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Das Märchen.

Das Märchen ist gleichsam der Canon der Poesie. Alles Poetische muß märchenhaft sein. Der Dichter betet den Zufall an.

Novalis.

 

Wenn wir lesen, wie Novalis seinen Ofterdingen zu Ende zu führen gedachte: daß Heinrich in einem tiefen Wasser einen goldenen Schlüssel finden sollte, der ihm das Wunderland aufschließt, wo Pflanzen, Steine und Gestirne sprechen und handeln wie Menschen; daß er sich in einen klingenden Baum und einen goldnen Widder und dann wieder in sich selbst verwandelt, so finden wir uns allerdings, wie es seine Absicht war, völlig im Märchen. Nur die höchste Ueberlegenheit des Geistes, die klügste, besonnenste Schreibart könnte uns dabei noch an den Roman glauben machen.

Novalis' Ansicht, der Roman müsse Märchen werden, ist nicht so überspannt, wie man zunächst denken möchte. Wenn man sich etwa vornimmt, die Lebensläufe verschiedener, beliebiger Menschen nach Märchenart zu erzählen, indem man sie liebevoll genau betrachtet, die kleinen seltsamen Zufälligkeiten und Verknüpfungen sich nicht entgehen läßt und Alles als bedeutend ansieht, so wird man finden, daß jedes, auch das ärmste Leben so wunderbar wie irgend ein Märchen ist. Und will man noch die Personifikationen und wunderbaren Anschauungen der Natur haben, die wir im Märchen gewöhnt sind, so brauchen wir uns als Erzähler nur ein Kind oder einen mit kindlich frischer Phantasie begabten Menschen vorzustellen. Unter den neueren Romanen kommt Keller's Grüner Heinrich diesem Ideale sehr nahe.

Wie die Romantiker überhaupt darauf ausgingen, die Umrisse der Künste, wie die der Sinne, zu verwischen und in einander überfließen lassen – die romantische Verwirrung – so wurde unter ihren Händen jede Dichtungsart, auch das Drama, zum Märchen. Das ist ja eben Romantik, daß dem Wunderbaren nicht nur mehr ein Winkel im Garten der Poesie gewidmet sein sollte, Sage, Märchen oder Mythos benannt, sondern daß es ein einziger Wundergarten sein sollte; etwa wie Novalis von seinem Ofterdingen wünschte, das ganze Buch solle denselben Farben-Charakter behalten und an die blaue Blume erinnern. Daneben aber haben die Romantiker das Märchen doch auch als besondere Gattung behandelt, ja sogar mit Vorliebe; denn bis man der einen großen romantischen Zukunftspoesie einmal mächtig war, blieb es doch der Tummelplatz, wo sich die sonst überall durch die Wirklichkeit beschränkte Phantasie gehörig austoben konnte. Es gehört mit zu den größten praktischen Verdiensten der Romantiker, daß sie den verschütteten Quell des Volksmärchens wieder ausgegraben haben. Das Berliner Durchschnittspublikum war rathlos verwundert, die alten Geschichten von Rothkäppchen, Blaubart, Gestiefeltem Kater, von Tieck in den verschiedensten Variationen aufgetischt zu bekommen.

Der Blaubart ist zu Felde gezogen; daheim sitzt seine junge Frau und reibt an dem goldenen Schlüssel. Bald scheint es, als wolle der Blutfleck schwinden, bald denkt sie, er sähe ihn nicht oder würde den Schlüssel gar nicht zurückfordern; aber die Angst wächst und wächst, während sie sich vergeblich müht. Da schleicht die alte Dienerin herein mit ihrem verwitterten Hexengesicht, um ein Märchen zu erzählen, damit ihrer Herrin die Zeit nicht lang wird. Und nun erzählt sie:

»Es wohnte ein Förster einmal in einem dicken Walde; der Wald war so dick, daß der Sonnenschein nur immer in kleinen Stückchen hinunterfallen konnte; wenn das Jagdhorn geblasen ward, so klang es fürchterlich. In der dichtesten Gegend des Forstes lag nun gerade das Haus des Jägers. Die Kinder wuchsen in der Wildniß auf und sahen gar keine Leute als ihren Vater; denn die Mutter war schon seit Langem gestorben.

Um eine gewisse Jahreszeit traf sich's immer, daß der Vater sich den ganzen Tag im Hause eingeschlossen hielt, und dann hörten die Kinder ein seltsames Rumoren um das Haus herum, ein Winseln und Jauchzen, in Summa: ein Gelärm wie vom leibhaftigen Satanas. Man brachte dann die Zeit in der Hütte mit Singen und Beten zu, und der Vater warnte die Kinder, ja nicht hinauszugehen.

Es traf sich aber, daß er auf eine Woche, in die der Tag grade fiel, verreisen mußte. Er gab die strengsten Befehle; aber das Mädchen, theils aus Neugier, theils weil sie den Tag aus Unachtsamkeit vergessen hatte, geht aus der Hütte heraus. Nicht weit vom Hause lag ein grauer, stillstehender See, um den uralte verwitterte Weiden standen. Das Mädchen setzt sich an den See, und indem sie hineinsieht, ist es ihr, als wenn ihr fremde, bärtige Gesichter entgegensehen; da fangen die Bäume an zu rauschen, da ist es, als wenn es in der Ferne geht, da kocht das Wasser und wird immer schwärzer und schwärzer; mit einem Male ist es, als wenn so Frösche darin umher hüpfen, und drei blutige, ganz blutige Hände tauchen sich hervor und weisen mit den rothen Zeigefingern nach dem Mädchen hin« –

Ein Schauder überläuft uns, wie die arme zitternde Frau des Blaubart, über das Märchen im Märchen. Nur die Eingangsworte von dem Förster, der in dem dicken, dicken Walde wohnte – und wir hören schon das dumpfe Wehen der uralten schwarzgrünen Tannen und sehen das vermummte Schicksal geisterhaft um das kleine todtenstille Jägerhaus schleichen. Es ist ein Ton da angeschlagen, der alles heimliche, ahnungsvolle Grauen der Brust zugleich beschwört. Ob aber aus diesem Anfang ein rechtes echtes Märchen hätte werden können? Wie es in den 7 Weibern des Blaubart fortgesetzt wird, ist es nichts als ein verwildertes Entsetzen, eine phantastische Fratze. Fast alle Märchen Tieck's sind schaurig. Ich erinnere mich des Abends, als ich zum ersten Mal in einem vergilbten altmodischen Lesebuch den Blonden Ekbert las, athemlos, zwischen Grausen und Entzücken. Da wandert das kleine Mädchen mutterseelenallein durch das breite Gebirge, tagelang, zwischen Felsen und Felsen, ohne einen Ausgang zu finden, bis sie in das Tosen eines Wasserfalls hinein die alte Frau husten hört, die sie mit sich nimmt. Und nun das stille Leben im Walde bei der geheimnißvollen Alten mit ihrem Vogel und ihrem Hündchen, auf dessen Namen sich die hohe Frau, da sie ihrem Manne und seinem Freunde ihre kindlichen Erlebnisse erzählt, gar nicht mehr besinnen kann. Was für ein Gefühl aber, wenn nun der Ritter, der still zugehört hat, sich erhebt und indem er sich verabschiedet zu der Dame sagt: »Ich kann mir Euch recht lebhaft vorstellen, wie Ihr den kleinen Strohmian füttertet!« Man begreift es, daß sie vor Entsetzen krank wird und stirbt.

Die Begebenheit an sich wäre nichts ohne die liebliche Sprechweise, die wie ein Geläut aus der Ferne an unser Ohr klingt, die alles Unbedeutende ausgeschieden zu haben scheint, dem Tropfen Rosenöl vergleichbar, der aus Hunderten von Rosen herausgepreßt, das Süßeste darstellt, das nach Vertilgung des Vergänglichen übrig geblieben ist: eine verdichtete, also echte Dichtersprache. Wiederum könnte man sagen, daß das Liedchen von der Waldeinsamkeit, das mit leichten Abwandlungen immer wiederkehrt, eine liebe Melodie, die einen nicht loslassen will, der Tropfen Rosenöl sei, von dem aus der weiche Duft sich gleichmäßig durch die kleine Dichtung verbreitet; nannte doch Friedrich Schlegel diesen Vers einen Extrakt der Tieck'schen Poesie überhaupt, der Einem ihr Wesen am eindringlichsten zu genießen gebe.

Ebenso schaurig, aber noch unklarer und unbefriedigender ist das Märchen vom Runenberge. Es erzählt von einem jungen Gärtner, der eine träumerische Sehnsucht nach der Erde hat, ihrem innersten Schoße, wo die kostbaren Metalle und bunten Gesteine durch einander glänzen. Von der friedlichen Blumenwelt weg zieht es ihn zum steinernen Berge. Und da kommt er zu einer alten, halb verfallenen Ruine, hoch oben über jähem Abhange, Nachts, wo bei Tage kein Mensch sich hinwagt, und sieht dort ein Weib von übernatürlicher Schönheit. Ist es die Natur, die heimlich und mächtig in der Erdtiefe wirkende? Ist der Blick, mit dem ihr dämonisches Auge ihn durchdringt und bindet, ein böser oder guter? Man weiß das nicht, auch nicht ob es ein böser oder guter Genius ist, der ihn wieder fort aus dem öden Gebirge unter die einfachen Menschen eines Dorfes führt, wo er ein Mädchen lieb gewinnt und heirathet. Aber nach manchem Jahre faßt ihn der Bergzauber wieder. Das Gold sieht ihn mit lachenden, funkelnden Augen an und gewinnt Gewalt über ihn, und fort muß er, zurück in das furchtbare Gebirge, von wo er noch einmal, verwildert, uralt, wahnsinnig, ein wankendes, unbegreifliches Phantom, wieder zurückkehrt. Elend und Verderben ist das Ende.

Wir wissen, daß das Märchen vom Runenberge aus den Anregungen der Naturphilosophie entstanden ist. Tieck war damals mit Steffens befreundet, der noch im hohen Alter von den schaurigen Wundern der einsamen norwegischen Gebirgswüste so lebendig zu erzählen wußte. Steffens und Novalis hatten in Freiberg den Bergbau, unter Werner Geologie studirt; ihre Erinnerungen daran, mit romantisirendem Sinn aufgenommen, kehren häufig wieder. Das Leben des Bergmannes hatte für alle Romantiker etwas höchst Anziehendes. Das Erdinnere, wo ungesehen die allerkostbarsten Kleinodien, todt und doch lebendig, wachsen, die Erstlinge der Natur, der Reichthum der Oberwelt, das leuchtendste, farbige Licht in Krystalle gebunden, in der schwarzen Nacht, wohin die Sonne nicht dringt, heimisch; das Erdinnere, das zuweilen gewaltsam aufreißt und die inneren Kräfte furchtbar schön offenbart, sich im flüssigen Feuer ergießend, ist gleichsam das Unbewußte der Erde. Es ist kein Wunder, daß die Romantiker sich davon gefesselt fühlten.

Aber während Novalis sein frohes starkes Berglied daraus dichtete, konnte Tieck nicht aus dem beklemmenden Dunkel herauskommen. Ein Beherrschtwerden der elementaren Natur durch den Menschen konnte er sich nicht vorstellen; sie war ihm eine Frau Venus von verderblicher Schönheit, eine Teufelin, die den Menschen in ihre Arme zieht durch ihren Alles übersteigenden Reiz, aber nur um ihn zu tödten. Nur Derjenige, der sie kindlich verehrt, ohne ihrer zu begehren, der nie den tollkühnen Wunsch empfunden hat, ihren Schleier zu lüften, dem ist sie die mütterliche, segenspendende Göttin. Im Leben sah Tieck überall nur unlösbare Verwirrung. Ein beständiges ängstliches Grauen über das steinerne Schicksal mit den festgeschlossenen Lippen, das die Puppen nach einem räthselhaften Plane hierhin und dorthin setzt, in einen Winkel wirft, vertauscht, umkleidet, in Purpur oder Lappen hüllt, zertrennt, zerfetzt, köpft und wieder zusammennäht, war sein Gefühl gegenüber dem Marionettenspiele des Lebens; eine dämmernd romantische Stimmung, geeignet zur Darstellung des Schaurigen. Denn das Schaurige ist eben Unklarheit, Verwischung und Umrisse im Zwielicht. Etwas Schreckliches, dessen Ursprung und Art wir deutlich sehen, ist nicht grausig; dagegen wissen wir ja, wie, wenn die Nacht hereinbricht, auch das Gewöhnlichste unheimlich werden kann. Die schaurig dunkle Stimmung in den Tieck'schen Märchen macht sie wirkungsvoll; aber ästhetisch ist diese Schwüle nicht und noch viel weniger gehört sie in das Märchen, wenn man an dem herkömmlichen Begriff festhält. Ein Kunstwerk mag wohl durch Nacht und Grauen hindurchgehen, soll uns aber doch schließlich zum Lichte führen; denn dazu ist der Künstler da, daß er den durch Zweifel und Rathlosigkeit gemarterten Menschen die verworrenen Erscheinungen deutend löse. Das eigentliche Märchen vollends ist immer klar und zufriedenstellend; denn es ist, mindestens in seinem Kerne, ein Stück Volksglauben, also in religiösen Gemüthern erwachsen, und der Gläubige, sei es nun daß er dem naiven Volksglauben anhängt oder sich eine reine Weltanschauung erworben hat, sieht überall Harmonie, Gerechtigkeit und Nothwendigkeit, und kann deshalb, auch wenn er es wollte, ein Kunstwerk, das seinen unbewußten Willen abspiegelt, nicht in einen Mißklang ausmünden lassen. Das grausam blinde Schicksal, das irgend Einen herausgreift, ihm eine Schuld anklebt, für die er sich nicht verantwortlich fühlt, und durch die er doch leidet, gehört nicht in das Märchen. Es schließt niemals mit einem Fragezeichen. Es mögen in einem Märchen die fürchterlichsten Verwickelungen angeknüpft sein, wie zum Beispiel, daß der alte König seine eigene schöne Tochter heirathen will, oder daß die Stiefmutter auf das Verderben der verwaisten Kinder sinnt, oder daß die böse Fee einen Fluch über das unschuldige Kind verhängt hat, immer löst sich das ärgste Verhängniß spielend und sicher mit Hochzeit der Guten und Holden und Untergang der Schlechten und Häßlichen. Niemals ist beim Volksmärchen etwas Andres beabsichtigt, als die Erzählung einer schönen, wunderbaren Begebenheit; daß ein tiefer Sinn darin liegt, rührt daher, daß es mythologische Bruchstücke sind und Mythologie nichts Andres als Symbol ist, ja selbst wenn das nicht wäre, weil es ein Stück Natur und ein Stück Leben ist und als solches Gleichniß. Alles Unbewußte ist Symbol für das Bewußtsein, das es betrachtet.

Mit Staunen und Entzücken sieht der Romantiker in der Märchendichtung jenes wogende Chaos, jene magische Verwirrung, aus der eine harmonische Welt entstehen kann. Schon die nüchternen Köpfe, Bodmer und Breitinger, haben geahnt, daß im Wunderbaren irgendwie das Wesen der Poesie liege, wenn sie auch kaum wußten, was eigentlich wunderbar sei. Gewiß ist das Wunder ein Klang aus dem, was wir Jenseits nennen, ein Zeichen der intelligibeln Welt, eine Bürgschaft unsrer Freiheit und unsrer magischen Kräfte.

»Alle Märchen«, sagt Novalis, »sind nur Träume von jener heimatlichen Welt, die überall und nirgend ist. Die höheren Mächte in uns, die einst als Genien unsern Willen vollbringen werden, sind jetzt Musen, die uns auf dieser mühseligen Laufbahn mit süßen Erinnerungen erquicken.«

Das Vergnügen, das die romantischen Bewußtseinsmenschen an dem Märchenquell des Unbewußten hatten, war ein doppeltes, weil in der Aufklärungszeit alles Wunderbare in Verruf gekommen war und das Märchen höchstens dazu diente, auf scheinbar kindliche Art Lebensweisheit oder satirische Ausfälle an den Mann zu bringen. Als Tieck damit anfing, seine geliebten Märchen wiederzuerzählen, von denen er wohl wußte, daß sie weit mehr Poesie und Weisheit enthielten, als dicke Bände voll Aufklärungsprodukte, wie seine Zeitgenossen sie liebten, that er es mit dem kecken Uebermuth eines Schuljungen, der in der hohen Krone des Birnbaumes sitzend vor den Augen des dicken Philisters unten die schönste Frucht verspeist und ihm hie und da eine auf die Nase fallen läßt. Er erzählt sie nicht unbefangen, sondern indem er zugleich den Spott seines Publikums verspottet. Was ist dabei aus Blaubart und Rothkäppchen, der schönen Magelone und der schönen Melusine und den andern Sagen und Volksbüchern, die er uns neu geschenkt hat, geworden? Rein und lieblich zwar ist die Sonntagsstimmung in dem stillen Zimmer der Großmutter, wo Rothkäppchen seinen Kuchen auspackt und so altklug-kindisch mit der alten Frau plaudert, die ohne es zu wissen mit dem kleinen Mädchen dieselbe Geistesstufe einnimmt, auf dem Rückwege begriffen. Und das Herz klopft uns mit der jungen Blaubartsfrau in ihrer Angst, Todesnoth und Hoffnung, wie genau wir auch den Ausgang kennen. Der Blaubart selbst hebt in einem recht märchenhaften Bösewichtstone zu sprechen an, während er rechts und links köpfen läßt, was ihm in den Weg kommt; aber er und alle andern Personen verfallen auf jeder Seite in die kecke Tieck'sche Redeweise, die in jedem Satze unzählige Beziehungen andeutet, zugleich den albernsten Unsinn und den zartesten Tiefsinn anklingen läßt und eine grübelnde, wehmüthige Philosophie aushaucht Wie wenig finden wir hier die melancholisch-weisen Shakespearischen Narren an ihrem Platze.

Man darf aber nicht denken, Tieck habe etwa seine Märchen so eingekleidet, weil er es nicht anders gewußt oder gekonnt habe. Er sagt vielmehr gelegentlich, daß man den schlichten Kinderton des alten Buches nur mit Vorsicht und Maßen wieder verwerthen dürfe, wenn man es wiedererzählen wolle; wobei ohne Zweifel seine Meinung war, daß dem modernen Menschen nun einmal die Anschauungsweise eines von der Kultur noch unberührten nicht mehr eigen sei und er deshalb gut thue, sie sich nicht anzuempfinden, da alles Anempfundene unwahr und somit unkünstlerisch sei. Auch jetzt giebt es noch Menschen, die in einer Welt kindlicher Vorstellungen leben; aber die verfallen nicht darauf, Märchen zu erfinden. Einen Menschen, der die Kultur unsrer Zeit empfangen hat und zugleich so urthümlich sieht und empfindet, daß er selbsterlebte, selbsterschaffene Märchen mit der vollen Wahrhaftigkeit und Treuherzigkeit erzählen könnte, die uns so sehr bezaubert und rührt, hat es noch nicht gegeben, und er wird wohl auch erst in jener Zukunft möglich sein, der das Wunder wieder zur zweiten Natur und das Gesetzmäßige zum Wunder geworden ist.

Man sollte meinen, wenn Einer, so sei Goethe naiv genug gewesen, um ein gutes Märchen zu ersinnen. Sein Märchen, welches unter den Novellen der Ausgewanderten seinen Platz hat, wurde das Muster der romantischen. Auch kann man nicht anders als die behagliche Anmuth und den seligen Frohsinn bewundern, der diese Fabelei von innen her vergoldet und durchglänzt, wie das verschluckte Gold den biegsamen Leib der edeln Schlange, die eine Hauptrolle darin spielt. Dennoch windet sich die Geschichte stellenweise durch mühseligen Staub der Langeweile und unverständlichen allegorischen Kleinkram und das vorwiegende Gefühl, am Ende, ist doch eine gewisse Enttäuschung und Rathlosigkeit. Liest man aber gar, wie Goethe selbst darüber redete, fühlt man sich vollends ernüchtert; er schrieb nämlich an Schiller, daß er nun auch dieses Feld gehörig bearbeiten wolle und etwa noch ein Dutzend Märchen zu machen im Sinn habe. Schiller seinerseits berichtet von den zahllosen und höchst verwickelten Erklärungsversuchen, die zu dem Märchen sogleich gemacht wurden, die er aber alle als untauglich abthut, um eine ebenso mühsam ausgetüftelte dagegen vorzubringen.

Wenn aber auch von Alledem nichts im Märchen ist, was man gewöhnlich vom Märchen erwartet, so hat Goethe doch damit das Muster einer neuen und berechtigten Art aufgestellt; und insofern ist die Begeisterung, mit der die Gebrüder Schlegel diese Dichtung begrüßten, ganz und gar verständlich. Warum sollte nicht auch der moderne Mensch seine Märchen haben? An die man andre Anforderungen stellen dürfte, ja müßte als an die alten Volksmärchen? Der Romantiker sieht durch das buntgewirkte mit seltsamen Figuren bestickte Märchenkleid hindurch weiße, feenhafte Formen schimmern; diese verborgene Schönheit entzückt ihn, die er durch den kindisch-bunten Putz hindurch sieht, der allein ihn niemals mehr reizen könnte. Und von dieser Schönheit handeln auch seine Märchen. Das Goethe'sche Märchen läßt den Leser keinen Augenblick darüber in Zweifel, daß es symbolisch ist; nur kann man leider das zarte Leibchen, auf das es doch ankommt, nicht recht erkennen; mag es nun an ungeschickter Bekleidung liegen oder, was wahrscheinlicher ist, daran, daß der Dichter es allzu nachlässig formte und eine Hülle darüberwarf, die für Alles aufkommen sollte. So ist Tieck's Urtheil zu erklären, der von dem Goethe'schen Märchen sagte, es habe keinen Inhalt. »Ein Werk der Phantasie«, sagt er in Bezug darauf, »soll gar keinen bitteren Nachgeschmack zurücklassen, aber doch ein Nachgenießen und Nachtönen; dieses verfliegt und zersplittert aber noch mehr als ein Traum, und ich habe deshalb das herrliche Märchen von Novalis, soweit ich es verstehen konnte, diesem weit vorgezogen.«

In Wahrheit leidet Novalis' Märchen an demselben Grundfehler wie das Goethe'sche, nämlich an Unverständlichkeit; nur daß das Kleid, das Goethe seinem Märchen übergeworfen hat, stellenweise reizend genug ist, um einen allenfalls glauben zu machen, es sei die Hauptsache und Gestalt sei nicht da, während das von Novalis eine offenbare, unzweideutige Allegorie ist, das sich Niemand die Mühe nimmt zu Ende zu lesen, der sich nicht für die Bedeutung interessirt. Gelehrte Männer haben es sich angelegen sein lassen, es auszulegen, vielleicht richtig, vielleicht nicht; jedenfalls sollte auch ein modernes Märchen nicht der Gelehrsamkeit bedürfen, damit man es genießen könne.

Hie und da erscheinen in den Werken der Romantiker zufällige Märchen oder Ansätze zu Märchen, die das »höhere Märchen«, so nannte es Novalis, wenn »ohne den Geist des Märchens zu verscheuchen, irgend ein Verstand, Zusammenhang, Bedeutung hineingebracht wird«, glücklicher als die genannten großen, kunst- und sinnreichen vertreten. So bei Tieck, da, wo die alte Zauberin, dem Blaubart zu Ehren, der sie in ihrer unterirdischen Höhle besucht, ein Turn- und Ritterspiel veranstaltet. Da erscheint auf einen Trompetenstoß eine prunkvolle Versammlung von Vögeln und Insekten: »Jetzt wurden die Schranken eröffnet, und auf einem stattlichen Hahn ritt ein rothgefleckter Papagei hinein und stellte sich in die Mitte. Auf einem andern Streitroß kam ein blaugepanzerter Uhu, der seine Lanze gegen den muthigen Papagei schwenkte, sie trafen auf einander, und der Uhu war aus dem Sattel gehoben. Trompeten und Pauken verkündigten den Sieg des schönen Ritters, und oben auf dem Altan sah man, wie sich die Versammlung der Prinzessinnen freute, lauter bunte Tauben, die gegen einander mit den Köpfen wackelten und sich Bemerkungen über die kämpfenden Ritter mittheilten. Ein Specht ritt nun gegen den Papagei und ward ebenfalls überwunden, und so ging es eben einer Rohrdommel und zwei Rebhühnern; der rothe Papagei blieb unüberwindlich und eine grünliche Taube oben vergoß häufige Freudenthränen.

Der Papagei blieb als Sieger übrig und er erhielt den Dank des Turniers, der in einer schönen Schärpe bestand, aus hundert Schmetterlingsflügeln gewebt. Der Papagei senkte sich ehrfurchtsvoll auf ein Knie nieder, indes ihm ein andrer Ritter dieses kostbare Geschenk um den Leib gürtete. Dann stand ein Hahn auf, der ein guter Barde war, und besang sein Lob in folgenden feurigen Versen:

Wessen Lob ist es, das die Sterne singen,
Von wem sprechen die künftigen Jahre und alle Zeiten?
Auf den Flügeln des Sturmwinds rauscht's daher
Und alle Völker horchen ehrfurchtsvoll,
Dem Kühnen, Unüberwindlichen singen
Sterne, Zeiten,Zukunft und Gegenwart,
Erden, Sonnen und tausend mal tausend Völker
Sprechen nur von Dir, Du bist der Rede einziger Inhalt.
Fielen nicht, rasch von Deinem Arm getroffen,
Selbst der tapferste Uhu, Specht und Sperber nieder?
Niemals hat die uralte Zeit, die seit lange
Denken kann, einen Mann, einen Helden gesehen,
Dir nur ähnlich.«

Grade, daß der Dichter hier so naiv offenkundig allegorisirt, macht die kleine Dichtung erfreulich. Die unverstellte Absichtlichkeit wirkt beinah wieder kindlich. Ja sogar die ganz überflüssige Erklärung, die die Zauberin dem Blaubart giebt, stört nicht, sondern scheint durchaus am Platze zu sein. »Sieh«, sagte die Fee, »Dir zu Gefallen habe ich ein solches Spiel angestellt. Betrachte die lebendige, wirkliche Welt, und es ist nicht anders. Ruhm und Unsterblichkeit ist nur ein Hahnengeschrei, das früher oder später verschallt, das die Winde mit sich nehmen und das dann untergeht … Die Zukunft streicht mit plumper Hand über Alles hinweg und wischt es aus wie eine unbedeutende unrichtige Rechnung von einer Tafel; dann ist das verschwunden, was im Grunde nie war, und der leere Raum treibt mit der Vergessenheit da sein Spiel, wo sonst die irdischen Träume standen.«

Der Gehalt dieser Märchenfabel ist, wie fast immer bei Tieck, etwas leicht, aber desto graziöser schwebt es daher. Weltumfassend ist der Sinn des kleinen Märchens, das Novalis in seinem unvollendeten Roman, den Lehrlingen zu Saïs, erzählt. Hyacinth und Rosenblüthchen haben einander lieb. Er war recht bildschön, sah aus wie gemalt und tanzte wie ein Schatz. Sie war so lieblich, daß wer sie sah, hätte vergehen mögen. Aber auf einmal war die Herrlichkeit vorbei. Es kam ein wunderlicher alter Mann aus der Fremde, setzte sich vor das Haus, wo Hyacinth's Eltern wohnten, und Hyacinth bewirthete ihn … »Da that er seinen weißen Bart von einander und erzählte bis tief in die Nacht«; und von nun an war es mit dem Glück der Liebe vorbei. Hyacinth ging einsam und sorgenvoll in die Wälder und bekümmerte sich nicht um Rosenblüthchen, obgleich er sie nicht vergessen hatte. Bis er auf einmal seinen Eltern erklärte, daß er fort in die Welt müsse, nur das könne ihn gesund machen. Dahin wolle er, wo die Mutter der Dinge wohne, die verschleierte Jungfrau; nach der sei sein Gemüth entzündet. Und weit ging die Reise und höher wuchs die Sehnsucht, immer schneller schien die Zeit zu gehen. Endlich kam er zur Wohnung der Göttin. »Es dünkte ihm Alles so bekannt, und doch in niegesehener Herrlichkeit; da schwand auch der letzte irdische Anflug, wie in Luft verzehrt, und er stand vor der himmlischen Jungfrau. Da hob er den leichten, glänzenden Schleier, und – Rosenblüthchen sank in seine Arme.«

Die Romantik ist eine werdende Poesie, und das Ideal des romantischen Märchens ist noch nicht erreicht, so reizend auch das ist, dessen Inhalt ich eben angedeutet habe. Es müßte so scheinbar zusammenhangslos vorübergaukeln, wie das von Goethe an manchen Stellen thut, und dabei doch so einfach reich sein, wie dies letzte von Novalis. »Ein Märchen«, sagt Novalis, »ist wie ein Traumbild ohne Zusammenhang. Ein Ensemble wunderbarer Dinge und Begebenheiten, z. B. eine musikalische Phantasie, die harmonische Folge einer Aeolsharfe, die Natur selbst.«

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