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An demselben Abend erzählte er mir die Geschichte seines ersten Verbrechens. Seit dem verhängnisvollen Morgen in den Iden des März, wo er es als einen unbekannt gebliebenen Zwischenfall einer Cricketreise erwähnt hatte, war es mir nie gelungen, Raffles ein Wort über den Gegenstand zu entlocken. Nicht, daß ich es an Versuchen hätte fehlen lassen; allein, wenn ich auf den Busch klopfte, betrachtete er nur kopfschüttelnd die Rauchwolken seiner Zigarette und ein halb cynischer, halb trauriger Blick erschien in seinen Augen, als ob die Tage der Ehrlichkeit, die entschwunden waren, doch auch ihre guten Seiten gehabt hätten. Raffles machte Pläne zu einer neuen Abscheulichkeit oder schwelgte mit der unverminderten Begeisterung eines Künstlers in der Erinnerung an die letzte. Hinter diesen unverhohlen selbstsüchtigen und ansteckenden Freudenausbrüchen eine einzige Regung von Gewissensbissen zu entdecken, war ein Ding der Unmöglichkeit, und doch schien ihn bei der Erinnerung an sein erstes Verbrechen der Schatten einer längst erstorbenen Reue heimzusuchen, so daß ich die Hoffnung, etwas über die Geschichte zu erfahren, schon lange vor unsrer Rückkehr von Milchester aufgegeben hatte. Allein es lag Cricket in der Luft, und der Reisesack, worin Raffles seine Cricketgeräte mitzunehmen pflegte, lag wieder an seinem gewöhnlichen Platze, aber so, daß man einen Gepäckzettel sehen konnte, der den Namen einer Stadt im fernen Osten trug. Auf diesem Zettel hatten meine Augen eine Zeitlang geruht, die seinigen aber, wie ich glaube, auf den meinen, denn plötzlich fragte er mich, ob ich noch immer so begierig sei, die Geschichte zu hören.
»Was kann mich das nützen?« erwiderte ich, »du erzählst sie mir ja doch nicht, und ich muß sie mir allein ausmalen.«
»Wie kannst du denn das?«
»O, ich fange an, deine Methode zu durchschauen.«
»Du glaubst also, ich sei mit offenen Augen zu Werke gegangen, wie ich das jetzt tue?«
»Daß du anders zu Werke gegangen sein solltest, kann ich mir nicht vorstellen.«
»Mein lieber Bunny, es geschah so unabsichtlich, als nur je etwas in meinem Leben.«
Sein Stuhl rollte bis an den Bücherschrank zurück, als er mit plötzlicher Energie aufsprang, und seine Augen funkelten vor Entrüstung.
»Das kann ich nicht glauben,« erwiderte ich schlau. »Einer so armseligen Schmeichelei bin ich nicht fähig.«
»Dann bist du ein Dummkopf ...«
Er brach ab und sah mich mit einem harten Blick an, konnte aber gleich darauf, sich selbst zum Trotze, ein Lächeln nicht unterdrücken.
»... oder ein besserer Spitzbube, als ich glaubte, Bunny, und, so wahr ich lebe, so ist es! Na, es wird wohl nichts helfen, und so mag's drum sein. Ich habe nämlich wirklich selbst an die Geschichte gedacht, denn der Spektakel der letzten Nacht erinnert mich in mancher Hinsicht daran, aber dies ist jedenfalls eine besondere Gelegenheit, die ich dadurch feiern will, daß ich gegen meine einzige gute Lebensregel sündige: ich werde nämlich ein zweites Glas trinken.«
Der Whisky gluckste, das Sodawasser brauste, das Eis klirrte im Glase, und dann erzählte mir Raffles in seiner bunten Hausjacke, die unvermeidliche Zigarette zwischen den Fingern, die Geschichte, die zu hören ich längst die Hoffnung aufgegeben hatte. Die Fenster standen weit offen, und als er begann, drang das Brausen des Verkehrs von Piccadilly herein, aber lange bevor er geendet hatte, waren die letzten Räder vorbeigerasselt, war der letzte Ruhestörer verstummt, und wir allein unterbrachen die Stille der Sommernacht.
»... Nein, sie behandeln einen sehr gut. Man bezahlt, sozusagen, nur die Getränke, aber ich fürchte, die meinen waren etwas reichlich bemessen, und dazu kam, daß ich von Anfang an in einer Klemme steckte, so daß ich von Rechts wegen die Einladung hätte ablehnen sollen. Dann begaben wir uns alle zu dem Wettkampfe, der um den Becher von Melbourne ausgefochten wurde. Ich hatte den sicheren Gewinner auf meiner Seite, der jedoch natürlich nicht gewann, aber das ist nicht die einzige Art, wie man sich in Melbourne zum Narren machen kann. Damals war ich noch nicht der gesetzte alte Herr, der ich jetzt bin, Bunny, allein die andern wußten nicht, wie tief ich drin steckte, und ich gelobte mir selbst, daß sie es niemals erfahren sollten. Zuerst versuchte ich es bei den Juden, allein die sind da draußen ganz besonders zäh. Dann entsann ich mich eines Verwandten, einer Art entfernten Vetters meines Vaters, von dem keiner von uns etwas wußte, ausgenommen, daß er sich in einer unsrer Kolonieen aufhalten sollte. Stellte es sich heraus, daß er reich war, so war alles schön und gut, und ich konnte mich an ihn machen; wenn nicht, nun, dann war ich auch nicht schlimmer daran als vorher. – Ich suchte seine Spur zu entdecken, und das Glück fügte es, daß ich sie auch wirklich fand (oder gefunden zu haben glaubte), als ich zufällig ein paar Tage für mich hatte, denn eine Verletzung an der Hand verhinderte mich gerade vor dem großen Weihnachtswettkampf am Spielen.
»Der Arzt, der mich behandelte, fragte mich nämlich, ob ich mit dem Raffles von der Nationalbank verwandt sei, und ich war so baff über dieses Glück, daß mir der Atem stockte. Mein Verwandter, ein hoher Angestellter bei einer von den großen Banken, der mir schon auf meinen bloßen Namen hin aus allen meinen finanziellen Nöten heraushelfen würde – konnte ich mir etwas Besseres wünschen? Daß dieser Raffles der von mir gesuchte sei, stand sofort bei mir fest, und ich war furchtbar enttäuscht, als ich gleich darauf hörte, daß er durchaus kein höherer Beamter war. Der Doktor hatte ihn auch niemals gesehen, sondern seinen Namen nur gelegentlich eines Vorfalls gelesen, der mit dem kleinen vorstädtischen Zweiggeschäft, das mein Namensvetter leitete, zusammenhing. Ein bewaffneter Einbrecher war nämlich von diesem Raffles mit einer Kugel im Leibe verjagt worden, doch das war da draußen ein so alltägliches Vorkommnis, daß dies das erste Wort war, das ich darüber hörte! Ein vorstädtisches Zweiggeschäft! Mein großer Finanzmann war zu einem bescheidenen Angestellten zusammengeschrumpft. Indessen – ein Geschäftsführer war immerhin ein Geschäftsführer, und ich sprach den Wunsch aus, mich zu überzeugen, ob er der Verwandte sei, den ich suchte, und ob der Herr Doktor so freundlich sein wolle, mir das Zweiggeschäft zu nennen.
»›Ich will noch mehr tun,‹ entgegnete er, ›ich werde Ihnen die Adresse des Zweiggeschäfts verschaffen, an dessen Spitze er jetzt steht, denn ich meine gehört zu haben, daß er seither befördert worden sei.‹ Am folgenden Tage bezeichnete er mir die einige fünfzig Meilen nördlich von Melbourne gelegene Stadt Yea, allein mit der Unbestimmtheit, die alle seine Mitteilungen kennzeichnete, konnte er mir nicht sagen, ob ich meinen Verwandten schon dort treffen würde oder nicht.
»›Er ist unverheiratet, und die Anfangsbuchstaben seiner Vornamen sind W. F.,‹ sagte der Doktor, der über nebensächliche Punkte ziemlich genau unterrichtet war. ›Seine alte Stelle hat er vor ein paar Tagen verlassen, aber wie es scheint, tritt er seine neue erst zu Neujahr an. Ohne Zweifel wird er aber schon vorher dort eintreffen, um die Geschäfte zu übernehmen und sich einzuarbeiten. Vielleicht finden Sie ihn schon dort, vielleicht auch nicht. An Ihrer Stelle würde ich zunächst einmal schreiben.‹
»›Dadurch verliere ich zwei Tage und mehr, falls er noch nicht dort ist,‹ antwortete ich, denn ich war sehr begierig nach der Bekanntschaft dieses ländlichen Geschäftsführers geworden, und ich hatte das Gefühl, daß es meinen Zwecken sehr förderlich sein würde, wenn ich ihn noch während seiner Ferien träfe und gemütlich mit ihm verkehren könnte.
»›In dem Falle,‹ erwiderte der Doktor, ›sollten Sie sich ein ruhiges Pferd besorgen und hinreiten. Dabei können Sie die verletzte Hand schonen.‹
»›Kann ich denn nicht mit der Bahn fahren?‹
»›Vielleicht, vielleicht auch nicht, aber reiten müssen Sie immer noch eine Strecke. Sie können doch wohl reiten?‹
»›Ja.‹
»›Dann würde ich lieber den ganzen Weg reiten. Die durch Whittlesea und die Plentyberge führende Straße ist ganz wundervoll. Sie wird Ihnen eine Vorstellung vom Busch geben, Mr. Raffles, und Sie werden die Quellen sehen, die unsre Stadt mit Wasser versorgen, denn es kommt bis zum letzten Tropfen aus dem klaren Yan Yea. Ich wollte, ich hätte Zeit, Sie zu begleiten.‹
»›Aber wo soll ich denn ein Pferd herbekommen?‹
»Der Doktor überlegte einen Augenblick.
»›Ich habe selbst eine Stute, die so spickfett ist, weil es ihr an Bewegung fehlt,‹ sagte er endlich, ›und es wäre ein Werk der christlichen Nächstenliebe, sie mal hundert Meilen laufen zu lassen, und dann wäre ich auch sicher, daß Sie nicht in Versuchung geraten würden, Ihre Hand zu gebrauchen.‹
»›Sie sind wirklich zu liebenswürdig,‹ wandte ich ein.
»›Sie sind ja A. J. Raffles,‹ antwortete er einfach.
»Wenn jemals eine feinere Schmeichelei gemacht worden ist und wenn es jemals ein schöneres Beispiel von Gastfreundschaft gegeben hat, so kann ich nur sagen, Bunny, daß sie mir unbekannt geblieben sind.
»Mit einiger Mühe gelang es mir, ein paar eigenhändige Zeilen an W. F. zu schreiben, woraus du ersehen wirst, daß meine Verletzung nicht sehr bedeutend war; ich hatte nur den dritten Finger gebrochen, weshalb er in einem Gipsverband steckte. Am nächsten Morgen schickte mich der Doktor mit einem Tier auf Reisen, das für einen Krankenwagen gepaßt hätte. Die Hälfte der Cricketspieler kam, mir lebewohl zu sagen, während die andern ärgerlich waren, weil ich nicht blieb, um Zeuge zu sein, wie der Wettkampf endete, als ob ich ihnen durch Zusehen hätte zum Siege verhelfen können. Sie wußten nichts von dem kleinen Spiel, das ich für mich selbst plante, aber noch weniger hatte ich eine Ahnung von demjenigen, das ich tatsächlich spielte.
»Der Ritt war in der Tat ganz interessant, besonders nachdem ich Whittlesea passiert hatte, eine richtige Urwaldstadt auf den ersten Abhängen eines Gebirgszuges, mit dem die Erinnerung an ein lebengefährliches Essen von heißem Hammelfleisch und Tee bei einer Hitze von über hundert Grad im Schatten verknüpft ist. Während der ersten dreißig Meilen bestand der Weg aus einer guten Kunststraße, aber hinter Whittlesea war er nur noch ein Saumpfad über die Berge, den ich häufig selbst nicht erkennen konnte, so daß ich es meinem Pferde überlassen mußte, ihn zu finden. Manchmal senkte er sich in eine Schlucht hinab oder folgte dem Bett eines Baches. Das Lokalkolorit war überall dick aufgetragen: Gummibäume in Massen und Papageien in allen Farben des Regenbogens. An einer Stelle war einem ganzen Walde von Gummibäumen die Rinde abgeschält worden, und nun sahen sie aus, als ob sie weiß angestrichen wären. Meilenweit war weder ein Blatt, noch ein lebendes Wesen zu sehen, und das erste lebendige Geschöpf, das mir begegnete, war ganz danach angetan, einen gruseln zu machen, denn es war ein reiterloses Pferd, das mit auf der Seite hängendem Sattel und klirrenden Steigbügeln in vollem Laufe durch den Busch angejagt kam. Ohne mich lange zu besinnen, versperrte ich ihm mit der Stute des Doktors den Weg und hielt es so lange auf, bis ein Mann, der hinterher galoppiert kam, das übrige besorgen konnte.
»›Danke, Mister,‹ knurrte der Mann, ein großer Bursche in einem rotkarierten Hemd und mit einem wirren Vollbart, aber einem satanischen Gesichtsausdruck.
»›Unfall gehabt?‹ fragte ich, mein Pferd anhaltend.
»›Ja,‹ sagte der andre mit einem häßlichen Blick, der jede weitere Frage verbieten zu wollen schien.
»›Muß schlimm gewesen sein,‹ fuhr ich trotzdem fort, ›wenn das Blutflecke sind, die man am Sattel sieht.‹
»Ich mag ja selbst ein erbärmlicher Lump sein, Bunny, aber ich glaube nicht, daß ich jemals einen Menschen so angesehen habe, wie der Kerl mich anschaute, doch hielt ich den Blick aus und zwang den Mann, zuzugeben, daß die Flecken an dem gerutschten Sattel von Blut herrührten, und von da an wurde er ganz zahm, ja, er erzählte mir offen, was vorgefallen war. Einem seiner Gefährten sei beim Reiten durch den Wald von einem Ast die Nase eingeschlagen worden, aber er habe sich im Sattel gehalten, bis er infolge des Blutverlustes zu Boden gestürzt sei. Ein andrer Gefährte sei noch bei dem Verwundeten im Busche.
»Wie ich schon einmal gesagt habe, war ich damals noch nicht der gesetzte alte Praktikus, der ich jetzt – in jeder Hinsicht – bin, und wir trennten uns ganz freundschaftlich. Er erkundigte sich nach dem Ziele meiner Reise, und als ich ihm das angegeben hatte, antwortete er mir, ich könne einen Umweg von sieben Meilen sparen und eine gute Stunde früher nach Yea kommen, wenn ich den Saumpfad verließe und gerade auf einen Berggipfel losritte, den wir zwischen den Bäumen wahrnahmen, und dann einem Bache folgte, den ich sehen werde, wenn ich den Berggipfel erreicht hätte. Du brauchst nicht zu lächeln, Bunny, ich habe ja gleich zu Anfang gesagt, ich sei in jenen Tagen noch ein Kind gewesen. Natürlich war der Richtweg weiter als der Saumpfad, und es war fast Nacht, als die unglückliche Stute und ich die einzige Straße von Yea erblickten.
»Während ich mich nach dem Bankgeschäft umsah, trat mir ein Mann in einem weißen Anzug von einer Veranda herunter entgegen.
»›Mr. Raffles?‹ fragte er.
»›Mr. Raffles!‹ antwortete ich lachend, indem ich ihm die Hand schüttelte.
»›Sie kommen spät!‹
»›Ich bin auf einen falschen Weg gewiesen worden.‹
»›Wenn das alles ist, bin ich beruhigt,‹ entgegnete der andre. ›Wissen Sie auch, was sich die Leute erzählen? Ganz funkelnagelneue Buschklepper machten die Straße von Whittlesea hierher unsicher! Die wären aber bei Ihnen wohl an den Unrechten gekommen, he?‹
»›Bei Ihnen auch,‹ erwiderte ich, und dieses tu quoque ließ ihn verstummen und schien ihm zu denken zu geben, und doch lag mehr Sinn darin, als in seinen schmeichelhaften Worten, denen es an jeder Pointe fehlte.
»›Sie werden, fürchte ich, die Verhältnisse hier noch ziemlich unentwickelt finden,‹ begann er wieder, nachdem er mein Felleisen abgeschnallt und die Zügel meines Pferdes seinem Knechte übergeben hatte, ›und es ist ein Glück, daß Sie Junggeselle sind, wie ich.‹
»Worauf er mit dieser Bemerkung hinauswollte, war mir nicht ganz klar, da ich meine Frau schwerlich so ohne weiteres und ohne Anmeldung mitgebracht haben würde, wenn ich verheiratet gewesen wäre. Als ich eine den Umständen entsprechende Antwort gab, meinte er, es würde mir schon ganz gut gefallen, wenn ich mich erst etwas eingelebt hätte, als ob er glaubte, ich wolle ein paar Wochen bei ihm bleiben. ›Na, was Gastfreundschaft anlangt, so schießen diese Kolonisten den Vogel ab,‹ dachte ich, während er mir in die Wohnräume des Bankhauses vorausging, wohin ich ihm, immer noch über meinen Empfang verwundert, folgte.
»›Das Essen wird in einer Viertelstunde fertig sein,‹ sagte er, als wir eintraten. ›Ich meinte, Sie würden vielleicht zunächst gern ein Bad nehmen, und habe in dem Zimmer dort am Ende des Ganges eins herrichten lassen. Wenn etwas fehlt, rufen Sie nur. Ihr Gepäck ist, nebenbei gesagt, noch nicht angelangt, aber hier ist ein Brief an Sie, der heute morgen angekommen ist.‹
»›Doch nicht an mich?‹
»›Jawohl; erwarteten Sie keinen?‹
»›Ganz und gar nicht!‹
»›Na, da ist er aber.‹
»Und als er mich mit dem Licht in mein Zimmer geleitete, las ich die von mir selbst am vorigen Tage geschriebene Adresse: Herrn W. F. Raffles!
»Bunny, dir zu schildern, was in diesem Augenblick in mir vorging, als der Brief plötzlich alles klar machte, was mir bei meinem Empfang so sonderbar vorgekommen war, ist unmöglich. Sprechen konnte ich nicht, und ich war unfähig, etwas andres zu tun, als den Brief anzustarren, bis der Mann, der mich empfangen hatte, so taktvoll war, mich zu verlassen.
»W. F. Raffles! – Wir hatten uns beide geirrt und jeder den andern für W. F. Raffles gehalten, der noch nicht angelangt war! Nun war es freilich nicht mehr zu verwundern, daß wir uns gegenseitig nicht verstanden hatten, und das einzige Seltsame war, daß wir unsern doppelten Irrtum nicht schon früher gemerkt hatten. Wie der andre gelacht haben würde! Aber ich – ich konnte nicht lachen, denn für mich war, bei Gott, nichts zu lachen dabei. Wie von einem Blitze erleuchtet, stand die ganze Sache vor mir, aber diese Erleuchtung war für mich von niederschmetternder Wirkung. Nenne mich gefühllos, wenn du willst, Bunny, aber vergiß nicht, daß ich so ziemlich in derselben Klemme steckte, wie du neulich, und daß ich auf diesen W. F. Raffles ebenso fest gerechnet hatte, als du auf A. J. Ich dachte an den Mann mit dem rotkarierten Hemd – das reiterlose Pferd mit dem blutigen Sattel – den absichtlich falschen Bescheid, der mich von dem Saumpfade abgelenkt und aus dem Wege geführt hatte – und nun warfen der fehlende Geschäftsführer und die Gerüchte von Buschräubern ein eigentümliches Licht auf den Vorfall. Allein ich will nicht so tun, als ob ich persönliches Mitleid für den Menschen gefühlt hätte, der mir ganz unbekannt war; diese Art von Mitleid ist gewöhnlich Heuchelei, und ich hatte all das meine für mich selbst nötig.
»Ich war so tief in der Klemme als nur je. Was zum Teufel sollte ich tun? Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, dir hinlänglich klar zu machen, wie dringend notwendig es für mich war, reichlich mit Geldmitteln versehen, nach Melbourne zurückzukehren. Tatsächlich war es aber weniger die Notwendigkeit, als mein Vorsatz, den ich der Wahrheit gemäß als unerschütterlich bezeichnen kann.
»Geld mußte ich mir verschaffen – aber wie – aber wie? Würde dieser Fremde Bitten zugänglich sein, wenn ich ihm die Wahrheit sagte? Nein, das konnte nur dazu führen, daß wir beide für den Rest der Nacht die ganze Gegend durchsucht hätten. Warum sollte ich es ihm denn sagen? Angenommen, ich überließe es ihm selbst, seinen Irrtum zu entdecken ... würde dadurch etwas gewonnen werden? Bunny, ich gebe dir mein Wort, daß ich ohne eine bestimmte Absicht im Kopfe, ohne eine überlegte Lüge auf den Lippen zum Essen hinunterging. Ich hätte tun können, was so nahe lag und was der Anstand erfordert hätte, indem ich ungesäumt alles erklärte, aber anderseits war das ja gar nicht so eilig. Den Brief hatte ich noch nicht geöffnet, so stand mir die Ausrede, ich hätte die Anfangsbuchstaben übersehen, immer noch zu Gebote, und inzwischen konnte irgend etwas vorfallen. Jedenfalls wollte ich die weitere Entwicklung noch eine Weile abwarten. Eine gewisse Versuchung fühlte ich bereits, aber sie hatte noch keine bestimmte Gestalt angenommen, und gerade diese Unklarheit ließ mich zittern.
»›Hoffentlich haben Sie keine schlechten Nachrichten erhalten?‹ fragte der Fremde, als ich mich endlich an den Tisch setzte.
»›Nur eine kleine Verdrießlichkeit,‹ antwortete ich, und ich versichere dir, die Worte entfuhren mir, ohne daß ich daran dachte, daß damit der Rubikon überschritten war, denn nun war die Lüge ausgesprochen, ich hatte Stellung genommen, und von dem Augenblick an konnte ich nicht mehr zurück. Ohne mir klar darüber zu sein, was ich tat, hatte ich etwas gesagt, das den Fremden notwendigerweise zu der Schlußfolgerung führen mußte, ich sei W. F. Raffles. Nun gut, dann wollte ich für diese Nacht und in diesem Bankgeschäft auch W. F. Raffles sein, und der Teufel sollte mich lehren, von meiner Lüge Gebrauch zu machen.«
Wieder führte er das Glas an die Lippen – ich hatte das meine vergessen. In seiner Zigarettendose, die er mir reichte, spiegelte sich die Gasflamme, allein ich schüttelte den Kopf, ohne meine Augen von den seinen abzuwenden.
»Der Teufel ließ nicht lange auf sich warten,« fuhr Raffles lachend fort. »Ehe ich den ersten Löffel Suppe gekostet hatte, war ich mit mir im reinen, was ich tun wollte. Ich hatte beschlossen, die Bank zu bestehlen, statt zu Bett zu gehen, und vor dem Frühstück wieder in Melbourne zu sein, wenn des Doktors Stute das leisten konnte. Diesem wollte ich sagen, ich hätte mich verirrt, sei stundenlang im Busche umhergeritten – was ja auch leicht hätte geschehen können – und habe Yea gar nicht erreicht. In Yea dagegen würde der falsche W. F. Raffles und der Bankräuber stets unter der Bande gesucht werden, die dem neuen Geschäftsführer aufgelauert und ihn ermordet hatte, um den Raub auszuführen. Du erwirbst dir ja allmählich einige Erfahrung in solchen Dingen, Bunny, und ich frage dich, konnte es eine bessere Gelegenheit geben? Gestern abend lagen die Verhältnisse ziemlich ähnlich, ohne indessen auch nur annähernd so erfolgversprechend zu sein, und ich war mir von Anfang an über alles so klar – sah das Ende, noch ehe ich meine Suppe verzehrt hatte.
»Meine Aussichten auf einen glücklichen Ausgang wurden noch dadurch vermehrt, daß der Kassierer, der ebenfalls im Bankgebäude wohnte, während der Weihnachtsferien abwesend war; er hatte eine Spritztour nach Melbourne unternommen, um uns spielen zu sehen. Der Mann, der mein Pferd in den Stall geführt hatte, bediente uns auch bei Tische, denn er und seine Frau waren die einzigen Dienstboten, und sie schliefen in einem Nebengebäude. Daß ich alles das ermittelt hatte, noch ehe wir mit unsrer Mahlzeit zu Ende waren, versteht sich von selbst. In der Tat stellte ich etwas zu viele Fragen (die kitzlichste war diejenige, welche mir auf Umwegen enthüllte, daß meines Tischgefährten Name Ewbank war), und ich war auch nicht vorsichtig genug, ihren Zweck ganz zu verheimlichen.
»›Wissen Sie,‹ meinte Freund Ewbank, der zu den offenherzigen Leuten gehörte, ›wenn Sie es nicht wären, würde ich glauben, Sie hätten Angst vor Räubern. Haben Sie Ihren Mut verloren?‹
»›Das will ich nicht hoffen,‹ antwortete ich ziemlich erschreckt, wie ich dir versichern kann, ›aber – na, es ist nicht gerade ein Spaß, einem Menschen eine Kugel durch die Rippen jagen zu müssen.‹
»›So?‹ sagte er ruhig. ›Für mich wäre das ein Hauptspaß – außerdem ist die Ihre nicht ganz durchgegangen.‹
»›Ich wollte, sie wäre es!‹ war ich schlau genug, auszurufen.
»›Amen!‹ erwiderte er.
»Dabei leerte ich mein Glas. Ich wußte tatsächlich nicht, ob der Einbrecher, auf den der wirkliche W. F. Raffles geschossen hatte, im Gefängnis saß, tot, oder entkommen war!
»Aber jetzt, wo ich über und über genug davon hatte, kam Ewbank immer wieder auf die Geschichte zurück. Er gab zu, daß die Angestellten nur gering an Zahl seien, allein er selbst führe immer einen geladenen Revolver bei sich, bei Nacht unter dem Kopfkissen, bei Tage unter dem Zahltische, und warte nur auf die Gelegenheit, ihn zu gebrauchen.
»›Unter dem Zahltisch?‹ war ich Esel genug, zu fragen.
»›Nun, da hatten Sie den Ihren doch auch!‹
»Bei diesen Worten sah er mich so erstaunt an, daß mir eine innere Stimme zuflüsterte, es würde in Anbetracht der Tat, die mir zugeschrieben wurde, ein verhängnisvoller Fehler sein, wenn ich etwa gesagt hätte: ›Natürlich – daran dachte ich im Augenblick nicht.‹ Demnach schielte ich an meiner Nase entlang und schüttelte den Kopf.
»›In den Zeitungen hat's doch so gestanden!‹ rief er.
»›Nein, nicht unter dem Zahltische,‹ antwortete ich.
»›Das ist aber doch Vorschrift.‹
»Einen Pulsschlag lang war ich wie vor den Kopf geschlagen, allein ich sah wohl noch verschmitzter aus als vorher, und meine Worte straften meinen Ausdruck nicht Lügen, wie ich mir schmeichelte.
»›Vorschrift!‹ sagte ich endlich so geringschätzig, als ich konnte. ›Ja, wenn wir die Vorschrift befolgen wollten, wären wir alle schon lange tot. Mein lieber Freund, glauben Sie, ein Einbrecher würde Ihnen Zeit lassen, Ihr Schießeisen von der Stelle zu holen, wo er weiß, daß es liegt? Ich hatte meins in der Tasche und fand Gelegenheit – mich anscheinend mit großem Widerstreben – vom Zahltisch zu entfernen.‹
»Ewbank starrte mich mit großen Augen an, und dann schmetterte er mit der Faust auf den Tisch, daß es krachte.
»›Donnerwetter, das war aber schlau! Indessen –‹ fuhr er fort, wie ein Mensch, der seinen Irrtum nicht eingestehen will, ›in den Zeitungen stand's anders, wissen Sie.‹
»›Selbstverständlich,‹ entgegnete ich, ›denn die brachten einfach, was ich ihnen sagte. Sie werden doch nicht erwarten, daß ich meine kleine Verbesserung der Bankvorschriften in die Welt hinausposaunen soll, wie?‹
»Diese Wolke zog also glücklich vorüber, und es war, bei Gott, eine Wolke mit goldenem Saume! Kein Silber – nein, echtes, gutes, australisches Gold! Denn erst jetzt imponierte ich dem alten Ewbank; er war von zähem Holz, viel älter als ich, und ich fühlte ziemlich deutlich heraus, daß er mich für zu jung für die Stelle hielt und glaubte, meine angebliche Heldentat sei nur ein glücklicher Zufall gewesen. Allein ich habe niemals einen Menschen seine Ansicht so unverhohlen ändern sehen. Er brachte seinen besten Kognak zum Vorschein, bestand darauf, daß ich die Zigarre wegwarf, die ich rauchte, und öffnete ein frisches Kistchen. Sein Äußeres mit dem roten Schnurrbart und den launigen Zügen verriet, daß er gute Gesellschaft liebte, und von dem Augenblick an gab ich mir Mühe, ihn an diesem schwachen Punkte zu fassen. Aber er war kein Rosenthall, Bunny, er hatte einen klaren Kopf und eine ausgepichte Kehle, so daß er mich zehnmal für einmal unter den Tisch hätte trinken können.
»›Schön,‹ dachte ich bei mir, ›Sie mögen immerhin nüchtern zu Bett gehen, Freundchen, aber trotzdem werden Sie schlafen wie ein Klotz!‹ Ich goß die Hälfte von dem, was er mir einschenkte, zum Fenster hinaus, wenn er sich abwandte.
»Aber Ewbank war ein guter Geselle, und du darfst dir ja nicht einbilden, daß er unmäßig gewesen wäre. Gesellig nannte ich ihn, und ich wollte nur, er wäre noch etwas andres gewesen. Allein je weiter der Abend fortschritt, umso freundlicher wurde er, und so machte er es mir nicht schwer, ihn zu veranlassen, mich zu einer Zeit in der Bank umherzuführen, die für ein solches Geschäft höchst ungewöhnlich war. Das war, als er seinen Revolver holte, ehe wir schlafen gehen wollten. Zwanzig Minuten hielt ich ihn noch fest, und bevor ich Ewbank in meinem Zimmer die Hand schüttelte, kannte ich jeden Zoll des ganzen Grundstücks.
»Was ich während der nächsten Stunde tat, würdest du schwerlich erraten, Bunny. Ich entkleidete mich und ging zu Bett. Die beständige Nervenanspannung, die selbst die bestdurchdachte Personifizierung eines andern mit sich bringt, ist das Angreifendste, was ich kenne, doch wie viel schlimmer ist es noch, wenn einem die Darstellung eines andern unversehens aufgenötigt wird! Es ist, als ob man bei schlechter Beleuchtung Cricket spielte; ein ganz unbedeutendes Wort kann zum Verräter werden. Ich habe dir nicht die Hälfte von den Verlegenheiten erzählt, in die ich während einer Unterhaltung geriet, die stundenlang dauerte und zuletzt gefährlich vertraulich wurde. Du kannst sie dir aber selbst vorstellen, und dann male dir aus, wie ich im Bett liege und Kräfte für die große Tat der Nacht sammle.
»Wiederum hatte ich Glück, denn es dauerte nicht lange, so hörte ich meinen lieben Ewbank schnarchen wie ein Harmonium, und diese Musik hörte nicht einen Augenblick auf. Als ich mich leise hinausschlich und die Tür meines Zimmers hinter mir schloß, ertönte sie lauter denn je, und während der kurzen Zeit, die ich an seiner Tür horchte, sägte er mit derselben regelmäßigen Taktmäßigkeit weiter. Ein Konzert, das mir besser gefallen hätte, habe ich noch nie gehört. Der gute Kerl schnarchte mich zum Hause hinaus, und er schnarchte immer noch, als ich unter seinem offenen Fenster stehen blieb und lauschte.
»Warum ich das Haus zuerst verließ? Um mein Pferd einzufangen, zu satteln und in einem nahegelegenen Gebüsche anzubinden, denn meine Flucht mußte vollständig und gründlich vorbereitet sein, ehe ich an die Arbeit ging. Oft habe ich mich über diese instinktive Vorsicht gewundert, denn ohne es zu wissen, handelte ich einem Grundsatze gemäß, der seitdem einer der führenden meines Lebens geworden ist. Umsicht und Geduld waren erforderlich: ich mußte meinen Sattel nehmen, ohne den Stallknecht zu wecken, und das Einfangen eines Pferdes in der Koppel war auch ungewohnte Arbeit für mich. Ferner hatte ich kein großes Vertrauen zu der Leistungsfähigkeit der armen Stute, weshalb ich in den Stall zurückkehrte und ihr einen Hut voll Hafer holte, den ich ihr mitsamt dem Hute im Gebüsch ließ. Auch mit einem Hunde mußte ich rechnen (Hunde sind unsre allerschlimmsten Feinde, Bunny), aber ich war schlau genug gewesen, mich im Laufe des Abends ganz ungeheuer mit ihm anzufreunden, und er empfing mich schweifwedelnd, nicht nur als ich hinunterkam, sondern auch als ich an der Hintertür wieder erschien.
»Als der angebliche neue Geschäftsführer war ich natürlich in der Lage gewesen, den armen Ewbank über alles auszufragen, was den Betrieb der Bank betraf, besonders während der letzten unschätzbaren Augenblicke, bevor wir uns getrennt hatten. Dazu gehörte auch die sehr natürliche Frage, wo er die Schlüssel bei Nacht aufbewahre, und welchen Ort er mir als den geeignetsten dazu empfehle. Natürlich dachte ich, er werde sie mit in sein Zimmer nehmen, aber da war ich auf dem Holzwege: er versteckte sie auf eine viel schlauere Weise. Wie, darauf kommt es nicht an, aber kein Uneingeweihter würde die Schlüssel gefunden haben, und wenn er monatelang gesucht hätte.
»Ich hatte sie natürlich in wenigen Augenblicken und stand gleich darauf im Kassengewölbe selbst. Der Mond war inzwischen aufgegangen und übergoß die Bank mit einem Meer von Licht, allein ich hatte auch ein Kerzenstümpfchen aus meinem Zimmer mitgebracht, das ich im Kassengewölbe anzuzünden kein Bedenken trug. In dieses gelangte man mittels einer schmalen Treppe, die hinter dem Zahltisch im eigentlichen Geschäftszimmer anfing. Ein Fenster hatte das Gewölbe nicht, und obgleich ich den alten Ewbank nicht mehr schnarchen hören konnte, befürchtete ich keine Störung von dieser Seite. Einen Augenblick dachte ich daran, mich einzuschließen, während ich an der Arbeit war, aber zum Glück hatte die eiserne Tür kein Schlüsselloch auf der Innenseite.
»Im Schranke lagen Haufen von Gold, aber ich nahm nur so viel, als ich nötig hatte und bequem tragen konnte, nicht mehr als ein paar hundert Pfund. Banknoten rührte ich nicht an, und meine angeborene Vorsicht zeigte sich auch darin, daß ich die Sovereigns auf alle meine Taschen verteilte. Du hältst mich noch jetzt für zu vorsichtig, aber damals war ich's noch weit mehr. Das hielt mich etwas länger da unten auf, als unbedingt notwendig war, und so kam es, daß, als ich mich anschickte zu gehen, heftig an die äußere Tür geklopft wurde.
»Bunny, ich meine die äußere Tür vom eigentlichen Geschäftszimmer! Mein Licht mußte gesehen worden sein! Da stand ich nun in diesem Backsteingrabe von einem Kassengewölbe, und das geschmolzene Unschlitt des Lichtes lief mir heiß über die Finger!
»Nur eins blieb mir zu tun übrig. Ich mußte mich auf Ewbanks tiefen Schlaf verlassen, die Tür selbst öffnen, den Besucher niederschlagen oder mit dem Revolver niederschießen, den ich mir klugerweise vor meiner Abreise von Melbourne gekauft hatte, und dann das Gebüsch und des Doktors Stute zu erreichen suchen. Mein Entschluß war sofort gefaßt, und ich hatte, während das Klopfen fortdauerte, die oberste Stufe der Treppe schon erreicht, als ein andres Geräusch mich zurücktrieb, das Geräusch bloßer Füße, die über den Gang kamen.
»Meine schmale Treppe war von Stein, ich stolperte hinab, ohne viel Lärm zu machen, und brauchte die eiserne Tür nur aufzustoßen, denn ich hatte die Schlüssel im Schrank stecken lassen. Als ich das tat, hörte ich, wie oben auf eine Klinke gedrückt wurde, und ich dankte den Göttern, daß ich alle Türen hinter mir verschlossen hatte. Wie du siehst, mein guter Junge, hat Vorsicht manchmal auch ihr Gutes.
»›Wer klopft denn da?‹ rief Ewbank oben.
»Die Antwort verstand ich nicht, aber sie klang mir wie die Bitte eines Erschöpften. Was ich jedoch deutlich hörte, das war das Spannen eines Revolvers, bevor die Riegel zurückgezogen wurden. Dann folgte ein schwankender Schritt, keuchender Atem und Ewbanks entsetzte Stimme: ›Großer Gott! Was ist Ihnen denn zugestoßen? Sie bluten ja wie ein Schwein!‹
»›Jetzt nicht mehr!‹ antwortete der andre mit einem Seufzer der Erleichterung.
»›Aber Sie sind ja ... Wer hat das getan?‹
»›Buschräuber!‹
»›Unten an der Straße?‹
»›Zwischen hier und Whittlesea – an einen Baum gebunden – nach mir geschossen – dann verlassen – sollte verbluten! ...‹
»Die schwache Stimme erlosch, und die bloßen Füße eilten davon. Jetzt war meine Zeit gekommen – wenn der arme Teufel ohnmächtig geworden war. Aber das konnte ich nicht bestimmt wissen, und ich kauerte da unten im Dunkeln an der halbgeschlossenen eisernen Tür, vom Schreck gelähmt und gefangen. Und das war ganz gut, denn Ewbank kam sofort wieder.
»›Trinken Sie das,‹ hörte ich ihn sagen, und als der andre wieder sprach, klang seine Stimme kräftiger.
»›Jetzt werde ich erst wieder lebendig ...‹
»›Sprechen Sie nicht!‹
»›Ach, das hat mir wohlgetan. Sie haben keine Vorstellung, was es heißt, diese weite Strecke allein zurückzulegen und höchstens eine Meile in jeder Stunde! Ich glaubte nicht, daß ich es überleben würde, und ich muß Ihnen alles erklären – im Falle ich doch noch erliege.‹
»›Trinken Sie erst noch einen Schluck.‹
»›Danke ... Ich sagte Buschräuber; natürlich gibt's die jetzt nicht mehr.‹
»›Was für Leute waren es denn?‹
»›Bankdiebe. Einer von ihnen war derselbe Schuft, den ich mit einer Kugel im Leibe aus der Bank in Coburg verjagt habe.‹«
»Das habe ich mir doch gleich gedacht.«
»Natürlich hast du dir das gedacht, Bunny; und ich da unten im Kassengewölbe hatte es mir auch gedacht, aber der alte Ewbank wollte es nicht gleich glauben, und seine Antwort ließ so lange auf sich warten, daß es mir vorkam, als habe er die Sprache verloren.
»›Sie reden im Fieber,‹ sagte er endlich. ›Wer, in Dreiteufelsnamen, bilden Sie sich denn ein, zu sein?‹
»›Der neue Geschäftsführer.‹
»›Der neue Geschäftsführer liegt oben im Bett und schläft.‹
»›Wann ist er denn angekommen?‹
»›Heute abend.‹
»›Nannte er sich Raffles?‹
»›Ja.‹
»›Himmel Donnerwetter!‹ flüsterte der echte Raffles. ›Ich glaubte, es sei nur Rache, aber jetzt seh' ich, was dahintersteckt. Mein lieber Herr, der Mensch da oben ist ein Betrüger – wenn er überhaupt noch oben ist. Er muß einer von der Bande sein, und er will die Bank bestehlen – falls er dies nicht schon getan hat!‹
»›Falls er es nicht schon getan hat,‹ wiederholte Ewbank, ›wenn er überhaupt noch oben ist. Bei Gott, dann kann er mir leid tun!‹
»Sein Ton war ganz ruhig, klang aber verdammt ungemütlich. Ich sage dir, Bunny, ich war froh, daß ich den Revolver bei mir hatte, denn es sah so aus, als ob es meinen gegen seinen gelte, Mündung gegen Mündung.
»›Lassen Sie uns lieber zuerst mal unten nachsehen,‹ sagte der neue Geschäftsführer.
»›Daß er sich mittlerweile durchs Fenster auf und davon macht? Nein, nein, da unten ist er nicht.‹
»›Aber mal nachzusehen, kostet ja nicht viel Zeit.‹
»Bunny, wenn du mich fragst, welcher der Augenblick der größten Spannung in meiner ehrlosen Laufbahn war, dann sage ich, es war dieser. Da stand ich am Fuße der schmalen Steintreppe im Innern des Gewölbes hinter der einen guten Fuß offen stehenden Tür, und ich wußte nicht, ob sie knarren würde oder nicht. Das Licht kam näher – und ich wußte es noch nicht! Ich mußte es darauf ankommen lassen. Doch sie knarrte nicht im geringsten, sie war viel zu fest und gut in ihren Angeln aufgehängt, und zuschlagen hätte ich sie beim besten Willen nicht können: dazu war sie zu schwer. Sie schloß so genau, daß ich die entweichende Luft an meinem Gesicht fühlte. Jeder Schimmer von Licht verschwand, nur unten blieb ein feiner Streifen sichtbar, der heller wurde. O, wie ich diese Tür segnete!
»›Nein, da unten ist er nicht,‹ hörte ich, als ob der Schall durch Watte gedämpft wäre; dann verschwand auch der feine Streifen, und nach wenigen Augenblicken wagte ich, die Tür wieder zu öffnen, gerade zur rechten Zeit, um zu vernehmen, wie sie nach meinem Zimmer schlichen.
»Jetzt hatte ich nicht den geringsten Bruchteil einer Sekunde zu verlieren, aber es macht mich stolz, daß ich sagen kann, ich flog die Treppe auf Fingern und Zehen empor und hinaus aus dem Bankgebäude (sie hatten sich entfernt und die Tür offen gelassen) so vorsichtig, als ob mir eine endlose Zeit zu Gebote gestanden hätte. Nicht einmal den Hut vergaß ich, woraus des Doktors Stute, so gut sie es mit dem Gebiß im Maule konnte, ihren Hafer fraß, denn der Hut allein hätte genügt, mich zu überführen. Ich ritt auch nicht im Galopp davon, sondern trabte ruhig in dem dicken Staube an der Seite der Straße einher (obgleich mein Herz galoppierte) und dankte meinem Stern, daß das Bankgebäude am Ende der Stadt lag, in die ich keinen Fuß gesetzt hatte. Das letzte was ich hörte, war, wie die beiden Geschäftsführer Cairo, den Hund, und den Kutscher riefen. Und nun, Bunny ...«
Bei diesen Worten stand er auf und streckte sich mit einem Lächeln, das in ein Gähnen überging. Die schwarzen Fenster hatten allmählich alle Schattierungen von Indigo durchgemacht, jetzt fiel die kalte graue Morgendämmerung herein und die Gasflammen flimmerten mit fahlem Scheine in ihren Glaskugeln.
»Aber das ist doch noch nicht alles?«
»Es tut mir leid,« antwortete Raffles, als ob er sich entschuldigen müsse, »aber das ist alles. Die Geschichte hätte mit einer aufregenden Hetzjagd schließen sollen, das weiß ich, allein sie tat es nicht. Wahrscheinlich glaubten die beiden, ich hätte einen zu großen Vorsprung; außerdem waren sie auch überzeugt, ich gehöre zu der Bande, die nicht so sehr weit entfernt war, und einer von den beiden hatte auch schon genug von dieser zu leiden gehabt. Allein das alles konnte ich natürlich nicht wissen, und so fehlte es doch nicht an Aufregung für mich, wie ich zugeben muß. Großer Gott, wie habe ich das arme Vieh abgehetzt, als ich unter die Bäume kam! Unsre Hinreise war die reine Schneckenpost dagegen, aber der gestohlene Hafer kitzelte das alte Frauenzimmer, so daß es geradezu durchging, als ich es nach Süden lenkte. Zwischen den Bäumen und unter den Ästen durchzukommen mit der Nase in der Mähne, das war wahrhaftig kein Spaß! Ich habe dir ja schon von dem Walde mit den abgestorbenen Gummibäumen erzählt! Die sahen im Mondlicht ganz gespensterhaft aus, und er war gerade so, wie ich ihn verlassen hatte – so still, daß ich dort meinen ersten Halt machte und eine ganze Weile mit dem Ohr auf der Erde horchte. Allein ich hörte nichts – nichts als das Keuchen der Stute und mein eigenes Herz. Es tut mir leid, Bunny, aber wenn du jemals meine Memoiren schreibst, so kann es dir ja nicht schwer werden, die Verfolgung sehr hübsch und spannend herauszuarbeiten. Die abgestorbenen Gummibäume sind dabei ausgezeichnet verwendbar, und die Kugeln kannst du fliegen lassen wie Hagel. Ich drehe mich im Sattel um und sehe Ewbank auf schaumbedecktem Pferde in seinem weißen Anzug angejagt kommen – den ich sehr bald rot färbe. Allein du mußt in der dritten Person schreiben, damit die Leser nicht wissen, wie es endet.«
»Aber das weiß ich ja selbst nicht,« klagte ich. »Hast du die Stute bis nach Melbourne geritten?«
»Jeden Schritt oder Meter! Ich ließ sie in unserm Hotel gut verpflegen und schickte sie dem Doktor am Abend zurück. Daß ich mich im Busch verirrt hatte, schien ihm ungeheuren Spaß zu machen. Am nächsten Morgen brachte er mir die Zeitung, um mir zu zeigen, welchem Unglück ich in Yea entgangen war.«
»Hatte er denn keinen Verdacht?«
»Ja,« sagte Raffles, als er das Gas ausdrehte, »das ist ein Punkt, worüber ich nie recht ins klare gekommen bin. Die Stute und ihre Farbe stimmten – glücklicherweise war sie wie die meisten Pferde braun – und auch der Zustand des Tieres dürfte ihm verdächtig erschienen sein. Sein Benehmen mir gegenüber hatte sich jedenfalls etwas geändert, so daß ich im ganzen der Annahme zuneige, daß er irgend etwas geargwöhnt hat, aber nicht das Richtige. Ich hatte seinen Besuch nicht erwartet, und ich fürchte, mein Äußeres hat seinen Verdacht noch verstärkt.«
»Warum?« fragte ich ihn.
»Ich trug früher einen starken Schnurrbart,« antwortete Raffles, »aber den verlor ich an dem Tage, nachdem ich meine Unschuld eingebüßt hatte.«