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52

Damals war Bayern noch Königreich und damals gab es auch noch ein Österreich-Ungarn.

Das war um 1880 herum, da hat er fast nur mit ihr getanzt, auf so einer richtigen Redoute mit Korsett und Dekolleté und der Attaché ist mit der Großmama am nächsten Mittag in einer hohen standesgemäßen Kutsche in das Isartal gefahren, dort sind sie dann zu zweien am lauschigen Ufer entlang promeniert. Sie haben von den blauen Bergen gesprochen und von dem, was dahinterliegt. Er hat vom sonnigen Süden erzählt, vom Vesuv und von Sizilien, von römischen Ruinen und den Wellen der Adria. Er hat ihr einen Ring aus Venedig geschenkt, ein Schlänglein mit falschen Rubinaugen und der Inschrift: »Memento!« Und dann hat sie sich ihm gegeben auf einer Lichtung bei Höllriegelsgreuth und er hat sie sich genommen.

Es war natürlich Nacht, so eine richtige kleinbürgerlich-romantische Nacht und Vormärz. Über die nahen Alpen wehte der Frühlingswind und abends hing der Mond über schwarzen Teichen und dem Wald.

Nach zwei Wochen blieb bei der Großmama das aus, das sie mit dreizehn Jahren derart erschreckt hatte, daß sie wimmernd zu ihrer älteren Freundin Helene gerannt war, denn sie hatte gefürchtet, nun werde sie verbluten müssen. Aber Helene hatte sie umarmt, geküßt und gesagt: »Im Gegenteil, nun bist du ein Fräulein.«

Nun aber wußte sie, daß sie bald Mutter sein wird. Sie dachte, wenn sie nur wahnsinnig werden könnte, und wollte aus dem Fenster springen. Sie biß sich alle Fingernägel ab und schrieb drei Abschiedsbriefe, einen an ihren Vater und zwei an den polnischen Geliebten.

Ihr Vater war ein langsamer melancholischer Färbermeister, der unter dem Pantoffel seiner lauten herrschsüchtigen Gattin stand und alle maschinellen Neuerungen haßte, weil er weder Kapital noch Schlagfertigkeit besaß, immerhin aber genug Beobachtungsgabe, um erkennen zu können, wie er von Monat zu Monat konkurrenzunfähiger wird.

Diesem schrieb die Großmama: »Mein Vater! Verzeih Deiner unsagbar gefallenen Tochter Regina.« Und dem Attaché schrieb sie: »Warum laßt Du mich nach einem Worte von Dir verschmachten? Bist Du denn ein Schuft?« Diesen Brief zerriß sie und begann den zweiten: »Nimmer wirst Du mich sehen, bete für meine sündige Seele. Bald blühen Blümlein auf einem frischen armen Grabe und die verlassene Nachtigall aus dem Isartal singt von einem zerbrochenen Glück – –«

Und sie beschrieb ihr eigenes Begräbnis. Sie erlebte ihre eigene Himmelfahrt. Sie sah sich selbst im Schattenreich und tat sich selbst herzlich leid. Ein heroischer Engel beugte sich über sie und sprach: »Weißt du, was das ist, ein österreichisch-ungarischer Attaché? Nein, das weißt du nicht, was das ist, ein Österreich-ungarischer Attaché. Ein Österreich-ungarischer Attaché verläßt keine werdende Mutter nicht, überhaupt als polnischer Graf, du kleingläubiges Geschöpf! Schließ das Fenster, es zieht!«

Sie schloß es und glaubt wieder an das verlogene Märchen vom Prinzen und dem spießbürgerlichen Bettelkind. Dabei wurde sie immer bleicher, hatte selten Appetit und erbrach sich oft heimlich.

An den lieben Gott hatte sie nie so recht geglaubt, nämlich sie konnte ihn sich nicht so recht vorstellen, hingegen um so inniger an den heiligen Antonius von Padua. Und sie betete zu dem himmlischen Jüngling mit der weißen Lilie um einen baldigen Brief von ihrem irdischen Grafen.

Natürlich kam keiner, denn freilich war auch auf jener Redoute nicht alles so, wie es die Großmama gerne sah. Sie ist keineswegs vor allen anderen Holden dem österreich-ungarischen Halunken aufgefallen, sondern dieser hat sich zuerst an eine Bacchantin gerieben, aber nachdem deren Kavalier etwas von Watschen sprach, war seine Begeisterung merklich abgekühlt. Aus der ersten Verlegenheit heraus tanzte er mit der Großmama, die als Mexikanerin maskiert war, und besoff sich aus Wut über den gemeinen Mann, der leider riesige Pratzen hatte. In seinem Rausche fand er die Großmama ganz possierlich und versprach ihr den Ausflug in das Isartal. Am nächsten Tage fand er sie allerdings vernichtend langweilig, und nur um nicht umsonst in das Isartal gefahren zu sein, nahm er sie. Hierbei mußte er an eine langbeinige Kokette denken, um den physischen Kontakt mit der kurzbeinigen Großmama herstellen zu können.

Als dann im Spätherbst die Großmama an einem Sonntagvormittag auf der Treppe zusammenbrach und eine Tochter gebar, da verstießen sie ihre Eltern natürlich nach Sitte und Recht. Die Mutter gab ihr noch zwei Ohrfeigen und der Vater schluchzte, er verstehe das ganze Schicksal überhaupt nicht, was er denn wohl nur verbrochen habe, daß gerade seine Tochter unverheiratet geschwängert worden ist.

Selbst die Stammgäste hatten es nie erfahren, was aus Großmamas Töchterlein geworden ist. Die Großmama schwieg und man munkelte allerlei.

Sie hätte einen rechtschaffenen Hausbesitzer geheiratet oder sie sei eine Liliputanerin vom Oktoberfest, munkelten die einen und die anderen munkelten, sie sei von ihren Pflegeeltern als dreijähriges Kind so geprügelt worden, daß sie erblindet ist und die Pflegemutter ein Jahr Gefängnis bekommen hat, während der Pflegevater freigesprochen worden sei, weil er ja nur zugeschaut hätte. Und wieder andere munkelten, sie wäre bloß eine einfache Prostituierte in Hamburg, genau wie die Margarethe Swoboda in München.

»Sie erlauben doch, daß ich mich zu Ihnen setz«, sagte Margarethe Swoboda zu Eugen. »Das freut mich aber sehr, daß ich Sie wieder mal seh, Herr Reithofer! Seit wann sind Sie denn in München? Ich bin schon seit Mai da, aber ich fahr bald fort, ich hab nämlich gehört, in Köln soll es für mich besser sein. Dort ist doch heuer die Pressa, das ist eine große Journalistenausstellung, hier diese Heim- und Technikausstellung war für mich nichts besonderes.«

Eugen wußte noch immer nicht, daß sie Margarethe Swoboda heißt und er konnte sich nicht erinnern, woher sie ihn kennen könnte. Sie schien ihn nämlich genau zu kennen und Eugen wollte sie nicht fragen, woher er sie kenne, denn sie freute sich sehr ihn wiederzusehen und erinnerte sich gerne an ihn.

»Nicht jede Ausstellung ist gut für mich«, meinte Margarethe Swoboda. »So hab ich bei der Gesoleiausstellung in Düsseldorf gleich vier Tage lang nichts für mich gehabt. Ich war schon ganz daneben und hab in meinem Ärger einen Ausstellungsaufseher angesprochen, einen sehr höflichen Mann aus Krefeld und hab ihm gesagt, es geht mir schon recht schlecht bei eurer Gesoleiausstellung und der Krefelder hat gesagt, das glaubt er gern, daß ich kein Geschäft mach, wenn ich vor seinem Pavillon die Kavaliere anspreche. Da hab ich erst gemerkt, daß ich vier Tag lang in der Gesundheitsabteilung gestanden bin, direkt vor dem Geschlechtskrankheitenpavillon und da hab ichs freilich verstanden, daß ich vier Tag lang nichts verdient hab, denn wie ich aus dem Pavillon herausgekommen bin, hat es mich vor mir selbst gegraust. Ich hätt am liebsten geheult, solche Ausstellungen haben doch gar keinen Sinn! Für mich sind Gemäldeausstellungen gut, überhaupt künstlerische Veranstaltungen, Automobilausstellungen sind auch nicht schlecht, aber am besten sind für mich die landwirtschaftlichen Ausstellungen.«

Und dann sprach sie noch über die gelungene Grundsteinlegung zum Deutschen Museum in Anwesenheit des Reichspräsidenten von Hindenburg, über eine große vaterländische Heimatkundgebung in Nürnberg und über den Katholikentag in Breslau und Eugen dachte: »Vielleicht verwechselt sie mich, es heißen ja auch andere Leut Reithofer und vielleicht sieht mir so ein anderer Reithofer zum verwechseln ähnlich.«

So wurde es immer später und plötzlich bemerkte Eugen, daß Margarethe Swoboda schielt. Zwar nur etwas, aber es fiel ihm trotzdem ein Kollege ein, mit dem er vor dem Krieg in Preßburg im Restaurant Klein gearbeitet hatte. Das ist ein freundlicher Mensch gewesen, ein großes Kind. Knapp vor dem Weltkrieg hatte dieser Kollege geheiratet und zu Eugen gesagt: »Glaub es mir, lieber Reithofer, meine Frau schielt, zwar nur etwas, aber sie hat ein gutes Herz.« Dann ist er in Montenegro gefallen. Er hieß Karl Swoboda.

»Als mein Mann in Montenegro fiel«, sagte Margarethe Swoboda, »da hab ich viel an Sie gedacht, Herr Reithofer. Ich hab mir gedacht, ist er jetzt vielleicht auch gefallen, der arme Reithofer? Ich freu mich nur, daß Sie nicht gefallen sind. Erinnern Sie sich noch an meine Krapfen, Herr Reithofer?«

Jetzt erinnerte sich Eugen auch an ihre Krapfen. Nämlich er hatte mal den Karl Swoboda zum Pferderennen abgeholt und da hatte ihm jener seine Frau vorgestellt und er hatte ihre selbstgebackenen Krapfen gelobt. Er sah es noch jetzt, daß die beiden Betten nicht zueinander paßten, denn das eine war weiß und das andere braun – und nach dem Pferderennen ist der Karl Swoboda sehr melancholisch gewesen, weil er für fünf Gulden verspielt hatte, und hatte traurig zu Eugen gesagt: »Glaub es mir, lieber Reithofer, wenn ich sie nicht geheiratet hätt, wär sie noch ganz verkommen, auf Ehr und Seligkeit!«

»Sie haben meine Krapfen sehr gelobt, Herr Reithofer«, sagte Karl Swobodas Witwe.

54

Als Eugen an die beiden Betten in Preßburg dachte, die nicht zueinander paßten, näherte sich ihm die Großmama. Wenn Großmama nichts zu tun hatte, stand sie am Büffet und beobachtete die Menschen. So hatte sie auch bemerkt, daß das »Gretchen« mit Eugen sympathisierte, weil sie sich gar nicht so benahm, wie sie sich Herren gegenüber benehmen mußte. Sie sprach ja mit Eugen, wie mit ihrem großen Bruder und solch große Brüder schätzte die Großmama und setzte sich also an Eugens Tisch.

Das Gretchen erzählte gerade, daß im Weltkrieg viele junge Männer gefallen sind und daß nach dem Weltkrieg sie selbst jeden Halt verloren hat, worauf die Großmama meinte, für Offiziere sei es schon sehr arg, wenn ein Krieg verloren geht. So hätten sich nach dem Krieg viele Offiziere total versoffen, besonders in Augsburg. Dort hätte sie mal in einer großen Herrentoilette gedient und da hätte ein Kolonialoffizier verkehrt, der alle seine exotischen Geweihe für ein Faß Bier verkauft hätte. Und ein Fliegeroffizier hätte gleich einen ganzen Propeller für ein halbes Dutzend Eierkognaks eingetauscht und dieser Fliegeroffizier sei so versoffen gewesen, daß er statt mit »Guten Tag!« mit »Prost!« gegrüßt hat.

Eugen meinte, der Weltkrieg habe freilich keine guten Früchte getragen und für Offiziere wäre es freilich besser, wenn ein Krieg gewonnen würde, aber obwohl er kein Offizier sei, wäre es für ihn auch schon sehr arg, wenn ein Krieg verloren würde, obwohl er natürlich überzeugt sei, daß wenn wir den Weltkrieg gewonnen hätten, daß er auch dann unter derselben allgemeinen wirtschaftlichen Depression zu leiden hätte. So sei er jetzt schon wieder mal seit zwei Monaten arbeitslos und es bestünde schon nicht die geringste Aussicht, daß es besser werden wird. Hier mischte sich der Pianist ins Gespräch, der sich auch an den Tisch gesetzt hatte, weil er sehr neugierig war. Er meinte, wenn Eugen kein Mann, sondern eine Frau und kein Kellner, sondern eine Schneiderin wäre, so hätte er für diese Schneiderin sofort eine Stelle. Er kenne nämlich einen großen Schneidergeschäftsinhaber in Ulm an der Donau und das wäre ein Vorkriegskommerzienrat, aber Eugen dürfte halt auch keine Österreicherin sein, denn der Kommerzienrat sei selbst Österreicher und deshalb engagiere er nur sehr ungern Österreicher. Aber ihm zu Liebe würde dieser Kommerzienrat vielleicht auch eine Österreicherin engagieren, denn er habe nämlich eine gewisse Macht über den Kommerzienrat, da seine Tochter auch Schneiderin gewesen wäre, jedoch hätte sie vor fünf Jahren ein Kind von jenem Kommerzienrat bekommen und von diesem Kind dürfe die Frau Kommerzienrat natürlich nichts wissen. Die Tochter wohne sehr nett in Neu-Ulm, um sich ganz der Erziehung ihres Kindes widmen zu können, da der Kommerzienrat ein selten anständiger Österreicher sei. Er spreche perfekt deutsch, englisch, französisch, italienisch und rumänisch. Auch etwas slowakisch, tschechisch, serbisch, kroatisch und verstehe ungarisch und türkisch. Aber türkisch könne jener Kommerzienrat weder lesen noch schreiben.

Der Pianist war sehr geschwätzig und wiederholte sich gerne. So debattierte er jeden Tag mit der Großmama und kannte keine Grenzen. Er erzählte ihr, daß seinerzeit jener Höhlenmensch, der als erster den ersten Ochsen an die Höhlenwand gezeichnet hatte, von allen anderen Menschen als großer Zauberer angebetet worden ist und so müßte auch heute noch jeder Künstler angebetet werden, auch die Pianisten. Dann stritt er sich mit der Großmama, ob die Fünfpfennigmarke Schiller oder Goethe heißt, worauf die Großmama jeden Tag erwiderte, auf alle Fälle sei die Vierzigpfennigmarke jener große Philosoph, der die Vernunft schlecht kritisiert hätte und die Fünfzigpfennigmarke sei ein Genie, das die Menschheit erhabenen Zielen zuführen wollte und sie könne es sich schon gar nicht vorstellen, wie so etwas angefangen würde, worauf der Pianist meinte, aller Anfang sei schwer und er fügte noch hinzu, daß die Dreißigpfennigmarke das Zeitalter des Individualbewußtseins eingeführt hätte. Dann schwieg die Großmama und dachte, der Pianist sollte doch lieber einen schönen alten Walzer spielen.

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Als der Pianist sagte, daß er für Eugen sofort eine Stelle hätte, wenn – da dachte Eugen an Agnes. Er sagte sich, das wäre ja eine Stelle für das Mistvieh, das er gestern in der Thalkirchner Straße angesprochen und das ihn heute in der Schleißheimerstraße versetzt habe. Gestern hätte sie ihm ja erzählt, daß sie Schneiderin wäre und bereits seit fünf Monaten keine Stelle finden könnte. Heute könnte er ihr ja sofort eine Stelle verschaffen, es würde ihm vielleicht nur ein Wort kosten, als wäre er der Kaiser von China, den es zwar auch bereits nicht mehr geben würde. Gestern auf dem Oberwiesenfeld hätte er es nicht geglaubt, daß er heute versetzt wird. »Sie ist halt ein Mistvieh«, sagte er sich und fügte hinzu: »Wahrscheinlich ist auch der Pianist ein Mistvieh!«

Und Eugen warf mit den Mistviehern nur so um sich, alles und jedes wurde zum Mistvieh, die Swoboda, die Großmama, der Tisch, der Hut, das Bier und das Bierglas – – wie das eben so manchmal geschieht.

»Aber es ist doch schön von dem Pianistenmistvieh, daß er mir helfen möcht«, fiel es ihm plötzlich auf. »Er weiß doch gar nicht, ob ich am End nicht auch ein Mistvieh bin. Ich bin doch auch eins, ich hab ja auch schon Mistvieher versetzt.«

»Überhaupt sollten sich die Mistvieher mehr helfen«, dachte er weiter. »Wenn sich alle Mistvieher helfen täten, ging es jedem Mistvieh besser. Es ist doch direkt unanständig, wenn man einem Mistvieh nicht helfen tat, obwohl man könnt, bloß weil es ein Mistvieh ist.«

Und dann fiel es ihm auch noch auf, daß es sozusagen ein angenehmes Gefühl ist, wenn man sich gewissermaßen selbst bestätigen kann, daß man einem Mistvieh geholfen hat. Ungefähr so:

Zeugnis.

Ich bestätige gerne, daß das Mistvieh Eugen Reithofer ein hilfsbereites Mistvieh ist. Es ist ein liebes gutes braves Mistvieh.

Eugen Reithofer

Mistvieh.

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»Sagen Sie, Herr Pianist«, wandte sich Eugen an das hilfsbereite Mistvieh, »ich kann ja jetzt leider nicht weiblich werden, aber ich weiß ein Mädel für Ihren Kommerzienrat in Ulm. Sie ist eine vorzügliche Schneiderin und Sie täten mir persönlich einen sehr großen Gefallen, Herr Pianist«, betonte er und das war natürlich gelogen.

Der Pianist sagte, das wäre gar nicht der Rede wert, denn das kostete ihm nur einen Telefonanruf, da sich jener Kommerzienrat zufällig seit gestern in München befände und er könne ihn sofort im Hotel Deutscher Kaiser anrufen – und schon eilte der hilfsbereite Pianist ans Telefon. »Also das ist ein rührendes Mistvieh«, dachte Eugen und Margarethe Swoboda sagte: »Das ist ein seltener Mensch und ein noch seltenerer Künstler.« Und die Großmama sagte: »Er lügt.«

Aber ausnahmsweise täuschte sich die Großmama, denn nach wenigen Minuten erschien der Pianist, als hätte er den Weltkrieg gewonnen.

Der Kommerzienrat war keine Lüge und seine wunderbaren Beziehungen waren nur insofern übertrieben, daß es nicht stimmte, daß sich seine Tochter in Neu-Ulm lediglich der Erziehung ihres kommerzienrätlichen Kindes widmen kann, sondern sie mußte als Schneiderin weiterarbeiten und erhielt nur ein kleines kommerzienrätliches Taschengeld.

Der Pianist konnte sich vor lauter Siegesrausch nicht sofort wieder setzen, er ging also um den Tisch herum und setzte Eugen auseinander, Agnes könne die Stelle sofort antreten, jedoch müßte sie morgen früh Punkt sieben Uhr dreißig im Hotel Deutscher Kaiser sein. Dort solle sie nur nach dem Herrn Kommerzienrat aus Ulm fragen und der nimmt sie dann gleich mit, er fährt nämlich um acht Uhr wieder nach Ulm.

Eugen fragte ihn, wie er ihm danken sollte, aber der Pianist lächelte nur: vielleicht würde mal Eugen ihm eine Stelle verschaffen, wenn er kein Pianist wäre, sondern eine Schneiderin.

Eugen wollte wenigstens das Telefongespräch bezahlen, aber selbst dies ließ er nicht zu. »Man telefoniert doch gern mal für einen Menschen«, sagte er.

Selbst die Großmama war gerührt, aber am meisten war es der brave Pianist.

57

So kam es, daß am nächsten Morgen Eugen bereits um sechs Uhr durch die Schellingstraße ging, damit er sich mit seiner Hilfe nicht verspätet, auf daß er sich ein gutes Zeugnis ausstellen kann.

Er wollte gerade bei der Tante im vierten Stock läuten, da sah er Agnes über die Schellingstraße gehen. Sie kam von ihrer Bank für Erwachsene und war zerknüllt und elend und Eugen dachte: »Schau, schau, bis heut morgen hat mich das Mistvieh versetzt!«

Die Sonne schien in der Schellingstraße und der Morgenwind überschritt bereits den Ural, als Agnes über Eugen erschrak. Doch er fragte sie nicht, woher sie komme, was sie getan und warum sie ihr Wort gebrochen und ihn versetzt hätte, sondern er teilte ihr lediglich mit, daß er für sie eine Stelle fand, daß sie schon heute früh zu einem richtigen Kommerzienrat gehen muß, der sie dann noch heute früh nach Ulm an der Donau mitnehmen würde. Sie starrte ihn an und sagte, er solle sich doch eine andere Agnes aussuchen für seine blöden Witze und sie bitte sich diese Frozzelei aus und überhaupt diesen ganzen Hohn – aber er lächelte nur, denn das Mistvieh tat ihm plötzlich leid, weil es ihm den Kommerzienrat nicht glauben konnte.

Das Mistvieh murmelte noch etwas von Roheit und dann weinte es. Er solle es doch in Ruhe und Frieden lassen, weinte das Mistvieh, es sei ja ganz kaputt und auch die Schuhe seien nun ganz kaputt.

Eugen schwieg und plötzlich sagte das Mistvieh, das könne es ja gar nicht geben, daß ihr ein Mensch eine Stelle verschafft, nachdem sie den Menschen versetzt hatte. Dann schwieg auch das Mistvieh.

Und dann sagte es: »Ich hätt wirklich nicht gedacht, daß Sie extra wegen mir herkommen, Herr Reithofer.«

»Wissens, Fräulein Pollinger«, meinte der Herr Reithofer, »es gibt nämlich etwas auch ohne das Verliebtsein, aber man hat es noch nicht ganz heraus, was das eigentlich ist. Ich hab halt von einer Stelle gehört und bin jetzt da. Es ist nur gut, wenn man weiß, wo ein Mensch wohnt.«

58

Und jetzt ist die Geschichte aus.


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