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Am nächsten Morgen erzählte die Tante im Antiquariat ihrer einzigen Freundin, einer ehemaligen Schreibwarengeschäftsinhaberin und Kleinrentnerin, daß Agnes nun endlich eine Stellung bekommen hat. Sie werde von einem hochtalentierten Kunstmaler gemalt und dafür bezahlt und das habe ihr überraschend schnell der Herr Kastner verschafft. Das sei doch ein lieber braver Mensch und sie habe sich also in ihm getäuscht, sie hätte ja schon immer gesagt, daß er geschäftlich höchst unreell ist. Er betrüge sie nämlich und es sei kein Verlaß auf ihn. So habe er ihr Aktfotografien geliefert und sie hätte ihm doch gesagt, sie könnte mit diesen neumodischen Figuren nichts anfangen, das seien ja nur Knochen und die Herren mögen ja nur die volleren Damen, unterwachsen und mollig, auch ohne Bubikopf. Auch wenn die Herren so täten als liefen sie jeder Dürren nach, so sei das doch unnatürlich, denn die Herren fühlten im Grunde ihrer Seele altmodisch, aber heute würden sich die Herren schon gleich schämen, mit einer Dicken über die Straße zu gehen. Neulich habe ihr ein Herr von der Ortskrankenkasse erzählt, daß, wenn eine Üppige ein Restaurant betritt und da sitzen lauter Herren mit lauter mageren Damen, dann fingen alle Herren hinter der Üppigen her heimlich das Trenzen an.
Die Freundin meinte, es sei überhaupt Bruch mit dieser neuen Sinneslust, und sie schimpfte auf die neueingeführte Vierundzwanzigstundenzeit. Ihr Bruder sei Logenschließer im Nationaltheater und der sage auch immer, früher sei an so einer Julia noch was dran gewesen oder gar an der Desdemona, die hätte gleich einen Hintern gehabt wie ein Bräuroß, aber jetzt sähe die Desdemona direkt minderjährig aus und kein Theaterbesucher begreife den Othello, den Mohr von Venedig, daß er sich wegen so ein Krischperl so furchtbar aufregt. Es sei eine Sünde an den Klassikern. –
Diese ihre einzige Freundin hieß Afra Krumbier. Sie kannten sich schon von der Schule her, waren beide dreiundsechzig Jahre alt, und seit vier Jahren saß Afra den ganzen Tag in der Tante ihrem »Antiquariat«. Sie kramten gemeinsam die zerrissenen Bücher durch, lasen aufmerksam jede neuerschienene antiquarische Zeitschrift, machten sich gegenseitig auf originelle Zitate aufmerksam, durchdachten gar vielerlei, waren sehr neugierig und ziemlich abergläubig, verurteilten die Mädchen, die sich nackt fotografieren ließen, beschimpften und verfluchten die Polizei, die sich um etwas anderes kümmern sollte als um solche harmlose Aktaufnahmen, erinnerten sich der guten alten Militärmusik, verehrten den heiligen Antonius von Padua und interessierten sich für Fürstenstammbäume und alles Lebendige, besonders für Sexualprobleme, Darmtätigkeit und Kommunalpolitik.
Afra Krumbier war das Echo der Tante.
Wie die Tante hatte auch sie in der Inflation ihr kleines Geld verloren und hungerte nun als sogenannte Kleinrentnerin. Ihr einziger Trost war die Tante und ihr einziger Stolz, daß sie was von Politik versteht. Wäre sie als die Tochter eines Aufsichtsrates geboren worden, hätte auch sie einen politischen Salon geführt, hätte Reichsminister protegiert, Leitartikel geschrieben über die Baden-Badener Polospiele und die kulturellen Entwicklungsmöglichkeiten des Proletariats und hätte natürlich zugegeben, daß Lenin ein Säkularmensch war und daß der Marxismus Schiffbruch erlitten hat. So aber besuchte sie nur eifrig Wahlversammlungen und meldete sich sogar manchmal zur Diskussion. Dann waren die Angehörigen jener Partei, für die sie eintreten wollte, bestürzt, die Opposition begeistert und die Nichtwähler belustigt.
Sie wählte 1919 unabhängig sozialdemokratisch, 1920 deutsch-national, 1924 völkisch, 1925 bayerisch volksparteilich und 1928 sozialdemokratisch. Wie alle Kleinbürger zog sie infolge Denkunfähigkeit auch politisch verschrobene Schlüsse, hielt Gemeinplätze für ihre persönlichen Erkenntnisse und diese wieder nicht nur nicht für »graue Theorie«, sondern sogar für »Praxis«. Aber so einfältig war sie nun dennoch nicht, wie es der Freiherr von Aretin wünschte, der nach den Maiwahlen 1928 in den »Münchener Neueste Nachrichten« behauptet hatte, daß das niederbayerische Bauernweiblein nur in dem Glauben, daß der Kommunismus mit der heiligen Kommunion zusammenhängt, kommunistisch wählt. Und sie glaubte auch nicht, was in der »Münchener Zeitung« stand, daß nämlich die Herrschaft des Sozialismus eine Orgie der sieben Todsünden bedeutet. Sie besaß doch immerhin den unchristlichen Instinkt, ihre Mitbürger in »Großkopfete« und »anständige Menschen« einzuteilen.
Dieser Instinkt hatte sie auch mit ihrem einzigen Verwandten entzweit, dem Gatten ihrer verstorbenen Schwester, einem gewissen Studienrat Gustav Adolf Niemeyer aus der Schellingstraße.
Der hatte ihr seinerzeit, da sie von der unabhängigen Sozialdemokratie begeistert war, folgenden Brief gesandt:
An Afra Krumbier.
Weiber verstehen nichts von Politik. Das Maß ist voll.
Wir sind nicht mehr verwandt.
Gustav Adolf Niemeyer.
Dieser Studienrat hatte einen hoch aufgeschossenen Sohn mit einem etwas krummen Rücken, riesigen Händen und einer Brille. Er hieß ebenfalls Gustav Adolf und als er 1914, da der liebe Gott sprach: »Es werde Weltkrieg!« (und es geschah also und Gott sah, daß er gut getan), einrücken mußte, wollte er gerade Chemie studieren und sagte: »Meiner Meinung nach hat die Chemie Zukunft.« Die Horizonte waren rot von den Flammen der brennenden Dörfer und Wälder, rund zwölf Millionen Menschen wurden zerstückelt und über das Leben kroch das Gas. Es war Hausse in Prothesen und Baisse in Brot. Immer mehr glich die Erde dem Monde.
Der Studienrat sammelte Kriegspostkarten, Kriegsmedaillen, Kriegsbriefmarken, Kriegsscherzartikel und nachts kratzte er diebisch die Kriegsberichte von den Anschlagsäulen.
Weihnachten kam, das Fest der Liebe, und die deutschen Leitartikel huldigten dem deutschen Christkind, die französischen dem französischen Christkind, es gab auch eine österreichische Madonna, eine ungarische, englische, belgische, liechtensteinische, bayerische. Alle diese Madonnen waren sich feindlich gesinnt und gar zahlreiche Heilige übernahmen Ehrenprotektorate über schwere und leichte Artillerie, Flammenwerfer und Tanks.
1915 fiel Gustav Adolf junior in Flandern und Gustav Adolf senior verfaßte folgende Trauernotiz: »Es widerfuhr mir die große Freude, den einzigen Sohn auf dem Altar des Vaterlandes geopfert zu haben.« Und er lächelte: »Wenn das die Mutter noch erlebt hätte!«
Dem einzigen Sohn widerfuhr allerdings weniger Freude über sein Opfer. Von einem spanischen Reiter aufgespießt, brüllte er vier Stunden lang auf dem Altar des Vaterlandes. Dann wurde er heiser und starb.
Sein Feld der Ehre war ein Pfahl der Ehre, der ihm die Gedärme ehrenvoll heraustrieb.
Als eitler Rohling schritt der vaterländische Vater stolz und dumm durch die Schellingstraße und bildete sich ein, die Leute wichen ihm aus, man sehe es ihm direkt an, daß sein einziger Sohn in Flandern gefallen ist. Ja, er plante sogar, sich selbst freiwillig zu opfern, jedoch dies vereitelten Bismarcks Worte, die er abgöttisch liebte: »Den Krieg gewinnen die deutschen Schulmeister.«
Aber es kam bekanntlich anders. Am Ende ihrer Kraft brachen die Mittelmächte zusammen und fassungslos stammelte Gustav Adolf senior: »Aber die Pazifisten können doch nicht recht haben, denn warum ist denn dann mein Sohn gefallen?«
Erst anläßlich des Versailler Diktates atmete er auf. Nun konnte er es sich ja wieder beweisen, daß die Pazifisten nicht recht haben und daß also sein Sohn nicht umsonst gefallen ist.
Als Liebknecht und Luxemburg ermordet wurden, wurde es ihm klar, daß das deutsche Volk seine Ehre verloren hat und daß es selbe nur dann wiedererringen kann, wenn abermals zwei Millionen junger deutscher Männer fallen. Als Kurt Eisner ermordet wurde, hing er die Fotografie seines Mörders neben jene seines Sohnes.
Als Gustav Landauer ermordet wurde, stellte er fest: »Die Ordnung steht rechts!«
Als Gareis ermordet wurde, macht er einen Ausflug in das Isartal und zwischen Grünwald und Großhesselohe sagte er dreimal: »Deutsche Erde!«
Als Erzberger ermordet wurde, betrat er seit langer Zeit wiedermal ein Biercabaret am Sendlingertorplatz. Dort sang ein allseits beliebter Komiker den Refrain: »Gott erhalte Rathenau, Erzberger hat er schon erhalten!« Es war sehr komisch.
Als Rathenau ermordet wurde, traf er einen allseits beliebten Universitätsprofessor, der meinte: »Gottlob, einer weniger!«
Als Haase ermordet wurde, ging er in die Oper und prophezeite in der Pause: »Das Volk steht auf, der Sturm bricht los!«
Und der Sturm brach los, das »Volk« stand auf und warf sich auf dem Münchener Odeonsplatz auf den Bauch. Da wurde es windstill in des Schulmeisters Seele.
Geistig gebrochen, doch körperlich aufrecht ließ er sich von der Republik pensionieren, witterte überall okkulte Mächte und haßte die Gewerkschaften.
Er wurde Spiritist. Als er aber entdeckte, daß es auch unter den Jüdinnen Spiritistinnen gibt, wandte er sich ab vom Spiritismus.
Er fürchtete weder Frankreich, noch die Tschechoslowakei, nur die Freimaurer. Genau so, wie einst seine Urgroßmutter die Preußen gefürchtet hatte. Die war an Verfolgungswahn erkrankt und hatte geglaubt, jeder Preuße hätte an seinem linken Fuße vierzehn Zehen.
Von Tag zu Tag sah er seiner Urgroßmutter ähnlicher.
Er vertiefte sich in seine abgekratzten Kriegsberichte und wollte es unbedingt ergründen, wieso wir den Krieg verloren haben, obwohl wir ihn nicht verloren haben. Und seine einzige Freude waren seine gesammelten Kriegsscherzartikel.
Das war Afra Krumbiers Schwager.
Sie hatte ihn nie recht gemocht, denn seit ihre verstorbene Schwester Frau Studienrat geworden war, hatte sie angefangen Afra von oben herab zu behandeln, weil Afra in ihrer Jugend nur mit einem Kanzleibeamten verlobt gewesen war, der sie obendrein auch noch sitzen gelassen hatte, weil er defraudiert hatte und durchgebrannt war.
Und seit nun Afra im Antiquariat der Tante sozusagen lebte, vergaß sie ihren Schwager fast ganz, so sehr konzentrierten sich die Tante und sie aufeinander. Diese Konzentration war sogar so stark, daß die beiden Alten es oft selbst nicht mehr zu wissen schienen, wessen Nichte Agnes ist.
So fragte auch heute wieder Afra die Tante, welcher Kunstmaler sich die Agnes als Modell gewählt hätte, ob er eine Berühmtheit sei oder eine Null, ob noch jung oder schon älter, ob verheiratet, verwitwet, geschieden oder ob er so im Konkubinat dahinlebe, wie das bei den Kunstmalern meistens der Fall sei.
Die Tante meinte, sie kenne den Kunstmaler nicht persönlich, er wohne zwar nicht weit von hier und sie höre nur Gutes über ihn, zwar habe sie nur gehört, daß er Achner heißt, aber auf die Kunstmaler sei kein Verlaß, und sie habe es der Agnes auch schon erklärt, daß sie sich ja nicht unterstehen soll bei künstlichem Lichte als Modell herumzustehen. Bei künstlichem Lichte könne nämlich kein Kunstmaler malen und dann noch Modell stehen; das sei eine Schweinerei. Sie kenne nämlich mehrere Modelle, die beim künstlichen Licht Kinder bekommen hätten, und so Künstler schwörten gerne ab, besonders Kunstmaler.
Und die Krumbier erwiderte, das sei schon sehr wahr, aber es gebe auch korrekte Kunstmaler. So kenne sie eine Konkubine, die dürfe heute sechzig Jahre alt sein und lebe noch immer mit ihrem Kunstmaler zusammen. Der sei zwar erst fünfunddreißig Jahre alt und habe noch nie ein Bild verkauft, aber das könne ihm sauwurscht sein, denn jene Konkubine habe Geld.
Die Tante wollte gerade erklären, daß die Kunstmaler solch ein Konkubinat »freie Liebe« nennen, weil es nicht wie eine bürgerliche Ehe auf Geld aufgebaut sei – da betrat ein Kunde das »Antiquariat«, der hochwürdige Herr Religionslehrer Joseph Heinzmann.
Hochwürden waren sehr sittenstreng und hatte eine schmutzige Phantasie. Nicht umsonst hatte das Christentum zweitausend Jahre lang die Gültigkeit des Geschlechtstriebes bezweifelt.
Einmal verbot dieser fromme Religionslehrer einem achtjährigen Mädchen, mit nackten Oberarmen in der Schulbank zu sitzen, denn das sei verderblich. Aber am nächsten Sonntag in der Sakristei setze ihm deren Vater, ein Feinmechaniker aus der Schellingstraße, auseinander, daß er doch nicht hinschauen soll, wenn er eine solche Sau sei und daß er durch einen überaus glücklichen Zufall erfahren habe, daß Hochwürden gern gar oft ein sauberes »Antiquariat« in der Schellingstraße besuche, um sich dort an den Fotografien nackter Weiber zu ergötzen. Und der hochwürdige Herr erwiderte, das sei eine gewaltige Verleumdung; wohl besuche er des öfteren jenes »Antiquariat« in der Schellingstraße, aber nur, um sich Heiligenbildchen zu kaufen, die dort sehr preiswert wären und die er dann unter seine Lieblingsschülerinnen verteile. Und er lächelte scheinheilig und meinte noch, der Herr Feinmechaniker solle nur ja nicht verleumden, denn das wäre keine läßliche Sünde. Aber der Herr Feinmechaniker sagte, er scheiße auf alle läßlichen und unerläßlichen Sünden, und er wiederholte, daß jenes »Antiquariat« Hochwürden allerdings leicht verderblich werden könnte, falls sich Hochwürden nur noch einmal erfrechen sollte, sich über die nackten Oberarme seiner achtjährigen Tochter aufzuregen. »Nun, nun, nun« antwortete Hochwürden gekränkt, nämlich er begann jeden Satz mit dem Wörtchen »nun« und diesmal fiel ihm kein Satz ein, denn der Feinmechaniker hatte recht und Hochwürden ließ ihn entrüstet stehen. –
Seit dieser Unterredung besuchte dieser heilige Geselle nur ab und zu die Tante, denn er war nicht nur schlau, sondern auch feig. Die Tante hatte ihn bereits drei Wochen lang nicht gesehen und als er jetzt den Laden betrat, hub er gleich an zu lügen:
»Nun, ich habe es Euch doch schon des öfteren aufgetragen, gute Frau, daß Ihr in die Auslage nicht diese obszönen Nuditäten hängen sollt, wie dieses ›Vor dem Spiegel‹ oder jenes schamlose ›Weib auf dem Pantherfell‹. Welchen Samen streuen solche Schandbilder in die Seele unserer heranreifenden Jugend!«
»Das sind doch keine Schandbilder, das sind doch nur Fotografien!« ärgerte sich die Tante. »Das kauft sich keine heranreifende Jugend nicht, das kaufn sich nur die heranreifendn Kunstmaler, das habn die nämlich zur Kunst nötig.«
Hochwürden trat an den Bücherständer, durchstöberte den verstaubten Kram, und die Tante knurrte bloß: »Nun, ich kenn schon deine Irrlehren, alter Sünder, ganz ausgschamter!«
»Nun, gute Frau, die Kunst ist göttlichen Ursprungs, aber heute fotografiert der Satan. Nun, wollen wir mal sehen, ob Ihr etwas Neues bekommen habt, oder? Nun, habt Ihr noch das Büchlein über die gnostischen Irrlehren? Nun, Ihr wißt doch, wie sehr wir uns für Irrlehren interessieren.«
Sie haßte ihn nämlich, denn auch er gehörte zu jenen Kunden, die sich alle Wochen tausend Weiber »auf dem Pantherfell, vor dem Spiegel« betrachten und sich dann keine einzige kaufen, sondern sich nur höflich bedanken und sagen: »Ja, wissen Sie, das ist doch nicht das, was ich zur Kunst benötige. Ich benötige eine große schlanke Blondine, aber die hier sind schwarz, braun, rot, zu blond und entweder zu groß, zu klein, zu dick, zu dünn oder zu teuer. Die können wir armen heranreifenden Künstler uns nicht leisten.« –
Und während die Krumbier leise der Tante von den abscheulichen Verbrechen der Jesuiten in Mexiko, Bolivien und Peru erzählte, entzifferte Hochwürden Buchtitel: »Aus dem Liebesleben der Sizilianerinnen. – Sind Brünette grausam? – Selbstbekenntnisse einer Dirne. – Selbstbekenntnisse zweier Dirnen. – Selbstbekenntnisse dreier Dirnen. – Fort mit den lästigen Sommersprossen! – Die unerbittliche Jungfrau. – Gibt es semitische Huren? – Sadismus, Masochismus und Hypnose. – Marianischer Kalender. – Unser Österreich-ungarischer Bundesgenosse. – Abtreibung und Talmud. – Wie bist Du, Weib? – Quo vadis, Weib? – Sphinx Weib. – Wer bist Du, Weib? – Wer seid Ihr, Weiber?«
Und Hochwürden seufzte wie ein alter Hirsch und blätterte benommen in dem Werke »Tugend oder Laster?« und sein Blick blieb an der Stelle kleben: »Der Coitus interruptus ist auf dem Seewege von den Griechen zu den Juden gekommen.« Erschüttert über solch unzüchtige Erforschung des antiken Transportwesens, legte er behutsam das Buch auf eine Darstellung der Leda, schwitzte wie ein Bär und starrte sinnierend vor sich hin.
Vor ihm lagen zwei Weiber auf je einem Pantherfell. »Apropos, wie geht es der lieben Nichte?« wandte er sich an die Tante. »Nun, das ist ein hübsches Kind, das sich hoffentlich niemals auf einem Pantherfell fotografieren lassen wird; die Welt ist unsittlich, gute Frau, und ich las jetzt soeben im Marianischen Kalender, daß der Agnestag am 21. Januar ist. Nun, die Geschichte der heiligen Agnes ist erbaulich, ihr Sinnbild ist das Lamm. Nun, die heilige Agnes war eine schöne römische Christin und weil sie die Ehe mit einem vornehmen heidnischen Jüngling ausschlug, wurde sie in ein öffentliches Haus gebracht, blieb aber auch da mit einem Heiligenschein versehen, unversehrt auf ihrem Lotterbett. Nun, als endlich aber ihr Bräutigam ihr Gewalt antun wollte, erblindete er, wurde aber auf ihre Fürbitte hin wieder sehend. Nun, dennoch wurde sie zum Feuertod verurteilt, und weil sie die Flammen nicht verbrennen konnten, hat man sie enthauptet. Nun, das von dem Blindwerden fällt mir ein, wenn ich diese Schamlosigkeit auf den Pantherfellen hier erblicke. Nun, übrigens ich muß nun gehen. Nun, also behüt Euch Gott, liebe Frau, – die Welt ist verroht, aber Gottes Mühlen mahlen langsam.«
Er ging.
Und die Tante sagte: »Nun, das ist ein ganz hintervotziger Hund. Jedesmal bevor er rausgeht, erzählt er irgend so ein Schmarrn, damits nicht so auffällt, daß er sich nie was kauft.«
Und die Krumbier meinte, auch ihre Schutzheilige, die heilige Afra, sei seinerzeit dem Venusdienst geweiht worden auf der Insel Zypern, aber eines Tages sei der heilige Bischof Narzissus in jenes Freudenhaus gekommen und hätte dort die heilige Afra und ihre Mutter samt deren Dienerinnen getauft und jetzt ruhe Afras heiliger Leib in der Kirche von St. Ulrich in Augsburg.
Die Tante brummte nur, es sei schon merkwürdig, daß so viele Heilige aus Freudenhäusern stammen.
Aber die Krumbier meinte, man könne auch die Freudenmädchen nicht so ohne weiteres verdammen. So habe sie eine Bekannte gehabt, bei der hätten nur Huren gewohnt, doch die wären peinlich pünktlich mit der Miete gewesen und hätten die Möbel schon sehr geschont, sauber und akkurat. Sie hätten sich ihre Zimmer direkt mit Liebe eingerichtet und nie ein unfeines Wort gebraucht. –
Als jener gesalbte Lüstling im Antiquariat über die heilige Agnes sprach, betrat Agnes Pollinger den fünften Stock des Hauses Schellingstraße 104 und stand nun vor dem Atelier Arthur Maria Lachners. »Akademischer Kunstmaler« las sie auf dem Schilde unter seinem schönen Namen.
Und darunter hing ein Zettel mit der Überschrift: »Raum für Mitteilungen, falls nicht zuhause« und da stand: »Wir sind um zwo im Stefani. Schachmatt. – Sie kommt, ich erscheine um achtzehn Uhr. Kastner. – War gestern Abend da, Blödian. Erwarte mich. Rembrandt. – –Was macht mein Edgar Allan Poe III. Band? Du weißt schon. – Kann Dir mitteilen, daß ich nicht kann. Elly. – Bin Mittwoch fünf Uhr Nachmittag da. Gruß Priegler.« Und diese Mitteilungen umgaben auf dem Rande des Zettels lauter einzelne Worte, wie eine Girlande. Es waren meist Schmähworte, wie: »Bruch, Aff, Mist, Trottel, Arsch, Rindvieh, Gauner, Hund« usw.
Neben dem Zettel erblickte Agnes eine kurze Schnur, an deren Ende ursprünglich ein Bleistift befestigt worden war, aber dieser Bleistift ist wieder mal geklaut worden, und nun hing die arme Schnur nur so irgendwie herunter, mürrisch, einsam und erniedrigt, ohne Zweck und ohne Sinn. Sie hatte ihre Daseinsberechtigung verloren und ihre einzige Hoffnung war ein neuer Bleistift. Sie wußte ja noch nicht, daß ihr Herr, der Lachner, bereits beschlossen hatte, nie wieder einen Bleistift vor seine Tür zu hängen. Die Schnur kannte den Dieb, sie wußte, daß er Kastner hieß, und es quasselte die Schnur, daß keine Behörde ihre Anklagen zu Protokoll nahm. –
Agnes wollte läuten, aber neben der Klingel hing ebenfalls ein Zettel: »Glocke ruiniert, bitte sehr stark gen die Pforte zu pochen. AML.«
Und Agnes erriet, daß diese drei Buchstaben »Arthur Maria Lachner« bedeuten und sie pochte sehr stark gegen die Pforte.
Sie hörte wie jemand rasch und elastisch einen langen Korridor entlang schritt und sie war überzeugt, daß dieser lange Korridor stockfinster ist, obwohl sie ihn ja noch nie gesehen hatte.
Ein Herr in Pullover und Segelschuhen öffnete: »Ach, Sie sind doch wahrscheinlich das Modell? Je nun, Sie kommen gerade recht, ich bin AML und Sie heißen doch Pollinger, nicht? Alors, erlauben Sie, daß ich vorausgehe, der Korridor ist nämlich leider stockfinster. Bitte, nach mir.«
Und Agnes war befriedigt, daß sie es erraten, daß der Korridor stockfinster ist. – –
Das Atelier hingegen war hell und groß, die Sonne brannte durch die hohe Glasscheibe und Agnes dachte, hier muß es auch im strengsten Winter mollig warm sein; wenn nur auch im Winter die Sonne so scheinen würde wie im Sommer. Dann dürfte es ruhig schneien.
Links an der Wand lehnte ein kleiner eiserner Herd. Auf ihm standen Bierflaschen, Teetassen, ein Teller, zwei verbogene Löffel, ein ungereinigter Rasierapparat und die Briefe Vincent van Goghs in Halbleinen. Hinter einer spanischen Wand lag ein Grammophon in einem unüberzogenen Bette und rechts im Hintergrund thronte ein Buddha auf einer Kiste, die mysteriös bemalt war. An den Wänden hingen Reproduktionen von Greco und Bayros und drei Originalporträts phantastischer indischer Göttinnen von AML. Die Staffelei wartete vor einem kleinen Podium, auf dem sich ein altes durchdrücktes Sofa zu schämen schien. Es roch nach Ölfarben, Sauerkohl und englischen Zigaretten.
Und AML sprach:
»Wie, Sie heißen Agnes? Ich war einst mit einer Agnes befreundet, die schrieb die entzückendsten Märchen, so irgendwie feine zarte in der Farbe. Sie war die Gattin unseres Botschafters in der Tschechoslowakei. Sie haben Sie gekannt? Nein? Sehr schade, da haben Sie wirklich etwas versäumt! Ich bin auch mit dem Botschafter befreundet, ich habe ihn porträtiert und das Bild hängt nun in der Nationalgalerie in Berlin. Kennen Sie Berlin? Nein? Sehr schade, da haben Sie wirklich etwas versäumt! Als ich das letze Mal in Berlin war, traf ich Unter den Linden meinen Freund, den Botschafter in der Tschechoslowakei. Sie kennen doch die Tschechoslowakei? Nein? Ich auch nicht. Sehr schade, da haben Sie wirklich etwas versäumt.«
Und dann sprach er über die alte Stadt Prag und erwähnte so nebenbei den Golem. Und er meinte, er sei nun auf die tschechoslowakischen Juden zu sprechen gekommen, weil seine Großmutter Argentinierin gewesen wäre, eine leidenschaftliche Portugiesin, die man einst in Bremen wegen ihrer schwarzen Glutaugen leider für eine Israelitin gehalten hätte – und er unterbrach sich selbst ungeduldig; er wolle nun tatsächlich nicht über die südamerikanischen Pampas plaudern, sondern über sich, seine Sendung und seine Arbeitsart. Der Kastner würde es ihr ja wahrscheinlich schon mitgeteilt haben, daß er sie im Auftrag eines Düsseldorfer Generaldirektors als Hetäre im Opiumrausch malen muß.
So benannte AML einen Viehhändler aus Kempten zum Generaldirektor in Düsseldorf und Agnes wurde stutzig: der Kastner hätte ihr doch gesagt, daß sie im Auftrage des hessischen Freistaates als Hetäre im Opiumrausch gemalt werden würde.
Doch AML lächelte nur und log: der Kastner hätte sich versprochen, denn im Auftrage des hessischen Freistaates müßte er eine Madonna schaffen. Aber dazu benötige er ein demivièrge Modell mit einem wissenden Zug um den unbefleckten Mund. Er sei sich ja bewußt, daß er nicht das richtige Verhältnis zur Muttergottes besitze, und er führte Agnes vor den Buddha auf der Kiste.
Das sei sein Hausaltar, erklärte er ihr. Sein Gott sei nicht gekreuzigt worden, sondern hätte nur ständig seinen Nabel betrachtet und dieser Erlöser nenne sich Buddha. Er selbst sei nämlich Buddhist. Auch er würde regelmäßig meditieren, zur vorgeschriebenen Zeit die vorschriftsmäßigen Gebete und Gebärden verrichten und wenn er seiner Eingebung folgen dürfte, würde er die Madonna mit sechs Armen, zwölf Beinen, achtzehn Brüsten und drei Köpfen malen. Aber das Interessanteste an ihm sei, daß er trotz der buddhistischen Askese Sinn für Hetären im Opiumrausch habe, das sei eben sein Zwiespalt, er habe ja auch zwei verschiedene Gesichtshälften. Und er zeigte ihr sein Selbstporträt. Das sah aus, als hätte er links eine gewaltige Ohrfeige bekommen.
»Die ungemeine Ausprägung der linken Gesichtshälfte ist ein Merkmal der Invertiertheit«, konstatierte er. »Alle großen Männer waren invertiert. Auch Oscar Wilde.« Neuerdings nämlich überraschte sich AML bei Erregungen homosexueller Art. Als korrekter Hypochonder belauerte er auch seinen Trieb.
Und Agnes betrachtete Buddhas Nabel und dachte, das wäre bloß ein Schmeerbauch, und wenn der Buddhist noch nicht blöd sein sollte, so würde er bald verblöden, so intelligent sei er.
Agnes trat hinter die spanische Wand. »Ziehen Sie sich nur ruhig aus«, vernahm sie des Buddhisten Stimme und hörte, wie er sich eine Zigarette anzündete. »Es ist bekannt, daß sich das erste Mal eine gewisse Scheu einstellt. Sie sind doch kein Berufsmodell. Jedoch nur keine falsche Scham! Wir alle opfern auf dem Altare der Kunst und ohne Schamlosigkeit geht das eben nicht, sagt Frank Wedekind.«
Agnes fand es höchst überflüssig, daß er sich verpflichtet fühlte, ihr das Entkleiden zu erleichtern, denn sie dachte sich ja nichts dabei, da es ihr bekannt war, daß sie gut gebaut ist.
Einmal wurde sie von der Tante erwischt, wie sie sich gerade Umfang und Länge ihres Oberschenkels maß, nämlich in der Sonntagsbeilage standen die genauen Maße der amerikanischen Schönheitskönigin Miss Virginia und die Redaktion der Sonntagsbeilage versprach derjenigen Münchnerin hundert Mark, deren Körperteile genau die selben Maße aufweisen konnte. Die Tante behauptete natürlich, das wären wahrscheinlich die Maße eines Menschenaffen und Agnes täte bedeutend klüger, wenn sie auf das Arbeitsamt in der Thalkirchner Straße ginge, statt sich von oben bis unten abzumessen, wie eine Badhur und sie fragte sie noch, ob sie sich denn überhaupt nicht mehr schäme. Agnes dachte sich nur, wenn sie der Tante ihre Maße hätte, dann würde sie sich allerdings schämen und freute sich, daß sie genau so gebaut ist wie Miss Virginia. Nur mit dem Busen, dem Unterarm und den Ohren klappte es nicht so ganz genau, aber sie beschwindelte sich selbst und war überzeugt, das könne bei der Verteilung der hundert Mark keinerlei Rolle spielen. Aber es spielte eine Rolle und die hundert Mark gewann ein gewisses Fräulein Koeck aus der Blumenstraße und in der nächsten Sonntagsbeilage protestierte dagegen ein Kaufmann aus der Thierschstraße, weil die Hüfte seiner Gattin nur um einen knappen Zentimeter breiter wäre, als die Hüfte der Schönheitskönigin und Fräulein Koeck hätte doch hingegen um einen ganzen halben Zentimeter dünnere Oberschenkel und um zwo Zentimeter längere Finger. Auch ein Turnlehrer aus der Theresienstraße protestierte und schrieb, man müsse überhaupt betreffs Hüften die Eigenart des altbayerischen Menschenschlages gebührender berücksichtigen, und es gäbe doch gottlob noch unterschiedliche Rassenmerkmale. Und Agnes dachte, es gibt halt keine Gerechtigkeit.
Damals schlug ihr dann der Kastner vor, ob er sie als künstlerischen Akt fotografieren dürfe, aber sie müsse sich vorher noch so ein Lächeln wie die Hollywooder Stars antrainieren. Sie ließ sich zwar nicht fotografieren, versuchte aber vor dem Spiegel das Hollywooder Lächeln zu erlernen, fing jedoch plötzlich an Grimassen zu schneiden und erschrak derart über ihr eigenes Gesicht, daß sie entsetzt davonlief.
Aber der Kastner ließ nicht locker und noch vor zehn Tagen, als er mit ihr am Ammersee badete, versuchte er sie zu fotografieren. Er erzählte ihr, daß in Schweden alles ohne Trikot badet, denn das Trikot reize die Phantasie, ohne sie zu befriedigen und das wäre ungesund. Hier mengte sich ein fremder Badegast in das Gespräch und sagte, er wäre Schwede und er fragte Agnes, ob sie nicht mit ihm Familienkunde treiben wolle, maßen sie einen Langschädel habe und blau und blond sei; jedoch der Kastner wurde sehr böse und log, er selbst sei ebenfalls Schwede, worauf jener Schwede sehr verlegen wurde und kleinlaut hinzufügte, er wäre allerdings nur ein geborener Schwede, aber Privatgelehrter. –
Dieser geborene schwedische Privatgelehrte fiel nun Agnes plötzlich ein, weil AML sagte: »In Schweden badet alles ohne Trikot. Lassen Sie die Strümpfe an! Ein weiblicher Akt mit Strümpfen wirkt bekanntlich erotisierender. Meine Hetäre trägt Strümpfe! Ich will die Hetäre mit Strümpfen erschaffen, mit Pagenstrümpfen! Eine Hetäre ohne Pagenstrümpfe ist, wie –« Er stockte, denn es fiel ihm kein Vergleich ein, und er ärgerte sich darüber und fuhr rasch fort: »Ich las gestern eine pittoreske Novelle von –« Er stockte wieder, denn es fiel ihm kein Novellist ein und legte wütend los: »Vorgestern habe ich mich rasiert und da habe ich mich furchtbar geschnitten und heute habe ich mich wieder rasiert und habe mich nicht geschnitten! Kennen Sie die Psychoanalyse? Es ist alles Symbol, das stimmt. Wir denken symbolisch, wir können nur zweideutig denken. Zum Beispiel: das Bett. Wenn wir an ein Bett denken, so ist das ein Symbol für das Bett. Verstehen Sie mich? Ich freue mich nur, daß Sie kein Berufsmodell sind. Ich hasse das Schema, ich benötige Individualität! Ich bin nämlich krasser Individualist, hinter mir steht keine Masse, auch ich gehöre zu jener ›unsichtbaren Loge‹ wahrer Geister, die sich über ihre Zeit erhoben und über die gestern in den ›Neuesten‹ ein fabelhaftes Feuilleton stand!«
Und während Agnes ihr Hemd auf das Grammophon legte, verdammte er den Kollektivismus.
Manchmal schwätzte AML als wäre er ein Schwätzer. Aber er schwätzte ja nur aus Angst vor einem gewissen Gedanken.–
Sein Vater war Tischlermeister gewesen und AML hatte zu Hause nie ein böses Wort gehört. Er erinnerte sich seiner Eltern als ehrlicher arbeitsamer Menschen und manchmal träumte er von seiner Mutter, einer rundlichen Frau mit guten großen Augen und fettigem Haar. Es war alles so schön zu Hause gewesen und zufrieden. Es ist gut gekocht und gern gegessen worden und heute schien es AML, als hätten auch seine Eltern an das Christkind geglaubt und den Weihnachtsmann. Und manchmal mußte AML denken, ob er nicht auch lieber Tischlermeister geworden wäre mit einem Kind und einer rundlichen Frau mit guten großen Augen und fettigem Haar.
Dieser Gedanke drohte ihn zu erschlagen.
Und um nicht erschlagen zu werden, verkroch er sich vor jedem seiner Gedanken. Wenn er allein im Atelier saß, sprach er laut mit sich selbst, nur um nichts denken zu müssen. Oder er ließ das Grammophon spielen, rezitierte Gedichte, pfiff Gassenhauer und manchmal schrieb er sich sogar selbst Nachrichten auf den Zettel mit der Überschrift: »Raum für Mitteilungen, falls nicht zu Hause.«
Er tat, wie die Chinesen tun, die überall hin Glöcklein hängen, um die bösen Geister zu verscheuchen. Denn die bösen Geister fürchten auch das feinste Geräusch und glotzen uns nur in der Stille an.
Er haßte die Stille.
Etwas in seinem Wesen erinnerte an seinen verstorbenen Onkel August Meinzinger in Graz. Der sammelte Spitzen, hatte lange schmale Ohren und saß oft stundenlang auf Kinderspielplätzen.
Er war ein alter Herr und in seinem Magen wuchs ein Geschwür. Er mußte auf seine Lieblingsknödel verzichten, wurde boshaft und bigott, bedauerte kein Mönch geworden zu sein, las Bücher über die Folterwerkzeuge der Hölle und nahm sich vor, rechtschaffene Taten zu vollbringen; denn er hatte solche Angst vor dem Tode, daß er sich beschiß, wenn er eine Sense sah. Die Hölle, das Magengeschwür und die entschwundenen Lieblingsknödel beunruhigten seine Phantasie.
Einst als AML vier Jahre alt wurde, besuchte Onkel August München. Und da es dämmerte, schlich er an AMLs Bettchen und kniff ihn heimlich blau und grün, weil er eingeschlafen war, ohne gebetet zu haben. Er schilderte ihm die Qualen der Hölle und zitterte dabei vor dem jüngsten Gericht wie ein verprügelter Rattler. Der kleine AML hörte ihm mit runden Augen zu, fing plötzlich an zu weinen und betete. Er wußte zwar nicht, was er daherplapperte und hätte es auch gar nicht begriffen, daß er ein sündiger Mensch ist. Seine Sünden bestanden damals lediglich darin, daß er mit ungewaschenen Händchen in die Butter griff, was ihm wohltat, daß er verzweifelte, wenn der Kaminkehrer kam, in der Nase bohrte und daran lutschte, sich des öfteren bemachte, in den Milchreis rotzte und den Pintscher Pepperl auf den Hintern küßte. Und als AML in die Schule kam, verschied der Onkel August in Graz nach einem fürchterlichen Todeskampfe. Er röchelte zehn Stunden lang, redete wirres Zeug daher und brüllte immer wieder los: »Lüge! Lüge! Ich kenn kein kleines Mizzilein, ich hab nie Bonbons bei mir, ich hab kein Mizzilein in den Kanal gestoßen, Mizzilein ist von selbst ertrunken, allein! Allein! Ich hab ja nur an den Wädelchen getätschelt, den Kniekehlchen! Meine Herren, ich hab nie Bonbons bei mir!« Und dann schlug er wild um sich und heulte: »Auf dem Diwan sitzt der Satan! Auf dem Diwan sitzt noch ein Satan!« Dann wimmerte er, eine Straßenbahn überfahre ihn mit Rädern wie Rasiermesser. Und seine letzten Worte lauteten: »Es ist strengstens verboten mit dem Wagenführer zu sprechen!«
Und des Onkels Seele schwebte himmelwärts aus der steiermärkischen Stadt Graz und mit seinem Geld wurde der Altar einer geräderten heiligen Märtyrerin renoviert und ihr gekröntes Skelett neu vergoldet, denn August Meinzinger hatte tatsächlich sein ganzes Vermögen aus rücksichtsloser Angst vor dem höllischen Schlund in jenen der alleinseligmachenden Kirche geworfen.
Nur seinem Neffen AML hatte er ein silbernes Kruzifixlein hinerlassen, welches dieser fünfzehn Jahre später, 1913, im Versatzamt verfallen ließ, denn er benötigte das Geld für die Behandlung seines haushohen Trippers.
Und kaum war er geheilt, brach der Weltkrieg aus. Er wurde Pionier, bekam in Belgrad das eiserne Kreuz und in Warschau seinen zweiten Tripper.
Und kaum war er geheilt, brach Deutschland zusammen. Und während die Menschen, die weitergehen wollten, erschossen wurden, bekam er seinen dritten Tripper.
Und kaum war er geheilt, trat in Weimar die Nationalversammlung zusammen. Er wurde beherrscht und schwor, sich offiziell zu verloben, um seinen Geschlechtsverkehr gefahrlos gestalten zu können. Er wollte die Tochter eines Regierungsbaumeisters heiraten, es war eine reine Liebe und sie brachte ihm seinen vierten Tripper.
Nun wurde er immer vergeistigter und bildete sich ein, er sei verflucht. Hatte er mal Kopfschmerzen, Katarrh, einen blauen Fleck, Mitesser, Husten, Fieber, Durchfall oder harten Stuhl, immer witterte er irgendeinen mysteriösen Tripper. Er wagte sich kaum mehr einem Weib zu nähern, haßte auch die Muttergottes und wurde Buddhist.
Durch das Mikroskop erblickte er das Kleinod im Lotos.
Agnes stand nun vor AML.
Sie hatte nur ihre Strümpfe an und schämte sich, weil der eine zerrissen war, während AML meinte, es wäre jammerschade, daß sie keine Pagenstrümpfe habe. Dann forderte er sie auf, im Atelier herumzugehen. »Gelöst«, sagte er. »Nur gelöst!« Und so gelöst solle sie sich auch setzen, legen, aufstehen, niederknien, kauern, aufstehen, wieder hinlegen, wieder aufstehen, sich beugen und wieder herumgehen – – das hätten nämlich auch die Modelle von Rodin genauso machen müssen. Selbst Balzac hätte vor Rodin vierzehn Tage lang so gelöst herumgehen müssen, bis Rodin die richtige Pose gefunden hätte. Er habe es zwar nicht nötig, dabei Skizzen zu machen, wie jener, er behalte nämlich alle seine Skizzen im Kopf, denn er habe ein gutes Gedächtnis. Damit wolle er sich jedoch keineswegs mit Rodin vergleichen, das wäre ja vermessen, aber er sei halt nun mal so.
Agnes tat alles, was er wollte und wunderte sich über sein sonderbar sachliches Mienenspiel, denn eigentlich hatte sie erwartet, daß er sich ihr nähern werde. Und nun schämte sie sich noch mehr über ihren zerrissenen Strumpf.
Sie erinnerte sich des Fräulein Therese Seitz aus der Schellingstraße. Die war Berufsmodell und hatte ihr mal von einem Kunstmaler erzählt, der behauptet hätte, er könnte sie leider nicht malen, wenn sie sich ihm nicht hingeben wollte und er müßte sie leider hinausschmeißen, das würde er nämlich seiner Kunst schuldig sein.
Endlich fand AML die richtige Pose. Sie hatte sich auf das Sofa gesetzt und lag nun auf dem Bauche. »Halt!« rief er, raste hinter seine Staffelei und visierte: »Jetzt hab ich die Hetäre! Nur gelöst! Gelöst! – – – es ist in die Augen fallend, daß sich die Kluft zwischen dem heutigen Schönheitsideal und jenem der Antike immer breiter auftut. Ich denke an die Venus von Milo.«
Und während AML an Paris dachte, dachte Agnes an sich und wurde traurig, denn: »Was tut man nicht alles für zwanzig Pfennig in der Stunde!«
Überhaupt diese Kunst!
Keine zwanzig Pfennige würde sie für diese Kunst ausgeben! Wie oft hatte sie sich schon über diese ganze Kunst geärgert!
Wie gut haben es doch die Bilder in den Museen! Sie wohnen vornehm, frieren nicht, müssen weder essen noch arbeiten, hängen nur an der Wand und werden bestaunt, als hätten sie Gottweißwas geleistet.
Aber am meisten ärgerte sich Agnes über die Glyptothek auf dem Königsplatze, in der die Leute alte Steintrümmer beglotzen, so andächtig, als stünden sie vor der Auslage eines Delikatessengeschäftes.
Einmal war sie in der Glyptothek, denn es hat sehr geregnet und sie ging gerade über den Königsplatz. Drinnen führte einer mit einer Dienstmütze eine Gruppe von Saal zu Saal und vor einer Figur sagte er, das sei die Göttin der Liebe. Die Göttin der Liebe hatte weder Arme noch Beine. Auch der Kopf fehlte und Agnes mußte direkt lächeln und einer aus der Gruppe lächelte auch und löste sich von der Gruppe und näherte sich Agnes vor einer Figur ohne Feigenblatt. Er sagte, die Kunst der alten Griechen sei unnachahmbar und vor dem Kriege hätten auf Befehl des Zentrums die Saaldiener aus Papier Feigenblätter schneiden und diese auf die unsterblichen Kunstwerke hängen müssen und das wäre wider die Kunst gewesen. Und er fragte Agnes, ob sie mit ihm am Nachmittag ins Kino gehen wollte und Agnes traf sich mit ihm auf dem Sendlingertorplatz. Er kaufte zwei Logenplätze, aber da es Sonntag war und naß und kalt, war keine Loge ganz leer und das verstimmte ihn und er sagte, hätte er das geahnt, so hätte er zweites Parkett gekauft, denn dort sehe man besser, er sei nämlich sehr kurzsichtig. Und er wurde ganz melancholisch und meinte, wer weiß, wann sie sich wiedersehen werden, er sei nämlich aus Augsburg und müsse gleich nach der Vorstellung wieder nach Augsburg fahren und eigentlich liebe er das Kino gar nicht und die Logenplätze wären verrückt teuer. Agnes begleitete ihn hernach an die Bahn, er besorgte ihr noch eine Bahnsteigkarte und weinte fast, da sie sich trennten und sagte: »Fräulein, ich bin verflucht. Ich hab mit zwanzig Jahren geheiratet, jetzt bin ich vierzig, meine drei Söhne zwanzig, neunzehn und achtzehn und meine Frau sechsundfünfzig. Ich war immer Idealist. Fräulein, Sie werden noch an mich denken. Ich bin Kaufmann. Ich hab Talent zum Bildhauer.«