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II. Kapitel.
Der Mensch

Die zunehmende Entfernung der negativen Natur von der positiven erscheint in der organischen Welt als Bewußtwerden. Die höchste Stufe des Bewußtseins ist das Selbstbewußtsein. Der Mensch ist zuerst vorwiegend unbewußt, d. h. er begreift die Welt durch Instinkt, angeborene Ideen, dann bewußt, d. h. erkennend, dann selbstbewußt, d. h. sich selbst erkennend. Das Unbewußte ist positiv, das Selbstbewußte negativ.

Das Weib ist hinter dem Manne um eine Entwicklungsstufe zurück. Jeder Mensch bzw. jede Familie soll den ganzen Kreis des Bewußtseins durchlaufen: die Familie ist ein durch Zeit und Raum vervielfältigtes Individuum. Sowohl Mann wie Weib sind zuerst unbewußt, dann bewußt, dann selbstbewußt; aber der Mann ist wesentlich selbstbewußt, die Frau wesentlich bewußt. Die Frau kann nicht in dem Maße selbstbewußt werden wie der Mann, weil sie die Aufgabe hat, Kinder hervorzubringen und dadurch notwendig mit dem Raume, der Natur, verbunden ist; der Mensch kann sich aber nur auf Kosten der Natur zum Selbstbewußtsein entwickeln, und die Frau würde, wenn sie die höchste Spitze des Selbstbewußtseins erreichte, nicht mehr gebären können, also nicht mehr Frau sein. Mit anderen Worten: die Sphäre des Selbstbewußtseins ist das Innere, der Geist; der Mensch kann aber nicht zugleich ganz Geist und Natur, ganz innerlich und äußerlich sein. Die Natur des Weibes zeigt ihre Produktionskraft im Hervorbringen von Kindern; deshalb bringt sie, obwohl stark in der Natur, im allgemeinen keine Geisteswerke hervor. Ihre selbstbewußte Seite entwickelt die Frau im Einzelleben erst im Alter, wenn das Werk des Gebärens vollbracht ist, im Völkerleben in der Rücklaufszeit (Dekadenz), wenn das Volk abstirbt. Ihr Selbstbewußtsein hat daher nur eine beschränkte Entwicklungsmöglichkeit. Dafür entfernt sich die Frau nie so weit von der Natur wie der Mann; fest gegründet auf die Natur, in der sie wurzelt, ist sie oft höherentwickelten Männern überlegen. Nur die allerhöchste Stufe des Geistes steht über der Natur. Man kann sagen, daß die Frau im allgemeinen dem Geiste näher steht als der Mann, der zwischen primitiver, roher Natur und höchster Geistigkeit schwankt, daß ihr aber die höchste Spitze des Selbstbewußtseins im allgemeinen nicht zugänglich ist.

Der unbewußte, primitive Mensch sind Mann und Frau auf der untersten Stufe der Entwicklung, auf unteren Kulturstufen, in den unteren Schichten der Gesellschaft, und zwar ist der Mann wesentlich elementar, aktiv und produktiv, die Frau wesentlich ruhend. Auf höheren Stufen ist die Frau vorwiegend bewußt, der Mann entweder vorwiegend primitiv oder vorwiegend selbstbewußt. Der Bauer ist der vorwiegend unbewußte, natürliche, typische Mensch, daher auch der am meisten Unterdrückte, Leibeigene. An der Stellung des Bauern und der Frau unterscheidet man hauptsächlich den Grad der Kultur. Sind Bauer und Frau leibeigen, ist die Kultur noch sehr unentwickelt. Wenn die Frau bewußt geworden ist, so beginnt der Mann von selbst, sie zu ehren; nur selbstbewußt will er sie nicht leiden. Ihr Rat erscheint ihm wie göttliche Eingebung, der er sich unterwirft, er fühlt, daß ihre Einfälle adäquat sind, Weltbilder. Der Staat beraubt sich einer wesentlichen Stütze, wenn er die Frau als Beraterin ausschließt.

Durch die Natur ist das Weib unzertrennlich mit der Materie verbunden und insofern, durch die Materie (den Stoff oder die Masse), sterblich. Der Mann, dem der Stoff nicht wesentlich ist, ist an sich unsterblich, er stirbt nur mittelbar durch das Weib (in sich). Dicksein, Dickwerden ist immer ein Ausdruck von vorhandener Weiblichkeit.

Das Wesen des Mannes ist Bewegung, Erregung, das Wesen des Weibes ist, durch seine Verbindung mit dem Stoff, Ruhe.

Das Wesen des Mannes ist gegliederte Bewegung, Rhythmus, das Wesen des Weibes gestaltete Masse, d. i. Form.

Das Gliederungsprinzip des bewußten Mannes (bzw. der bewußten Frau) zeigt sich in der Zeit (im Seelischen) als Charakter, das Gestaltungsprinzip des Weibes im Raume als Ordnungs- und Schönheitssinn.

Das Wesen des Mannes ist zeugend und erregend, das des Weibes empfangend und gebärend.

Das Wesen der männlichen Liebe ist Begierde, das der weiblichen Liebe Hingebung.

Der Mann hat Reizbarkeit (Irritabilität), die Frau Einbildungskraft (Phantasie). Reizbarkeit empfindet Reize und antwortet auf sie durch Bewegung, die Einbildungskraft nimmt Reize auf, bildet sie sich ein.

Der Mann ist persönlich, das Weib typisch.

Die Schönheit des Mannes ist persönlich, d. h. sie beruht auf der Eigenart und Bewegung, die des Weibes ist typisch, d. h. sie beruht auf der Form.

Der persönliche Mann repräsentiert dem Weibe Gott, das unbewußte Weib repräsentiert dem Manne die Natur.

Die wesentlichen Eigenschaften des Weibes beruhen auf seiner unlöslichen Verbindung mit der Natur, daher mit der Masse.

Das Wesen des Mannes, als Bewegung, ist Leben, das Wesen des Weibes, als Stoff, ist Tod.

Das Leben ist eine Frage, der Tod die Antwort; das Leben negativ, der Tod positiv. Man kann sagen: Der Mann stellt an das Weib die Frage des Lebens, und das Weib antwortet bejahend mit dem Tode. Der Tod gibt dem unendlich wachsenden Leben die Form. Ohne den Tod wäre der Mensch anorganisch, der Tod macht ihn zum Organismus.

Der bewegte Mann bedarf des Weibes als Ruhepunkt und Stütze und als Spiegelung seiner Persönlichkeit; das unbewegte Weib bedarf des Mannes als Beseeler und Anreger.

Das unbewußte Weib, als Stoff, wird vom Manne konsumiert, sie ermöglicht ihm das Leben, wie am brennbaren Stoffe sich das Licht entzündet. Der Trieb des unbewußten Weibes ist sich hinzugeben, sich zu opfern, der Trieb des Mannes sich vermittels des sich opfernden Weibes zum höchsten Leben zu entfalten. Das positive Weib lebt im Opfer an den negativen Mann, der negative Mann lebt durch das Opfer des positiven Weibes. Mit zunehmendem Bewußtwerden verhält das Weib sich nicht mehr rein positiv zum Manne. Das elementar Männliche verhält sich negativ zum primitiv weiblichen aber positiv zum selbstbewußt Männlichen.

In der vorchristlichen Zeit stand der bewußte, dem Selbstbewußtsein entgegenreifende Mann dem unbewußten, dem Bewußtsein entgegenreifenden Weibe gegenüber wie die negative Natur (Geist) der positiven Natur. Sie repräsentierte ihm zugleich Weib, Kind, Tier und Natur, das Instinktleben. Es besteht zwischen dem bewußten selbstbewußtwerdenden Manne und dem unbewußten Weibe eine normale Spannung zwischen Negativ und Positiv.

Das Streben, diese Spannung auszugleichen, erscheint als Liebe, und der Ausgleich der Spannung ist das von Mann und Weib erzeugte Kind. Das Problem jedes Ehepaares ist das von ihnen zu erzeugende Kind. Da das Kind vom Manne gezeugt ist, der sich äußern will, und vom Weibe gebildet wird, dessen Einbildungskraft vom Manne erfüllt ist, ist das Kind ein Sohn. Das Kind ist wesentlich der Sohn. Dies ist der Grund, warum im allgemeinen jedes Ehepaar als erstes Kind einen Sohn nicht nur erhofft, sondern instinktiv erwartet. Ist nach geschehener Ausgleichung (durch eine Geburt oder mehrere Geburten) die Spannung herabgesetzt, so gebiert das Weib Töchter, welche Wiederholungen des mütterlichen Typus sind. Da das Kind denjenigen von seinen Eltern vorzüglich liebt, dessen Persönlichkeit es darstellt, und der ihm daher Vorbild ist, liebt der Sohn vorzüglich den Vater. Aus den eben angeführten Gründen haben der bewußte Mann und das unbewußte Weib mehr Söhne als Töchter und werden auf den unteren Stufen der Kultur mehr Söhne als Töchter geboren.

Dies Verhältnis zwischen Mann und Weib ändert sich mit dem Christentum; denn das ist der Zeitpunkt, wo das Weib bewußt wird und dem Selbstbewußtsein entgegenreift. Der nunmehr auf der ersten Stufe des Selbstbewußtseins stehende Mann steht von jetzt an als Negation dem ebenfalls negativen Weibe gegenüber; die Körper können noch, aber die Seelen nicht mehr ganz miteinander verschmelzen.

Mit dieser Epoche beginnt das, was man den Haß der Geschlechter nennt, was wesentlich Haß des Mannes gegen das negative Weib ist. Das vollkommen positive Weib konnte den negativen Mann vollkommen neutralisieren, und diese vorübergehende Neutralisierung war für ihn wie ein verjüngendes, kräftigendes Bad. Die beginnende Negativität des Weibes erschwerte die Neutralisierung. Andererseits wurde die Liebe des Mannes heftiger, da er nun nicht mehr nur das Geschlecht, sondern auch das Individuum liebte, und doch machte eben die beginnende Eigenart des Weibes die leidenschaftlich ersehnte Übereinstimmung unmöglich. Ferner erhob das persönliche Weib einen gewissen Anspruch auf dauernden und ausschließlichen Besitz des Mannes, der doch, da sein Wesen Bewegung und Negation ist, nichts mehr hassen kann als gebunden zu werden. Bewegung ist Negation der Ruhe; ließe der Mann sich binden, bliebe er neutralisiert, so wäre er nicht mehr er selbst; daher muß seine erste Negation sich gegen das Weib richten, das er am meisten liebte.

Der Mann konnte deshalb nicht anders, als dem Weibe sein Selbstbewußtwerden, was ihm natürlich war, als Schuld vorwerfen. Obwohl das Selbstbewußtwerden des Weibes zum Prozeß des Bewußtwerdens der Menschheit notwendig hinzugehört, wurde der Verlust an unbewußter Natur, der sich dadurch für den Mann bemerkbar machte, von ihm stets als Folge irgendwelcher Fehler der Frau aufgefaßt, wie dies die Erzählung vom Sündenfall in der Bibel deutlich zeigt; die Gebärde des Adam, der, um sich Gott gegenüber zu verantworten, auf Eva als auf die Schuldige weist, ist dem Manne eigentümlich geblieben.

Die Jahrhunderte, in denen das Selbstbewußtsein des Mannes sich der höchsten Stufe näherte, und das der Frau bereits einen hohen Grad erreicht hatte, waren die Zeit der Hexenprozesse. Der Mann liebt das persönliche an der Frau nicht, die er typisch will; an der alternden Frau, die ohnehin naturgemäß männlich, d. h. persönlich wird, erschien es ihm vollends hexenhaft. Gleichzeitig blühte der Marienkult: der Mann betete an vor dem Bilde des unbewußten, typischen, nur liebenden Weibes, der Mutter mit dem Sohne.

Der absolute, ganz negative Mann ist Mephisto, das ganz positive Weib die Dirne; denkt man sich aber das Bejahen- und Liebenmüssen anstatt auf den in Zeit und Raum vereinzelten männlichen Geist verteilt, auf den männlichen Geist an sich, Gott, gesammelt, so wird aus der Dirne die Madonna.

Auch in dem Ergebnis der Liebe, in den Kindern, trat mit dem Selbstbewußtwerden des Weibes und der Änderung der Liebe eine Änderung ein. Einerseits hat das teilweise negative Weib nicht mehr den vorherrschenden Trieb, Söhne zu gebären, andererseits erwacht in dem persönlichen Weibe der Trieb, Kinder nach ihrem Bilde zu haben. Die rein geschlechtliche Spannung ist zugunsten der seelischen Spannung herabgesetzt. Es ist bezeichnend, daß gerade das italienische Sprichwort – Italien ist das erste Kulturvolk des Abendlandes – mit Bezug auf die männliche oder weibliche Erstgeburt sagt: In den Häusern vornehmer Leute kommen zuerst die Frauen, dann die Männer. ( In casa di gentil' uomini vengono prima le donne e dopo gli uomini.)

Die Eigenwilligkeit der negativen Frau macht sich nun in ihrem (natürlich unbewußt von ihr ausgeübten) Einfluß auf Geschlecht und Persönlichkeit des Kindes geltend. Liebt sie den Gatten nicht oder nicht sehr, so wird sie die Neigung haben, dem Sohne nicht seine Persönlichkeit, sondern die eigene oder, wenn sie z. B. noch sehr jung ist, die des Vaters einzubilden. Je persönlicher, d. h. männlicher das Weib wird, desto größer wird seine (natürlich unbewußte) Neigung, Mädchen zu gebären, was auch mit dem Engerwerden des Beckens in Zusammenhang stehen mag. Es werden also auf tieferen Kulturstufen mehr Knaben, auf höheren im Verhältnis mehr Mädchen geboren; aber jene sind, als primitiv, verhältnismäßig weiblich, diese, als dekadent, verhältnismäßig männlich. Das Weiterbestehen des menschlichen Geschlechtes wäre mit dem Selbstbewußtwerden des Weibes aufgehoben, wenn der Mann nur Mann, das Weib nur Weib wäre, und wenn die Natur nicht alle einmal erreichten Stufen mitzunehmen pflegte. Jeder Mann hat etwas Weiblichkeit, jedes Weib etwas Männlichkeit in sich, und beide behalten ihre positive Tierstufe, ihre Wurzel. Jeder Mensch ist zugleich Mann und Weib, wenn auch in wechselnder Stärke, und jeder ist zugleich unbewußt, bewußt und selbstbewußt, wenn auch in sehr verschiedenen Verhältnissen. Wie jeder Baum Wurzel, Stamm und Krone haben muß, so ist auch im Menschen jedes dieser drei Bestandteile, sei es noch so schwach, vertreten. Auch das selbstbewußte Weib ist als Geschlechtswesen positiv, und nur der ganz und gar geisteskranke Mann ist innerlich vollständig von der positiven Natur abgelöst. Zu irgendeinem Zeitpunkt treten im Leben jedes Menschen eine positive und eine negative Seite, wenn auch eventuell gering, hervor.

Im unbewußten Menschen ist Unterspannung, Überwiegen des Positiven über das Negative, im bewußten gleichstarke Spannung, im selbstbewußten Überspannung, Überwiegen des Negativen über das Positive.

Unterspannung bringt einen Zustand von Dumpfheit und Langeweile mit sich; das starke Bedürfnis des primitiven Menschen nach Berauschung kommt daher. Die gleichstarke Spannung des bewußten Menschen ist die Bedingung des äußerlich bewegten Lebens und der schönen Kunst. Dies ist der normale Zustand des antiken, später des italienischen Menschen, der der Berauschung verhältnismäßig wenig bedarf.

Überspannung, die Spannung des selbstbewußten Menschen, ist die Bedingung eines innerlich bewegten, sich vollendenden Lebens. Die Gefahr aller Rauschmittel für diese Menschen beruht auf dem an sich bereits vorhandenen Überwiegen der Negativität.

Der unbewußt, in der Sphäre des Raumes lebende Mensch ist körperlich vertreten durch die vegetativen Organe und die Bewegungsorgane, der bewußte durch das vorstellende Gehirn, der selbstbewußte durch das Zentralnervensystem. Der unbewußte ist der sich ernährende und fortpflanzende, der instinktive Mensch, der bewußte der handelnde und erkennende Mensch, der selbstbewußte der empfindende und sich selbst erkennende Mensch. Der unbewußte, als Mann elementare, als Weib natürliche Mensch leidet wesentlich körperlich, der bewußte, weibliche, wesentlich seelisch, der selbstbewußte, männliche, wesentlich geistig.

Der vollendete, gottähnliche Mensch ist derjenige, dessen Natur ganz in Geist verwandelt, aufgelöst, dessen Geist ganz natürlich, ganz eins mit der Natur geworden ist. Er hat die Natur nicht getötet, sondern überwunden, verklärt, sie lebt und dient ihm freiwillig.

Der Trieb der Natur, den vollendeten, gottähnlichen Menschen zu entwickeln, führt nicht zur Vermehrung, wohl aber zur einseitigen Verteilung der Negativität, wodurch neben dem Entstehen des Abnormen im guten Sinne auch die Möglichkeit des Entstehens des Abnormen im schlechten Sinne gegeben ist. Das Abnorme im guten Sinne oder das Übermenschliche entfernt die Natur, wenn es seinen Zweck erfüllt hat, d. h. erschienen ist, durch den Tod. Die Tendenz der Natur, das Abnorme im schlechten Sinne zu entfernen, kann man den Trieb der Selbstreinigung nennen, im Menschen erscheinend als Selbstverneinung. Es gibt drei Arten der Selbstreinigung, eine unbewußte, eine bewußte und eine selbstbewußte: Unfruchtbarkeit, Selbstmord und Selbstentzweiung (Geisteskrankheit).

Neben dem Triebe der Selbstreinigung geht aber ein anderer Trieb der Natur her, der nämlich, das Abnorme, das Einseitige, Übernegative, nicht zu entfernen, sondern zu ergänzen; es ist der Trieb der Vervollkommnung, beim Menschen erscheinend als Selbstvervollkommnung oder Selbstergänzung. Im Lebenslaufe des normalen Menschen stellt sich eine natürliche Ergänzung in der Weise dar, daß der Mensch, nämlich Mann und Weib zusammengefaßt, seine verschiedenen Wesensseiten zu verschiedenen Zeiten entwickelt und dadurch stets ein Ganzes bildet.

Leben des normalen Menschen

Im Kinde sind die Geschlechter noch vereinigt, es ist erst ganz unbewußt, elementarisch, und wird dann Individuum. Allmählich entwickelt sich sein Bewußtsein, es kommt als Jüngling, nicht ohne innere Kämpfe, zur Erkenntnis seines Wesens. Seine erwachende Persönlichkeit, mit der zugleich die Geschlechtsliebe erwachen mußte, treibt ihn, sich lyrisch zu äußern und seine Ergänzung im Weibe, der Natur, von der er sich eben getrennt hat, zu suchen. Seine Reizbarkeit und Beweglichkeit bewahrt ihn davor, sich zu binden; denn dadurch würde er vorzeitig zur Natur zurückgezogen. Auch in Handlungen und Werken führt er noch nichts aus, sondern gefällt sich in Plänen und Entwürfen. Dies gibt ihm etwas Schwankendes und Ungleiches; denn von hohen Idealen erfüllt, leistet er doch nichts und wechselt zwischen Selbstüberschätzung und Selbstunterschätzung. Auch im Denken zeigt er noch das Charakteristische der Übergangsstufe: er hat die Sicherheit des unbewußt richtigen Anschauens verloren, und das kausale Denken fängt er erst an zu entwickeln. Auf der männlichen Stufe ist die Person voll ausgereift. Durch den Besitz des Weibes ergänzt und gestärkt, wirft sich der Mann in das öffentliche Leben, um zu handeln und zu kämpfen. Wie sein Denken jetzt wesentlich analysierend, auflösend ist, so ist sein Handeln wesentlich angreifend, kriegerisch. Diese Periode ist die heroische seines Lebens; indessen bei der zerstörenden Kraft, die seinem Denken und Handeln innewohnt, könnte er jetzt gefährlich und verbrecherisch ausarten, wenn nicht die positive Natur in ihm selbst und von außen her sich wieder mit ihm vereinigte. Die Männlichkeit geht sofort in die Väterlichkeit über; denn die Vermählung selbst, die den Jüngling zum Manne macht, macht den Mann zum Vater.

Dies ist der Punkt, wo der dem Selbstbewußtsein zustrebende Geist umbiegt und wieder positiv wird; damit biegt er vom Leben zum Tode ab, und es ist daher die Väterlichkeit zugleich die Stufe der Reife und der Ausgangspunkt des Todes. Äußerlich tritt die Verweiblichung des Mannes dadurch an ihm hervor, daß er stärker wird, räumlicher also und stofflicher: die Natur legt gleichsam die Hand auf ihr Geschöpf, das sie langsam wieder in ihren Schoß ziehen will.

Inzwischen hat das Mädchen, durch seine Einbildungskraft und räumliches Handeln, Tätigkeit, beschäftigt, ruhig den werbenden Mann erwartet. Ihr Denkvermögen blieb, wie das des Kindes, wesentlich vorstellend, assoziierend, und ihre fertigen Einfälle waren deshalb oft zutreffender als die entwickelnden Gedanken des Mannes. Sie hat die Synthese, kann sie aber nicht durch Analyse stützen, während dem Manne zu seiner Analyse die ergänzende Synthese fehlt. Nachdem die Frau in der Hingebung an den Mann den Höhepunkt ihrer positiven Natur erreicht hat, tritt nun die männliche Seite ihres Wesens hervor: die Geschlechter beginnen ihre Wesenseigentümlichkeiten auszutauschen. Während der Mann um der Familie willen seßhaft und fürsorglich wird, wird die Mutter, durch die Pflege der Kinder dazu angeregt, tätiger und regsamer. Das Handeln des Mannes nach außen wird zum wohltätigen Wirken, die Frau kann, ausgehend von ihrem Trieb, die Kinder zu schützen, den sie auf alle Schwachen und Hilfsbedürftigen übertragen kann, zur Heldin werden und im Notfall den Vater ersetzen.

Die Reife geht über in das Alter, auf welcher Stufe die Ausgleichung der Geschlechter sich vollendet hat. Der alternde Mann wird typischer, die alternde Frau versöhnlicher; war in der Jugend der Mann der Anreger der ruhenden Frau, die seiner Beweglichkeit durch ihre Gebundenheit Halt gab, so ist sie nun die Anregerin des Erstarrenden. Den Mann nähert das Alter der vergänglichen Natur, die Frau, die ohnehin dem Tode geweiht und befreundet ist, dem unvergänglichen Geiste. Beide Geschlechter sind im Alter am schönsten; denn die Schönheit ist die höchste, die zugleich so typisch und so persönlich wie möglich ist.

Diese geistvolle Umwandlung des Kreises in die Ellipse, der Einzelexistenz in die Doppelexistenz, die bezweckt, daß das Menschenpaar immer ein Ganzes bildet, sich ergänzt, daß aber dabei doch jedes alle Seiten seines Wesens ausbildet, wird nicht mehr verstanden. Die Negativität der reifen Frau, deren Aufgabe, Kinder zu gebären und zu pflegen, während ihre Blüte vollendet werden mußte, und nicht durch selbständigen Liebesdrang gestört werden durfte, die aber dann das erlöschende Feuer des Mannes mit dem ihrigen beleben oder ersetzen soll, wird als gefährliches Alter verspottet. Allerdings kann der Plan der Natur in den abnormen Zeiten der Rückläufigkeit wegen des Überschusses an Frauen und der Unlust des Mannes zur Eheschließung, die später erörtert werden soll, weder verwirklicht noch begriffen werden.

Außer dieser natürlich-mechanischen Ergänzung, die im Menschen liegt, hat er aber auch die Möglichkeit, sich wollend und bewußt zu vervollkommnen, wenn er nämlich eine selbstbewußte, wollende Person geworden ist.

Es gibt demnach im Leben des Menschen zwei Krisen, nämlich den Beginn der Spaltung und das Ende derselben; Beginn und Ende des sich entwickelnden Lebens, an dessen Ende Kindheit und Greisenalter stehen, die neutrale und wieder neutralisierte Stufe. Das Kind hat Instinkt, d. h. den ins Geistige übertragenen Inbegriff des Gedächtnisses seiner Vorfahren; dem Greise ist dieser Instinkt zum Wissen geworden, oder: der Instinkt und die Natur des Kindes ist des Greises Erinnerung (Vergeistigung, Verewigung) geworden. Die erste Krise des Jünglings ist sein Negativwerden oder seine Selbstentzweiung, sie findet etwa zwischen dem 15. und 20. Lebensjahre statt. Die zweite Krise ist sein Positivwerden oder seine Selbstergänzung, und findet etwa um das 50. Lebensjahr statt; sie bildet den Übergang zum Alter.

Die erste Krise des Mädchens ist ihr Positivwerden oder ihre Selbstentzweiung, die zweite Krise ist ihr Negativwerden oder ihre Selbstergänzung.

Der zwischen beiden Krisen liegende Höhepunkt des Menschen ist seine höchste Zentralisation. Beide Krisen sind Dezentralisationen, die aber zu einem Zentrum hinführen.

Dieser Lebenslauf des Einzelmenschen ist auch der Lebenslauf der Menschheit und des inneren, geistigen Menschen; d. h. jede Entwicklung geht von einem unbewußten Zentrum durch Entzweiung zur selbstbewußten Zentralisation und von dieser durch Wiedervereinigung zurück zum Zentrum.

Wie der körperliche Mensch dadurch entsteht, daß die elterlichen Keime miteinander verschmelzen, so entsteht der innerliche oder geistige, die Person, dadurch, daß diese Keime, wie es sich von selbst versteht, nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich sind, daß also im Innern des Kindes die Innerlichkeit oder Geistigkeit der Eltern sich verbinden. Dieser innerlichen Verbindung steht nichts im Wege, solange der Mann negativ und das Weib positiv ist; sie wird aber mit der zunehmenden Negativität des Weibes immer schwieriger. Folgende drei Ergebnisse sind möglich:

1. Es wird eine normale Person erzeugt, wenn Positivität und Negativität gleich sind.

2. Es wird eine abnorme Person erzeugt, wenn die Negativität überwiegt.

3. Es wird gar keine Person erzeugt, wenn die auf beiden Seiten vorhandene Positivität zu gering ist, um eine Einheit damit zu konstituieren. In diesem Falle ist der Mensch unheilbar geisteskrank ( Dementia praecox).

Die Jahre, in welchen sich die Person im Inneren des Menschen ausbildet, nennt man seine Entwicklungsjahre.

Ist eine gesunde Person entstanden, so kann diese ihr Leben, das bis dahin vom elterlichen Geist bestimmt war, persönlich abwandeln aus eigener Kraft und mit Benützung der aus dem Weltall zuströmenden Kräfte. Indessen kann kein Mensch den Grundtypus des Lebens wesentlich verändern.

Dieser Grundtypus ist die Entwicklung vom Unbewußten zum Selbstbewußten, und das Urleben ist das Leben der geistwerdenden Natur. Wie das Weltall sich in jeder Zelle spiegelt, so spiegelt sich das eine Leben der sich entwickelnden Natur in unendlichen Einzelleben. Für jeden einzelnen ist nur sein Leben wirklich, und es ist auch das einzig Wirkliche; denn es ist das Leben der Natur, das er in sich spiegelt oder das er von seinem Standpunkt aus erlebt. Etwas anderes als die Entwicklung vom Unbewußten zum Bewußtsein kann kein Mensch erleben. Der Vollendete, d. h. derjenige, der diese Entwicklung ganz durchlaufen hat, kann nichts mehr erleben; er kann nur noch anderen helfen, ihre Entwicklung zu vollenden.

Lieben ist Erkennen, Spiegeln, Bewußtwerden, Verinnerlichen oder Vergeistigen; wer ganz verinnerlicht ist, stirbt; wer stirbt, geht in sein Inneres ein. Lieben, Erkennen, Bewußtwerden, Sterben beruht alles auf der Spannung, mit welcher das Leben einsetzt. Mit dem Leben zugleich beginnt also das Sterben; jedes lebende Wesen trägt seinen Tod von Anbeginn an in sich. Der Mensch wird fortwährend liebender, bewußter, verinnerlichter und geistiger, er stirbt fortwährend. Der vollendete Mensch liebt nur noch Gott und die Natur, das ist aber alles. Der Mensch stirbt, wenn er, seinem Umfang gemäß, vollkommen bewußt geworden ist; die Menschheit stirbt, wenn sie vollkommen bewußt geworden ist.

Die ganze Entwicklung vom Unbewußten zum höchsten Selbstbewußtsein kann nicht in einem einzelnen ablaufen, sondern vollzieht sich in einer Familie. Der letzte wesentliche Sprosse einer Familie ist ihr Vollender und zugleich ihr Inbegriff.

Die Kunst, als ein Ausgleich von Spannungen, beruht auf Gegensätzen, auf Unvollendung; die vollkommensten Kunstwerke entstehen in den Zeiten großer Gegensätze. Je vollendeter die Zeit wird, desto schwächer wird im allgemeinen die Kunst. Der vollendete Mensch ist jenseits der Kunst. Einen ganz vollendeten Menschen kann es nicht geben, außer etwa im Augenblick seines Todes; denn Vollendetsein heißt alles Unbewußte in Bewußtsein verwandelt haben, und der Körper des vollendeten Menschen wäre Geist geworden, bestände, physiologisch gesprochen, nur noch aus Nerven.

Beim Kinde oder Menschen einer kindlichen Stufe verläuft die Folge von Spannungen und Ausgleichen im Raume, d. h. es spielt und bewegt sich. Beim erwachsenen, bewußten Menschen verläuft die Folge von Spannungen und Ausgleichen in der Zeit, d. h. er handelt.

Beim selbstbewußt-bewußt-unbewußten Menschen verläuft die Folge von Spannungen und Ausgleichen im Geiste, d. h. er schafft.

Beim vollständig bewußt gewordenen, innerlichen Menschen gibt es keine Spannungen und Ausgleiche mehr. Er handelt und schafft, er erlebt nicht mehr, weil er vollendet ist. Dies ist der Greis oder der eine Entwicklung abschließende Mensch.


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