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Im Seerestaurant zu Feldafing saßen außer Harry und Agnes noch elf Damen und elf Herren. Die Herren sahen Harry ähnlich, obwohl sich jeder die größte Mühe gab, anders auszusehen.
Die Damen waren durchaus gepflegt und sahen daher sehr neu aus, bewegten sich fein und sprachen dummes Zeug. Wenn eine aufs Klosett mußte, schien sie verstimmt zu sein, während ihr jeweiliger Herr aufatmend rasch mal in der Nase bohrte.
Die Speisekarte war lang und groß, aber Agnes konnte sie nicht entziffern, obwohl die Speisen keine französischen Namen hatten, sondern hochdeutsch, jedoch eben ungewöhnlich vornehme.
»Königinsuppe?« hörte sie des Kellners Stimme und ihr Magen knurrte. Der Kellner hörte ihn knurren und betrachtete voll Verachtung ihren billigen Hut, denn das Knurren kränkte ihn, da er einen schlechten Charakter hatte.
Harry bestellte zwei Wiener Schnitzel mit Gurkensalat. Bei »Wiener« fiel Agnes Eugen ein – es war sieben Uhr und sie dachte, jetzt stehe jener Österreicher wahrscheinlich nicht mehr an der Ecke der Schleißheimerstraße. Jetzt spreche jener Östereicher vielleicht gerade eine andere Münchnerin an und gehe dann mit der auf das Oberwiesenfeld und setze sich unter eine Ulme. Und Agnes freute sich auf den Gurkensalat, nämlich sie liebte jeden Salat und sagte sich: »So sind halt die Männer!«
Seit Juni 1927 hatte Agnes keinen Gurkensalat gegessen. Damals hatte sie ein Mediziner zum Abendessen im »Chinesischen Turm« eingeladen und hernach ist sie mit ihm durch den Englischen Garten gegangen. Dieser Mediziner hatte sehr gerne Vorträge gehalten und hatte ihr auseinandergesetzt, daß das Verzehren eines Gurkensalates auch nur eine organische Funktion ist, genau wie das Sitzen unter einer Ulme. Und dann hatte er ihr von einem bedauernswerten Genie erzählt, das den Unterschied zwischen der Mutter- und Dirnennatur entdeckt hatte. Aber schon kurz nach dieser Entdeckung hatte jenes bedauernswerte Genie diesen Unterschied plötzlich nicht mehr so genau erkennen können und hat sich erschossen, wahrscheinlich weil er sich mit dem Begriff Weib hatte versöhnen wollen. Und dann hatte der Mediziner auch noch gemeint, daß er noch nicht wüßte, ob Agnes eine Mutter- oder Dirnennatur sei.
Die Wiener Schnitzel waren wunderbar, aber Harry ließ das seine stehen, weil es ihm zu dick war und bestellte sich russische Eier und sagte »Prost!«
Auch der Wein war wunderbar und plötzlich fragte Harry: »Wie gefall ich Ihnen?«
»Wunderbar«, lächelte Agnes und verschluckte sich, nicht weil sie immerhin übertrieben hatte, sondern weil sie eben mit einem richtigen Hunger ihren Teil verzehrte. Es schmeckte ihr derart, daß der Direktor des Seerestaurants anfing, sie mißtrauisch zu beobachten, als hielte er es für wahrscheinlich, daß sie bald einen Löffel verschwinden läßt.
Denn die wirklich vornehmen Leute essen bekanntlich, als hätten sie es nicht nötig zu essen, als wären sie der Materie entwachsen. Als wären sie vergeistigt und sie sind doch nur satt.
»Wissen Sie«, sagte Harry plötzlich, »daß ich etwas nicht ganz verstehe: wieso kommt es, daß ich bei Frauen soviel Glück habe? Ich hab nämlich sehr viel Glück. Können Sie sich vorstellen, wieviel Frauen ich haben kann! Ich kann jede Frau haben, aber das ist nicht das richtige.«
Er blickte verträumt nach der Benediktenwand und dachte: »Wie mach ich es nur, daß ich auf sie naufkomm? Das beste ist, ich warte, bis es finster ist, dann fahr ich zurück und bieg in einen Seitenweg ein. Nach Starnberg und wenn sie nicht will, dann fliegt sie raus.«
»Es ist nicht das richtige«, fuhr er laut fort. »Die Frauen sagen, ich kann hypnotisieren. Aber ob ich die Liebe finde? Ob ich überhaupt eine Liebe finde? Ob es überhaupt eine wahre Liebe gibt? Wissen Sie, was ich unter ›Liebe‹ verstehe?«
Er verfinsterte sich noch mehr, denn plötzlich mußte er gegen eine Blähung ankämpfen. Er kniff die Lippen zusammen und sah recht unglücklich aus, während Agnes dachte: »Jetzt hat der so ein wunderbares Auto und ist nicht glücklich. Was möcht der erst sagen, wenn er zu Fuß gehen müßt?«
Als Agnes mit ihrem Gurkensalat und Harry mit seinen russischen Eiern fertig war, beschimpfte er den Kellner mit dem schlechten Charakter, der untertänigst davonhuschte, um das Dessert zu holen.
Es war noch immer nicht finster geworden, es dämmerte nur und also mußte Harry noch ein Viertelstündchen mit Agnes Konversation treiben.
»Sehen Sie jene Dame dort am dritten Tisch links?« fragte er. »Jene Dame hab ich auch schon mal gehabt. Sie heißt Frau Schneider und wohnt in der Mauerkircherstraße acht. Der, mit dem sie dort sitzt, ist ihr ständiger Freund, ihr Mann ist nämlich viel in Berlin, weil er dort eine Freundin hat, der er eine Siebenzimmerwohnung eingerichtet hat. Aber als er die Wohnung auf ihren Namen überschrieben hat, entdeckte er erst, daß sie verheiratet ist und daß ihr Mann sein Geschäftsfreund ist. Diese Freundin hab ich auch schon mal gehabt, weil ich im Berliner Sportpalast Eishockey gespielt hab. Sie heißt Lotte Böhmer und wohnt in der Meinickestraße vierzehn. Und dort rechts die Dame mit dem Barsoi, das ist die Schwester einer Frau, deren Mutter sich in mich verliebt hat. Eine fürchterliche Kuh ist die Alte, sie heißt Weber und wohnt in der Franz-Joseph-Straße, die Nummer hab ich vergessen. Die hat immer zu mir gesagt: ›Harry, Sie sind kein Frauenkenner, Sie sind halt noch zu jung, sonst würden Sie sich ganz anders benehmen, Sie stoßen mich ja direkt von sich, ich hab schon mit meinem Mann soviel durchzumachen gehabt, Sie sind eben kein Psychologe.‹ Aber ich bin ein Psychologe, weil ich sie ja gerade von mir stoßen wollte. Und hinter Ihnen – schauen Sie sich nicht um! – sitzt eine große Blondine, eine auffallende Erscheinung, die hab ich auch mal von mir gestoßen, weil sie mich im Training gehindert hat. Sie heißt Else Hartmann und wohnt in der Fürstenstraße zwölf. Ihr Mann ist ein ehemaliger Artilleriehauptmann. Mit einem anderen ehemaligen Artilleriehauptmann bin ich sehr befreundet und der ist mal zu mir gekommen und hat gesagt: ›Hand aufs Herz, lieber Harry! Ist es wahr, daß du mich mit meiner Frau betrügst?‹ Ich hab gesagt: ›Hand aufs Herz! Es ist wahr!‹ Ich hab schon gedacht, er will sich mit mir duellieren, aber er hat nur gesagt: ›Ich danke dir, lieber Harry!‹« Und dann hat er mir auseinandergesetzt, daß ich ja nichts dafür kann, denn er weiß, daß der Mann nur der scheinbar aktive, aber eigentlich passive, während die Frau der scheinbar passive, aber eigentlich aktive Teil ist. Das war schon immer so, hat er gesagt, zu allen Zeiten und bei allen Völkern. Er ist ein großer Psychologe und schreibt jetzt einen Roman, denn er kann auch schriftstellerisch was. Er heißt Albert von Reisinger und wohnt in der Amalienstraße bei der Gabelsbergerstraße.«
»Zahlen!« rief Harry, denn nun wurde es finster und die Sterne standen droben und ditto der Mond.
Auch die Nacht war wunderbar und dann ging das Auto los.
Nach Starnberg, im Forstenriederpark, bog Harry in einen Seitenweg, hielt plötzlich und starrte regungslos vor sich hin, als würde er einen großen Gedanken suchen, den er verloren hat.
Agnes wußte, was nun kommen wird, trotzdem fragte sie ihn, was nun kommen würde?
Er rührte sich nicht.
Sie fragte, ob etwas los wäre?
Er antwortete nicht.
Sie fragte, ob das Auto kaputt sei?
Er starrte noch immer vor sich hin.
Sie fragte, ob vielleicht sonst etwas kaputt sei?
Er wandte sich langsam ihr zu und sagte, es wäre gar nichts kaputt, doch hätte sie schöne Beine.
Sie sagte, das sei ihr bereits bekannt.
Er sagte, das sei ihm auch bereits bekannt und das Gras wäre sehr trocken, weil es seit Wochen nicht mehr geregnet hat. Dann schwieg er wieder und auch sie sagte nichts mehr, denn sie dachte an das gestrige Gras.
Plötzlich warf er sich auf sie, drückte sie nieder, griff ihr zwischen die Schenkel und streckte seine Zunge zwischen ihre Zähne. Weil er aber einen Katarrh hatte, zog er sie wieder zurück, um sich schneuzen zu können.
Sie sagte, sie müsse spätestens um neun Uhr in der Schellingstraße sein.
Er warf sich wieder auf sie, denn er hatte sich nun ausgeschneuzt. Sie biß ihm in die Zunge und er sagte: »Au!« Und dann fragte er, ob sie denn nicht fühle, daß er sie liebt.
»Nein«, sagte sie.
»Das ist aber traurig«, sagte er und warf sich wieder auf sie.
Sie wehrte sich nicht.
So nahm er sie, denn sonst hätte er sich übervorteilt gefühlt, obwohl er bereits in Feldafing bemerkt hatte, daß sie ihn niemals besonders aufregen könnte, da sie ein Typ war, den er bereits durch und durch kannte, aber er fühlte sich verpflichtet, sich ihr zu nähern, weil sie nun mal in seinem Auto gefahren ist und weil er ihr ein Wiener Schnitzel mit Gurkensalat bestellt hatte, ganz abgesehen von seiner kostbaren Zeit zwischen fünf und neuneinhalb Uhr, die er ihr gewidmet hatte.
Sie wehrte sich nicht und es war ihr klar, daß sie so tat, weil sie nun mal in seinem Auto gefahren ist und weil er ihr ein Wiener Schnitzel mit Gurkensalat bestellt hatte. Nur seine Zeit fand sie nicht so kostbar, wie er.
Er hätte sich verdoppeln dürfen und sie hätte sich nicht gewehrt, als hätte sie nie darüber nachgedacht, daß man das nicht darf. Sie hätte wohl darüber nachgedacht, doch hatte sie es einsehen müssen, daß die Welt, wenn man auch noch soviel nachdenkt, doch nur nach kaufmännischen Gesetzen regiert wird und diese Gesetze sind allgemein anerkannt, trotz ihrer Ungerechtigkeit.
Durch das Nachdenken werden sie nicht anders, das Nachdenken tut nur weh.
Sie ließ sich nehmen, ohne sich zu geben und ihre Gefühllosigkeit tat ihr wohl. Was sonst in ihrer Seele vorging, war nicht von Belang, es war nämlich nichts.
Sie sah den Harry über sich, vom Kinn bis zum Bauch, und drei Meter entfernt das Schlußlicht seines Autos und dessen Nummer: IIA 16747. Und über das alles wölbte sich der Himmel, aus dem der große weiße Engel kam und verkündete: »Vor Gott ist kein Ding unmöglich!«
Mit unendlichem Gleichmut vernahm sie die Verkündigung und genau so, wie ihr das alles bisher wunderbar schien, erschien ihr nun plötzlich alles komisch. Der Himmel, der Engel, das Auto, der Harry und besonders das karierte Muster seiner fabelhaften Krawatte, deren Ende ihr immer wieder in den Mund hing.
Es war sehr komisch und plötzlich gab ihr Harry eine gewaltige Ohrfeige, riß sich aus ihr und brüllte: »Eine Gemeinheit! Ich streng mich an und du machst nichts! Eine Gemeinheit. Ich bin da und du bist nicht da! Jetzt fahr zu Fuß, faules Luder!«
Es war sehr komisch.
Entrüstet sprang er in sein Auto und dann ging das Auto los.
Sie sah noch die Nummer: IIA 16747.
Dann war das Auto verschwunden.
Agnes ging durch den Forstenriederpark.
Dem entschwundenen Schlußlicht nach.
Sie wußte weder, wo sie war, noch, wie weit sie sich von ihrer Schellingstraße befand. Sie kannte nur die ungefähre Richtung und wußte, daß sie nun nach Hause gehen muß, statt in einem wunderbaren Auto zu sitzen. Erst allmählich wurde es ihr klar, daß sie nun fünf, sechs oder sieben Stunden lang laufen muß, um ihre Schellingstraße zu erreichen.
Die Nacht war still und hinter den alten Bäumen rechts und links lag groß und schwarz der Wald.
In diesem Wald jagte einst der königlich-bayerische Hof und veranstaltete auch große Hoftreibjagden. Nämlich in diesem Walde wohnte viel Wild und all diese Hirsche, Rehe, Hühner und Schweine wurden königlich gehegt, bevor man die Schweine durch eine königliche Meute zerreißen oder die Hirsche durch Hunderte königliche Treiber in den Starnberger See treiben ließ, um sie dort vom Kahn aus königlich erschlagen zu können.
Heut ist dies alles staatlich und man treibt die Jagd humaner, weil die Treibjagden zu teuer sind.
Erst nach zehn Minuten gewöhnte sich Agnes daran, nichts mehr komisch zu finden, sondern gemein. Es war doch alles leider zu wahr und sie überzeugte sich, daß ihre Schuhe nun bald ganz zerreißen werden und dann fürchtete sie sich auch, denn im deutschen Reich wird viel gemordet und geraubt.
Zwar sei das Rauben nicht das schlimmste, überlegte sie. Es sei doch bedeutend schlimmer, daß sie nun allein durch den Wald gehen muß, denn wie leicht könnte sie ermordet werden, zum Beispiel aus Lust, aber der Harry würde nie bestraft werden, sondern nur der Mörder.
Überhaupt seien die Richter oft eigentümlich veranlagt. So habe ihr erst vor vier Wochen das Berufsmodell Fräulein Therese Seitz aus der Schellingstraße erzählt, daß sie 1927 der Motorradfahrer Heinrich Lallinger vom Undosawellenbad in die Schellingstraß fahren wollte, aber plötzlich sei er in einen Seitenweg eingebogen, um sie dann weiter drinnen im Wald zu vergewaltigen. Sie habe gesagt, er solle sofort halten, da sie sonst abspringen würde, er habe aber nur gelächelt und die Geschwindigkeit verdoppelt, aber trotz der sechzig Kilometer sei sie abgesprungen und hätte sich den Knöchel gebrochen. Sie habe dann den Lallinger angezeigt wegen fahrlässiger Körperverletzung und Freiheitsberaubung, aber der Oberstaatsanwalt habe ihr dann später mitgeteilt, daß er das Verfahren gegen Herrn Heinrich Lallinger eingestellt habe, weil ihm kein Verschulden nachzuweisen sei, da es ja bekannt sei, daß sich junge Mädchen, die sich abends mit einem Motorrad nach Hause fahren ließen, es als selbstverständlich erachteten, daß erst zu gewissen Zwecken ein Umweg gemacht werden würde. Freiheitsberaubung liege also nicht vor und sie sei selbst daran schuld gewesen, daß sie sich den Knöchel gebrochen hat.
Agnes hörte Schritte.
Das waren müde schleppende Schritte und bald konnte sie einen kleinen Mann erkennen, der vor ihr herging. Sie hätte ihn fast überholt und übersehen, so dunkel war es geworden.
Auch der Mann hörte Schritte, blieb stehen und lauschte.
Auch Agnes blieb stehen.
Der Mann drehte sich langsam um und legte den Kopf bald her bald hin, als wäre er kurzsichtig.
»Guten Abend«, sagte der Mann.
»Guten Abend«, sagte Agnes.
»Habens nur keine Angst, Fräulein«, sagte der Mann. »Ich tu niemand nix. Ich wohn in München und geh nach Haus.«
»Habn wir noch weit bis München?« fragte Agnes.
»Ich komm von Kochel«, sagte der Mann. »Den größten Teil hab ich hinter mir.«
»Ich komm grad von da«, sagte Agnes.
»So«, sagte der Mann und schien gar nicht darüber nachzudenken, was dies »von da« bedeuten könnte.
Sie gingen wieder weiter.
Es sah aus, als würde er hinken, aber er hinkte nicht, es sah eben nur so aus.
»Was klappert denn da?« fragte Agnes.
»Das bin ich«, sagte der Mann und sprach plötzlich hochdeutsch. »Ich hab nämlich eine sogenannte künstliche Ferse und einen hölzernen Absatz seit dem Krieg.«
Agnes hat es nie erfahren, daß der Mann Sebastian Krattler hieß und in der Nähe des Sendlingerberges wohnte. Er hat sich ihr weder vorgestellt, noch hat er ihr erzählt, daß er von Beruf Schuster war, daß er aber nirgends Arbeit fand und also, obwohl er bereits seit fast dreißig Jahren eingeschriebenes Mitglied der Sozialdemokratischen Partei war, auf die Walze gehen mußte, nachdem er noch vorher im Weltkrieg mit einer künstlichen Ferse ausgezeichnet worden ist.
Auch hat er es ihr verschwiegen, daß er einen Neffen im Wallgau bei Mittenwald hatte, einen großen Bauern, bei dem er irgendeine Arbeit zu finden hoffte. Aber dieser Neffe hatte für ihn wegen seiner Kriegsauszeichnung keine Arbeit, denn die Bauern sind recht verschmitzte Leute.
Aber in Tirol würden die Pfaffen eine Kirche nach der anderen bauen und die höchstgelegenste Kirche stünde am Rande der Gletscher.
Das seien lauter gottgefällige Werke, denn die Tiroler seien halt genau wie die Nichttiroler recht religiös. Oder vielleicht nur schlecht. Oder blöd.
»Daß anders wird, erleb ich nimmer«, sagte der Mann.
»Was?« fragte Agnes.
»Sie werdens vielleicht noch erleben«, sagte der Mann und meinte noch, wenn es jetzt Tag wäre, dann könnte man schon von hier aus die Frauentürme sehen.
Um Mitternacht erblickte Agnes eine Bank und sagte, sie wolle sich etwas setzen, weil sie kaum mehr weiter könne und ihre Schuhe wären nun auch schon ganz zerrissen. Der Mann sagte, dann setze er sich auch, die Nächte seien ja noch warm.
Sie setzten sich und auf der Banklehne stand: »Nur für Erwachsene«.
Der Mann wollte ihr gerade sagen, es wäre polizeilich verboten, daß sich Kinder auf solch eine Bank setzen oder, daß man auf solch einer Bank schläft, da schlief Agnes ein. Der Mann schlief nicht. Nicht weil es polizeilich verboten war, sondern weil er an etwas ganz anderes dachte. Er dachte einen einfachen Gedanken. »Wenn nur ein anderer einen selbst umbringen könnt«, dachte der Mann.
Und Agnes träumte einen einfachen Traum:
Sie fuhr in einem wunderschönen Auto durch eine wunderbare Welt. Auf dieser Welt wuchs alles von allein und ständig. Sie mußte nichts bezahlen und alles hatte einen unaussprechlichen Namen, so einen richtig fremdländischen, es war alles anders als hier. »Hier ist es nämlich wirklich nicht schön«, meinte ein Herr. Dieser Herr hatte einen weißen Hut, einen weißen Frack und weiße Hosen, weiße Schuhe und weiße Augen. »Ich bin der Papst der Kellner«, sagte der Herr, »und ich hab in meiner Jugend im Forstenrieder Park die königlichsten Agnesse erlegt. Wir trieben sie in den Starnberger See hinein und gaben ihnen vom Kahn aus gewaltige Ohrfeigen. Eigentlich heiß ich gar nicht Harry, sondern Franz.« Und Agnes ging durch den Wald, es war ein Ulmenwald und unter jeder Ulme saß ein Eugen. Es waren da viele hunderte Ulmen und Eugene und sie hatten alle die gleichen Bewegungen. »Agnes«, sprachen die Eugene, »wir haben auf dich gewartet an der Ecke der Schleißheimerstraße, aber wir hatten dort keinen Platz, wir sind nämlich zuviel. Übrigens: war der Gurkensalat wirklich so wunderbar?« Da schwebte der große weiße Engel daher und hielt eine Gurke in der Hand. »Vor Gott ist keine Gurke unmöglich«, sagte der Engel.
Der Morgenwind ging an der Bank vorbei und der Mann sagte: »Das ist der Morgenwind.«
Bevor die Sonne kommt, geht ein Schauer durch die Menschen. Nicht weil sie vielleicht Kinder der Nacht sind, sondern weil das Quecksilber vor Sonnenaufgang um einige Grade sinkt.
Das hat seine atmosphärischen Ursachen und physikalischen Gesetze, aber Sebastian Krattler wollte nur festgestellt wissen, daß der Morgenwind, der immer vor der Sonne einherläuft, kühl ist.
Er lief über die träumende Agnes quer durch Europa und München und natürlich auch durch die Schleißheimerstraße, an deren Ecke Eugen auf Agnes gewartet hat.