Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Michael hatte keinen Augenblick geglaubt, er sähe Rose zum letzten Male, wenn er auch nicht wußte, auf welche Weise ein Wiedersehen mit ihr herbeigeführt werden sollte. Den Tag ihrer Abreise und den folgenden verlebte er mit abwesendem Geiste und nur äußerlichem Anteil an allem, was vorging. Er brachte, weil es gewünscht wurde, mehrere Stunden auf dem Basar zu, und der Anblick seiner Mutter in dem weißen Samtkleide, das mit Perlen behängt war, seiner Frau in dem kostbaren Pelzwerk, aus dem einige verstreute Diamanten funkelten, der beständig ausströmende starke Geruch von Lilien und Tuberosen, alles das versetzte ihn in eine seltsame Betäubung. Man hätte ihm in einigen Augenblicken sagen können, er befinde sich auf einem mondbeschienenen Kirchhof zwischen verlarvten Gespenstern; er konnte die Empfindung nicht loswerden, als wäre zwischen ihm und eben diesen Figuren ein großer Zwischenraum, so daß er sie niemals leibhaftig berühren könnte.

Wenige Tage später fielen in einer Nacht heftige Regenströme, von Stürmen begleitet, die den Schlaf beunruhigt hatten, und am andern Morgen schien die Sonne warm und strahlend, wenn der Wind auch noch nicht ruhte. An diesem Morgen schlug Michael, anstatt in das Geschäft zu gehen, den Weg zum Bahnhofe ein, obgleich er noch nicht eigentlich entschlossen war, Rose nachzureisen. Er wußte, daß sie zunächst nach einem kleinen Ort am Bodensee hatte gehen wollen, und diese Tatsache hatte ihm, solange sie fort war, unablässig vor Augen gestanden. Er ging auch an diesem Morgen im Grunde nur der Tatsache nach, bis ihn plötzlich, als er vor dem Schalter stand, wo er die Karte lösen mußte, die stürmende Gewißheit ergriff, er müsse sie wiedersehen und den Abschied von ihr nehmen, den er nicht hatte nehmen können, als sie fortreiste. Seine Stimmung veränderte sich so, daß, nachdem er eben noch in halb unbewußtem Traume hingeschlendert war, jetzt ein gespanntes, verzweifeltes Wollen in ihm brannte, das ein Scheitern seines Planes von vornherein unmöglich machte. Als er seinen Wagen gefunden hatte, warf er sich zuerst in die der offenen Tür gegenüberliegende Ecke, sprang aber sogleich wieder auf und stellte sich auf das Trittbrett, um alle, die kamen und einstiegen, zu sehen. Von Zeit zu Zeit glitt sein Blick nach der Bahnhofsuhr, deren Zeiger nicht von der Stelle zu rücken schien; jeden Augenblick konnte sein Vater, sein Bruder oder sonst jemand kommen und ihn fragen: Wohin willst du? Du darfst nicht! Bleibe hier! Er war nicht imstande, sich eine Entgegnung für solchen Fall auszudenken, aber das stand fest in ihm, daß es keiner Macht gelingen sollte, ihn von seinem Platze wegzureißen. Je wilder sein Herz klopfte, desto starrer und blässer wurde sein Gesicht, nur seine Augen flammten; trotz der Eile, mit der alle Leute kamen und gingen, blickte sich zuweilen einer um und sah ihn verwundert an. Als die Uhr noch eine Minute bis zur Abfahrt zeigte, war seine Aufregung so groß, daß er sich unwillkürlich fester an den Türgriff klammerte; dann kam der Schaffner, um die Tür zuzuschlagen, und der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Da der Wagen leer geblieben war, warf er sich in eine Ecke und schlief fast augenblicklich ein, so vollständig erschöpft war er, wachte aber nach einer Stunde wieder auf und nahm mit Entzücken die verwandelte Gegend wahr, an der er vorüberfuhr. Er fuhr zu Rose; nur das fühlte er, nichts von allem, was hinter ihm lag. Noch niemals hatte er sein eigenes Ich so leibhaftig gegriffen; was in ihm webte, wallte, klopfte und drängte, was er als mechanische Vorgänge nie beachtet hatte, rauschte zu einem starken Leben zusammen, das er mit Wonne als sein eigen empfand. Die Menschen, die ihm teuer gewesen waren, was ihm früher wichtig erschienen war, alles verblaßte gegenüber dem Antlitz des Gottes oder Dämons, das in seinem Innern sich zu enthüllen im Begriffe war. Erst als die Sonne über Mittag stand und er die Stunden zählte, bis er am Ziele wäre, trat das Tatsächliche wieder in den Vordergrund, wenn auch nur insofern, als es auf Rose Bezug hatte. Er fragte sich, ob er sie überhaupt finden, und wenn er sie fände, wie sie ihn aufnehmen würde? Denn was berechtigte ihn, zu glauben, daß er ihr teurer wäre als irgendein anderer, da sie ja alles Lebendige liebte? Eine gewisse Neigung ihres Blickes konnte seiner Schönheit gegolten haben, die ihm nun einmal anhaftete, wie sie ja auch Malvens und Verenas und vieler anderer Schönheit geliebt hatte. Sehnsucht nach ihr überwallte ihn ganz, Sehnsucht, seine Seele in ihre Augen überströmen zu lassen, sich selbst aus ihren schönen, schaffenden Händen zu empfangen. Wenn er bedachte, daß er nicht glückbringend zu ihr kam, nicht, um frei um sie zu werben, sondern heimlich, flüchtig und frevlerisch, mußte er auch die Möglichkeit erwarten, daß sie ihn mit Verachtung von sich stieß; und wenn er das auch am wenigsten glauben konnte, so preßte ihm doch das Bewußtsein seiner bettlerhaften Niedrigkeit das Herz bis zum Weinen zusammen, und er mußte sich hilflos wie ein Kind seinen Tränen hingeben.

Es brachte ihn wieder zu sich selbst, daß er, nun doch am Ziele angelangt, etwas vornehmen mußte, um sie zu finden. Dies war nicht schwierig, da es in der kleinen Ortschaft nur wenige Gasthöfe gab, wo Fremde etwa absteigen konnten, und so traf sich's, daß ihm schon im ersten, wo er nachfragte, geantwortet wurde, die betreffende junge Dame wohne da, sei aber ausgegangen, vermutlich an den See, und werde nicht vor dem Nachtmahl zurückkommen. Er schlug den nächsten Weg zum See ein und sah sie bald auf einer hölzernen Bank dicht am Ufer sitzen; wie er unwillkürlich stockenden Herzens stehenblieb, drehte sie sich um, da sie das Geräusch seiner Schritte auf dem Kies gehört hatte, und sah ihn mit Augen voll Schrecken und Freude an. In diesem Augenblick überfiel ihn eine fürchterliche Bangigkeit, ein unerklärliches Entsetzen, als ob ein Geisterblick sich vor ihm auftäte und ihn warnte; aber indem er, um diesem Weh des Todes zu entfliehen, fortstürzen wollte, sah er wie durch Nebelflor ihre Hand, die sie zur Begrüßung nach ihm ausgestreckt hatte, ging vorwärts auf sie zu und setzte sich neben sie auf die Bank.

Die Sonne war noch nicht untergegangen, stand aber hinter schwerem grauen Gewölk, das nur ein schwaches gelbliches Licht hindurchließ; wo in der Ferne die Berge lagen, zuckte in schwarzblauer Wolkenmasse hier und da langsam ein weißes, breites Wetterleuchten. Der Wind, der den Tag über in matten Stößen sich bewegt hatte, begann tiefer zu atmen und trieb die Wellen rasch und hoch dem Strande entgegen. Auf den dunkelgrünen Leibern wälzte sich der springende Schaum und erfüllte die Luft mit blitzendem Wasserstaube; wie ein Meer schwoll es näher und näher, bäumte sich hoch und zerschmetterte klingend im Sturz am Ufer. »Was denkst du?« fragte Michael leise, da sie mit vorgebeugtem Haupte dem Wasser entgegenzuverlangen schien. »Ich höre die Musik der Brandung«, antwortete sie. »Es ist meine Seele, die deine Füße umarmen will«, flüsterte er hingerissen, indem er sich von der Bank heruntergleiten ließ und den Kopf in ihren Schoß legte. Sie neigte ihr Gesicht dicht auf ihn herab, so daß sie beide nichts mehr sahen und kaum noch wußten, ob sie das Rauschen der Elemente oder einen wunderbaren Triumphgesang der Liebe in ihrem Innern vernähmen. Als sie sich nach einer langen Weile aufrichtete und er in ihre nassen Augen sah, umfaßte sie mit beiden Händen seinen Kopf und rief: »O du! du Geliebter!«, wobei ihr stilles Gesicht sich veränderte, wie wenn in einem antiken Marmorbilde das heiße südliche Blut lebendig geworden wäre. Aus ihren schimmernden Augen und von ihrem starken, blühenden Munde strahlte schwärmerisches Entzücken, ja eine Wildheit der Freude, deren Dasein niemand in ihr vermutet hätte, über ihr ruhiges Wesen. Er staunte, und doch war ihm alles, was sie tat und sagte, nur eine Bestätigung seiner innersten Ahnung, die ihm nun, da sie sich erfüllte, bewußt wurde. Als sie im Gastzimmer nebeneinander saßen, Brot aßen und roten Wein tranken, sagte sie auf sein Drängen, ihm ihr Wesen und ihre Liebe zu erklären: »Seit ich dich gesehen hatte, trug ich dich in mir, aber ein guter Genius wachte still über deinem verhüllten Bilde, um mich nicht vor der Zeit zu erschrecken. Wie du nun hier vor mir standest, erkannte ich dich plötzlich als einen Teil von mir und erschrak vor der Offenbarung, die mir wurde; aber ich fürchtete mich so wenig wie einer, der einen Geist sieht, selbst wenn er ihm die Stunde seines Todes meldet.«

Michael wollte noch in derselben Nacht nach Hause zurückkehren, um seine Angehörigen, denen er einen kurzen telegrafischen Bericht hatte zukommen lassen, er habe in Geschäften verreisen müssen, nicht länger der Unruhe auszusetzen. Auf die Zeichen zur Abfahrt des Dampfers lauschend, die vom Wirtszimmer aus vernehmbar waren, saßen Michael und Rose auf einem schäbigen, mit Leder überzogenen Sofa, als hätte sich die Ewigkeit auf sie herniedergelassen. Sie sprachen nicht von Trennung oder Wiedersehen, nicht sowohl weil das in diesem Augenblick unerträglich gewesen wäre, als weil die Wonne, sich gefunden zu haben, noch so stark in ihnen nachzitterte, daß ein Schmerz nicht wirklich werden konnte. Als das langgezogene Pfeifen zum letzten Male aufgellte und Michael eilen mußte, fuhren sie zusammen, reichten sich aber in einem glücklichen Traume befangen lächelnd die Hand; Rose begleitete ihn nicht bis zur Landungsbrücke.

Es war des stürmischen Wetters und der vorgerückten Stunde wegen kein Reisender außer Michael auf dem Verdeck. Die Wetterschwärze hatte den ganzen Himmel bezogen, und der Wind raste über das Wasser; an der Bergseite blitzte noch von Zeit zu Zeit das ferne Wetterleuchten. Wie Michael an der Spitze des Schiffes stand und der Wind ihm die Haare von der Stirn wehte, glaubte er in das Getöse der Wellen hinein die rauschenden Stimmen aus seinem Kindergarten zu hören: O Leben, o Schönheit, o Leben, o Schönheit!, und ein magisches Band schien von jenen dumpfen Träumereien zu diesem Augenblick des Glückes zu führen. Wie er größer geworden war, hatte er sich zaghaft auf der kümmerlichen mechanischen Bühne herumgeschoben, die Menschen aufgestellt und für das Leben ausgegeben hatten. Dort deklamierte jeder sein ödes Tagewerk in langen Jammerversen, und schläfrige Furien, Langeweile und Mißmut und Entkräftung schlichen auf Socken hinter ihm her. Aber was tut es, dachte er, wenn der Sturm mir den Mantel zerreißt und mein Schiff an den Fels wirft, wo es scheitern kann! Welche Wonne ist es, zu kämpfen, welche Wonne, zu hoffen und zu wagen, welche Wonne noch, unterzugehen. Er bewegte die Lippen, und sein Herz schrie in die tosende Nacht hinaus: O Leben, o Schönheit! bis es ihm war, als ob das Heer der wilden Seelen von Sturm, Wolken und Wellen mit ungeheurem Frohlocken wiederholte: O Leben, o Schönheit! Noch als er den Dampfer verlassen hatte und zu Lande weiterfuhr, brandete der stolze Rhythmus an seinem inneren Ohre und ging allmählich in den regelmäßig schütternden Takt der Eisenbahn über, die ihn wieder nach Hause trug.

*

Wenn man aus der Kirche, wo einem die Wirkung edler architektonischer Formen und der Musik fast ohne eigene Anspannung über das Irdische hinaus gegen den Himmel trug, auf die Straße tritt, entsinkt einem wohl der Mut, zwischen den spießbürgerlich geschäftigen Menschen, mit denen man beständig die nächsten Pflichten zu teilen hat, den köstlichen Aufschwung zu bewahren. Etwas Ähnliches erlebte Michael, als er sich vom Bahnhofe aus auf den Weg nach Hause machte, nur deshalb freilich unendlich schlimmer, als von ihm gefordert wurde, unmittelbar das Schwerste handelnd auszuführen, was ihm in der Aufwallung aller Gefühle leicht erschienen war. So bedachtlos war er freilich nicht gewesen, daß er nicht von Anfang an Kampf und Arbeit vorausgesehen hatte, wenn er sich die Bahn für ein neues Leben frei machen wollte; aber er hatte an heroische Kämpfe gedacht, die ihm nun lächerlich vorkamen angesichts des Schlachtfeldes, wo sie entbrennen sollten. Alles, was er unterwegs sah, die Schaufenster voll kostbarer Überflüssigkeiten, die Bäume, die, in regelmäßigen Abständen gepflanzt, sich an wohlabgewogener Entfaltung glichen, die behäbigen Häuser mit dem doppelten Eingange für Herrschaft und Dienerschaft, die blinkenden Schilder, die vor Bettelei warnten, alles schien sich zu einer bedrohlichen Feindesmacht gegen ihn zu verbünden. In den glatten, gepflegten Gesichtern der modisch zusammengeschneiderten Menschen las er freche Grausamkeit, die sich brüstete: Wir kennen den Gott über den Wassern nicht; wir dienen einem Baal, der die Abtrünnigen schlachtet. Ja, hätten sie das laut bekannt, wäre der Kampf leichter gewesen; aber Michael wußte, daß sie keine anderen Worte im Munde führten, als Gott, Familie, Pflicht, Gesetz, Ordnung, die wie geheiligte Schwerter die ungewappnete Rede des Gegners totschlugen.

Plötzlich fiel es ihm ein, daß er bisher nur mit sich selbst gesprochen hatte, daß also in ihm eine Stimme sein mußte, die ihn eines großen Frevels beschuldigte, und er versuchte in sich nachzuforschen, ob er denn so Unerhörtes begehre. Er wollte nichts, das wiederholte er sich ernstlich, als Freiheit des Berufes, Entbürdung von der kaufmännischen Tätigkeit, die Möglichkeit, seinen Geist auszubilden, und wunderte sich, daß ihm bange war, so billige Forderungen zu äußern. Es konnte nichts anders sein, als daß er selbst noch unter der Macht der heimatlichen Anschauungen stand, nach denen jedes Abweichen von der schnurgeraden Straße, auch wenn es aufwärts ging, etwas Schändliches bedeutete, und er sehnte sich, diese Verschnürung lösen und abstreifen zu können.

Verena begegnete ihm mit den Worten: »Du warst bei Rose!« und überhob ihn dadurch der peinlichen Einleitung zu den schweren Auseinandersetzungen, die kommen mußten. Es kam ihm nicht in den Sinn, die Wahrheit zu bestreiten, während Verena im Innersten eine Verneinung erwartet hatte, ja sogar ein Ableugnen, das sie durchschaut hätte, ihr im Augenblick willkommen gewesen wäre. »Ich sagte dir damals, daß du sie liebtest, und du belogst mich«, rief sie heftig, der Ungerechtigkeit dieser Anklage wohl bewußt, im brennenden Triebe, den zugefügten Schmerz sofort zurückzugeben. »Damals sagte ich die Wahrheit wie heute«, entgegnete Michael ruhig. »Ich kann auch nicht bereuen, was ich getan habe, denn ich mußte sie noch einmal sehen, wenn ich weiterleben wollte; es war nicht mein Wille, dir etwas Böses zuzufügen, und was ich dir wider meinen Willen tue, hoffe ich einmal wiedergutmachen zu können.«

Die Kälte, mit der er sprach und die ihren Grund darin hatte, daß er sich Zwang antat, um fest zu bleiben, wirkte um so schauerlicher auf Verena, weil sie an seine hebevolle Schonung gewöhnt war, selbst in den Augenblicken, wo er ihr grollte oder zürnte. Da war es vor ihr, das gräßliche Medusengesicht des Lebens; sie mußte es anstarren, obwohl ihr graute, und ein kaltes, steinernes Gefühl schlich an ihre Seele. In wilder Angst vor der Erstarrung, die sie überwältigen wollte, stürzte sich ihr haltloses Erschrecken, ihre Entrüstung und Verzweiflung in zusammenhanglosen Worten von ihren Lippen. Sie sagte ihm, daß sie ihn in diesem Augenblicke glühender haßte, als sie ihn je geliebt hätte; daß er sie hintergangen hätte wie ein feiger, meuchlerischer Verräter, und suchte nach den ärgsten Beschimpfungen, damit er nichts von der bitterlichen Sehnsucht ahnte, die ihr zum Trotz nach ihm schrie. Er hörte ohne Bewegung und ganz ohne Mitleid zu. »Leiden gibt es in jedem Leben«, sagte er, »und wenn wir sie überwunden haben, erkennen wir oft, daß sie größeren Wert haben als viele unserer Freuden. Aber auch davon abgesehen, muß jeder lernen, mit seinem Schicksal fertig zu werden; denn dazu sind wir da.« Er staunte über die Worte, die von seinen Lippen kamen, und war sich selbst kaum weniger fremdartig und furchtbar als ihr. Indessen seine nun folgende Erklärung, daß er beschlossen habe, den Beruf eines Kaufmannes aufzugeben und einen anderen zu ergreifen, beruhigte sie wieder etwas, besonders aber seine Bitte, Roses Namen in die Auseinandersetzungen mit der übrigen Familie, wozu es nun kommen mußte, nicht zu verwickeln. Nahm sie diese Zumutung auch anfangs mit Mißtrauen auf, so sagte sie sich doch bald, wenn die Sache sich überhaupt verschweigen ließe, wäre sie vielleicht nebensächlicher, als sie sich ihr zuerst dargestellt hätte, und schiene Michael selbst ihr keine Folgen beizumessen. Sie gab ihm nach kurzem Bedenken bereitwillig das Versprechen, zu schweigen, und wie mit der Hoffnung alle großmütigen Triebe wieder in ihr rege wurden, beschloß sie sogar, die Pläne ihres Mannes zu unterstützen und, wenn es harte Kämpfe mit den Eltern gäbe, an seiner Seite zu bleiben. Für Michael bedeutete das keine Erleichterung; denn seines Vaters Gesinnung wurde durch niemandes Ansicht beeinflußt, sein Widerstand, sein Schmerz konnte auf niemanden abgeleitet werden, diese Spitzen mußte er alle selbst in seine Brust drücken und ihnen standhalten oder erliegen.

Zustatten kam ihm, daß das Befremden und die Entrüstung seiner Eltern über seine Pläne, auch wenn man ihren angewöhnten Anschauungen große Zugeständnisse machte, so unverhältnismäßig waren, daß er von selbst in die kriegerische Stimmung geriet, die ihm not tat. Kein Grund faßte Wurzel bei ihnen; vergebens führte er an, daß sein Austritt aus dem Geschäfte dasselbe nicht schädige, daß er, wenn sie sich nach einer gewissen Reihe von Jahren mit seiner neuen Wirksamkeit nicht ausgesöhnt hätten, wieder eintreten könne, daß in jedem Falle das Streben, seinen Geist auszubilden, seine Kräfte alle zu entwickeln, nichts Schändliches sei, daß viele dasselbe getan hätten und deswegen gelobt würden; über alles gingen ihre eintönigen Klagen und Vorwürfe weg, ohne sich mit einem Worte darauf einzulassen. Der Streit wurde vollends dadurch erbittert, daß Waldemar seine letzte Hoffnung auf seinen Freund Peter Unkenrode setzte, von dessen Überlegenheit er eine solche Meinung hatte, daß er nicht zweifelte, sein Sohn würde sich ihr beugen, wenn sie mit gesammeltem Nachdruck auf ihn wirken wollte. Michael konnte nicht umhin, zu lächeln, als Waldemar ihm eine Zusammenkunft mit seinem Freunde vorschlug, und fragte verwundert, was er sich denn davon verspräche? Ob er glaubte, er würde den Vorstellungen eines Fremden mehr Gehör schenken als denen seines Vaters, der ihm so verehrungswürdig und teuer wäre? Was könnte Peter Unkenrode ihm Neues sagen, und vor allen Dingen, wie könnte er sein Streben und seine Sehnsucht dem Geldmanne begreiflich machen, der nie etwas Höheres vom Leben begehrt hätte als Reichtum und eine angesehene Stellung unter den Leuten? Diese Worte, begleitet von dem Lächeln, das ihm geringschätzig vorkam, erzürnte Waldemar mehr als alles Vorhergegangene. »Kannst du dich denn herablassen«, rief er in lauter Wut, »deine Sehnsucht mir begreiflich zu machen? Glaubst du etwas Höheres und Besseres werden zu können als ein Ehrenmann, der sein Leben lang nie einen Fußbreit vom rechten Wege abgewichen ist, den seine Mitbürger schätzen und bewundern, dessen fleckenloser Name auch von denen, die ihn nicht persönlich kennen, mit Achtung genannt wird? Glaubst du, weil du ein unruhiges Gelüste nach Veränderung hast, das du mit hohlen Worten ausputzest, und pflichtvergessen wie ein Knabe dich davon hinreißen läßt, du dürftest Männer verachten, die auch ihre Versuchungen gehabt, die sie aber bekämpft und bestanden haben?«

Michael hörte schweigend mit den peinlichsten Gefühlen zu und antwortete nicht. Er bemerkte, wie verändert die Züge des im Zorn geröteten Gesichtes waren, die Nase dicker und mehr nach vorn gebogen, die Wangen schlaffer, der Mund gröber, und dachte, daß sein Vater zu altern anfinge, und daß es vergebens sein würde, ihn an seinem künftigen Leben teilnehmen zu lassen oder nur ihm Duldung seiner Ideale abzuringen.

Auf heftige unfruchtbare Kämpfe folgte eine müde, kalte Stille zwischen allen. Michael dachte daran, wie er sich von Kindheit an in blinder Vergötterung seinem Vater angeschlossen und geflissentlich jede geistige Regung, die jenem fremd war, in sich unterdrückt hatte. Er zürnte ihm deswegen nicht, aber er fragte sich, ob diese gerühmte Kindesliebe, diese selbstopfernde Hingebung etwas Schönes, nicht vielmehr etwas Verderbliches sei. Wer konnte leugnen, daß es größere Helden gab, denen er die Nachfolge hätte geloben können, und mit reicherem Ertrage für sich, als seinem Vater, der ein schwacher und beschränkter Mensch war. Er versuchte sich zu besinnen, ob sein Vater immer so gewesen wäre wie jetzt, oder ob ihn nur die Jahre kleinlicher machten. Warum hatten sie sich alle so viel mehr gedünkt als die anderen Menschen, mit denen sie verkehrten oder von denen sie wußten, und auf die sie wie auf ein kleineres, armseligeres Geschlecht herabgesehen? Alles bestärkte ihn mehr darin, daß er frei werden mußte, sei es auch nur, um einen klaren Blick über alle diese Fragen und Verhältnisse und eine richtige Wertschätzung seiner selbst zu gewinnen.

Verena fühlte sich so sehr als die an der Seite ihres Mannes kämpfende Genossin, daß sie das, was Rose betraf, vergessen zu haben schien; aber ihr Beistand, wie der Arnold Meiers, war ihm ebenso quälend wie das Widerstreben der anderen. Es war nun einmal so, daß jeder Gedanke, den sie äußerten, in der Meinung, ihm beizustimmen, den seinigen nie ganz deckte, daß er immer irgendeinen Mißklang hörte, wo sie ganz in seinem Sinne zu sprechen glaubten, so sehr, daß ihn zuweilen Mißtrauen gegen sich selbst anwandelte, wenn er sie wiederholen hörte, was er als seine innerste Überzeugung ausgesprochen hatte. Nützlicher wurde ihm eine zufällige Äußerung Raphaels, die den Ausweg ins Auge fassen ließ, er könne Michaels Stelle im Geschäfte ausfüllen.

Es hing damit zusammen, daß Raphael selbst die Zuversicht nicht hatte, er würde jemals ein Kunstwerk von Bedeutung hervorbringen, weswegen er sich zwar nicht geringer einschätzte, aber doch allmählich bedenklich wurde, was für eine Stellung in der Gesellschaft er einmal einnehmen sollte. Ihm stand, wie er glaubte, die Allseitigkeit seiner Begabung im Wege, die ihn bald zur Musik, bald zur Poesie, bald zur Malerei zog; ferner hatte er sich eine Theorie erdacht, wonach die größten Kunstwerke die innerlichen wären, die überhaupt nie zu einem Ausdrucke gelangten. Die größten Meister, sagte er einmal, hätten – was freilich paradox klinge – ihre Schöpfungen dadurch beeinträchtigt, daß sie sie machten. Es sei einmal unmöglich, einen Schmetterling zu greifen und festzunageln, ohne ihm den Schmelz abzustreifen. Ein einziger Gedankenstrich oder ein Ausrufungszeichen könne eine schönere Dichtung sein, als die berühmteste Tragödie. Als Michael einwarf, demnach wären die Schreibhefte, die er als sechsjähriger Knabe geschrieben hätte, eine Fundgrube von Meisterwerken, entgegnete Raphael, es käme freilich darauf an, was einer bei den Gedankenstrichen und Ausrufungszeichen empfunden und gedacht hätte, was in Zukunft vielleicht einmal geübte Augen den Schriftzeichen ansehen könnten.

In der letzten Zeit war Raphael eine Liebschaft eingegangen, die ihn mehr Geld kostete, als sein Vater ihm zum Verbrauch angewiesen hatte, und da er sogar mit dem Gedanken umging, das betreffende Mädchen zu heiraten, erschien ihm plötzlich Michaels Stellung vergleichsweise beneidenswert, und er warf es ihm vor, daß er mit seinem glänzenden Lose unzufrieden wäre.

Michael griff dieses hingeworfene Wort auf, und indem er Raphael erklärte, es stehe bei ihm, diese Stellung selbst einzunehmen, ging ihm klar auf, daß hier die Erlösung liege und daß sein Austritt aus dem Geschäft, wenn er dadurch Raphael Platz machte, vernünftigerweise als eine Wohltat, ja fast Notwendigkeit für diesen angesehen werden müsse. Verena und Arnold Meier, die bei dem Gespräch gegenwärtig waren, konnten sich nicht so flink auf diesen Standpunkt stellen, besonders Arnold Meier redete lebhaft auf Raphael ein, sich nicht durch zufällige Umstände und Stimmungen zu einem so verhängnisvollen Entschlusse hinreißen zu lassen. »Stecke deine Hände nicht in Geldgeschäfte«, sagte er. »Du hast weiße, faule Künstlerhände, die bisher nur gespielt und getändelt haben und ungeschickt zur Goldgräberei sind. Wenn du durchaus etwas werden willst, um einen Titel oder ein Amt zu haben oder Geld einzunehmen, und das Dichten dir nichts abwirft, so werde in Gottes Namen Schulmeister oder Schreiber; aber laß dich nicht in die große Goldmühle werfen, wo du unfehlbar zwischen die Räder kommen und gemahlen werden wirst.«

Michael warf einen hochmütig zürnenden Blick auf den eifrigen kleinen Juden und sagte: »Wenn Raphael Künstler wäre, würde er nie einen Kaufmann um sein Los und sein Geld beneidet haben. Wollte er dennoch dafür gelten, würde er ein Heuchler oder ein Affe werden, der das Pathos der Begeisterung karikiert, und müßte erröten und sich verstecken, wo ein echter, göttlicher Hauch weht. Ist er dazu zu stolz und zu einsichtig, soll er töricht genug sein, Schulmeister oder Schreiber zu werden mit den weißen, faulen Händen, die nur getändelt haben? Mit dem Anspruch, in dem er aufgewachsen ist, in der feinsten Gesellschaft der Erlesenste zu sein? In unserem großen Geschäfte, das einmal seinen Gang geht, wo viele Köpfe und Hände arbeiten, kann er mitwirken, ohne sich zu überanstrengen und ohne doch ein buntes Aushängeschild vor einer leeren Kammer zu sein. Ich sehe keinen anderen Weg für ihn, ein Mann zu werden, der sich selbst achten kann.«

Während Arnold Meier und Verena staunend auf Michael sahen, blickte Raphael erschreckt von einem zum anderen und fuhr sich mit der Hand durch die braunen Locken, unfähig, eine Erwiderung zu finden. Er konnte die Lage durchaus nicht übersehen und hatte das Gefühl, als würde er hilflos einem unerbittlichen, unberechenbaren Schicksal ausgeliefert, das mit ihm, dem Wehrlosen, schaltete. Teils lockte ihn die Aussicht, Geld zu verdienen und soviel er Lust hätte zu verbrauchen, andererseits empfand er eine unbestimmte Furcht vor der regelmäßigen Tätigkeit und trockenen, eintönigen Arbeit, der er sich, wie er voraussah, nicht ganz würde entziehen können. Sein hübsches, weiches Gesicht mit dem vollen Kinn drückte halb ernste, halb komische Verzweiflung aus, die ihn gut kleidete und etwas Rührendes hatte. »Es scheint mir fast, als ob Michael recht hätte, wenn er mir auch eben nicht schmeichelt«, sagte er endlich, und echte Bescheidenheit und Koketterie mischten sich unwiderstehlich gewinnend in seinen Worten.

Arnold Meier und Verena trösteten ihn beide gutmütig, er müsse noch andere Schiedsrichter anrufen und es sich in jedem Fall reichlich überlegen, was er sich am ersten zutrauen könne; aber es war, als schlösse Michaels gespannter Wille, seine Seele festzuhalten und sich zu unterwerfen, jeden anderen Einfluß von ihm aus. Michael war mit seines Bruders Laufbahn niemals zufrieden gewesen, hatte sich aber nicht zur Einmischung berufen gefühlt und es bei gelegentlichen Neckereien bewenden lassen; nun sah er plötzlich ein bestimmtes Ziel vor Augen, das sich erreichen ließ, wodurch er befreit und sein Bruder in eine passende Lebensstellung gebracht wurde, und er ergriff diese Möglichkeit mit unbändigem Wollen, das keinen Einwand oder Zweifel zuließ und Raphael völlig verblüffte und überwältigte.

Als sie miteinander allein waren, sagte Verena zu Michael, ihn mit glühenden Augen scheu betrachtend: »Was für ein Geist hat von dir Besitz genommen, Michael? Weißt du selbst denn, was du tust und wohinaus du treibst? Du bist mit Raphael verfahren wie die Schlange mit dem kleinen Vogel, dessen Seele sie mit den Augen lähmt, um ihn zu verschlingen. So hast du ihm deinen Willen aufgezwungen und ihn eingefangen, daß er das Brot aus deinen Händen nimmt, um nicht zu verhungern.«

»Mit dem Unterschiede von der Schlange, daß ich nicht Raphaels Verderben bezwecke«, sagte Michael. »Auch glaube ich nicht, daß er sich meiner Meinung aus einem anderen Grunde angeschlossen hat, als weil er sie für die richtige hielt, und wenn ich hart gegen ihn geschienen habe, ist es nur, weil er von Kindheit auf in so viel Lüge gewickelt ist, daß man weder ihn noch er die Welt sehen konnte, wie sie wirklich sind.«

»Ich will nicht sagen, daß du unrecht hattest«, erwiderte Verena, »wenn ich auch nicht weiß, ob du recht hattest. Du bist mir nie so schrecklich schön erschienen wie eben, und selbst wenn du mich nicht mehr liebtest wie einst, müßte ich dich anbeten.«

Michael sah müde in ihre schönen Augen, die brennend an ihm hingen, und sagte: »Muß ein Mann den Frauen durchaus schrecklich erscheinen, bevor sie ihn lieben? Du ahnst wohl nicht, was mich die Kämpfe dieser Tage gekostet haben, sonst würdest du wissen, daß ich nicht so schrecklich bin, wie ich dir erscheine, und daß du keine Ursache hast, weder mich zu verabscheuen noch mich zu bewundern. Wer wahrhaft liebt, liebt einen so wie man ist, nicht wie man unter gewissen Beleuchtungen erscheint; ich bin aber heute derselbe, der ich am Tage unserer Bekanntschaft und immer seither war.«

Nach einer Pause stand er seufzend auf, führte Verenas Hand an seine Lippen und sagte bittend: »Entschuldige dies überflüssige Gerede mit der Gereiztheit, in der ich mich befinde. Die Luft liegt hier so schwer auf mir, daß ich wollte, ich wäre erst fort.«

»Und könnte vergessen, was hinter mir liegt«, setzte Verena mit schmerzlicher Bitterkeit hinzu. Michael schwieg, ein Angstgefühl beklemmte ihn, ob das Vergessen solcher Tage möglich wäre.

Die Tatsache, daß Raphael sich bereit erklärte, vielmehr den Wunsch äußerte, an Michaels Stelle in das Geschäft einzutreten, änderte wirklich die Lage zu Michaels Gunsten. Denn Waldemar hatte sich zwar gefreut, wenn Raphael als Knabe etwas Buntes gemalt oder etwas gefällig Gereimtes gedichtet hatte, aber daß er deswegen Künstler werden sollte, hatte er stets mißbilligt, um so mehr, als er, seit Raphael erwachsen war, nie eine Leistung von ihm gesehen hatte, die ihm faßlich gewesen wäre. Die Malve gab zwar ihre stolzen Hoffnungen ungern auf, doch war sie klug genug, einzusehen, daß es besser so geschähe, als später durch Raphaels Unzulänglichkeit, mit der sie insgeheim schon zu rechnen angefangen hatte. Es fiel auch für die Eltern ins Gewicht, daß der auffallende Schritt Michaels sich nun den Leuten besser erklären ließ; daß der alte Unger Raphaels Künstlerlaufbahn mit Unwillen angesehen hatte, war bekannt, und es ließ sich denken, daß Michael, der nach seinem Austritt aus der Schule nur kurze Zeit eine Handelsschule besucht und später nur in Begleitung seines Vaters einige Geschäftsreisen unternommen hatte, nun sein jüngerer Bruder für ihn einsprang, einen mehrjährigen Urlaub nahm, um sich selbständig in der Welt umzutun. Von all diesem abgesehen, war auch der Widerstand Waldemars und Malves gegen den unabänderlichen Willen ihres Sohnes erlahmt, und sie mußten geschehen lassen, was sie nicht verhindern konnten.

Von seinem Vater, der einen bestimmt abgegrenzten Plan verlangte, bat sich Michael fünf Jahre Freiheit zum Studium der Medizin aus, nach Verlauf welcher Zeit er sich in seiner Vaterstadt als Arzt niederlassen wollte. Trotzdem diese Aussicht, nun es einmal so weit gekommen war, manches Anziehende für Waldemar hatte, fand doch eine eigentliche Versöhnung zwischen ihm und seinem Sohne nicht statt; seinem dunklen verschlossenen Gesicht gegenüber fand Michael kein Wort, das an die alte Innigkeit angeknüpft hätte. Weit eher konnte er sich seiner Mutter nähern, die, im Grunde froh, daß die häßlichen Auftritte vorüber waren, durch verdoppelte Liebenswürdigkeit die Erinnerung daran zu verwischen suchte und sogar einen gewissen Anteil an seinen Plänen nahm.

Nachdem diese Verständigung erreicht war, drängte es Michael, die Abreise zu beschleunigen, denn er sah wohl ein, daß die drückende Stimmung sich nicht ändern würde, solange er da war; doch brauchte er einige Tage dazu, um seine häuslichen und geschäftlichen Angelegenheiten in Ordnung zu bringen. Verena ging ihm in dieser letzten Zeit zuweilen hilfreich zur Hand und schien mit der Wendung des Geschickes aufs beste einverstanden, bald schwankte sie unversehens in feindselige Verstimmung über oder gab sich trostloser Verzweiflung hin. »Du wolltest den Krieg und jammerst nun, da deine Hütte brennt«, dachte Michael; aber er begriff, daß die Unfolgerichtigkeit zu menschlich war, als daß er sie daran hätte mahnen mögen. Er gab sich Mühe, die liebreich rücksichtsvolle Gesinnung wiederzufinden, die er immer für sie gehabt hatte, aber sie wollte nicht freiwillig aus seinem Herzen fließen, und er meinte, eine längere Trennung würde das am besten wieder ins Geleise bringen. Nichts hätte ihm den Abschied schwer gemacht, wenn nicht sein Vater und der kleine Mario gewesen wären; an das Kind konnte er nicht denken, ohne daß ihm Tränen in die Augen kamen. Oft, wenn es ihm mit unsicher wackelnden Schritten, in der Freude sich überstürzend, entgegenkam, oder wenn er fortging, die feinen runden Arme sehnsüchtig und ohnmächtig nach ihm ausstreckte, schien es ihm plötzlich unmöglich, es zu verlassen. Hatte er es nicht vor Augen, kam ihm die Besonnenheit zurück, und er sagte sich, daß er es nicht für immer verließe, daß er es sehen könnte, sooft er wollte, und daß es gerade in diesen ersten Lebensjahren ohne ihn ebenso gut versorgt wäre, wie wenn er dabliebe.

Als die zu seiner Abreise festgesetzte Stunde herankam, war er leidlich ruhig und glaubte, die unvermeidliche Erregung des Lebewohlsagens gut bestehen zu können; einzig, als er in seines Vaters Arbeitszimmer ging, den er noch einen Augenblick allein zu sehen wünschte, schlug sein Herz übermächtig; aber das Zimmer war leer, und es war ersichtlich, daß der alte Herr in aller Stille ausgegangen war, um dem Abschied auszuweichen. Michael faßte sich und trug seiner Mutter einen Gruß auf, indem er zugleich versprach, begütigende Briefe sollten so schnell wie möglich folgen; doch konnte er die nächsten Stunden, während er im Eisenbahnwagen fuhr, nichts tun, als seinen Vater, dessen Beschäftigungen zu jedem Augenblicke des Tages ihm bekannt waren, im Geiste zu begleiten, und als er an der Uhr sah, daß er jetzt, aus dem Geschäfte zurückkehrend, das Haus betrat, in dem er nicht mehr war, stützte er den Kopf in beide Hände und fiel in schwere, verworrene Träumereien.

*

Grün waren die Höhen, an denen die Stadt der Jugend lag, und wenn der Frühling sie betrat mit Kränzen goldener Blumen, widerstrahlten der Himmel und der Spiegel des Sees, widerstrahlten die weißen Häuser und die Augen der Menschen. Dann blühten auf den Hügeln die Kirschbäume und die Apfelbäume, mit deren melodischen Häuptern des Windes silbersüße Stimme lispelte und koste und von denen weiße Blätter auf die lauschenden Wanderer herunterwehten. Oder aber sie schimmerten unbeweglich in den dunkelblauen Himmel, starrend von Licht und Glut, und unter heimlichem Schwellen von unvergänglicher Blüte träumend.

O Stadt der Jugend und der Hoffnung! Es standen in ihr nur edle, stattliche Häuser oder anmutige, bescheidene, kleine, keine unsauberen oder verfallenen oder liederlichen; denn die uralten Straßen, wo es noch mittelalterlich dämmerte, waren liebe schattige Winkel auf der Flur des lachenden Sonnenscheins. Michael hatte diese Universität ausgewählt, weil sie beträchtlich weit von seiner Heimat entfernt war, was ihm jetzt aus mehreren Gründen angemessen zu sein schien; übrigens kannte er sie nicht aus eigener Anschauung und kaum aus Beschreibungen, und hatte nicht vorausgesetzt, daß er sich so bald in ihr vertraut fühlen würde. Zwar kam er nicht im Frühling, sondern im Herbst an, doch gaben auch die Fruchtbäume, die mit Stangen gestützt werden mußten, um die Pracht der gelbroten Äpfel und der Pflaumen tragen zu können, ihre malerischen Schatten auf den unendlichen hügeligen Wiesen, und die Traubenfülle und die fernen und nahen farbigen Wälder einen Anblick, an dem sich ein williges Gemüt erheitern und stärken konnte. War es dies oder die reinere Luft von den Bergen her, oder die Fülle von neuen Lebensbildern: in kürzerer Zeit, als er es für möglich gehalten hatte, gelangte Michael zu energischem Genusse seiner Freiheit. Als er die Erklärung abgegeben hatte, Medizin studieren zu wollen, war das keineswegs der Ausdruck eines langgehegten Wunsches oder reiflicher Überlegung gewesen, sondern er hatte den Wurf gewagt, weil er einen mehr praktischen als theoretischen Beruf seinen Talenten am angemessensten hielt, weil er glaubte, es würde seinem Vater am ehesten einleuchten, und weil ein anderes Studium ihm auch nicht alles das zu versprechen schien, wonach er noch ohne Klarheit strebte. Jetzt, wo er sich ruhig besann und umsah, fing er an, sich über seine Wahl zu freuen, die ihm reichlich ermöglichte, was er allmählich als Ziel seiner Sehnsucht begriff, in Mensch und Leben näher einzudringen. Stieß auch hier manches ab und lockte dagegen manches andere, so sagte er sich in frohester, zuversichtlicher Stimmung, es sei im Grunde gleichgültig, an welchem Zipfel er die Wissenschaft ergriffe, es müsse sich doch überall zu demselben Kern gelangen lassen.

Es trug dazu bei, ihn sicher und glücklich zu machen, daß er sich allerseits von treuherziger Zuneigung umgeben fühlte. Sein Äußeres zog mächtig an; der hohe Ernst auf seiner offenen Stirn, das Wohlwollen in seinen warmen Augen, die weibliche Süßigkeit und Entschiedenheit seines Mundes, und seine freie, ruhige Haltung und einfache Liebenswürdigkeit im Verkehre machten ihn vollends beliebt und fast unwiderstehlich. Sein Alter und seine Lebensstellung hoben ihn aus der Menge der übrigen Studenten hervor, und sein im einzelnen unbekanntes Schicksal, denn er war nicht gerade mitteilsam und hielt auch aus Bescheidenheit zurück, was man ihm nicht abfragte, vermehrten die Teilnahme, die er erweckte. Es glückte ihm verhältnismäßig leicht, mit einem Manne in persönliche Beziehungen zu treten, der ihm das größte Interesse und bald eine Art verliebter Bewunderung einflößte, nämlich mit seinem Lehrer in der Zoologie und Botanik, welche Fächer zunächst die bedeutendsten für ihn waren.

Diesem sich als ergebener Schüler anzuschließen, war an der Universität etwas Herkömmliches, und es geschah nicht nur von Seite derer, die Naturwissenschaften studierten, sondern auch von Theologen, Philosophen und Literaten, sowie von Männern und Frauen der Stadt, die, ohne gerade gelehrte Bildung zu besitzen, sich doch an seinem geistreichen Vortrage erfreuen konnten. Er hieß Freiherr Gilm v. Recklingen, wurde aber schlechthin der Freiherr oder der ›Freiherr vom Geist‹ genannt. Der Freiherr pflegte bei öffentlichen Anlässen eine Menge Orden auf der Brust zu tragen, die ihm verschiedene Fürstlichkeiten verliehen hatten, und es wurde erzählt, als jemand sich erkühnt hätte ihn zu fragen, warum er das täte, da er sich doch gelegentlich ungemein wegwerfend über die hohen Herren geäußert hätte, von denen die Orden stammten, hätte er gesagt: »Wenn einem Sultan Tribute von Schmeichlern oder von beherrschten Völkern dargebracht werden, nimmt er sie an, ohne sich zu Gegendiensten oder zu ehrerbietigem Danke zu verpflichten. Wenn einige Leute, die so gestellt sind, daß allem, was sie tun, vom Volke Wichtigkeit beigemessen wird, in meiner Person dem Geiste huldigen, von dem sie wissen, daß er mehr Macht hat als sie, bringe ich diese Huldigung zur öffentlichen Anschauung, damit ihre lobenswerte Einsicht bekannt wird, und das Volk, das nicht selbst denkt, sondern nachbetet, seine Anschauungen danach bildet.« Ob seine Benennung ›Freiherr vom Geiste‹ von dieser Äußerung herrührte, oder ob sie wegen irgendeines im Vortrage gebrauchten Ausdruckes von der Studentenschaft ausgegangen war, ließ sich nicht mehr feststellen: sie leuchtete ohne weiteres ein, wenn man ihn sah und sprechen hörte. Trotz der allgemeinen Verehrung, die ihm dargebracht wurde, hielten sich viele von ihm fern, weil ein natürlicher Hochmut in seinen Zügen und seinen Sitten und eine schroffe Art, das, was anderen wichtig schien, obenhin zu behandeln, einschüchterte und abschreckte. Auf Michael war ein vornehmer Name im allgemeinen nicht geeignet, Eindruck zu machen, da ihm die Neigung seiner kaufmännischen Vaterstadt im Blute lag, sich dem Adel gegenüber eher mißtrauisch und hoffärtig ablehnend zu verhalten. Dem Freiherrn gegenüber, der selbst ohne Vorurteile war, konnten etwaige Vorurteile nicht lange bestehen: soweit sein Adel sich in der Erscheinung und im Auftreten zeigte, hatte er sogar besondere Anziehungskraft für Michael, der so bescheiden war, das Bedeutende sich gern in bedeutenden Formen darstellen zu sehen und selbst dahinter zurückzutreten.

Der Freiherr hatte sich in jungen Jahren durch eine Untersuchung über Tiere der Tiefsee hervorgetan, der in kurzem Zeitraum mehrere andere folgten, die alle von seinem Scharfblick und der Genauigkeit seiner Forschung glänzendes Zeugnis ablegten. Hauptsächlich durch diese Eigenschaft erwarb er sich einen hervorragenden Platz unter den Naturforschern; was aber seinen Arbeiten den ungewöhnlichen Reiz und ihren dauernden Wert verlieh, war die überlegene Anschauung des Allgemeinen, aus der alles hervorging. Weltall und Weltseele waren ihm nicht bloße Worte, sondern innerstes Glaubensbekenntnis, und in der Überzeugung vom Zusammenhange aller Erscheinungen und von ihrer Wesenhaftigkeit war ihm das Große wie das Kleine gleich heilig und wichtig. Ihm war die Erde ein lebendiger Leib und wiederum auch ein Glied des ungeheueren Gestirnleibes; ebenso begriff er jede Pflanze und jedes Tier als selbsttätige Seele, die aber doch erst verständlich wurde als Glied eines allgemeinen Wesens, das man Tierreich und Pflanzenreich nennt. Er stand nun aber der Welt nicht als sinnender Beschauer, sondern mit unerbittlich richtendem Auge gegenüber, und es mochte gerade die persönliche Anteilnahme sein, die seine Zuhörer mit so einzigem Zauber fesselte.

Seine religiös-philosophischen Anschauungen hatte er in besonderen Werken niedergelegt, die zwar von einigen mit Bewunderung studiert und von vielen genannt wurden, aber ebensoviel Gegner hatten und im ganzen wenig Leser fanden. Hier stellte er Gott, von dem er ausging, unter dem Bilde einer allumfassenden Geistsonne vor, die die ganze Welt durchflammt, durchleuchtet und durchwärmt. Er stellte ihr die Nacht als die untergeordnete, weibliche Ergänzung, die Gebärerin der unendlichen Geschöpfe, gegenüber, in deren Schoß alles zurückkehrt, was nicht als Licht in die Geistsonne eingegangen ist. Alles, was lebt, ist von ihr durchschienen, und insofern sind, wenn man die Wege Gottes kennenlernen will, Steine, Pflanzen, Tiere ein ebenso ersprießliches Studium wie der Mensch; aber nur in ihm, wo ihre Strahlen sich spiegeln, kann die Hingabe an sie möglich werden, die Ziel alles Lebens ist. Leider wären aber, sagte er, die Menschen der unweisen Mutter zu vergleichen, die, als sie die Göttin dabei überraschte, daß sie ihr neugeborenes Kind in das Feuer hielt, damit es seine Sterblichkeit verzehrte, erschrak und den läuternden Vorgang störte.

Die Werke durchzuarbeiten, in denen er sein System ausgeführt hatte, war in der Tat für jeden, auch den willig folgenden und zu gründlichem Studium entschlossenen Leser eine schwierige Leistung. Das lag zum Teile an der Mystik des Inhaltes wie der Form, teils aber daran, daß der Freiherr es verschmähte, sich auf den Standpunkt des Unkundigen zu versetzen, und geflissentlich so schrieb, als ob es nur für ihn selbst bestimmt wäre; eine Unfolgerichtigkeit, da er seine Werke doch drucken ließ, zu deren Erklärung er anführte, daß er sie aufs Geratewohl hinwürfe, damit die wenigen, die auf gleicher Stufe und in gleicher Richtung wie er lebten, sich daran orientieren könnten. Die in seinen Büchern ausgesprochenen und aus seiner allgemeinen Ansicht hervorgehenden Meinungen waren durchaus in ihm lebendig. Er verachtete nicht nur das offenbar Niedere und Grobsinnliche, sondern auch das meiste von dem, das die Gebildeten zu entzücken pflegt, als geistlose Erstgeburt, Seelenballast, Ausdrücke, womit er das an sich Unwesentliche oder notwendig Vergängliche bezeichnete, gab sich aber nicht damit ab, die Irrenden eines Besseren zu belehren.

Das erste Zeichen von Zuneigung gab der Freiherr Michael dadurch, daß er ihm zuredete, das Studium der Medizin aufzugeben oder, wenn er dabei bleiben wolle, Universitätslehrer statt praktischer Arzt zu werden. »Stehen Sie davon ab«, sagte er, »um Geld zu heilen, was noch übler ist, als um Geld zu lehren. Sie werden als Arzt bald von der Wissenschaft abkommen und nichts anderes mehr im Auge haben, als wie Sie die Leute so schnell wie möglich wieder auf die Beine bringen, woran im Grunde nicht so viel gelegen ist. Gibt es überhaupt etwas Widerwärtigeres, als die beständige, erzwungene Berührung mit Menschen an dem Punkte, wo sie am jämmerlichsten dastehen, nämlich in der Sorge um ihren meist sehr übel beschaffenen Körper? Man ermögliche es sich, die Menschen aus der Vogelschau zu betrachten oder in Büchern mit ihnen bekannt zu werden, wo der unvermeidliche Unrat schon ausgeweidet ist oder, besser gesagt, wo die große Destilliermaschine der Zeit den Abhub vertilgt hat und nur der Geist übriggeblieben ist!«

Auf Michaels Einwendung, daß ihn eben das Lebendige, wenn es auch mangelhaft sei, anziehe, sagte der Freiherr unwillig: »Das wäre gut, wenn Sie damit fertig werden könnten. Sie würden rechts und links mit Pflaster, Arznei, Geld und guten Worten wohltun und mitteilen, und schließlich doch nichts Wesentliches gefördert haben. Kennen Sie denn das Lebendige? Sind Sie seiner mächtig? Können Sie Tote auferwecken wie Jesus Christus? Sie werden immer nur ein rasender Träumer sein, der, in Angstschweiß gebadet, vor Traumochsen davonläuft, sich vor Traumfratzen fürchtet und mit Traumwürfeln spielt. Es ist von wenig Bedeutung, ob Sie einem Fieberkranken auf seine Delirien antworten und aus ihrer Nacht heraus einem Nachtwandler die Hand geben; wecken werden Sie ihn doch nicht.«

»Es ist wahr«, sagte Michael, »ich fange erst jetzt allmählich an, zu erwachen. Sollte ich es aber auch nie dahin bringen, erheblichen Einfluß auf den Geist der Menschen zu gewinnen, so wäre es deswegen doch nicht zu verwerfen, wenn ich ihrem körperlichen Leben zu Hilfe zu kommen suchte.«

»Da sehen Sie!« fiel der Freiherr rasch ein. »Da liegt der unglückliche Irrtum! Sie können eben nur dem Geiste zu Hilfe kommen. Die Menschen gehen alle an einer Krankheit zugrunde, nämlich an jener der Mastgans, daß ein Organ auf Kosten des ganzen Organismus überfüttert ist; dies Organ ist bei den Menschen der Körper, während der Geist, an Bleichsucht und Auszehrung leidend, entweder schläft oder Krämpfe hat und irreredet. Notwendiger, als beständig an dem zudringlichen Leibe herumzupfuschen, wäre, daß einer den Menschen beibrächte, ohne denselben und ihm zum Trotze fein und fröhlich und würdig aufzutreten, anstatt mit tropfender Nase und bleiernen Köpfen zu stöhnen und zu schwitzen, wenn ihnen nichts anderes widerfahren ist, als daß sie den Schnupfen haben.«

Michael sagte lachend: »Sie haben wahrscheinlich niemals weder den Schnupfen noch sonst eine Krankheit gehabt.«

»Nein«, antwortete der Freiherr, »allerdings nicht. Wenn ich mich gehenließe wie der winselnde Pöbel und die nörgelnden Gesellschaftsschmarotzer, könnte ich wohl auch dergleichen beibringen. Die Leute möchten wie die Götter und Könige leben, bedächten sie nur zuerst einmal, daß die sich nicht zu Bette legen und die Grippe haben dürfen. Kopf hoch, Krone im Haar, Zepter in der Hand, schön, heil, gnädig und ungnädig, wer alle Morgen so aufstehen kann, der soll sich melden, wo Herrensitze leer stehen.«

Um den Freiherrn ganz zu verstehen, verschaffte sich Michael seine Werke und las sie mit Eifer, konnte sich aber ihres Gehaltes nicht ganz bemächtigen.

Der Freiherr, dem er es gestand, meinte, es möchte ihm noch an naturwissenschaftlichen Kenntnissen und an Übung im philosophischen Denken fehlen; außerdem hätte er, um die abgegriffenen, blechernen Begriffe zu vermeiden, oft tief aus Gedanken und Sprache herausgeschöpft, und wäre so, im Bestreben, das Gedachte richtig zu bezeichnen, dunkel geworden. Übrigens, fügte er hinzu, sei nicht soviel daran gelegen, ob Michael gerade seine Überzeugungen teile, nur überhaupt an etwas glauben müsse man, auf jeder Grundlage könne das himmlische Jerusalem erbaut werden.

Michael lachte und sagte nachdenklich: »Ich fürchte, daß ich keine fromme Natur bin, wenigstens glaube ich, soviel mir bewußt ist, an nichts als an mich selber.«

»Das kann viel und wenig sein«, sagte der Freiherr; »in einem alten Spruche heißt es, es sei ein Gott in uns, und wenn es der Gott in Ihnen ist, an den Sie glauben, so ist nichts weiter nötig. Übrigens ist einem, wie Sie selbst sagen, nicht alles, was im Innern lebt, bewußt.«

Michael, der sich zum erstenmal mit solchen Fragen beschäftigte, sagte, seinen Gedanken nachhängend: »Dieser mein Glaube besteht eigentlich darin, daß ich, obgleich ich in keiner Hinsicht eine hohe Meinung von mir habe, in jeder Lage meinen Eingebungen folge, in der Überzeugung, sie müßten mich zu einem hohen Ziele führen.«

Der Freiherr sah mit Teilnahme und Wohlgefallen in Michaels schönes Gesicht und sagte nach einer Pause: »Der heilige Antonius von Padua begegnete auf der Straße zuweilen einem gewissen Advokaten, einem lebenslustigen Weltmanne, der nur mit Wüstlingen und sittenlosen Weibern verkehrte, und begrüßte ihn zum Erstaunen der Umstehenden jedesmal kniefällig als einen künftigen Märtyrer und Heiligen. So, sehen Sie, verfolgt man oft ganz andere Ziele, als man meint, und je reicher und gesünder ein Mensch ist, desto weniger ahnt er im Anfang seiner Laufbahn, wo und wie beschaffen sein Ende ist. Bleiben Sie nur, wenn ich Ihnen raten darf, bei Ihrem Glauben an sich selbst, und wenn Sie daneben auch etwelchen zu mir fassen können, der ich Ihnen an Alter wie an Schulung und Erfahrung voraus bin, wird es nicht zu Ihrem Schaden sein.«

Der Freiherr stellte Michael seiner Frau vor, einer viel jüngeren, runden, hübschen Dame mit mädchenhaften Zügen, die nach etwa zehnjähriger Ehe noch so verliebt in ihren Mann war, daß für nichts anderes in ihrem Leben Raum zu schaffen war. Mit den Studenten, die der Freiherr gerne in sein Haus einführte und väterlich ermunterte, ihr den Hof zu machen, kokettierte sie zwar, aber nur obenhin, ohne Glanz und ohne Schwung, obwohl sie von Natur nicht wenig dazu begabt zu sein schien. Es wurde gesagt, der Freiherr hätte sie geheiratet, weil sie angedroht hätte, sterben zu wollen, wenn sie nicht die Seine würde, was niemandem unglaublich war, der sie kannte.

Eine größere Auszeichnung für Michael war es, daß der Freiherr ihn bei einer Freundin einführte, die er regelmäßig besuchte und auf die er augenscheinlich große Stücke hielt. Sie war mit ihm verwandt und in seinem Alter, eine hochgewachsene Erscheinung, mit jungen Augen in einem sehr länglichen, vornehmen Gesicht, in vielen Zügen ihrem Vetter ähnlich. Sie lebte zurückgezogen und sah nur den Freiherrn und die wenigen Personen, die er ihr zuführte, bei sich. Obwohl sie nicht ohne aristokratische Vorurteile war, ließ sie doch auch entgegengesetzte Denkart sich frei äußern, wie sie überhaupt gegen jedermann von zugleich stolzer und gewinnender Liebenswürdigkeit war. Mit ihrem würdevollen Wesen und ihrem lebhaften Geiste, den sie stets nur in maßvoller Ruhe äußerte, war sie Michael äußerst sympathisch: auch gefiel ihm die herzliche, höfliche und wahrhaft freundschaftliche Art ihres Verkehrs mit dem Freiherrn.

Es mochte Michaels Bewunderung für seine Verwandte sein, die den Freiherrn eines Tages bewog, ihm zu erzählen, welcher Art eigentlich die Beziehungen waren, die ihn mit ihr verbanden; sie war nämlich seine erste Frau, die er als junger Mann geheiratet und mit der er beinahe zwanzig Jahre lang in kinderloser Ehe glücklich gelebt hatte. Auf einer Reise nach Italien, wo sie ihn nicht begleitete, hatte ihn die prickelnde Lebhaftigkeit, das schöne suchende Feuer eines jungen Mädchens angezogen, das sich eben mit ganzer Seele in die Fülle Italiens hineingeworfen hatte, um ihren unbestimmten Hunger auf irgendeine Art zu sättigen. Ohne daß man von den gegenseitigen Lebensverhältnissen etwas wußte, machte sich der Freiherr zu ihrem Führer und suchte etwas Ordnung in ihre chaotischen Bestrebungen zu bringen, wobei sie sich dermaßen in ihn verliebte, daß er sie heiratete, ungeachtet der vorher eingegangenen und noch bestehenden ehelichen Verbindung. Da er und seine erste Frau Angehörige der russischen Ostseeprovinzen waren, wohin er nicht zurückkehrte, wurde es möglich, das unerlaubte Verhältnis geheimzuhalten. Nach einer Reihe von Jahren ließ sich diese unter ihrem Mädchennamen in der Stadt, wo er wohnte, nieder, und es war seitdem kaum ein Tag vergangen, wo er sie nicht besucht und einige Stunden bei ihr zugebracht hätte. Mit seiner zweiten Frau machte er sie nicht bekannt, weil sie, was er nur ihr offenbarte, durch seelische Verfettung ungenießbar geworden sei.

Anfangs über diese Mitteilung verdutzt, bewunderte Michael doch schließlich den Freiherrn nur um so mehr wegen der Leichtigkeit und Seelenruhe, mit der er so verzwickte Verhältnisse sowohl innerlich wie äußerlich beherrschte. Höchlich verwundert war er freilich, als der Freiherr es ihm eines Tages als bedauerliche Torheit vorhielt, daß er schon geheiratet hätte; die Liebe, sagte er, sei ein Götterding, das man nicht an den Pflug spannen sollte; für die Leute, die in die Besserungsanstalt gehörten, sei das Heiraten schon gut, aber es sei schade, wenn man die feinen und guten mit den Bestien in denselben Käfig sperrte.

Michael konnte sich nicht enthalten, zu sagen: »Aber Sie selbst stecken ja ganz erheblich darin!«

»Das sollte man meinen«, erwiderte der Freiherr vergnügt, »aber ich hänge nur in effigie darin. Meine Seele ist immer ledig geblieben, Familienglück finden Sie bei mir nicht. Heillose Bürgerzeche, wo zwölf Personen die Knochensuppe voll Fettaugen aus einer Schüssel essen und sich hernach heimlich mit den schmutzigen Löffeln prügeln! Die Liebe ist bei den meisten Menschen doch nur ein barbarisches Talgfressen, indem sie sich etwas in den Magen stopfen, was man verbrennen sollte, damit es eine leuchtende Kraft wird.«

»Was ich esse, ernährt mittelbar auch mein Gehirn und wird also Licht«, sagte Michael, den das Gespräch auf allerlei unliebsame Gedanken brachte, langsam.

»Meinetwegen«, sagte der Freiherr, »aber unverdaulich ist das Zeug doch, und wenn ich nicht irre, liegt es Ihnen schon schwer im Magen.«

Michael konnte in diesem Punkte seine Anschauungen nicht mit denen des Freiherrn in Übereinstimmung bringen. Seine Überzeugung, daß die Familie die Grundlage des menschlichen Glückes und der menschlichen Erziehung sei, wollte und konnte er nicht preisgeben, wenn er auch zugab, daß nirgends wie hier sich menschliche Schwachheit breitmache. Obwohl sein Streben augenblicklich durchaus nach Freiheit stand, fühlte er sich doch unlösbar mit der Familie verbunden und vermochte sich die Zukunft, so verschieden von der Vergangenheit sie auch sein sollte, nicht ohne Familie zu denken.

Er versetzte sich in die Zeit zurück, wo er Verena liebgewonnen und mit Ungeduld den Tag herbeigesehnt hatte, wo er sie heimführen sollte. Das Ziel hatte er von Anfang an im Auge gehabt, und mußte sich jetzt noch sagen, daß das selbstverständlich und ganz in Ordnung gewesen war.

Dann besann er sich, daß er als zwanzigjähriger junger Mensch einmal ein Mädchen aus niederem Stande geliebt hatte, ein liebes, warmherziges Ding, das aufzugeben ihn unsägliche Schmerzen, jetzt vergessene, kaum noch eines wehmütigen Lächelns werte, gekostet hatte; später hatte er Gott gedankt, daß er frei geblieben war. Ebenso mochte es jetzt seinem Bruder Raphael gehen, der in eine Kellnerin verliebt war und Lust hatte, sie zu heiraten. Michael hatte ihm nachdrücklich davon abgeredet und war überzeugt, daß er nach geraumer Zeit, wenn er die Sache überwände, darüber froh sein würde.

Aber er konnte sich nicht verbergen, daß er jetzt glücklich sein würde, wenn er Verena nicht geheiratet hätte. War das ein Beweis, daß sie auch nicht die Rechte gewesen war? Daß er ebensogut jene andere, Längstvergessene hätte heiraten können? Oder daß er wankelmütig oder charakterlos war? Er fühlte, daß das nicht der Fall war, und fand auch nichts anderes, das ihm Klarheit gab. Wie eine Erlösung kam ihm der Gedanke an Mario, das Kind, das er mehr als sich selbst liebte, das Kleinod, das seiner Ehe Wert verlieh, wie wenig echt und gediegen sie übrigens sein oder werden möchte.

Er sagte sich, daß der Freiherr, dessen einziges Kind, das ihm seine zweite Frau geboren hatte, nur einige Wochen gelebt hatte, das Wesen der Ehe, ihre Kraft, ihre Schönheit, ihre Heiligung nicht begreifen könnte. Mochte er auch noch so sehr wünschen, Verena nicht geheiratet zu haben, konnte er jemals wünschen, daß Mario nicht da wäre? Zugleich erschreckte es ihn, daß er somit selbst das Band, das ihn an Verena knüpfte, unzerreißbar nannte. Faßte er aber auch nur einen Augenblick den Gedanken, wie es wäre, wenn er Mario nie gesehen hätte, oder ob er ihn allenfalls jetzt noch vergessen könnte, so überwältigte ihn gleich darauf die Angst um das kleine Geschöpf, als könnte es ihm entrissen werden, bis zu solchem Grade, daß es ihm schien, er müsse alles, was ihm hier so lieb und teuer geworden war, über den Haufen werfen und nach Hause eilen, nur um sich des kleinen zutraulichen Lebens, das auf immer zu seinem gehörte, aufs neue versichert zu fühlen.

* * *


 << zurück weiter >>