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Eugen stand bereits um zehn Minuten vor sechs an jener Ecke und wartete bis dreiviertelsieben.

Bis sechs Uhr ging er ihr immer wieder etwas entgegen, ihre Schellingstraße hinab, aber ab Punkt sechs hielt er sich peinlich an die verabredete Ecke, denn er dachte, Agnes könne ja auch unerwartet aus irgendeiner anderen Richtung kommen und dann fände sie eine Ecke ohne Eugen.

Sie kam jedoch aus keiner Richtung und zehn Minuten nach sechs sagte er sich, Frauen seien halt unpünktlich. Er war den ganzen Tag über wieder herumgelaufen und hatte trotzdem keine Arbeit gefunden. Er hatte bereits seinen Frack versetzen müssen und nahm sich vor, daß er sich heute auf dem Oberwiesenfeld anders benehmen wird, als gestern. Heute wolle er die Agnes nicht körperlich begehren, sondern in Ruhe lassen und bloß mit ihr sprechen. Über irgend etwas sprechen.

Er besaß noch ganze vier Mark zwanzig und es war ihm auch bekannt, daß er als österreichischer Staatsbürger auf eine reichsdeutsche Arbeitslosenunterstützung keinen rechtlichen Anspruch hat und er erinnerte sich, daß er 1915 in Wolhynien einen Kalmücken sterben sah, der genauso starb, wie ein österreichischer Staatsbürger oder ein Reichsdeutscher.

Agnes kam noch immer nicht und um den Kalmücken zu verscheuchen, rechnete er sich aus, wieviel Schillinge, Franken, Lire und Lei vier Mark zwanzig sind. Er hatte lange nichts mehr addiert und stellte nun resigniert fest, daß er betreffs Kopfrechnen außer Übung ist.

Früher, während der Inflation, da hatte keiner so kopfrechnen können wie er. Überhaupt ging es ihm vorzüglich während der Geldentwertung, er hatte ja kein Geld und war der beliebteste Kellner in der Bar und auch die Bardame war in ihn verliebt. Sie hieß Kitty Lechleitner und man hätte es ihr gar nicht angesehen, daß sie Paralyse hatte, wenn sie nicht plötzlich angefangen hätte, alles was sie von sich gab, wieder aufzuessen. Sie hatte einen grandiosen Appetit und starb in Steinhof bei Wien und war doch immer herzig und freundlich, nur pünktlich konnte sie nicht sein.

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Als Agnes den Starnberger See erblickte, befürchtete Eugen, daß ihr etwas zugestoßen ist. Nämlich er hatte einst ein Rendezvous mit einer Kassierin und während er sie erwartete, wurde sie von einem Radfahrer angefahren und zog sich eine Gehirnerschütterung zu. Er wartete ewig lange und schrieb ihr dann einen beleidigenden Brief und erst drei Wochen hernach erfuhr er, daß die Kassierin fünf Tage lang bewußtlos war und daß sie sehr weinte, als sie seinen beleidigenden Brief las, und daß sie den Radfahrer verfluchte.

»Nur nicht ungerecht sein«, dachte Eugen und zählte bis zwanzig. Nämlich wenn Agnes bis zwanzig nicht kommen sollte, dann würde er gehen. Er zählte sechs mal bis zwanzig und sie kam nicht.

Er ging aber nicht, sondern sagte sich, daß alle Weiber unzuverlässig sind und verlogen. So verlogen, daß sie gar nicht wissen könnten, wann sie lügen. Sie würden auch lügen, nur um einem etwas Angenehmes sagen zu können. So hätte doch diese Agnes gestern ausdrücklich gesagt, daß sie sich auf das Oberwiesenfeld freut. Auch Agnes sei halt eine Sklavennatur, aber dafür könnten ja die Weiber nichts, denn daran wären nur die Männer schuld, weil sie jahrtausendelang alles für die Weiber bezahlt hätten.

Daß ihn Agnes versetzt hatte, dies fiel ihm bereits um Punkt sechs ein, doch glaubte er es erst um dreiviertelsieben. »Wenn ich ein Auto hätt«, meinte er, »dann tät mich keine versetzen, vorausgesetzt, daß sie kein Auto hätt, dann müßt ich nämlich ein Flugzeug haben.«

Aber trotzdem er sich dies sagte, wußte er gar nicht, wie recht er hatte.

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Während Harry in Feldafing den Gurkensalat bestellte, ging Eugen langsam die Schellingstraße entlang und hielt einen Augenblick vor der Auslage des Antiquariats. Er sah das »Weib vor dem Spiegel« und dachte, gestern nacht sei er noch dagestanden und jetzt gehe er daran vorbei.

Es fiel ihm nicht auf, daß das »Weib auf dem Pantherfell« aus der Auslage verschwunden ist. Nämlich am Nachmittag war ein Kriminaler zu der Tante gekommen und hat ihr mitgeteilt, daß sich ein Feinmechaniker aus der Schellingstraße über das »Weib auf dem Pantherfell« sittlich entrüstet hat, weil er wegen seiner achtjährigen Tochter auf einen gewissen hochwürdigen Herrn schlecht zu sprechen wäre. Und der Kriminaler hat der Tante auseinandergesetzt, daß solche Pantherfellbilder schon gar nichts mit Kunst zu tun hätten und daß er eine Antiquariatsdurchsuchung machen müßte. Und dann hat der Kriminaler einen ganzen Koffer voller »Weiber auf dem Pantherfell« beschlagnahmt und hat dabei fürchterlich getrenzt und sich ganz genau nach dem Kastner erkundigt. Er hat nämlich den Kastner verhaften wollen wegen gewerbsmäßiger Verbreitung unzüchtiger Darstellungen und einem fahrlässigen Falscheid.

Dann ist der Kriminaler gegangen. Hierauf hat die Krumbier, damit sich die Tante beruhige, eine Geschichte von einem sadistischen Kriminalen erzählt, der sich ihr genähert hatte, als sie sechzehn Jahre alt gewesen ist. Er hatte ihr imponieren wollen und hatte ihr lauter Lustmordfotografien gezeigt. »So Kriminaler werden leicht pervers«, hat die Krumbier gesagt.

Aber die Tante hat sich nicht beruhigen lassen und hat gesagt, wie die Agnes nach Hause kommt, haut sie ihr eine herunter.

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Eugen ging auch an dem Hause vorbei, in dessen Atelier der Buddhist AML als Untermieter malte. Das Atelier hatte er nämlich von einem anderen Untermieter gemietet, der sich aber weigerte, des Buddhisten Untermiete dem Mieter auszuzahlen, weil er sich benachteiligt fühlte, da der Mieter bei der Abfassung des Untermietekontraktes die offizielle Miete um das Doppelte gefälscht hatte.

Der Kastner beschäftigte sich gerade wieder mit einigen Fettflecken und ahnte noch nichts von jenem Kriminalen. Heute hätte ihn jeder Kriminale auch nicht besonders erregt, denn er wußte ja nicht mehr, war er noch besoffen oder schon blöd.

An der Türkenstraße hielt Eugen vor dem Fenster eines rechtschaffenen Fotografen. Da hing ein Familienbild. Das waren acht rechtschaffene Personen, sie hatten ihre Sonntagskleider an, blickten ihn hinterlistig und borniert an und alle acht waren außerordentlich häßlich.

Trotzdem dachte Eugen, es wäre doch manchmal schön, wenn man solch eine Familie haben könnte. Er würde auch so in der Mitte sitzen und hätte einen Bart und Kinder. So ohne Kinder sterbe man eben aus und das Aussterben sei doch etwas traurig, selbst wenn man als österreichischer Staatsbürger keinen rechtlichen Anspruch auf die reichsdeutsche Arbeitslosenunterstützung habe.

Und während Agnes ihren Gurkensalat aß, dachte er an sie. »Also sie hat mich versetzt, das Mistvieh«, dachte er. Aber er war dem Mistvieh nicht böse, denn dazu fühlte er sich zu einsam. Er ging nur langsam weiter, bis dorthin, wo die Schellingstraße anfängt und plötzlich wurde er einen absonderlichen Einfall nicht los und er konnte es sich gar nicht vorstellen, wieso ihm der eingefallen sei.

Es fiel ihm nämlich ein, daß ein Blinder sagt: »Sie müssen mich ansehen, wenn ich mit Ihnen spreche. Es stört mich, wenn Sie anderswohin sehen, mein Herr!«

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Es wurde Nacht und Eugen wollte nicht nach Hause, denn er hätte nicht einschlafen können, obwohl er müde war. Er wäre am liebsten trotz seiner letzten vier Mark zwanzig in das Schelling-Kino gegangen, wenn dort der Tom Mix aufgetreten wäre, jener Wildwestmann, dem alles gelingt. Als er den das letzte Mal sah, überholte er gerade zu Pferd einen Expreßzug, sprang aus dem Sattel auf die Lokomotive, befreite seine Braut aus dem Schlafwagen, wo sie gerade ein heuchlerischer Brigant vergewaltigen wollte, erlegte zehn weitere Briganten, schlug zwanzig Briganten in die Flucht und wurde an der nächsten Station von seinem treuen Pferde und einem Priester erwartet, der die Trauung sofort vollzog.

Eugen liebt nämlich alle Vieher, besonders die Pferde. Wegen dieser Pferdeliebe wäre er im Krieg sogar fast vor das Kriegsgericht gekommen, weil er einem kleinen Pferdchen, dem ein Splitter zwei Hufe weggerissen hatte, den Gnadenschuß gab und durch diesen Gnadenschuß seine ganze Kompanie in ein fürchterliches Kreuzfeuer brachte. Damals fiel sogar ein Generalstabsoffizier.

Im Schelling-Kino gab man keinen Tom Mix, sondern ein Gesellschaftsdrama, die Tragödie einer jungen schönen Frau. Das war eine Millionärin, die Tochter eines Millionärs und die Gattin eines Millionärs. Beide Millionäre erfüllten ihr jeden Wunsch, jedoch trotzdem war die Millionärin sehr unglücklich. Man sah wie sie sich unglücklich stundenlang anzog, maniküren und pediküren ließ, wie sie unglücklich erster Klasse nach Indien fuhr, an der Riviera promenierte, in Baden-Baden lunchte, in Kalifornien einschlief und in Paris erwachte, wie sie unglücklich in der Opernloge saß, im Karneval tanzte und den Sekt verschmähte. Und sie wurde immer noch unglücklicher, weil sie sich einem eleganten jungen Millionärssohn, der sie dezent-sinnlich verehrte, nicht geben wollte. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als ins Wasser zu gehen, was sie denn auch im Ligurischen Meere tat. Man barg ihren unglücklichen Leichnam in Genua und all ihre Zofen, Lakaien und Chauffeure waren sehr unglücklich.

Es war ein sehr tragischer Film und er hatte nur eine lustige Episode: die Millionärin hatte nämlich eine Hilfszofe und diese Hilfszofe zog sich mal heimlich ein großes Abendkleid ihrer Herrin an und ging mit einem der Chauffeure groß aus. Aber der Chauffeur wußte nicht genau, wie die vornehme Welt Messer und Gabel hält und die beiden wurden als Bedienstete entlarvt und aus dem vornehmen Lokal gewiesen. Der Chauffeur bekam von einem der vornehmen Gäste noch eine tüchtige Ohrfeige und die Hilfszofe wurde von der unglücklichen Millionärin fristlos entlassen. Die Hilfszofe hat sehr geweint und der Chauffeur hat auch nicht gerade ein intelligentes Gesicht geschnitten. Es war sehr lustig.

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Es wurde immer später.

Eugen ging über den Lenbachplatz und vor den großen Hotels standen wunderbare Autos. In den Hotelgärten saßen lauter vornehme Menschen und ahnten nicht, daß sie aufreizend lächerlich wirken, sowie man mehrere ihrer Art beisammen sieht.

Auch die Kellner waren sehr vornehm und es war nicht das erste Mal, daß Eugen seinen Beruf haßte.

Er ging nun bereits seit dreiviertelsieben ununterbrochen hin und her und war voll Staub, draußen und drinnen. Er sagte sich: »Also wenn die Welt zusammenstürzt, dreißig Pfennig geb ich jetzt aus und trink ein Bier, weil ich mich auch schon gern setzen möcht.«

Die Welt stürzte nicht zusammen und Eugen betrat ein kleines Café in der Nähe des Sendlingertorplatzes. »Heute Künstlerkonzert« stand an der Türe und als Eugen sich setzte, fing ein Pianist an zu spielen, denn Eugen war der einzige Gast.

Es saß zwar noch eine Dame vor ihrer Limonade, aber die schien zum Café zu gehören und verschlang ein Magazin. Der Pianist spielte ein rheinisches Potpourri und Eugen las in der »Sonntagspost«, daß es den Arbeitslosen zu gut geht, sie könnten sich ja sogar ein Glas Bier leisten. Und in der Witzecke sah er eine arbeitslose Familie, die in einem riesigen Fasse am Isarstrand wohnte, sich sonnte, badete – und ihrem Radio lauschte.

Die Dame mit der Limonade hatte es gar nicht gehört, daß Eugen eintrat, so sehr war sie in ihr Magazin vertieft. Sie hätte sonst aufgehorcht, weil sie eine Prostituierte war, jedoch das Magazin war zu schön. Sie las und las:

Eine mehrwöchige Kreuzfahrt auf komfortabler Luxusjacht unter südlichem Himmel – –wer hätte nicht davon geträumt? Wochen des absoluten Nichtstuns liegen vor Dir, sonnige Tage und helle Nächte, es gibt kein Telefon, keine Verabredung, keine gesellschaftlichen Verpflichtungen. Die Begriffe »Zeit«, »Arbeit«, »Geld« entschwinden am Horizont wie verdunstende Wölkchen. Einladende Liegestühle stehen unter dem Sonnendeck, kühle Klubsessel erwarten Dich im Rauchzimmer, Radio und Bibliothek sind zur Hand, über Deine Sicherheit beruhigen sich dreißig tüchtige Matrosen, für Dein leibliches Wohl sorgt ein erstklassiger Barmixer. Nach dem Essen wird das Grammophon aufgezogen, oder eine der Damen spielt Klavier. Du tanzt mit Phyllis oder Dorothy, oder Du spielst ein bißchen Whist, um Dich bei den älteren Damen beliebt zu machen, im Spielzimmer hast Du Gelegenheit beim Poker oder Bakkarat zu verlieren. Oder aber Du lehnst mit einem blonden »Flapper« an der Reeling und führst Mondscheingespräche, während der Papa in einem wunderbar komfortablen Deckstuhl liegt und den Rauch seiner Henry Clay zu den Sternen hinaufbläst, gedankenvoll die nächste Transaktion überlegend.– – – – Nichts in der Welt gibt in diesem Maße das Gefühl dem Alltag entrückt zu sein.

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Eugen trank apathisch sein Bier und blätterte apathisch in der Zeitung. »Der Redner sprach formvollendet«, stand in der Zeitung, »Man war froh, wieder mal den Materialismus überwunden zu haben«– – da fühlte Eugen, daß ihn ein Mensch anstarrt.

Der Mensch war die Prostituierte.

Sie hatte ihr Magazin ausgelesen und Eugen entdeckt. »Guten Abend, Herr Reithofer!« sagte die Prostituierte. »Haben Sie mich denn vergessen? Ich bin doch – na Sie wissen doch, wer ich bin, Herr Reithofer!«

Er wußte es nicht, aber da sie ihn kannte, mußte er sie ja auch kennen. Sie setzte sich an seinen Tisch und sagte, das sei Zufall, daß sie sich hier getroffen haben, und über so einen Zufall könnte man einen ganzen Roman schreiben. Einen Roman mit lauter Fortsetzungen.

Sie las nämlich leidenschaftlich gern.

Sie hieß Margarethe Swoboda und war ein außereheliches Kind. Als sie geboren wurde, wäre sie fast gleich wieder gestorben.

Erdreistet man sich Gottes Tun nach den Gesetzen der Logik begreifen zu wollen, so wird man sich überzeugen müssen, daß damals Gott der Allgütige den Säugling Margarethe Swoboda ganz besonders geliebt haben mußte, denn er wollte ihn ja zu sich nehmen. Aber die geschickte Hebamme Frau Wohlmut aus Wiener-Neustadt schlug scharf über die göttlichen Finger, die Margarethchen erwürgen wollten. »Au!« zischte der liebe Gott und zog seine Krallen hurtig zurück, während die gottlose Hebamme meinte: »So Gott will, kommt das Wurm durch!«

Und Gott der Gerechte wurde ganz sentimental und seufzte: »Mein Gott, sind die Leut dumm! Als ob man es in einem bürgerlichen Zeitalter als außereheliches Kind gar so angenehm hätt! Na servus!«

50

Ursprünglich war Margarethe Swoboda, genau wie des Kastners Mutter, Verkäuferin in einer Konditorei.

In jener Konditorei verkehrten Gymnasiasten, Realschüler, Realgymnasiasten und höhere Töchter aus beschränkten Bürgerfamilien und böse alte Weiber, die Margarethe Swoboda gehässig hin und her hetzten, schikanierten und beschimpften, weil sie noch jung war.

Ein Gymnasiast, der Sohn eines sparsamen Regierungsrates, verliebte sich in sie und kaufte sich jeden Nachmittag um vier Uhr für fünf Pfennig Schokolade, nur um ihren Bewegungen schüchtern folgen zu können. Dann schrieb er mal während der Geographiestunde auf dem Rande der Karte des malayischen Archipels, was er alles mit ihr tun würde, falls er den Mut fände, ihr seine Liebe zu erklären. Hierbei wurde er von einem Studienrat ertappt, der Atlas wurde beschlagnahmt und nach genauer Prüfung durch ein Kollegium von Steißpaukern unter dem Vorsitz eines klerikalen Narren für unsittlich erklärt. Er flog aus der Schule und ist auf Befehl seines Vaters, eines bürokratischen Haustyrannen, in einer Besserungsanstalt verkommen.

Einmal ging er dort durch, knapp vor Weihnachten, aber der Polizeihund Cäsar von der Schmittenhöhe stellte ihn auf einem verschneiten Kartoffelacker und dann mußte er beichten und kommunizieren und dann verbleuten ihn drei Aufseher mit Lederriemen und ein blonder Katechet mit Stiftenkopf und frauenhaften Händen riß ihm fast die Ohren aus.

Margarethe Swoboda hörte davon und obzwar sie doch nichts dafür konnte, da sie ja seine Leidenschaft nie erkannt hatte, weil sie erst siebzehn Jahre alt und überhaupt geschlechtlich unterentwickelt war, fühlte sie sich dennoch schuldbewußt, als hätte sie zumindest jenen Cäsar von der Schmittenhöhe dressiert. Sie wollte fort.

Raus aus der Konditorei.

Sie sagte sich: »Ach, gäbs nur keine Schokolade, gäbs nur keine Gymnasiasten, es gibt halt keine Gerechtigkeit!« Und sie kaufte sich das Buch »Stenographie durch Selbstunterricht«. Nachts, nach ihrer täglichen vierzehnstündigen Arbeitszeit, erlernte sie heimlich Gabelsbergers System. Dann bot sie sich in der meistgelesensten Zeitung Österreichs als Privatsekretärin an. Nach drei Tagen kam folgender Brief:

Wertes Fräulein!

Teilen Sie mir Näheres über Ihren Busen und über Ihre sonstigen Formen mit. Wenn Sie einen schönen und vor allem festen Busen haben, kann ich Ihnen sofort höchst angenehme Stellen zu durchweg distinguierten Herren vermitteln. Auch möchte ich wissen, ob Sie einen Scherz verstehen und entsprechend zu erwidern im Stande sind. Hochachtungsvoll!

Die Unterschrift war unleserlich und darunter stand:

Vermittlerin mit prima Referenzen. Briefe wolle man unter Chiffre 8472 adressieren. Diskretion Ehrensache.

Diese »Diskretion Ehrensache« ist ein Sinnspruch im Wappen der Prostitution.

Seit es Götter und Menschen, Kaiser und Knechte, Herren und Hörige, Beichtväter und Beichtkinder, Adelige und Bürger, Aufsichtsräte und Arbeiter, Abteilungschefs und Verkäuferinnen, Familienväter und Dienstmädchen, Generaldirektoren und Privatsekretärinnen – – kurz: Herrscher und Beherrschte gibt, seit der Zeit gilt der Satz: »Im Anfang war die Prostitution!«

Und seit jener Zeit, da die Herrschenden erkannt hatten, daß es sich maskiert mit dem Idealismus eines gewissen Gekreuzigten, bedeutend erhebender, edler und belustigender rauben, morden und betrügen ließ – –seit also jener Gekreuzigte gepredigt hatte, daß auch das Weib eine dem Mann ebenbürtige Seele habe, seit dieser Zeit wird allgemein herumgetuschelt: »Diskretion Ehrensache!«

Wer wagt es also die heute herrschende Bourgeoisie anzuklagen, daß sie nicht nur die Arbeit, sondern auch das Verhältnis zwischen Mann und Weib der bemäntelnden Lügen und des erhabenen Selbstbetruges entblößt, indem sie schlicht die Frage stellt: »Na, was kostet schon die Liebe?«

Kann man ihr einen Vorwurf machen, weil sie dies im Bewußtsein ihrer wirtschaftlichen Macht der billigeren Buchführung wegen tut? Nein, das kann man nicht.

Die Bourgeoisie ist nämlich überaus ehrlich.

Sie spricht ihre Erkenntnis offen aus, daß die wahre Liebe zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten Prostitution ist. Daß die Ausgebeuteten unter sich auch ohne Prostitution lieben könnten, das bezweifelt die Bourgeoisie nicht, denn sie hält die Ausgebeuteten für noch dümmer, da sie sich ja sonst nicht ausbeuten ließen.

Die Bourgeoisie ist nämlich überaus intelligent.

Sie hat auch erkannt, daß es selbst unter Ausbeutern nur Ausbeutung gibt. Nämlich, daß die ganze Liebe nur eine Frage der kaufmännischen Intelligenz ist.

Kann man also die Bourgeoisie anklagen, weil sie alles auf den Besitzstandpunkt zurückführt?

Nein, das kann man nicht.

Und so bildete auch die Chiffre 8472 nur ein winziges Steinchen des Kolossalmosaiks in der Kuppel des kapitalistischen Venustempels.

Auch Margarethe Swoboda vernahm in jener Konditorei die Stimme: »Du wirst ihnen nicht entrinnen!«

»Wieso?« fragte Margarethe Swoboda, ließ den Brief fallen und lallte geistesabwesend vor sich hin: »Nein, das gibt es doch nicht, nein, das kann es doch nicht geben –« und die Stimme schloß schadenfroh: »Vielleicht, wenn du Glück hast! Wenn du Glück hast!«

51

Margarethe Swoboda hatte kein Glück. Zwar stand in ihrem Horoskop, daß sie eine glückliche Hand hat, nämlich was sie auch in die Hand nähme, würde gewissermaßen zu Gold. Nur vor dem April müsse sie sich hüten, das wäre ihr Unglücksmonat und was sie im April auch beginnen möge, das gelänge alles vorbei.

»Da dürft ich halt überhaupt nicht leben«, meinte Margarethe Swoboda, denn sie hatte im April Geburtstag.

Dies Horoskop stellte ihr die Klosettfrau des Lokals und behauptete, daß sie das Weltall genau kennt bis jenseits der Fixsterne. So hätte sie auch ihrem armen Pintscher Pepperl das Horoskop gestellt und in diesem Horoskop wäre gestanden, daß der arme Pepperl eines fürchterlichen Todes sterben wird. Und das traf ein, denn der arme Pepperl wurde von einem Bahnwärter aufgefressen, nachdem er von einem D-Zug überfahren worden war.

Die Klosettfrau hieß Regina Warzmeier und war bei allen Gästen sehr beliebt. Sie wußte immer Rat und Hilfe und alle nannten die liebe Frau »Großmama«.

Die Großmama muß mal sehr hübsch gewesen sein, denn es war allen Gästen bekannt, daß sich, als sie noch ein junges Ding war, ein polnischer Graf mit ihr eingelassen hatte. Dies ist ein österreichisch-ungarischer Gesandtschaftsattaché gewesen, ein routinierter Erotomane und zynisches Faultier, der sich mal zufällig auf der Reise nach seinen galizischen Gütern in München aufgehalten hatte.


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