daß er sein könnte: Übermut und Schelmerei lachten in seinen Augen, und was ihn sonst bitter und ausfallend machte, wußte er heute in gutartiger, launiger Weise zu behandeln. Wie ein ungeübter Knabe verriet er beständig seine Liebe zu Arabell, so daß es alle erheiterte, einzig sie schien nichts davon zu merken. Als die Wege sich trennten, bot er ihr seine Begleitung an, was sie sich gefallen ließ; aber ihre Augen gingen mit erschrockener Frage von einem zum andern, indem sie sich verabschiedete, als wollte sie wissen, was es bedeutete, daß sie plötzlich mit ihm allein sein sollte.
Der Freiherr, Michael und Rose sahen dem Paare nach; Boris ging mit behutsam sicheren Tritten wie ein edles Raubtier; es war eine Augenweide, die weiche Kraft seiner Glieder spielen zu sehen. »Ich möchte doch lieber, daß sie Robert Hertzen zum Manne bekäme«, sagte Rose bedauernd, indem sie weitergingen. »Es wäre auch möglich«, meinte Michael, »daß sie keinen von beiden bekäme.«
»Sie wird den Boris nehmen«, sagte der Freiherr mit Entschiedenheit. »Gott wird sagen: Du glaubtest schon auf meiner Spur zu sein, du glaubtest mich zu ahnen, mich zu verlangen – sieh, mein Kind, da hast du deinen Popanz.«
Michael und Rose fanden dies Urteil unbegreiflich hart und unzutreffend, allein der Freiherr sagte gleichmütig: »Wir werden sehen; wenn sie ihn nicht nimmt, habe ich freilich unrecht gehabt.«
Bald darauf war Roses Aufenthalt, da sie die nötige Rücksprache mit dem Freiherrn genommen hatte, zu Ende, und die jungen Leute brachten den letzten Abend zusammen auf dem See zu. Sie hatten das Abendbrot im Kahn und beabsichtigten, nirgends zu landen; als sie in der Mitte des Sees und so weit von der Stadt entfernt waren, daß sie nur noch die Türme in violettem Dunste sehen konnten, verteilte Herta Kränze unter alle, die sie mit Veronika gemacht hatte.
Sie gab Rose einen aus hellroten und dunkelroten Rosen, Arabell einen aus feurigem Mohn, Boris einen aus brandroten Vogelbeeren, sie selbst trug weiße Astern und Veronika Nelken. Robert überreichte sie zusammengewundene Sonnenblumen, die sich, da sie nicht die größten ausgesucht hatte, ganz wohl um seinen Kopf schlingen ließen und ihm ein fremdartig prächtiges Aussehen gaben. Als Herta im Begriffe war, Michael einen dicken Zypressenkranz aufzusetzen, hielt Boris sie zurück, da das eine Totenkrone sei; allein sie verteidigte sich, indem sie sagte, die Zypresse sei nicht der Baum des Todes, sondern der Auferstehung, und Robert fügte rasch hinzu: »Er trägt den Namen der zyprischen Göttin und ist der Baum der Liebe, eine starke, aufrecht lodernde Flamme, von der unbewußten Schönheit seiner Seele gebändigt und umhüllt.« Michael hatte sich den Kranz bereits aufgesetzt, und man fand, er stehe ihm zu gut, als daß er wieder entfernt werden dürfe. »Du siehst wie der Engel des Todes aus«, sagte Robert zärtlich bewundernd.
Als die Sonne unterging und das Wasser golden, rosa und lila sich färbte und die Töne bei der zitternden Wellenbewegung ineinander übergingen und sich wunderbar durchdrangen, ließen sie den Kahn gleiten und trieben ihn nur dann und wann durch einige Ruderschläge vorwärts. Michael, der die Ruder führte, tauchte sie zuweilen mitten in die veilchenblaue Glut und ließ die schwarzen Tropfen langsam daran abrinnen, wieder in den Glanz zurück. Sardanapal, der ihm gegenübersaß und das Steuer führte, nahm seine Mandoline, um etwas vorzutragen, das ihm eben, er wisse selbst nicht wie, eingefallen sei. Es war so:
Meer! Meer!
Das bleiche Volk der Perlenfischer betet:
O Mutter Seele, die umarmt und tötet!
Purpurne Blumen blühn auf deinen Fluren,
Des ewgen Lichtes sterblich süße Spuren.
Uns locken nicht die grünen Lilien, die blauen,
Wir tauchen tief in deine dunkleren Auen.
Wir tauchen, wo es kalt und still und tot,
Wir, die das Haupt voll Sommerblumen hatten,
Vertraut mit Angst und Schmerz und Not.
Wir suchen durch die wilden Einsamkeiten,
Wie großer Büßer martervolle Schatten
Erloschen durch den öden Hades gleiten.
Heim fahren wir im schmalen, schwarzen Nachen,
Um unsre blassen Stirnen Perlenstränge,
Und durch die Nacht, wo wir alleine wachen,
Erschallen tränenlose Weihgesänge.
Während des Liedes war die Abendröte auf dem Wasser verglommen und in ein blaues Grau übergegangen, das immer stumpfer wurde, und auch der Himmel hatte sich verdunkelt, nur daß im Westen noch ein heller grüner Streifen stand. Alle blieben still, die Augen auf Robert gerichtet, bis er selbst sagte: »Ich wußte nicht, wie mein Lied enden sollte, als ich es anfing, und nun macht mich der schaurige Schluß fast bange.« Die Sonnenblumen in seinen schwarzen Haaren leuchteten noch, während die roten und blauen Blumen dunkel erschienen; der weiße Asternkranz schwebte wie ein Sterngeflecht über Hertas wehmütigem Kinderengelgesicht. »Sie sind schön«, sagte Rose, das Stillschweigen unterbrechend, zu Robert, wobei er die unschuldige Innigkeit ihrer Augen wie etwas fühlbar Warmes und Gutes empfand. Er wurde rot und antwortete rasch: »Nein, Michael ist schön, ich nicht«, worauf Rose erklärend erwiderte: »Michael ist schön wie ein Mensch und Sie nur wie ein Bild oder Traum.« Arabell klatschte in die Hände vor Vergnügen darüber, daß Rose, eine Künstlerin, des Glaubens sei, ein Mensch sei schöner als ein Bild oder Traum, während doch das Gegenteil der Fall sei, worin ihr Veronika beistimmte, während die anderen das Für und Wider erwogen. »Ich glaube, ich hätte nie einen Menschen oder eine Landschaft schön gefunden«, sagte Arabell, »wenn ich nicht zuvor durch Bilder oder Dichtungen erfahren hätte, daß sie so sein können.« Hierüber erhoben sich die Stimmen wieder lauter: auf die Frage, warum er so still und wenig teilnehmend sei, antwortete Boris: »Ich schaukele, von lauter Schönheit und Wonne umgeben, auf warmen Wellen, und hatte mir einst ein unterirdisches Leben ohne Sonne, voll Kampf und Gefahr, mit dem Ende eines armen Schächers erwählt. Ich möchte mit euch glücklich sein, aber weit, weit von hier habe ich ein paar Tropfen meines Blutes als Gelöbnis auf eine traurige Erde fallen lassen, und die brennen mich, wenn der Augenblick am schönsten ist.«
Michael ergriff die Ruder, die lange geruht hatten, und sagte: »Jetzt fahre ich euch zu einem weit entfernten Lande, von wo es keine Rückkehr gibt. Sagt Lebewohl dem dunklen Streifen rückwärts über dem Wasser, wo die Nacht auf den Türmen mit unserem lieben Geläute liegt, sagt allen Wegen Lebewohl, die ihr ginget, und allen Augen, die ihr grüßtet.« Dabei trieb er das Boot mit schnellen und starken, aber möglichst lautlosen Schlägen eilig vorwärts. Wie gerne, wie gerne! Fahr zu! hieß es sehnsüchtig von allen Seiten, indes Michaels und Roses Augen sich in stummer Zwiesprache begegneten. O Engel des Todes, sagten ihre, nähmest du mich mit dir auf deinen stürmenden Flügeln und ließest das Land der Trennung unter uns versinken! O Engel des Lebens, sagten seine, bliebest du bei mir und betautest mich ewig mit dem Glanze der Schönheit!
Es hatten sich alle von der Einbildung, als stände ein Überirdischer am Ruder und führte bekränzte Schatten zu neuen Sternen, so willig gefangennehmen lassen, daß sie unwillig seufzten, als Michael nach einer Weile wendete und sie die Stadt, wo in den Häusern und auf den Straßen die Lichter fast alle gelöscht waren, mit Bedauern über dem dunklen Ufer auftauchen sahen.
*
Im Winter wurde Michael brieflich mitgeteilt, daß Raphael sich verlobt habe und daß man ihn zur Hochzeit, die in kurzem stattfinden solle, erwarte. Da er wußte, daß es seiner Familie die Feier verderben würde, wenn er fehlte, nicht allein um seiner Person willen, sondern weil von allen Seiten, argloserweise sowohl wie aus Neugier und Bosheit, nach ihm gefragt werden würde, sagte er ohne Zögern sein Kommen zu. Die Braut war die Tochter vornehmer, aber unvermögender Eltern, die für die reiche Kaufmannsfamilie im ganzen wenig Verständnis und Sympathie hatten, das Mädchen indessen, obwohl eitel und verzogen, konnte sich dem Zauber des Überflusses, der dort herrschte, nicht entziehen und war in ihrer Art glücklich und dankbar. Daß Raphael nicht nur Geschäftsmann, sondern eigentlich Dichter war, was er selbst noch immer bei jeder Gelegenheit zu verstehen gab, schmeichelte ihrer Eitelkeit, und sie fand alle seine Verse reizend, besonders die, welche zu ihrer Verherrlichung bestimmt waren. Es entging ihm nicht, daß sie ganz ohne Empfänglichkeit und Geschmack in dieser Hinsicht war, aber gerade das fand er allerliebst, und je drolliger ihre Urteilslosigkeit sich äußerte, desto verliebter schien er in sie zu sein.
Die Hochzeit wurde in der Kirche gefeiert, und es gab Leute, die vor etwa fünfunddreißig Jahren die alten Ungers hatten trauen sehen und sich jetzt daran erinnerten. Mit ihnen konnten sich Raphael, obwohl er ein hübscher junger Mann war, und das niedliche, flachshaarige Mädchen an seiner Seite nicht vergleichen; sie waren die Nebenpersonen neben Waldemar und Malve, die zwar alt geworden waren, aber ebenso hochfahrend daherschritten wie damals. Waldemar, der sonst sehr gebeugt zu gehen anfing, hielt sich unwillkürlich, wie er in der Kirche zu tun pflegte, aufrecht; neben dem schweren Ernst seiner Mienen blühte das kindlich majestätische Lächeln in Malvens Gesicht um so auffallender. In einiger Entfernung konnte man ihre Stirne für ganz glatt halten, und die schönen schwermütigen Brauen waren noch schwarz, auch die Fülle ihrer Gestalt mahnte, obwohl sie sich weder schnürte noch sonstige Kniffe anwendete, keineswegs an das kraftlose Fettwerden des Alters. Am meisten Aufsehen erregten doch Michael und Verena, schon wegen der auserlesenen Pracht, mit der letztere gekleidet war; sie glich einer fremdländischen Blume, die auf zartestem Schlingpflanzenstengel eine zauberhafte Blüte trägt. Daß Michael seit mehreren Jahren abwesend war, wußte man, und der Grund davon war teils nicht bekannt, teils hielt man ihn für Vorwand und setzte allerlei Mutmaßungen dagegen, denen sein Aussehen neue Nahrung gab. Die Spuren großer, mit Mühe beherrschter Leiden waren deutlich in seinem Gesichte zu sehen und machten seine Schönheit seelenvoller; es waren viele Frauen in der Kirche, welche die kühle Frau an seiner Seite, deren Hand so geflissentlich leicht auf seinem Arme lag, daß er sie nicht fühlen konnte, mit unbestimmter Abneigung betrachteten.
Gabriel, der Jüngste, war jetzt ein schwächlicher, zu schnell gewachsener Junge mit langem, schmalem, ein wenig vorspringendem Kinn und Augen, die entweder beobachteten oder müde und gleichgültig blickten. Er war bis dahin unbeachtet aufgewachsen und fing nun an, durch frühreife Bemerkungen, die zum Teil von überraschendem Wissen zeugten, aufzufallen, so daß sich Malve die Aussicht eröffnete, er könne zum Ersatz für Raphael der Künstler der Familie werden. Doch war er ihr im Grunde so fremd wie den übrigen, und auch Michael konnte keinen Zugang zu seinem Wesen finden, obschon Gabriel ihm unverhohlene Bewunderung entgegenbrachte und ihn mit seinen eigentümlich versteckten und vorsichtigen Augen oft und lange betrachtete. Die neuen Verwandten zeichneten Michael auf alle Art aus, weil sie ihn als Gelehrten betrachteten, und während sie selbst im Verkehr mit den alten Ungers hie und da einen Ton der Herablassung anklingen ließen, schien ihnen an seiner Achtung gelegen zu sein, so daß die Malve sich zum ersten Male innerlich ausgesöhnt mit seinem eigenmächtigen Berufswechsel fand. Die Anwesenheit der Gäste erleichterte ihm auch anfänglich den Aufenthalt, vor dem er sich sehr gefürchtet hatte, und er verlängerte ihn auf Bitten seiner Mutter bis zu dem Zeitpunkte, wo das junge Paar von der Hochzeitsreise zurückgekehrt sein würde. Er tat dies auch deswegen, weil er von Verena erfahren hatte, daß Raphael nach seiner Verlobung das alte Verhältnis mit der Kellnerin, von der er ein Kind hatte, durchaus nicht abgebrochen habe und allem Anscheine nach auch künftig fortsetzen wolle, und es für unumgänglich notwendig hielt, ihm deswegen ernstliche Vorstellungen zu machen. Michael fragte Verena, ob sie schon längere Zeit von diesem Verhältnisse Kenntnis gehabt hätte, und sie sagte ja, fast so lange, als es bestünde; ihr neuestes Wissen davon hatte sie nicht durch ihn selbst, sondern durch Feska, wünschte aber, daß dem Schwager die Quelle nicht verraten würde, und riet deshalb ihrem Mann ab, mit ihm davon zu sprechen. Überhaupt, sagte sie, sei es überflüssig und lächerlich, so viel Aufhebens von einer Sache zu machen, die an der Tagesordnung sei, und wenn ein Mann sich wohl dabei befände, keinen anderen anginge. Wie sie das sagte, drückten die Linien um ihren Mund, die sie von jeher leicht zu entstellen pflegten, so viel Häßlichkeit, Bitterkeit und Unreinheit aus, als empfände sie über die Gemeinheit des Menschlichen Genugtuung, daß Michael erschrak. Er sah sie vor sich, wie sie mit demselben Lächeln des Ekels und Vergnügens solche Dinge mit Feska besprach, und es wurde ihm so leid um sie, daß er im Begriffe war, sie zu warnen. Sie wies ihn aber, sowie sie bemerkte, daß er etwas sie Betreffendes sagen wollte, mit einem eisigen Blick zurück; seit er wieder da war, hatten sie überhaupt nichts als die allergleichgültigsten Dinge miteinander besprochen.
Als Raphael zurückgekehrt war, bat Michael ihn um eine offene Erklärung, ob sein Verhältnis mit der Kellnerin noch fortbestehe, was dieser keineswegs ableugnete. »Ich sagte dir voraus, daß es so kommen würde«, sagte Michael, »doch als ich hörte, daß du dich verlobt hattest, war ich froh, mich getäuscht zu haben, und vollends, als ich dich so verliebt in deine jetzige Frau sah. Ich müßte dich schlecht kennen, wenn das Verstellung gewesen wäre. Was für ein Herz hast du denn also, um von deinem Gewissen nicht zu reden?«
»Du hast freilich von meinem Gewissen nicht zu reden, so wenig wie von meinem Herzen«, sagte Raphael und warf einen Blick voll beleidigender Geringschätzung auf seinen Bruder. »Du nimmst dir heraus, mir Vorwürfe in einer Sache zu machen, von der ich behaupten könnte, du hättest mir das Beispiel dazu gegeben, wenn ich mich zu entschuldigen für nötig fände. Ziehst du nicht selber mit einer Geliebten herum? Welcher Unterschied ist zwischen dir und mir, als daß ich die Meinigen in ihrem Behagen schone und ihnen sorglich fernhalte, was sie kränken könnte, während du die Familie deiner Leidenschaft opferst. Ist wohl ein Unterschied zwischen deiner und meiner Geliebten, als daß deine ein wenig äußerliche Bildung vor meiner voraus hat, worauf du sonst nicht gar so viel zu geben pflegtest. Im übrigen ist deine wohl nicht weniger spröde gegen dich gewesen, als meine gegen mich war.«
Es war Michael nicht in den Sinn gekommen, daß Raphael seine Beziehungen zu Rose bei dieser Gelegenheit zum Vergleich herbeiziehen könnte, so unerreichbar ferne schien ihm seine Liebe von der seines Bruders, dessen Angriff ihn daher im ersten Augenblick betäubte. Er suchte nach Worten, mit denen er zugleich Rose schützen und Raphael von sich stoßen könnte; er fühlte Ekel vor ihm, ja Haß, vor dem ihm selbst graute, und seine Hände ballten sich unwillkürlich zusammen. Der Anblick des plötzlich bleich gewordenen kämpfenden Gesichtes seines Bruders, den er stets zu fürchten geneigt war, hatte etwas Schreckhaftes für Raphael; es wollte ihn fast reuen, daß er sich so absichtlich verletzend ausgelassen hatte, und er sagte begütigend: »Reize mich nicht weiter in dieser Angelegenheit, so will ich dich auch nicht wieder belästigen. Es hat jeder seine Schwächen und soll deshalb keinen Stein auf den andern werfen, obwohl ich dabei bleibe, daß du es zu weit treibst und etwas mehr Rücksicht auf die Familie nehmen solltest.« Da Michael nicht antwortete und ihn noch immer mit unbewußter Drohung ansah, zuckte er die Schultern und entfernte sich, indem Michael mit schaudernden Gefühlen, deren er nicht Herr werden konnte, zurückblieb. Er war vorwärts gestürmt, ferne, hohe Ziele im Auge, und auf einmal tat sich ein Abgrund vor ihm auf, eine Grube voll Schlamm und Gewürm, die er nicht umgehen konnte, und über die den Sprung zu wagen der Mut ihm fehlen mußte. Zu der Empfindung des Ekels, die ihm die Kehle zusammenschnürte, gesellte sich die Angst, es könnte ihm plötzlich an Kraft gebrechen, weiterzugehen. Denn wie sollte er vorwärts kommen auf dem schlüpfrigen Wege, wo das Moorwasser an ihm hinaufstieg und kahles Gestrüpp sich um seine Füße krallte. Er mußte nach Atem ringen, und wie er unwillkürlich mit der Hand nach der Schläfe griff, fühlte er, daß kalte Tropfen darauf standen. Er schüttelte sich krampfhaft wie einer, der einen gespensterhaften Alp abwerfen möchte, und ging ins Freie; am liebsten wäre er sofort abgereist, doch überwand er sich, beim Abendessen zu erscheinen, wo er Raphaels Anwesenheit voraussetzte, der aber mit seiner Frau ausblieb. Kurz vor seiner Abreise erfaßte Raphael noch eine Gelegenheit, um versöhnlich zu ihm zu sagen: »Ich hoffe, du trägst mir nichts nach, denn es ist schon zu viel Unfrieden in der Familie, als daß wir beide uns auch noch entzweien sollten.« Michael sah ohne Liebe oder Rührung, ohne irgendein brüderliches Gefühl in Raphaels verlegen-freundliches Gesicht und ließ seine Hand fallen. »Was hilft es, wir verstehen uns doch nicht mehr«, sagte er kalt; er wollte sich nicht rächen oder seinerseits kränken, aber er konnte und mochte nichts von der hochmütigen Gleichgültigkeit verhehlen, die in ihm war.
Nach kurzer Zeit fühlte er sich wieder frisch und kräftig und begriff nicht mehr, wie er hatte fürchten können, daß, solange er lebte und liebte, ein Wagnis ihm mißglücken, seine Schwungkraft je zu gering sein könnte. Bei Nacht kamen wohl die Beängstigungen wieder, aber vor dem Tageslichte wichen sie schnell. Schon der Umstand, daß alle seine Freunde ihn und Rose liebten, obwohl sie seine Beziehungen zu ihr kannten und diese wie etwas Selbstverständliches, ja Schönes ansahen, ließ sie ihm gesichert und festgegründet erscheinen. Wenn er von hier aus an sein Vaterhaus dachte, kam es ihm vor, als sei es von hohen schwarzen Mauern umgeben, die ihre Schatten auf seine Seele würfen, so wie er da wäre, und ihm unheilvoll erscheinen ließen, was klar und leicht war.
Es hatte sich damals der Maler jenes Bildes von der heiligen Agnes, das seine Berühmtheit schnell vermehrt hatte, in der schön gelegenen Universitätsstadt niedergelassen. Dieser hatte, selbst von geringer Herkunft, eine schöne Frau aus vornehmer Familie geheiratet, die sich ihm zuliebe von ihrem ersten Manne scheiden ließ und auf zwei Kinder verzichtet hatte, damit er in die Scheidung willigte. Dies Preisgeben der Kinder wurde zwar im allgemeinen sehr mißbilligt, weit weniger, daß sie den Mann verlassen hatte, dem durchaus nichts vorzuwerfen war und den sie freiwillig aus Neigung geheiratet hatte; aber auch jener Makel hinderte nicht, daß in ihres Mannes und ihrem Hause die beste Gesellschaft sich um sie versammelte. Es kümmerte niemanden, wie es um den Mann und die Kinder bestellt war, ob sie durch den Verlust litten oder nicht, man ließ es dabei bewenden, daß sie eine glückliche Frau an der Seite ihres berühmten Mannes war. Unter den Künstlern, die sich zu diesem hielten, war einer, der sich von seiner Frau aus keinem anderen Grunde hatte scheiden lassen, als weil ihm eine andere besser gefallen hatte, und von den übrigen war kaum einer, von dem sich nicht ähnliche Dinge erzählen ließen. Hierüber wurde als über etwas Belustigendes gesprochen, und wenn man auch zuweilen hinzusetzte, das sei Künstlersitte und Künstlerfreiheit, so war das doch schon deshalb nicht stichhaltig, weil diese Künstler vielfach mit solchen, die es nicht waren, in verwandtschaftlicher und anderer Beziehung standen und übrigens auch auf die allgemeinen Menschenrechte Anspruch machten.
Michael war in diesen Kreis eingeführt worden, und wenn ihm auch solche Zustände nicht unbekannt gewesen waren, lernte er sie doch zum ersten Male aus eigener Anschauung kennen und wurde zu unruhigen Betrachtungen dadurch angeregt. Warum sollte ihm ein unentrinnbares Verhängnis werden, was anderen nur eine vorübergehende Widerwärtigkeit bedeutete und schließlich die Annehmlichkeit ihres Lebens vermehrte? Beruhte nicht vielleicht das meiste von allem, was ihn unglücklich machte, auf überlieferter bürgerlicher Schwerfälligkeit? Auf Augenblicke verlor seine Zukunft alles Düstere und Starre und winkte in Gestalt eines ruhigen, hohen Glückes. Wie sich das Ziel, nach dem er rang, vor seinen Augen verdichtete, wuchs der Drang seiner Seele, es zu erreichen und alles, was im Wege stand, sich zu unterwerfen. Zum ersten Male sprach er es vor sich aus, was er wollte: Rose ganz, nur sie, mit Aufopferung der Vergangenheit und aller ihrer Früchte. Seine Sehnsucht, bei ihr zu sein, um sie nie mehr zu lassen, überwuchs ihn gewaltsam, da er einmal die Flügel gelockert hatte; seine Liebe zu dem Kinde erschien unwesentlich dagegen. Was war sie als der Trieb, ein hilfloses Geschöpf, das auf ihn angewiesen war, zu behüten, der sich mit den Jahren wenn auch nicht verlor, doch notwendig verändern mußte! Denselben Einfluß wie er konnte ein anderer Mensch auf das Kind ausüben, und er selbst, wenn ihm mehr Kinder geboren wären, könnte alle mit derselben Innigkeit lieben; aber was Rose und er einander waren, konnte ihnen niemand ersetzen, konnte es nie mehr anderswo für sie geben.
Indessen je entschlossener seine Leidenschaft am Tage ihr Haupt erhob, desto schwerer wurde die Qual der Nächte; in ihrem hoffnungslosen Dunkel gingen die leuchtenden Bilder der Zukunft unter wie kindische Traumspiele. Wenn er aus dem Schlafe auffuhr, wie es häufig vorkam, fühlte er seinen Vater, sein Kind, seine Frau so nah, als ob sie im nächsten Zimmer auf ihn warteten. Sie ließen sich nicht vertrösten und abweisen durch das, was er ihnen von dem Leben und Treiben anderer Menschen hätte sagen können, sondern ihr verzauberter Traumblick blieb schwer an ihm hängen. Zuweilen kam ihm das widerliche Gefühl zurück, das er während des letzten Gespräches mit Raphael gehabt hatte, als quölle schwarzes schlammiges Wasser an ihm hinauf und hinderte ihn, vorwärts zu gehen, und das war so körperlich, daß er es einer krankhaften Erregung seiner Nerven zuschrieb. Allmählich gewöhnte er sich an diese Quälereien, die des Morgens verschwanden, und sah sie an wie etwa der fahrende Ritter die Trugbilder und bösen Zaubereien, die seinen Weg zum Ziele umlagern und ihm den Sieg zu entreißen suchen.
Der Freiherr, der ihm seine innerlich grabenden Leiden ansah, befragte ihn um alles, was in letzter Zeit mit ihm vorgegangen wäre, und äußerte sich höchst ungehalten über seinen Verkehr im Kreise der Künstler und ihres Anhanges. »Was geht diese Gesellschaft Sie an?« fragte er. »Wie kommen Sie dazu, deren gedankenloses Verschlingen der Tage auf Ihr Leben anzuwenden? Was suchen Sie überhaupt, dem es an Freunden nicht fehlte, unter diesen Eintagsberühmtheiten, Emporkömmlingen, Trabanten und zahlungsfähigen Kennern und auf ihren prahlerischen Lustbarkeiten? Diese Bierbrauer und Kommerzienräte glauben, wenn sie ihre Wände mit Teppichen behängt, ein paar Kübel mit grünen Pflanzen davorgestellt und ihre schönen Weiber recht herausgeputzt haben, sie hätten Italien und das Alter der Renaissance leibhaftig gemacht. Sie wissen nicht, daß die Götter alles Große um Schmerzen und Mühen verkaufen, und ebensowenig, daß die Erinnerung erst Fleisch und Knochen von der Seele wegschmelzen und Traumgewänder darüberhängen muß, damit die Menschen und Dinge so schön werden, wie wir die längstvergangenen sehen. Je mehr sie sich mit allem Zubehör der Jahrhunderte ausstaffieren und mit vollen Backen zechen, um etwas Dionysisches vorzustellen, desto mehr verfallen sie der Zeitlichkeit, die wie ein hungriger Hund nach den fettesten Beinen schnappt.«
Michael nannte einen von den Malern, dessen erste Bilder von überraschender Schönheit und Kühnheit gewesen wären, was ihm doch unvergessen bleiben müsse. »Um so schlimmer«, sagte der Freiherr unwirsch. »Es war auch manch ein Mädchen hübsch und fromm, wenn sie sich aber einem niederträchtigen Manne an den Hals wirft und mit den Jahren eine gemeine Person wird, so ist sie so gut oder so schlecht wie eine, die häßlich und lasterhaft zur Welt gekommen ist.«
»Sie streichen die Fürsten, die Diplomaten, die Fabrikanten, die Handelsleute, die Künstler von der Liste«, sagte Michael, »und in Professoren-Gesellschaft trifft man Sie auch nicht so oft. Mit wem soll man eigentlich verkehren?«
»Mit Menschen und Erzengeln«, sagte der Freiherr lachend, indem er Michael zärtlich über die Wangen strich, der nun mitlachen mußte und bereitwillig zugestand, es sei ein Irrtum und ein Unrecht, irgendeine andere Richtschnur des Handelns, als nur sein eigenes Gewissen gelten lassen zu wollen. Es war aber dabei tatsächlich nichts für ihn gewonnen; denn seine Gedanken und Wünsche stürmten auf dem Wege weiter, den er sie einmal hatte betreten lassen und den er deswegen noch nicht für verwerflich halten wollte, weil Menschen, die übrigens vielleicht kein hohes Beispiel waren, ihn auch eingeschlagen hatten.
Der Winter war in diesem Jahre so kalt, daß der See bis gegen die Mitte hin gefroren war; aber Michael selbst und mehrere von den Freunden arbeiteten auf Prüfungen hin und hatten wenig Zeit zum Eislauf oder zu anderen Unterhaltungen übrig. Eines Abends traf Michael, als er am einsamen Seeufer spazierenging, Arabell, die sich ihm anschloß, und sagte: »Der Abend ist grau und öde, ich und mein Herz schwanken im Nebel und suchen einen Glücklichen, der trösten kann.«
»Und in mir glauben Sie ihn gefunden zu haben?« fragte Michael.
»O Michael«, sagte sie ernstlich, »Sie sind der Glücklichste unter allen Menschen, die ich kenne, obwohl man sieht, daß Sie große Schmerzen haben. Vielleicht steht Ihr Glück eben mit den Schmerzen im Zusammenhang; alles, was wir anderen sehen, denken, träumen, das umfassen Sie, drücken es ans Herz und machen es lebendig und wirksam.«
»Aber auch Sie müssen Schmerzen haben, wenn ich Sie trösten soll«, meinte Michael ablenkend.
»Ach, Schatten oder Träume von Schmerzen«, sagte sie, »wie ich von allem nur die Schatten und Träume habe. Mich verlangt nach etwas, das ich nicht nennen kann, mich zehrt ein Hunger auf, den nichts stillt und nichts befriedigt, als meine eigene Seele. Das Los der Tänzerin ist nicht beneidenswert; sie lodert und jauchzt in minutenlangem berauschten Schweben und liegt dann matt und empfindungslos durch unendliche graue Tage.«
»Wenn sie das einsieht«, sagte Michael, »so bleibt ihr nichts übrig, als den Beruf zu wechseln.«
Arabell schüttelte traurig den Kopf und antwortete: »Das sagen Sie. Sie haben Kraft und Tüchtigkeit, ich kann nichts und bin nicht einmal mehr etwas, wenn ich die Seele meiner Seele nicht sein darf.«
»So weiß ich freilich nichts«, sagte Michael, »als daß Sie sich mit dem Guten, das jedes Ding hat, nämlich mit der Kehrseite trösten, wie viele müssen.«
»O seien Sie nicht so kalt«, bat Arabell, »Sie, der so viel Wärme hat und geben kann. Ich will ja nur, was jeder Bettler hat, was Kinderhände wie Spielpfennige wegwerfen! Ich will Leben haben, das Leben selbst, das ich nachäffe mit bunten, törichten Gaukeleien. Können Sie mir nichts davon geben und sind so überreich daran?«
Durch die schwarze, neblige Kälte schimmerte ihr schmächtiges Gesicht mit den großen, suchenden Augen und erfüllte Michael mit Rührung.
»Die Liebe wird Ihnen das Leben geben«, sagte er weich, »und ich möchte, daß Sie es durch Freuden und nicht durch Schmerzen kennenlernen.« In ihren Zügen malte sich Enttäuschung: »Die Liebe?« sagte sie. »Ich dachte, es müßte noch etwas ganz anderes geben. Die Liebe! Warum ist mir allein das Wort so fremd, das die anderen im Innersten beben macht? Ich fürchte, sie wird mir nicht wie anderen das Leben geben, sondern mich darum betrügen.«
Michael fing an, ein wenig ungeduldig zu werden, so herzlich leid sie ihm tat; sie erinnerte ihn wider seinen Willen an einen, der vor lauter auswendig gelernten Versen das eigene Herzenswort nicht finden kann, obwohl er sich andererseits sagte, daß er sie und ihr Schicksal zu wenig verstände, um sie gerecht beurteilen zu können. Sie erriet seine Stimmung und lächelte müde, sagte aber mit ungekränkter Freundlichkeit: »Ich muß Ihnen wohl schwer sein, da ich es mir heute selbst so sehr bin. Die Tänzerin sollte sich in den Stunden, wo sie ausruht, nicht vor den Augen des Publikums zeigen.«
»Das müssen Sie nicht sagen«, warf Michael schnell ein, »denn ich bin nicht Ihr Publikum, sondern Ihr Freund, freilich ein unbehilflicher und einseitiger. Sie haben andere Freunde, die vielleicht nicht mehr guten Willen, aber mehr Verständnis und Geschick haben, Ihnen zu helfen; auch haben Sie ja den Freiherrn.«
»Ja, ja«, sagte sie lebhaft, »der Freiherr hätte mir helfen können; aber er winkt nur einmal oder zweimal flüchtig und läßt einen stehen, wenn man den Wink nicht verstanden hat. Er ist mir um zu viele Stufen voraus, als daß er mich hier unten im Nebel deutlich wahrnehmen, und als daß ich ihn fassen könnte. Die Worte, die er mir hinwirft, geben meiner Seele wohl Ahnungen, an denen sie sich entflammt, aber ich brauche Leben, etwas, das meine leeren Hände füllt.«
An einem der nächstfolgenden Tage, während welcher Zeit Michael sie nicht wiedergesehen hatte, gab sie Boris das Jawort, um das er schon lange warb. Als Michael sie besuchte, um ihr Glück zu wünschen, fand er sie mehr erregt als froh, und es machte ihm den Eindruck, als ob sie ihr Glück mit krampfhaftem Griff umklammerte. Doch war sie augenscheinlich einem berechtigten Gefühle gefolgt und suchte auch Michael davon zu überzeugen. »Sein Herz kennt keinen Überdruß, keinen Ekel, keine Müdigkeit«, sagte sie, »es schlägt immer seinen starken Takt, der mich trägt und beruhigt. Sein Leben ist so sehr Tätigkeit, daß er kaum die Farbe des Himmels über sich sieht, und eben das tut mir wohl; wenn ich bei ihm bin, nehme ich an dieser Tätigkeit teil und fühle mich stiller und lebendiger zugleich.«
Es leuchtete Michael wohl ein, daß der einfache, von starken, einseitigen Gedanken und Gefühlen beherrschte Wildling eine günstige Ergänzung zu dem feinen, von jedem Hauch gereizten, nie begnügten Mädchen bilden könnte. Auch war es erquickend und mußte jeden Zweifel beschwören, Boris in seiner strahlenden Glückseligkeit zu sehen. »Hier ist einer«, sagte er lachend zu Michael, indem er ihm herzhaft die Hand drückte, »der gestern noch die Schafe hütete und dem heute die Königskrone aufgesetzt wurde. Nur ein bitterer Geschmack ist in dem Freudenkelche; ich wußte es nie anders, als daß ich mein Leben für die gute Sache und meine leidenden Genossen lassen würde; das war die Flamme, die eine armselige, entbehrungsreiche Jugend durchglühte und die ich nicht ohne große Bewegung erlöschen sehen kann. Wie könnte ich aber das Mädchen, das ich über alles liebe, in so unwirtliche Verhältnisse verpflanzen und sie einem grausamen Geschick aussetzen? Schließlich kommt alles meiner Liebe zugute; denn je mehr ich Arabell opfere, desto mehr lieb ich sie.«
Er stand damals vor der letzten medizinischen Prüfung und beabsichtigte, sich in der Stadt, wo er studiert hatte und inzwischen einigermaßen bekannt geworden war, als Arzt niederzulassen, unter welcher Bedingung auch Arabells Mutter – denn der Vater lebte nicht mehr – in die Heirat, die sie nicht eben gern sah, einwilligte.
* * *