Hans Hopfen
Verdorben zu Paris
Hans Hopfen

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VII.

Es war noch im November. Der Tag verging, aber es dunkelte noch nicht recht.

Curt schritt ungeduldig, die Hände in den Taschen, die Gasse zwischen den Zechtischen auf und ab. Die Gäste sprachen nicht zu ihm, denn er war heute schon dem Einen und Anderen auf gutgemeinten Zuspruch die Antwort schuldig geblieben.

Euphrasie saß auf ihrem gewöhnlichen Platz; sie nähte emsig. Aber ihre Blicke hafteten nicht an der hurtigen Nadel, sondern flogen nach dem schweigenden Freunde und von diesem wieder nach den Gästen, ob keiner etwas brauchte oder verlangte, und auf ihre leisen Winke eilten die Kellner hin und her.

Die ganze Wirthschaft war stiller als sonst, selbst die lustigsten Leute redeten nur leise mit einander und wußten doch nicht warum.

Da klirrte die Thüre und der Studiosus Sève trat hastig ein.

Hastiger trat ihm der Baron entgegen und ergriff ihn fragend am Handgelenk:

– Bringen Sie was Neues?

– Ja. Können Sie mit mir fortgehen?

– Sogleich, mein Herr. Gedulden Sie sich nur einen kurzen Augenblick.

Während Curt sich zum Gehen anheischig machte, trat der Mediciner schmunzelnd, aber nicht ohne gravitätische Geheimnißthuerei an das Kathederchen heran.

Er streichelte mit seinen klobigen Fingern die ruhende Hand der Comtoirdame, welche dieser Liebkosung gar kein Acht hatte. Aus ihren großen Augen sprach ein ernster Kummer.

– Sie ist todt? lispelte Euphrasie.

– Todt und begraben.

– Und er weiß es seit . . .?

– Seit gestern Mittag.

Es entstand eine kleine Pause.

Dann fragte Euphrasie wieder:

– Haben Sie nun das Hospital erkundschaftet, wo die Arme gestorben?

– Das war nicht schwer. Sie starb in der école de médicine. Einer meiner Freunde hat sie dort behandelt. 75

– Und davon haben Sie nichts gewußt bis vorgestern? Aber Herr Sève . . .

– Ich besuche die medicinische Schule nicht mehr so fleißig wie damals . . . Damals, Euphrasie . . .

– Damals, schon gut! erwiderte die leise, aber zärtlich Apostrophirte im trockensten Tone. Aber jetzt, jetzt führen Sie doch den Baron dorthin?

– Nicht sogleich.

– Wohin denn zuvörderst?

Das Gespräch wurde nicht weiter fortgesetzt. Der Baron rührte Sève an der Schulter und Beide machten sich von hinnen.

– Rechtsum bitte ich, rief der Student, da Curt, vor die Thüre gekommen, sofort sich nach links wendete. Wir gehen erst später nach der medicinischen Schule.

– Warum das?

– Weil Fräulein Fröhlich vorher und die längere Zeit in einem anderen Hospital krank gelegen.

– Ist es weit dahin?

– Das Boulevard hinab. Zunächst dem Observatoire –

– Die Maternité? fiel Curt überrascht ein und hielt im Gehen inne.

Sève nickte mit dem Kopfe und fuhr fort zu reden, als sie wieder weiter schritten.

– Sie ward dahin durch die Polizei gebracht, und wie ausdrücklich angegeben ist, auf ihr eigenes Bitten. Sie lag vier Tage lang in delirirenden Fiebern und dann noch drei Wochen an den Folgen einer Fehlgeburt, welche wahrscheinlich durch eine arge Erkältung herbeigeführt worden war. Hernach wurde sie nach den schriftlichen Aufzeichnungen angeblich geheilt. entlassen.

– Angeblich geheilt! wiederholte der Baron.

Dann schritten die Beiden schweigend und einig neben einander fort. Zuweilen blinzelte der Kleine seinen Nebenmann von der Seite an, aber er empfand keine Aufforderung, wieder das Wort zu ergreifen.

Es nachtete bereits.

Die Luft war dicht und feucht. Die häufigen Laternen gaben ihr einen röthlichen Schein, der keinen Glanz hatte, sondern eine Färbung wie von Rost und Fäulniß. Durch den falben Regen flogen – Seltenheiten zu Paris – einzelne Schneeflocken dünn und leicht. Man sah sie ein Weilchen glitzernd auf den Pfützen schwimmen und eilig vergehen, um spurlos mit dem anderen Schlamm dahinzurinnen. –

In der Maternité angekommen, ward dem Baron vor Allem Gelegenheit gegeben, in den kurzen Notizen der Bücher die Bestätigung der Worte Sève's zu finden, welcher, mit Erlaubniß der Vorstände und der geeigneten 76 collegialen Nachhilfe, diese Einsicht ermöglichte. Dies geschehen, nahm der Student Curt an der Hand und führte ihn über Gänge und Treppen, bis er einen Aufwärter fand, dem er eine Frage stellte, einen Auftrag gab. Dann trat er mit dem Baron in eine von dem Diener bezeichnete Stube und hieß Jenen niedersitzen und warten.

Sie hatten kaum Zeit, die getünchten, mit einem hölzernen Crucifix und zwei Heiligenbildern geschmückten Wände des kleinen Gemachs mit den Augen zu streifen, als der Diener wieder kam und sie in ein anderes Gelaß führte. Es hatte die gewöhnliche Einrichtung eines Krankensaales. Die Hälfte der Betten etwa stand leer.

Sève bedeutete seinem Begleiter, daß hier nur Reconvalescenten und leichte Fälle zu liegen kämen.

Ein junger Arzt ging den Eintretenden entgegen, begrüßte, ohne ein Wort zu reden, höflich den Baron und schüttelte dem Studenten derb die Hand. Dann schritt er die Gasse zwischen den Betten hinauf und bat eine Nonne, welche, langsam auf- und niederwandelnd, in einem Gebetbüchlein las, sich zu den Angekommenen zu verfügen.

Sie senkte die gefalteten Hände mit dem Buche tief herab, daß die hängenden Arme in den weiten Aermeln mit den großen über den Kopf zusammengefaßten Flügeln der weißen Haube ein längliches Viereck beschrieben, dessen stumpfe Winkel die Ellbogen bildeten.

An dem Gesichte war bei der mäßigen Beleuchtung weder Farbe noch Alter zu erkennen; es schien in der mumienhaften Verhüllung, die kein Härchen sehen ließ, immer weiter zurückzutreten, immer kleiner zu werden, je näher die Gestalt kam. Sie räusperte sich mehrmals und nahm schweigenden Dankes Grüße und Bitten hin, welche nun Sève im Namen des Barons ausführlich und mit einer bisher an ihm unentdeckten Devotion stylisirte.

Während er sprach, heftete sie ihre Blicke auf den Fußboden und blieb eine Weile in dieser Verfassung, auch nachdem Jener nichts mehr zu sagen hatte.

Es ward eine tiefe Stille im weiten Saale, welche nur einzelne Seufzer der Kranken, oder ein Hüsteln, oder das leise Klirren eines Glases unterbrach, das irgend eine schwache Hand mühsam ergriff, um es an bleiche Lippen zu führen.

Dann räusperte sich die barmherzige Schwester nochmals, ähnlich wie ein Prediger, der nach stillem Beten sich zum Reden anschickt, um zuweilen ihre Blicke vom Estrich abwendend, wie um den Eindruck ihrer Worte in den Zügen der Kundeheischenden zu beobachten, sprach sie mit leiser sanfter Stimme: 77

– Sie kommen zu mir, um sich über die arme Marguerite Fröhlich zu erkundigen, welche ich, so lange sie in diesem Hause lag, zu pflegen hatte. Ueber die Krankheit ihres Körpers werden Ihnen die Aerzte wol genaueren Aufschluß schon gegeben haben, als ich geben könnte. Aber Sie haben Recht, mein Herr, wenn Sie sich denken, daß ich nicht nur ihren siechen Leib, auch ihre vielleicht siechere Seele gewartet und gepflegt habe, so gut es Gott eben in meinen Kräften hat stehen lassen. Es war nicht leicht und es wurde mir auch nicht leicht gemacht. Die Herren Aerzte haben über mancherlei Dinge gar eigene Ansichten, und Mancher, der des Heils bedarf, wird nur – geheilt entlassen.

Als man das Fräulein brachte, war ihr Geist getrübt. Ein heftiges Deliriren half ihr über das Bewußtsein ihrer physischen Schmerzen hinweg, und ich meinte diese Abwesenheit von sich selbst aus eben diesem Grunde anfangs segnen zu müssen. Allein das Fieber nahm zu; man fürchtete für ihr Leben. Sie war zu schwach, um einen Finger zu bewegen. Aber die Augen gingen wild im Kreis umher und aus den stets geöffneten Lippen schäumte die Wuth in blasphemirenden Anklagen, die sich nur mit Entsetzen anhörten. Waren es Traumbilder, die der Fieberwahn ihr vorgaukelte, waren es Erinnerungen aus der kaum vergangenen Wirklichkeit, ich weiß es nicht; aber ich hätte nimmer geglaubt, daß so viel Grimm und Haß über die Lippen eines Weibes sich wagen könnten. Es war, als ob sie immer aus einem tiefen Schlaf erwachte und nun zu höchster Ueberraschung das Abscheulichste sähe, dessen sie sich dann mit schwindenden ungenügenden Kräften zu erwehren hätte, das sie zu bewältigen, zu ersticken, zu erdrücken schien und dem sie doch immer wieder entglitt, entwischte. entfloh, um dann ihre Klagen und Anklagen mit Spott und Hohn zu überbieten.

Zureden und Beschwichtigen machten dies Rasen nur ärger. Ihre wüthende Beredtsamkeit ergoß sich dann auch über uns, auch über alles Lebendige, bis sie nicht mehr konnte und in sich versank. Wenn sie so schweigend und stille lag, kam allgemach ein Frösteln und Schaudern über sie und eine Angst, so bitterlich, daß sie weinte und wir mit ihr. Wer konnte sich der Thränen erwehren!

Es dauerte nicht lang und es war ihr Haar in Schweiß gebadet wie ihr Körper und sie klagte, daß sie die Füße nicht mehr weiter tragen könnten und sie zusammenbrechen müßte und daß es sie fröre, so elendiglich fröre.

Dann suchte sie mit den Augen auf und ab und wimmerte und bat, man möge sich ihrer erbarmen, sie in Gottes Namen aufnehmen, sie zu den Schwestern bringen, »den guten Schwestern, den barmherzigen Schwestern, die mir helfen, die mich wärmen, die mich trocknen werden, die mit mir, für mich beten werden – ach, welche gute Sach' es ums Beten ist!«

78 So sprach sie wol hundertmal und griff nach meinen Händen und streichelte sie und ließ sich die ihren halten und sagte jedes Wort, das man ihr vorsagte, mit einer Inbrunst und kindlichen Frömmigkeit nach, wie sie nicht rührender gedacht werden kann.

In dieser Weise ließ sich ihr Geist seinen fluchsüchtigen Groll und Hader allmälig entwinden. Wie ein schützender heilsamer Verband legte sich um ihre Seele der Schlaf, viel Schlaf, schwerer, lang andauernder, heilsamer Schlaf.

Erwachte sie daraus, so blieb ihr ganzes Wesen doch tief in Müdigkeit getaucht und lethargisch gefesselt. Nur die Augen sprachen, wenn sie bitten wollte, nur die Hände regten sich, wenn sie beten mußte. Sie hatte so schöne, blasse, durchsichtige Hände.

Allmälig erstarkte sie nunmehr in Ruhe. Und wie Leib und Seele sich zu erholen anfingen, ging ein Hoffnungsdämmern über ihr in sich zurücksehendes Gemüth, welches also rasch an Glanz und Kraft zunahm, daß ihr sonstiges Genesen nicht gleichen Schritt damit halten konnte. Freudig horchte sie hin, wenn die Herren Aerzte ihr aufmunternd zureden zu müssen meinten; sie sah fast muthwillig dabei aus. Ist doch die Freude schon der Muthwille des Kranken! Die Herren Aerzte freilich sollten das besser wissen.

Ich redete ihr ernstlich und freundlich zu.

Aber man sah alle Reden von ihr abgleiten und konnte sichs drum nicht verhehlen, daß kein Gedanke in ihr haften blieb. Sie sprach nicht viel und das Wenige sehr gern, obwol es nicht gern zu hören war und einmal wie das andere dasselbe blieb. Wie sie sich freue, nun recht bald zu genesen und wie »Er« nun kommen, bald kommen werde, recht bald kommen müsse.

Ich gestehe, daß ich zuerst in den Wahn gerieth, diesen Gedanken als den Ausdruck frömmerer Sehnsucht eines in der Trübsal geläuterten Herzens übersetzen zu sollen.

Allein Marguerite überzeugte mich nur allzubald meines Irrthums und daß dies »Er« einen irdischen Mann bedeutete, den sie erwartete, einen sündigen Menschen, wie wir es Alle sind.

Vielleicht Sie selber, mein Herr.

Die Züge der Nonne alterirte ein kleines Lächeln, das nicht ohne Verlegenheit, aber auch nicht ohne Bosheit war.

Curt meinte eine ablehnende Bemerkung machen zu müssen, die Barmherzige Schwester kam ihm zuvor und fuhr fort zu sprechen so leise, salbungsvoll und eintönig wie bisher:

– Verzeihen Sie, mein Herr. Die Schilderung jenes ersehnten Mannes, wie man sie sich an den zerstreuten Redensarten der Kranken zusammensetzen konnte, hat kein Gleichen mit Ihnen. Ich mußte mir immer ein 79 verzogenes Kind der Pariser Gesellschaft dabei vorstellen, einen unternehmenden Gecken vielleicht, vielleicht einen sentimentalisirenden Glücksritter, jedenfalls einen Mann im Schoße des üppigsten Behagens. Denn wenn Marguerite ausführlicher auf ihn zu reden kam, so hatte sie Wunders viel zu erzählen von Reisen und Kriegsfahrten, von Rossen und Wagen, von Halbmonden und Ordenssternen, von Geld und Gut und allen glänzenden Dingen dieser eitlen Welt.

Ich weiß nicht, wie viel davon auf Rechnung treuer Erinnerung, wie viel schwärmender Phantasie zu setzen war. Ich versuchte es anfangs, den Zug dieser selbstischen Launen zu unterbrechen und ihre Gedanken auf ernstere und ewige Dinge zu lenken, allein sie widerstand nicht nur, sie grollte oder bemitleidete mich gar und baute dann ihre Schlösser nur umso höher in hellere Luft.

Zuweilen wol, aber selten, unterbrach sie selbst ihre schwelgerische Einbildung mit eigenen und zweifelnden, manchmal trostlosen Einwürfen. Dann gingen ihre Augen wieder recht ängstlich und hilfeheischend im Kreise herum, oder sie weinte gar.

Dann liebte sie es, einen schönen Spruch zu wiederholen, der im heidnischen China gang und gäbe sein und vom großen Confucius selber herrühren sollte, wie sie versicherte:

»Ist doch der Himmel so hoch, warum kann der Mensch nur gebückten Hauptes drunter stehen!«

Sie wußte es so rührend auszusprechen, daß man sich unwiderstehlich angezogen fühlte, sich zu ihr zu setzen und sie zu trösten.

Aber man durfte nur die Absicht merken lassen, sie in ihrer ernsten Stimmung begleiten, sie in ihren Befürchtungen mit tiefer gehenden Gründen trösten zu wollen, so schlug ihr Gemüth jählings um. Ihr Weinen war wie Sprühregen im Frühsommer, der nur den Staub löst und zu behaglicherem Wandeln ladet; sie hoffte, plauderte und schwärmte wieder und verkehrte ihren eigenen Lieblingsspruch:

»Der Himmel ist ja so hoch, man kann drum auch hoch sein Haupt tragen, ohne anzustoßen, und seine Gedanken hoch fliegen lassen, ohne ihn zu kränken.«

So flogen denn ihre Gedanken und überflogen einander immer zu. Ihr letztes Wort beim Einschlafen, ihr erstes am frühen Morgen blieb immer dasselbe:

»Nun wird er kommen, bald, recht bald muß er kommen.

Dabei steigerte sich die Krankheit, in welche sie der Schwächezustand nach dem Ihnen bekannten Unfall kaum merklich übergeleitet hatte. Sie mußte wol von Haus aus dazu disponirt gewesen sein. Fürchterlicher Husten, heftiger Nachtschweiß, Blutspuken, Magerkeit, Schwäche, fruchtloses Mediciniren.

80 Aber sie klagte wenig. Wenn der jeweilige Anfall vorüber war, entschuldigte sie sich lächelnd bei den Aerzten, und bat uns, noch ein Weilchen Geduld zu haben, ein kleines Weilchen nur, denn sie fühle, wie ihr alle Tage leichter würde; bald werde sie ganz genesen sein. Wie freute sie sich zu leben!

Es wäre wol christlicher gewesen, ihr diesen Wahn zu nehmen; aber die Herren Aerzte, die Alles besser wissen, verboten dies barsch. Der Eine meinte gar, dies hoffnungsfreudige Wesen gehöre zu ihrer Krankheit und sei durch Worte nicht zu entfernen.

Ein Anderer sagte anders.

Dieser ging just an ihrem Bette vorüber, als sie des Mittags einmal eingeschlafen war. Sie hatte kurz vorher so recht nach Herzenslust in einer wunderbaren rosigen Zukunft sich ergangen, die vielleicht nicht einmal ihre Vergangenheit gewesen. Sie hatte sich sozusagen im Lande ihrer goldenen Berge müde gelaufen und war auf dem Gipfel ihrer Träume mitten in einem seligen Lächeln eingeschlafen.

Sie lag da wie ein Kind, welches das Spielzeug noch in den Händen hält, das es ergötzt, noch im Ohr den Ruf zur Freude, auf den Lippen einen halbvergessenen Scherz.

Draußen war die Sonne dem Nebel Herr geworden und ein breiter Strahl flog über der so sanft Schlummernden dahin, der die Härchen ihrer Stirne glänzen machte und die Röschen auf ihren Wangen noch röther scheinen ließ.

Der Arzt blieb stehen und faltete unwillkürlich die Hände und fand es dabei nöthig, bittere Redensarten zu verlieren. »Sie sei nicht zu beklagen nicht zu bekehren, nicht zu belehren; sie sähe aus wie eine Heilige, die sie vielleicht auch gewesen im Leben, jedenfalls heiliger als andere, die sich wunderwas gerechter däuchten.«

Mein Herr, ich halte mich für keine Heilige, aber möge es Ihnen auch nicht mißfallen: meine Heiligen sehen nun einmal anders aus als Fräulein Fröhlich, selbst wenn sie schlafen. Die Wahrheit aber ist, sie litt wie eine Heilige; sie schlief wie ein Kind, sie schwärmte wie ein Kobold, sie lachte wie eine Weltdame und betete wie eine Klosterfrau. Ihr wird viel vergeben werden.

Die Nonne seufzte tief auf, schien eine Thräne zu verschlucken und fuhr alsbald fort:

– Das Regenwetter hatte sich erschöpft. nachdem es lange genug gehaust.

Die Sonne ward dem Nebel auf die Dauer Herr und führte eine Reihe blauer Tage über den erstaunten Herbst herein, wie sie Niemand mehr verhofft.

81 Marguerite durfte das Bett verlassen, durfte bald die größere Tageszeit außerhalb des Lagers verbringen; und dann saß sie am Fenster und sah hinaus, immer so weit als die Blicke reichen wollten. Sie konnte sich nicht vom Fenster trennen und schien die Sonnenstrahlen zu trinken, einzuathmen.

Luft und Licht und Bewegung ließen ein trügerisches Wohlergehen über sie kommen und mit dem leichteren Gehaben und Sein eine Ungeduld, deren Gleichen ich noch nimmer gesehen. Sie fing an, die Kraft ihrer Finger, die Stärke ihrer Athemzüge zu erproben, sie versuchte sich, wie oft sie im Zimmer, im Garten auf- und abschreiten könnte; sie gab uns unverlangte Beweise, daß sie mit lauter Stimme singen könnte. Widersagte man ihr derartige Anstrengungen, so ward sie verdrossen, finster, schweigsam; sie verhielt ihre Laune und brütete sichtlich über allerhand Entschlüssen. Mit mir sprach sie nicht mehr. Aber mit den Aerzten ward ihr Heischen ins Freie, ihr Flehen um Entlassung immer ernstlicher, immer heftiger, ich möchte sagen, immer zudringlicher und wilder.

Die Herren Aerzte hörten ihr zu und zuckten die Achseln. Einer meinte, solch rapides Erholen gehörte zur Krankheit; freilich ein jäher Luftzug, ein Wechsel im Winde, ein rauher Hauch könnte und würde wahrscheinlich sie ebenso jählings wieder niederwerfen und niederer, als sie schon gelegen, vielleicht bis unter die Erde.

Und eines schönen Tages lächelten die Herren Aerzte wieder recht mitleidig und streichelten ihr das Haar recht freundlich, schrieben ihr die Atteste und ließen sie ziehen.

Sie umarmte mich in stürmischer Freude, sie küßte mir die Hände, sie küßte mir das Gewand, sie dankte für Pflege, Rath und Sorge, sie bat, für sie noch öfters zu beten und dazwischen rief sie eins übers anderemal:

»Er ist gewiß gekommen und ich werde ihn suchen, ihn sehen, vielleicht schon heute, schon heute . . . heute schon! O, welches Glück, zu leben und gesund zu sein! Welches Glück!«

Ich gab ihr das Geleite die Treppen hinab und blieb unter dem Thorweg stehen, um ihr nachzuschauen, wie sie von dannen wanderte, obwol das gegen meine Gepflogenheiten ist; aber ich hatte Marguerite sehr lieb und wußte, daß es geschieden war. Ich mußte die Hand übers Gesicht halten, da ich ihr nachlugte, denn die Sonne schien gar schön und scharf, als Marguerite dahinging, und die Sonne legte schön und schwarz und scharf ihren Schatten auf ihren lichten Pfad.

Sie sah sich nicht um. Aufrecht, im Lichte schwelgend, verfolgte sie ihren Weg, den Weg ins Leben und ins Glück, wie sie meinte. Sie hatte es gar eilig.

Die Sonne schien noch acht Tage lang. Dann ward es wüst und kalt und stürmisch draußen.

82 Ich habe Marguerite nicht wieder gesehen. Was weiter mit ihr sich zugetragen, habe ich nur vom Hörensagen. Die Herren Aerzte, die das besser wissen, werden Ihnen darüber genauere Auskunft geben können. Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen, als etwa noch, daß wir sie Alle sehr geliebt haben, daß wir oft für sie beten und das auch ferner thun wollen. Gott der Herr sei mit uns Allen.

Sie neigte sich tief, sie wendete sich rasch und schlurfte in ihren langen Gewanden dahin, ehe Curt sich hatte bedanken können. Ihre Schritte kreuzten die des Doctors, der sie nach seinen Geberden zu schließen, an eines der nächsten Betten zu gehen bat, über welches sie sich sofort in geschäftiger Sorgfalt niederbeugte. –

Der junge Arzt, ein kräftiger Mann mit blassem wohlwollenden, energischen Gesicht, welchem der leidenschaftliche Berufseifer einen eigenthümlichen, Verwunderung und Verehrung zugleich erzwingenden Glanz anhauchte, kam wieder auf die beiden Männer zu, die sich eben zum Gehen wenden wollten. Mit ausgesuchter und doch ganz ungezwungener Höflichkeit fragte er, ob sie ihm nicht in seinem Wagen das Geleite geben wollten. Dort könnten sie am bequemsten, was noch zu erzählen wäre, besprechen und ihr nächster Weg wäre ja auch der seinige.

Er gab dem Kutscher die Weisung, nach der école de médicine zu fahren und setzte sich neben den Baron, während der Student auf dem Vordersitze ihnen gegenüber Platz nahm.

– Schwester Veronique, sagte der Arzt, wird Ihnen Viel und Mancherlei erzählt haben, was ich weder zu bestreiten, noch zu berichtigen habe. Sie beobachtet scharf und kennt nicht, was die Lüge ist. Ich habe nur zwei Punkte hinzuzusetzen, welche Jene gewiß nicht berührt hat.

Fürs Erste, daß keine bessere, keine hingebendere, keine opferfreudigere Wärterin lebt, als Schwester Veronique. Sie ist in der That eine Freundin, eine Mutter der Kranken ohne Ansehen des Standes, des Alters, des Leidens der jeweiligen Patientin. Wäre Fräulein Fröhlich nun ohnehin schon in ihrer Pflege gut aufgehoben gewesen, so muß im vorliegenden Fall noch angeführt werden, daß das Fräulein es seiner Pflegerin noch ganz besonders angethan hatte. Mein Gott, wer hätte Marguerite gesehen und nicht von Herzen gerne gesehen! Und gar während dieser Passionszeit war ein eigenthümlicher Zauber über ihr ausgegossen, dessen Macht sich Niemand erwehren konnte, der nur in ihren Dunstkreis trat. Ich möchte sagen, daß ihr Wesen eine concentrirte Liebenswürdigkeit aushauchte und, des nahenden Aufhörens gewiß, die Schätze ihrer Anmuth in Minuten verströmte, die für Jahrzehnte eines gemächlichen, zufriedenen Lebens ausgereicht hätten, um glücklich zu machen und glücklich zu sein.

Ich bin kein alter Mann wie Sie sehen, mein Herr, und bin auch über die Jahre hitzigen Schwärmens lange hinaus. Es kann Ihnen also kein besserer 83 Beweis für das eben Gesagte geboten werden, als wenn ich Ihnen versichere: hätte Margueritens pathologischer Zustand die Hoffnung auf Genesung gestattet, ich hätte an diese noch eine andere ehrlich und treu gemeinte Hoffnung geknüpft, obwol ich die Vergangenheit des Mädchens nicht für tadellos erachten konnte.

Wußte ich ja doch, was sie zunächst dem Hospital übermittelt hatte und in welchem Zustande sie dahin gebracht worden war.

Leider war Marguerite nicht mehr zu retten. Ich sah dies tagtäglich sich unwiderleglicher darstellen und konnte mir also keine Illusionen machen, so gern ich es auch gethan hätte.

Nun mag es Sie verwundern, wenn ich sage, daß ich trotzdem und obwol ich wissen mußte, daß die Leidende auf die Dauer des Hospitals nicht werde entbehren können, die Hoffnung, den Wunsch, die Sehnsucht, die in ihr erwachte und erstarkte, nicht nur nicht bekämpfte, sondern sie nährte, Alles that, die Ausführung ihres Vorhabens zu begünstigen und, als es endlich thunlich erschien, ihren Austritt aus der Maternité bewerkstelligte.

Ich brauche Ihnen nicht zu versichern, daß man sich in Hospitälern wenig Mühe geben kann, Genesende, sobald man sie ohne Gefahr für ihren Zustand entlassen darf, wider ihren Willen zurückzubehalten. Wurde Marguerite rückfällig, so war sie bei der Art ihres Leidens und den geltenden Bestimmungen ohnehin nicht mehr geeignet, in der Maternité untergebracht zu werden, welche nur den Zweck erfüllt, den ihr Name bezeichnet. Auch unsere Freundin dankte ihre Aufnahme nicht jenem Uebel, welches erst, während sie sich von den Folgen der Fehlgeburt erholte, seine grausamen Fortschritte machte.

Rückfällig und außer Stande, aus eigenen Mitteln für Wartung und Pflege zu sorgen, gehörte sie in irgend ein anderes Hospital.

Ich selbst gab ihr für den etwaigen, leider mit Sicherheit anzunehmenden Fall die Weisung, sich nach der école de médicine zu begeben, wo ich Freunde habe, die auf meinen Einfluß achten und jeder Empfehlung werth sind.

Ein nicht gering zu schätzender Beweggrund war für mich die Sorge, meine Kranke um jeden Preis aus der Geschäftssphäre der sonst so trefflichen Schwester Veronique zu bringen.

Und hiemit muß ich den zweiten Punkt in deren Wesen berühren, über welchen sich die Gute schwerlich in eigener Rede zur Genüge ausgelassen haben dürfte.

Schwester Veronique glaubt nämlich nicht nur an Wunder, sie hält auch das Wunder für den besten Arzt und liebt es, Wunder, auch unberufene, höchsteigenhändig zu practiciren, sofern selbe nicht im Widerspruch mit den ausdrücklichen Geboten der Kirche, des Ordens und des Hauses sind.

84 Fräulein Fröhlich gehörte, wie die Herren wol wissen werden, der protestantischen Kirche an.

Nach kurzem Widerstreben hatte Schwester Veronique das verirrte Lämmchen nur allzuinnig liebgewinnen müssen. Mit der Dauer der Krankheit aber bildete sich im Geiste der Barmherzigen Schwester immer gewaltiger die Ueberzeugung aus, daß, wo die Hilfe der menschlichen Wissenschaft zu Schanden werde, einzig durch Wunder der Religion geholfen werden könnte, und nichts konnte sie von der Ueberzeugung abbringen, Marguerite würde trotz des Aufgebens der Aerzte von dem Tag an gesunden, da sie in den Schoß der alleinseligmachenden Kirche zurückgekehrt sein werde.

Meine lieben Herren, ich bin Arzt, meine Kirche ist das Pantheon vor der Restauration, meine Heiligen sind Voltaire, Jean Jacques Rousseau, Diderot, d'Alembert. Aber ich kümmere mich nicht darüber, in welcher Weise sich meine Patienten ihre seelischen Bedürfnisse befriedigen. Es geht mich auch nichts an.

Es schlägt nicht in mein Fach.

Hätte Fräulein Marguerite die innere Nöthigung nach einer Conversion verspürt, ich hätte mich der Ausführung dieses Wunsches in keinem Falle widersetzt.

Allein ihre Seele war weit davon entfernt.

In diesem Falle hielt ich es für Pflicht des Arztes, Pflicht des Menschen, dem Kranken sein Menschenrecht angedeihen zu lassen: in Frieden und ohne alle überflüssigen mystischen Plackereien von irgend einer Seite sterben zu dürfen.

Ich verhehlte mir dabei nicht, daß Marguerite in den Tagen, da sie sich selbst überlassen blieb, Unvorsichtigkeiten begehen, es an nöthiger Vorsorge fehlen lassen könnte, wenig an ihrem Zustande bessern, viel aber verschlimmern würde.

Wer weiß, wie Sie, meine Herren, darüber denken; ich bin nun einmal der Ueberzeugung, daß acht Tage in Freiheit, Freude und Sonnenschein zehntausendmal mehr werth sind, als acht Wochen zwischen Matratze und Federbett, zwischen Wärterin und Medicinflasche, zu Häupten das Elend, zu Füßen den sichtbaren Tod.

Sie werden mich vielleicht ebenso befangen und tadelnswerth in meiner Ueberzeugung halten, als Schwester Veronique in der ihrigen, die gewiß nicht lebhafter und heiliger sein kann.

Sie werden mir vielleicht gar einwenden, daß ich durchaus kein Recht hätte, meine Kranken nach solcher Regel zu behandeln.

85 In diesem Falle, meine Herren, muß ich Sie nur auch nicht zu vergessen bitten, daß mir kein Mittel zu Gebote stand, dem ausdrücklichen und nach ihrem damaligen Zustand angesichts der Bestimmungen der Anstalt durchaus nicht ungerechtfertigten Wunsch Margueritens mich zu widersetzen und sie im Hospitale etwa gar gewaltsam zurückzuhalten.

. . . . . Der Doctor schwieg, der Wagen stand stille. Jener ließ den Baron in ein Sprechzimmer bringen, nachdem er allen Dank für die Margueriten erwiesene Sorgfalt wie für die Aufmerksamkeiten der eben verflossenen Stunde freundlichst abgelehnt und sich auch für alle spätere Zeit aufs höflichste zu allen Diensten erboten hatte.

Studiosus Sève hatte in der Anstalt Einiges zu besorgen und folgte zunächst seinem höheren Collegen.

Curt blieb nicht lange allein.

Ein hohe weibliche Gestalt, im nämlichen Habit wie Schwester Veronique, aber sonst in Zügen, Geberden und Gehaben gar sehr von ihr verschieden, erschien in der Thüre. Sie blieb einen Moment auf der Schwelle stehen und begegnete mit zwei funkelnden schwarzen forschenden Augen dem ehrerbietigen Gruße des Barons. Die Art, wie sie alsdann die Thüre hinter sich ins Schloß legte und auf den fremden Mann zuging, war so lebhaft, daß sie in Anbetracht ihres mönchischen Gewandes leicht hätte heftig genannt werden können.

Die Nonne war offenbar noch ziemlich jung und, obwol ihre Züge ohne Regelmäßigkeit, konnte dem Angesichte doch jener Liebreiz nicht abgesprochen werden, den man gemeinhin mit des »Teufels Schönheit« zu bezeichnen pflegt.

Die dunkle Hautfarbe des mageren Angesichts paßte so gut zu den schwarzen Augen und den starken Brauen, die gedämpfte Altstimme klang so wahr und tief bewegt, daß Curt vom ersten Wort an sich zu dem fremden Wesen hingezogen fühlte und in der Stille seines Inneren das Geschick und seine Mittler pries, welche das erlöschende Haupt einer lieben Sterbenden in diese sanfteren, vielleicht nicht immer sündebaren, aber menschlicheren Hände gelegt.

– Ach, Sie hier, mein Herr! war der Ausruf, der vom Munde der Nonne ging, sowie nur die Augen ihn gesehen. Gott sei gelobt, daß Sie endlich kommen! Die Wochen, seit denen ich Ihr Erscheinen jeden Tag erwarte, jede Nacht erbete, waren lang und peinlich. Ich glaubte schon, Sie würden gar nicht eintreffen, und die letzte Hoffnung, welche die Aermste auf Erden gelassen, wäre so eitel wie ihre früheren. Gott sei's gedankt zum andernmal und drittenmal! Ach, weil Sie nur endlich den Weg hieher gefunden haben!

Curt hatte Mühe, den Strom ihrer bitteren Freude zu hemmen und ihr begreiflich zu machen, daß eben nicht er es wäre, auf dessen endliches 86 Kommen die vergessene verlorene Marguerite gehofft, eine Hoffnung, welche diese der Pflegerin ihrer letzten Stunden hinterlassen zu haben schien. Nach dem, was er vor Kurzem von der Barmherzigen Schwester Veronique erfahren müssen, konnte über die Persönlichkeit des Erwarteten kein Zweifel in ihm aufsteigen.

Allein Schwester Therese – so nannte sich die jüngere Nonne – bestritt seine Einwendungen gar heftig und bat ihn, nur geduldig zuzuhören und der Erregung, die sie noch nicht bemeistern konnte, zu verzeihen, wenn sie unzusammenhängend und nicht so deutlich erzählte, wie sie gerne möchte.

Diese Bitte war keine überflüssige, denn es kostete Curt in der That im Anfange einige Mühe, aus den von Thränen und Ausrufungen, ja selbst von Verwünschungen unterbrochenen Schilderungen der Klosterfrau, die keine Zeitfolge hielten, klare Vorstellungen zu gewinnen. Er half sich erst mit Fragen, dann mit beschwichtigenden Zureden.

Letztere hatten die bessere Wirkung.

Ruhiger, sanfter geworden, beschränkte sich Schwester Therese in ihren Worten auf die letzten Tage der Freundin und gab, wenn auch nicht ohne Wiederholungen und Abschweifungen, ein rührendes Bild, in dem ein Punkt sich nach dem andern aufhellte.

Immer leiser, immer gleichmäßiger ward ihre Stimme dabei und nur die Hände, welche sich den weißen Strick, der die Lenden der Erzählerin gürtete, fest ins Fleisch drehten, zeugten von dem mühsam verhaltenen Toben, welches noch immer ein schönes Herz bewegte.

Curt sah eine Marguerite hoffen, irren, leiden, siegen und sterben, wie er sie im Leben nicht gekannt, wie er sie auch aus Schwester Veronique's Mittheilungen nicht hatte kennen gelernt . . . . .

Am zweiten Regentage, am zehnten nach ihrem Austritte aus der Maternité, meldet sie sich selbst.

Die Aerzte finden ihren Zustand nicht ungefährlich.

Sie selbst fühlt keinen Wunsch, das Bett zu verlassen.

Man schmeichelt ihr mit Hoffnungen.

Sie widersagt nicht. Sie spricht nur wenig. Sie kann nicht viel sprechen. Aber man sieht es ihren wenigen Worten, und wenn sie schweigt, ihrem Mund und ihren Augen an, daß sie nichts mehr hofft und nichts mehr wünscht als Ruhe.

Sie befolgt die Anordnungen der Aerzte trotzdem mit ängstlicher Genauigkeit und beobachtet aufmerksamst ihr Leiden und bestätigt seine rapiden Fortschritte.

Ueber ihre Vergangenheit verliert sie kaum eine Redensart, und wenn die Anfalle nachlassen, sie ein paar Stunden Schlaf genossen und Schwester Therese sich zu ihr setzt, um mit ihrer Seele Zwiesprach zu halten, so ergehen 87 die wenigen Reden, die sie sich erlauben kann, über die Heimat, über ihre Eltern.

Zuweilen weint sie, aber nie lange. Sie scheint ruhig im Gemüth und ebensowenig traurig als froh.

– Mir ist, als hätte ich hundert Jahre gelebt, sagte sie einmal zu Schwester Therese; böte mir morgen Einer, nochmal hundert zu leben, mein Wollen hätte die Kraft nicht mehr, in dies Geschenk zu willigen.

– Und Sie haben doch erst jüngst noch so innig, so ungestüm nach dem Leben verlangt! erwiderte ihr die Nonne.

Und Marguerite versetzte:

– Sollten Sie nicht leicht in Ihren vergangenen Jahren eine Erinnerung finden an einen nagenden Wunsch, den Sie lange mit sich herumtragen mußten? Sie waren damals noch recht jung, gerade aus den Kinderschuhen . . .

Derweilen sie sprach, befiel sie der Husten wieder; sie überwand es, ruhte ein Weilchen.

Auch dann wollte Therese ihr das Weiterreden verwehren.

Allein Marguerite zuckte mit den Achseln und der breiter gezogene Mund schien sagen zu wollen:

– Was kommts denn noch drauf an!

Dann nahm sie den früheren Gedanken bei demselben Worte wieder auf, wo sie ihn vor einer halben Stunde hatte unterbrechen müssen, und fuhr fort:

– Es war Ihnen zu Muth, als hinge Glück und Leben daran, dies oder jenes Ding zu besitzen oder auch nur zu sehen. Sie schlossen den unablässigen Wunsch in Ihr Nachtgebet, Sie hielten ihn in allen Träumen fest und erwachten mit ihm, um ihn auch den langen Tag über nicht loszulassen. Sie flochten ihn in die unbedeutendsten Reden. Alle Gedanken waren ihm dienstbar. Er wuchs und verschönte sich in Ihrem Herzen wie eine parasitische Pflanze.

Als dann endlich . . . endlich die Erfüllung kam, reichte die Wirklichkeit Ihrem Wunschgebilde nicht an die Knie. Weder an Ausdruck des Werthes, noch an Schönheit war sie mit diesem zu vergleichen. Das fühlte, das erwies sich mit jedem Augenblicke peinlicher. Sie hatte nur die Kraft, das bessere Gedankenbild und mit ihm Sehnsucht und Befangenheit zu zerstören, dann ging sie hin . . . oder besser, man wich ihr aus oder legte sie beiseite. Man war ärmer als zuvor. Und das Wünschen war Einem verleidet auf lange hin.

So ist es mir früher mit allerhand Spielzeug und Tand ergangen. Ich war nicht undankbar gegen Geschenke, gegen Ueberraschungen. Aber just wenn ich mich lang und dringend auf eine Kleinigkeit gefreut, gehärmt, war die endliche Gewähr eine Enttäuschung, der man sich gerne hätte schämen mögen. 88 Und wie früher mit einem Schauspiel etwa . . . oder einem Kleide . . . einer Näscherei . . . so ist es mir jetzt ähnlich mit dem Wichtigsten ergangen – mit dem Leben.

Ich habe wirklich noch eine ganze volle Woche gelebt. Gelebt in vollen Zügen.

Die Sonne schien so schön! Noch einmal und zum letztenmal gab mir die Natur eine wolkenlose Sommerwoche, zu der sie in diesem Spätherbste nicht mehr verpflichtet gewesen wäre. Die Natur ist voll Güte, ich möchte sagen, so voll Liebenswürdigkeit . . . und daß sie manchmal Miene macht, uns zu verzärteln.

Ich habe die Plätze besucht, die mir sonst die heimlichsten; ich habe mich nach den Häusern der Menschen bringen lassen, die mir sonst am nächsten gestanden waren . . . ich habe mir die Gerichte geben lassen, welche ich vordem Lieblingsspeisen nannte, und mir einige Kleinigkeiten gekauft, die ich für nöthig erachtete . . . selbst im Theater bin ich gewesen. Aber es ist mir ergangen wie dem Mann in der jüdischen Fabel, der ein Stündlein auf dem Kirchhof gewesen und zurückkommt und eine Welt findet, über der Jahrhunderte verflossen, in der ihn Niemand kennt und Niemanden er, Alles anders, Alles unverständlich, unbegreiflich und darum ungenießbar. Er möchte sich auf die Erde werfen vor Heimweh, die alte Welt und die alten Menschen, die er so unversehens und mit ihren Enkeln und Enkelsenkeln versäumt, mit den Händen ausgraben.

Thörichtes Beginnen! Er fühlt und sieht jetzt auch, wie alt und überalt er selber geworden. Kein Stäubchen jener Welt hängt mehr im anderen wie damals. Er sehnt sich nur nach Frieden und seines Leibs Atome nach Zerstreuung.

Ich sagte mirs dabei immer vor, daß diese Welt gar schön und begehrenswerth . . . daß die Menschen liebenswürdig . . . die Erinnerungen werthvoll wären . . . daß Essen und Trinken, Schlafen und Erwachen gar gute Dinge.

Mein Herz ließ Alles gelten, aber es lag mir so müde, so todtmüde im Leibe, daß ich nicht einmal die leiseste Lust empfing, so thöricht zu sein und nutzlos das alte Herz auszuquälen.

Es gibt Kranke, die den Sinn im Gaumen eingebüßt haben; so war mir das Leben unschmackhafte Kost geworden.

Ich schmälte nicht, ich grämte mich nicht.

Ich fühlte mich so satt, so vollsatt, daß ich nicht einsah, warum ich mich und Andere an der brechenden Tafel beeinträchtigen, mir und Anderen wollte unbequem sein.

Der Hunger mag ängstigen und schmerzen. Aber satt sein thut nicht weh, es macht nur faul und schläfrig.

89 Ich wußte, wie viels geschlagen mit mir. Aber die Sonne schien noch so wunderschön!

Drum setzte ich mich in den Garten des Luxembourg, dahin, wo die Bonnen und Wärterinnen sitzen und die Kindlein spielen. Dort hatte ich einen Stuhl in der Ecke, dort blieb ich tagelang im Sonnenscheine sitzen und schaute und horchte den Kindern zu, wie sie lachten und spielten. Zuweilen guckte ich in die Vorübergehenden. Zuweilen fröstelte mich. Zuweilen nickte ich ein und schlief auf meinem Stuhl in der Ecke.

Dann wachte ich wieder auf und fühlte die liebe Sonne so warm über den Rücken scheinen und sah die lieben Kleinen um mich springen und sich haschen, und hörte sie jubeln und lachen. Wer kann lachen wie so ein Kind!

So brachte ich drei Tage zu. So freute ich mich drei Tage lang, wenn Sie das Freude nennen wollen, wo Einer nichts mehr hofft und wünscht. Ich nenne es Freude und danke meinem guten Gott recht innig für die lichte Woche, die er mir noch einmal und recht unverdient geschenkt, und insbesondere für die drei friedlichen, Jahrzehnte umarmenden Tage zwischen den letzten Blumen und dem letzten Sonnenschein, umhüpft und umjubelt von den unschuldigen Menschlein künftiger Zeit.

Da kam ein schwarzer, frostiger, regnerischer Tag. Ich ging noch einmal in den Garten.

Auch der war nicht mehr zu erkennen. Ich nahm Abschied auch von ihm und von der ganzen übrigen Welt. Es warf mich zusammen. Es fiel mich so heftig an, daß ich meinte, es wäre schon gleich am letzten Ende und ich hätte gar keinen Morgen mehr.

Aber es kam noch ein Morgen. Ich wollte noch einmal auf meinen Füßen stehen. Ich wollte noch einmal einen Willen haben, wars auch ein nothgedrungener, und ihn durchführen wie ein vernünftiger, ehrlicher, aufrechter Mensch.

Ich machte meinen letzten Gang. Den Gang zu Ihnen. –

Ein andermal sagte Marguerite zur Schwester Therese:

– Wie müssen Sie doch glücklich sein!

Die Nonne sah sie verwundert an und meinte, sich ihre Rede nicht erklären zu können, denn die Aufgabe ihres nunmehrigen Lebens sei es ja gar nicht, das Glück zu suchen und zu finden.

– O doch! versetzte die Kranke. Ich weiß nichts von Ihrem früheren Hoffen und Wirken und was Sie sich Alles vorgesetzt und wie und wann und woher Täuschungen und Enttäuschungen über Sie gekommen. Das ging Alles über Sie hinweg und Sie blieben im Sturme stehen und blieben stehen, nachdem der Sturm verweht. Sie hatten einen inneren Halt, der nicht zu brechen war. Den sollte jeder Mensch haben. Und dann haben 90 Sie die Ziffern Ihres Lebens überschlagen und haben mit sich abgerechnet, richtig gerechnet, und ihr Facit stimmt. Und das ist die Hauptsache.

Ich meinte es auch zu treffen. Aber ich traf nur vorbei. Es war nur ein Rechenfehler. Oder besser gesagt, ein Sprachfehler. Das Französische ist nun einmal nicht meine Muttersprache. Ich meinte es gar wunderlich gut reden zu können und es noch besser zu verstehen. Es war aber nicht an dem. Ich hatte im Allerwichtigsten mich nicht vor groben Mißverständnissen bewahren können, ich hatte das Allerheiligste nicht verständlich ausdrücken können. Am Falschverstehen und Nichtverstandenwerden bin ich um Ehre, Glück und Leben gekommen. In meiner Muttersprache wäre mir das Alles nicht begegnet. –

Am selben Tage widersagten ihr die Aerzte nicht nur das viele Sprechen, sondern das Sprechen überhaupt.

Am anderen Tage verbot sich dies von selbst. Sie wurde des Hustens und Röchelns, der Erstickungsanfälle nicht mehr mächtig, so oft sie den Versuch wagen wollte, ein verständlich Wort über die Zunge zu führen. Sie überwand sich schweigend und lag so da. Nach Stunden, als es ihr leichter geworden, bat sie um Schreibzeug.

Sie schrieb langsam und mit vielem Unterbrechen, Ueberlegen, Ausruhen einen Brief an ihre Eltern.

Diesen siegelte sie eigenhändig und versah ihn mit der genauen Ueberschrift an ihren Vater.

Schwester Therese wollte ihr das also ausgefertigte Papier abnehmen und erbot sich, es selbst nach der Post zu bestellen. Marguerite aber gab den Brief nicht und schüttelte das Haupt und ließ durch Mienen und Geberden verstehen, daß sie später ihre Absicht kundgeben würde, wenn ihr noch einmal Kraft zum Sprechen käme.

Das geschah noch in derselben Nacht, nach einem langen Schlaf.

Die Kranke fühlte sich wesentlich erleichtert. Sie konnte sprechen und gestand vor Allem, daß es ihr wohler sei, denn die vergangenen Tage. Dann zog sie die Schwester Therese nahe zu sich aufs Bett und redete langsam und leise zu ihr.

Sie wünschte, daß diesen Brief ein Mann besorgen sollte, der kommen werde, nach ihr zu fragen. Wann er aber kommen werde, das könnte sie freilich nicht sagen; schwerlich bei ihren Lebzeiten noch, vielleicht erst Tage, Wochen, Monde nach ihrem Tode, vielleicht nach Jahresfrist. Aber kommen werde er, das wisse sie gewiß, sobald er nur von ihrem Tode Kenntniß haben würde.

Hierauf beschrieb sie den Mann und gab ein Signalement, welches unverkennbar auf den Baron paßte, dem sie noch überdies seinen Vornamen Curt hinzufügte.

91 Die Nonne fragte nun, warum sie ihr nicht auch den Geschlechtsnamen mittheilte, damit sie – wärs auch erst nach ihrem Begräbniß – um den Erwarteten senden könnte.

Marguerite antwortete darauf:

– Eben weil ich nicht will, daß um ihn gesendet werde. Er muß von selber kommen, ohne daß ich ihn habe rufen lassen. Denn käme er nicht, so hätte ich auch diesmal falsch gerechnet und verstände selbst meine Muttersprache nicht mehr. Aber seien Sie getrost, der wird kommen!

Schwester Therese fragte nun, ob Marguerite denn nicht an diesen Mann auch einige Zeilen schreiben und sie mit jenen an die Eltern in ihre treuen Hände niederlegen wollte.

Marguerite wiegte verneinend das Haupt auf ihrem Kissen.

Darauf erbot sich die gute Wärterin, auch jedes Wort in verlässigem Gedächtniß bewahren zu wollen, welches die Kranke mündlich an Curt bestellt wissen möchte, außer der Bitte um den Brief.

Diese aber verneinte auch das.

Und als die Nonne die dritte Frage stellte, ob sie dem Freunde kein Andenken, keinerlei sichtbar Zeichen hinterlassen würde, machte Marguerite dieselbe abwehrende Bewegung, und nach einer Pause sprach sie dazu:

– Ich habe nichts . . . und hätte ich auch, er würde nicht drum wollen.

Am anderen Tage hatte sie noch einmal ein besonderes Anliegen mit der Klosterfrau zu bereden.

Sie schien sich theilweise eines anderen besonnen zu haben und Schwester Therese meinte, in ihren mühsam hervorgebrachten Worten läge allerdings ein schöner Auftrag.

– Aber, mein Herr, fügte sie mit einem Seufzer grollenden Bedauerns hinzu, ich habe noch keine Berechtigung, Ihnen diesen Auftrag auf die Seele zu legen.

Curt drang in die Nonne, sich deutlicher zu erklären.

Diese weigerte sich und berief sich auf ein der Sterbenden geleistetes heiliges Gelöbniß.

Jener beklagte sich und zuckte die Achseln und diese seufzte wieder und sprach von zwei anderen, den letzten Tagen Margueritens.

Ein Bericht von Kampf und Erschöpfung, lindernden Mitteln und Schlaf war Alles und das Beste, was die Aerzte der Dulderin noch bereiten konnten, die sanft, ergeben, fromm ins Verflackern ihrer Seele sah, wenn sie die immer noch glänzenden Augen aufschlug.

Sie sprach nur das Wenigste und wiederholte nur die Eine Bitte: Schwester Therese möchte sie ja keinen Augenblick mehr verlassen, sondern nahe, recht nahe bei ihr sitzen bleiben und so wärs gut!

92 Die Nonne gab ihr die Hand, nahm sie wol auch sanft in die Arme. In ihren Armen schlief sie dann wieder ein.

Wie ein rauher Hauch über eine Kerze fährt und das Flämmchen, das kaum sichtbar im Tageslicht flackerte, in Rauch verkehrt, so war der Tod über ihre Seele gekommen und hatte sie verlöscht. Am siebenten Tage, nachdem sie ins Hospital getreten war. –

Curt überwand sich und nach einigen Momenten der Stille fragte er.

– Wo liegt sie denn begraben?

Die Augen der Nonne schienen noch dunkler zu werden; über ihre blassen Züge flog ein flüchtiges Erröthen. Sie ergriff des Freiherrn Hand und drückte sie dankbar an ihre Lippen.

– So natürlich diese Frage klingt, sprach sie dann, so ängstlich und peinlich habe ich doch nach ihr Verlangen getragen und mich gefürchtet, die Zerwürfnisse, die Sie und Fräulein Fröhlich im Leben getrennt, Zerwürfnisse, die ich nicht kenne und nicht kennen lernen will, möchten auch nach ihrem Tode noch nachwirken und Ihnen selbst den frommen Wunsch verleiden, das Grab der Armen zu besuchen.

Gott sei gelobt, daß dem nicht so ist! Denn hätten Sie nicht danach freiwillig und ohne mein Zuthun gefragt, ich hätte Sie nimmer auf den letzten Gram, den letzten Wunsch der Sterbenden aufmerksam machen dürfen. Nun auch diese Bedingung erfüllt, kann ich Alles sagen.

Sie wissen, mein Herr, der Ort, wo Sie sich befinden, ist die medicinische Schule; es liegt hier eben nicht die Elite der Krankenwelt. Die Pflege, die Wartung und vor Allem die ärztliche Behandlung sind hier so vorzüglich, als sie nur irgendwo in der Welt sein mögen. Aber wenn die Leute, welche hier zu liegen kommen, schon meist in ihrem Vorleben nicht zu den geachtetsten Personen der Hauptstadt gehören, so brauche ich wol kaum zu versichern, daß man nach ihrem Tode und bei ihren Leichenfeierlichkeiten kein besonderes Aufhebens mit ihnen macht.

Mein Herr, ein Hospital bietet zu Ausnahmsstellungen weder Raum noch Zeit. Es war schon eine seltene und glückliche Ausnahme, daß Margueritens Leichnam nicht auf den Secirtisch kam. Ich hätte auch das nicht hindern können.

Vielleicht daß der vielvermögende Arzt aus der Maternité, welcher unsere Freundin hieher empfohlen und ob ihrer Behandlung mit mehreren unserer Professoren sich berathen, die entseelte Hülle eines Mädchens, welches er in kurzer Zeit achten und lieben gelernt hatte, vor der täppischen Lernbegierde brutaler Junggesellen zu wahren gewußt hat. Vielleicht daß die Krankheitserscheinungen an Marguerite so häufig vorkommender Art oder auch eben an Leichen Ueberfluß gewesen.

Ich weiß es nicht.

93 Aber ich kann mich in meinem Leben keiner Nachricht entsinnen, die ich schmerzlicher ersehnt, die mich herzlicher erfreut hätte, als die von Margueritens sofortigem Begräbniß.

Ich habe das Fräulein Fröhlich nur kurze Zeit gekannt, ach, nur allzu kurze Zeit! Ich weiß von ihren früheren Schicksalen nur wenig. Aber beide Hände wollte ich für sie ins Feuer legen und bei meiner eigenen armen Seele Seligkeit schwören, daß sie keine verworfene, vielleicht eine verführte, ja vielleicht leichtsinnige, niemals eine elende Creatur gewesen.

Ich sage dies ausdrücklich, weil ich fürchten muß, mit dem, was ich noch zu sagen habe, anscheinend das Gedächtniß der theuren Todten und also auch das Interesse, welches Sie, mein Herr, an derselben nehmen, zu kränken. Das ist ferne von mir.

Hören Sie mir geduldig zu.

Sie kennen Paris, Sie kennen sein lateinisches Viertel, Sie kennen die Frauen dieses Viertels und Alles das als Mann und Weltlicher wol besser als ich. Sie werden bei einiger Ueberlegung wol an dieser Andeutung genug haben, um meinen hier etwas lückenhaften Bericht zu ergänzen und sich selber zu vergegenwärtigen, welche Gattung von Frauenzimmern, ach, nur allzu entsetzliche, beklagenswerthe Geschöpfe, die überwiegende Mehrzahl der weiblichen Bevölkerung gerade dieses Hospitals abgibt.

Marguerite war sozusagen von einem Hospital ins andere geliefert worden, und warum und unter welchen Umständen in jenes, wissen Sie. Es dauerte bei ihren delirirenden Fiebern, bei der an Raserei grenzenden Aufregung der ersten Zeit ein paar Wochen, bis man nur ihren Namen erfuhr, und wol ebenso lange, bis man dieses ausländische, ich möchte sagen, unaussprechliche Wort richtig zu schreiben verstand.

Ueber ihr Vorleben wär' auch späterhin nicht viel aus ihr herausgekommen, jedenfalls nichts, was sie vor Verdächten sicher hätte stellen können, wie sie unter diesen Umständen bei sittlich so pessimistisch denkenden Menschen, wie es Aerzte und nun gar erst Hospitalsärzte sind, entstehen müssen. Einige kurze Daten, welche die Polizei über Marguerite in ihrer kläglichen Allwissenheit allein zu geben vermochte, wie daß sie aus einem achtbaren Hause, in welchem sie geehrt und beliebt war, mit einem jungen Officier heimlich entflohen, daß sie mit diesem Officier in Bäder gereist und im Auslande wie in Paris viel Geld verzehrt, daß sie später als die Maitresse eines anderen Adeligen gegolten und anderes dergleichen, dessen Berechtigung ich weder beglaubigen, noch berichtigen kann, wurden selbstverständlich für baare Münze hingenommen. Es war nur allzu geeignet, die Leute in ihren Vorurtheilen zu bestärken.

94 Sentimentale Subtilitäten auf Beurtheilung angezweifelter Tugend einer Hospitalkranken anzuwenden, kommt den Aerzten nicht bei – man kann es ihnen bei ihrer Erfahrung auch nicht allzu schwer anrechnen – und so konnte es nicht fehlen, daß Marguerite für eine jener verwahrlosten Sünderinnen galt, welche diese große Stadt für nothwendige Uebel erklärt, oder im besseren Falle für die verunglückte, herabgekommene, an den Folgen ihres üppigen Wandels verdorbene Maitresse, die von der einen Hand in eine andere gegangen, bis der unersättliche Liebhaber Tod seine knöcherne Hand auf sie gelegt.

Sie hatte nichts ins Hospital gebracht als sich und ihr Leiden und die dürftigen Lappen, die sie auf dem Leibe gehabt. Sie konnte und wollte keine Mittel angeben, über die sie hätte verfügen können. Von ihren Eltern sprach sie mit Niemandem als mit mir.

Sie wollte, daß diesen an Schande erspart würde, was ihnen erspart werden konnte; sie wollte, wie sie sagte, nicht auch noch die Sünde auf sich laden, ihren Geschwistern für das Begräbniß einer Entarteten eine Summe zu stehlen, die jene nothwendig im Leben brauchen könnten, um besser zu werden als sie.

Sie wußte wohl, wohin man sie verscharren würde. Sie sprach auch darüber. Es schauderte sie, wenn sie davon sprach, aber sie beklagte sich doch nicht.

Kennen Sie unseren Kirchhof, den Mont-Parnasse, mein Herr? Dann kennen Sie auch jenen wüsten Winkel, wo die Aermsten von den Armen kunterbunt hintereinander verscharrt werden. Und wissen Sie noch nicht darum, so wird ihn Jedermann Ihnen weisen können, den Sie darnach befragen.

Wie hier ihr Bett neben den Betten stand, so liegt auch ihr Grab neben den Gräbern verdorbener Mädchen, die um Gewinn der Sünde fröhnten, bis sie ihnen statt elenden Goldes elenden Tod gab.

Marguerite durfte es sich und auch ihrem Herrgott wol bekennen, daß sie besser war als diese.

»Aber,« sagte sie mehrmals zu mir, »ich wills gern über mich ergehen lassen zur Sühne für meine Schulden. Wie wir der Seele ein Fegefeuer, einen Ort vorübergehender Läuterung, bestimmt glauben, in dem sie gereinigt, entsündigt und würdig gemacht wird, in den schönen, heiligen, ewigen Himmel einzugehen, in solcher Meinung will ich auch meinen armen Leib in ein schlechtes, unreines Grab legen lassen, auf daß er sich dort entsühne und selbst nach dem Tode Buße thue für arge Lust und Eitelkeit und endlich würdig befunden werde, in ein besseres Grab gelegt zu werden, daran meine guten Eltern werden beten können, ohne vor Scham das Haupt zu verwenden, wenn die Leute vorübergehen und den Namen lesen von meinem Kreuzlein.

95 »Wenn ich auf Erden unter rechtschaffenen, tüchtigen Menschen noch so viel freundliches Gedächtniß hinterlassen habe, daß Einer oder Zwei hinausgehen freien Antriebs und sich die Erlaubniß erlangen, meinen Sarg in andere Stätte zu verpflanzen, so will ich glauben, daß meine frommen Jahre und das Leiden, welches ich über Noth gelitten, mir so viel Fürsprache im Himmel gewonnen haben, daß der Qual genug gethan und auch meiner Seele der ewige Frieden erschlossen sei.

»Ich wünsch es wol! Und mein Glauben und meine Zuversicht sind aufrecht. Ich hoffe auf Gott und gute Menschen. Der Mann, dem Sie den Brief an meine Eltern anvertrauen sollen, wird gewiß kommen. Er wird auch fragen, wo die Marguerite Fröhlich begraben liegt, und dann, ja, alsdann dürfen Sie's ihm sagen, daß noch meine todte, modernde Hülle sich hinwegsehnt in ein ehrlicheres Grab und daß Gottes Segen mit ihm seine solle alle Tage und Stunden seines Lebens.« –

Ich konnte nicht umhin, mein Herr, Marguerite doch an die Möglichkeit zu erinnern, daß Sie nicht von freien Stücken kommen oder doch nach ihrem Grabe nicht fragen möchten.

Ich hoffte ihr so die Erlaubniß abzubetteln, mich früher und aus freien Stücken an Sie zu wenden.

Allein sie verbot mir dies auf das Dringendste und nahm mir ein heiliges Versprechen ab. Und mir wars nicht möglich, ihr diese oder irgend eine andere Bitte abzuschlagen.

Sie aber fügte mit frommer Ergebung hinzu:

»Ich liege ja auch so in geweihter Erde. Gott weiß, was er thut, und wir kurzsichtigen Menschen sollen ihn walten lassen und seinen allmächtigen Willen.«

Dann tröstete sie mich und sprach mir Muth ein. Denn da sie selber die Erlösung aus ihrem ersten Grabe symbolisch für die Befreiung ihrer geläuterten Seele nahm und genommen wissen wollte, nahm ichs nicht anders und sie sah das wol.

Es war das Letzte, was sie mit mir besprochen.

Hinter ihrem Sarge ging Niemand als ich. Und ich weinte bitterlich, denn ich dachte, ich konnte mirs nicht anders denken, als daß es lang, nur allzulang anstehen werde, bis Sie, mein Herr, den Weg in die medicinische Schule, und wenn schon hieher, ob auch zu mir finden möchten. Ich durfte meines Gelöbnisses wegen mit Niemandem über die Angelegenheit sprechen, ich wußte nicht einmal Ihren Familiennamen, und so meinte ich oft, früher selber zu Grabe fahren zu müssen, ehe der letzte Wille der Freundin sich erfüllen würde.

Als der Arzt, welcher Margueriten aus der Maternité hieher empfohlen, nachdem er einige Zeit nicht selber nachgefragt hatte, wiederkam und sich um das Befinden seines Schützlings erkundigte, dessen Tod er wol nahe, doch 96 nicht so nahe wähnte, da war die Erde schon seit zwei Tagen über ihren Schrein geworfen.

Es ging ihm sehr zu Herzen. Er schalt und grämte sich. Wäre er rechtzeitig benachrichtigt worden, er hätte gewiß aus eigenen Mitteln das Mädchen in einem eigenen Grabe beisetzen lassen. Er hat, obwol noch nicht bei Jahren, aus seiner Wissenschaft ein schönes Einkommen, und seine Neigung für die liebe Kranke war eine aufrichtige und werkthätige.

Er hätte es auch nachher noch gerne bewerkstelligt, sie anderswo zu beerdigen. Aber es war für ihn keine Aussicht vorhanden, dazu die nöthige Erlaubniß zu erwirken; so mußte er sich bescheiden und es unterlassen.

Nun aber kommen Sie, mein Herr, und nun wird Alles gut, was noch gut gemacht werden kann. Und Sie kommen so bald, ach, wie schön das ist! Noch ist das Erdreich feucht, noch sind vielleicht die armseligen Blümchen nicht verwest, die ich der Verlassenen aufs enge schlichte Grab gestreut, und schon kommt Hilfe, Gnade und Erfüllung.

Ja, mein Herr, auch das Wort des Segens, welches die Sterbende sprach, wird wahr werden und wahr bleiben und der gütige Gott, den wir ja Alle loben, seine schirmende Hand über Ihnen halten alle Stunden Ihres Lebens!

– – Die Dazwischenkunft des Arztes trennte die beiden Aufgeregten. Er gab dem Baron noch einige Details aus der Krankengeschichte, bat ihn, seine Bekanntschaft in helleren Tagen zu erneuen und ihm über die früheren Schicksale der Entschlafenen hie und da ein Plauderstündchen zu vergönnen. Für heute nahm er Abschied, da er von einem Collegen in der medicinischen Schule zurückgehalten wurde.

Auf der Straße angelangt, fand der Baron Herrn Sève, der beim Thürhüter auf seine Zurückkunft gewartet.

Die Krankengeschichte Margueritens war dem Studenten bereits geläufig und er meinte, so ziemlich auch das Nämliche zu wissen, was Curt von Schwester Therese erfahren haben mochte.

Sie gingen hierauf ein Weilchen in einsylbigem Wortwechsel die Straße hinab.

Dann drängte es den Jungen, sich näher an den Gefährten zu machen und er sagte mit pfiffiger Miene:

– Es bleibt doch zwischen dem Verlassen der Maternité und der Aufnahme in die medicinische Schule ein Zwischenraum von acht bis neun Tagen, über dessen Verlauf in Bezug auf Ihre Freundin man Sie ebensowenig wie mich hat aufklären können?

– Ja wol, sagte Curt.

97 Der Student fuhr fort:

– Fräulein Fröhlich lebte doch und brauchte zum Leben doch Essen und Trinken und brauchte ein Kleid zum Ausgehen und ein Bett zum Schlafen. Das Alles kostet Geld, woher nahm sie das? und wo ist sie die Zeit geblieben? und mit wem hat sie Verkehr gepflegt?

– Ich weiß das nicht.

– Sie also auch nicht? Hm! Ich habe darüber eine eigenthümliche Vermuthung, Herr Baron.

– Und ich auch eine, Herr Sève, aber ich bin nicht lüstern. die Ihrige zu vernehmen.

Darauf legten sie schweigend den kurzen Weg bis in Curt's Haus zurück


Am anderen Tage besuchte der Baron den Kirchhof Mont-Parnasse und fand nach einigem Fragen und Suchen das Grab der Einstgeliebten.

Er wiederholte diesen Besuch noch mehreremale. Die Erlaubniß, Margueritens Sarg zu transferiren, ließ auf sich warten und erforderte mancherlei Verwendung.

So oft er von dem Hügel Abschied nahm, stieß er seinen Stecken ins Erdreich und sprach dazu:

– Gedulde Dich eben noch kurze Frist und der Friede sei mit Dir!


Curt ließ sich die Mühe sauer werden, Anatole zu einer Zwiesprach zu veranlassen. Aber alle Mühe blieb vergebens. Im Anfang befand sich der Marquis auf seinen Gütern, über den Zeitpunkt seiner Rückkunft wollte oder konnte Niemand Aufschluß geben.

Eines Tages brachte Doctor Huber, der die wenigen Mußestunden, die er sich erübrigte, den Zwecken seines Freundes dienstbar machte, die Nachricht, daß der Vermißte denn doch in Paris sichtbar geworden. Der Baron ließ sich das nicht zweimal sagen und begab sich noch am nämlichen Tage in Anatole's Quartier.

Der Bediente, welcher den Ueberlästigen längst müde geworden war, versäumte nichts, ihm den Mangel seines guten Willens erkennen zu lassen, und betheuerte mit unverschämter Höflichkeit, daß sein Herr nicht zu Hause, ein andermal, daß derselbe noch zu Bette wäre, ein drittesmal, daß er Besuch hätte und nicht empfangen könnte u. s. w.

In dieser Noth hatte Doctor Huber dem Freunde Hilfe versprochen.

Der »König«, dem er als »Kärrner« diente, ein betagter Mann, welcher als Gelehrter und Schriftsteller in diesem Jahre auf dem Gipfel seines Ruhmes und seiner Popularität stand, sollte ihm zu seinem Plane verhelfen. 98 Er sagte ihm nicht geradezu, worum es sich handelte, doch war der Doctor dem Alten bekannt genug, daß dieser annahm, sein Vorhaben sei kein ungerechtes. Auch war der Dienst, den er leisten sollte, von geringer Mühsal und unverfänglich.

Huber bat um einen Empfehlungsbrief, der die Fähigkeiten und Kenntnisse rühmend hervorhob, welche der Mann wirklich besaß.

Mit diesem Briefe ging der Listige zum Adressaten, einem einflußreichen Manne, der mit Anatole in irgend einem entfernten Grade verschwägert war, und bat denselben, ihn an den Marquis zu empfehlen, welcher, wie Huber versicherte, durch seine Relationen mit den Söhnen der ältesten und reichsten Familie des Landes in einer annoch geheimzuhaltenden Absicht wissenschaftlichen Charakters ihm außerordentlichen Vorschub leisten könnte.

Der Name des Gelehrten war von allmächtiger Wirkung. Und am anderen Tage erhielt Huber ein zierliches Billet von Anatole's Hand, darin derselbe in höflichsten Ausdrücken der doppelten Empfehlung gerecht wurde und dem Doctor eine Stunde bestimmte, da er ihn empfangen wollte.

Huber ließ nicht auf sich warten.

Es gelang ihm freilich nicht, sich seiner Verlegenheit gänzlich zu bemeistern. und das Gespräch, welches sich nach Darlegung seines fabulosen wissenschaftlichen Vorhabens mühsam entspann, ward immer seltsamer und gezwungener.

Anatole erklärte sich wiederholt zu Diensten des Doctors, stellte die Gönnerschaft einflußreicher Freunde in Aussicht, und gab schließlich nicht undeutlich zu verstehen, daß er den Besuch nunmehr beendet sehen möchte.

Huber wußte nichts weiter zu sagen und es entstand eine peinliche Stille.

In diesem Augenblicke hörte man von draußen her heftigen Wortwechsel zweier sich überbietenden Stimmen.

Anatole sah den Doctor der Thüre zuschreiten; er faßte ihn am rechten Arm und rief:

– Was wollen Sie denn thun?

– Was Sie schon allzulange versäumen, antwortete Huber und öffnete die Thüre mit der Linken.

Vom anderen Ende des Corridors hörte man den pfiffigen Lakai schreien:

– Aber wie oft soll ich Ihnen wiederholen, daß der Herr Marquis nicht zu Hause ist?

Curt donnerte dagegen:

– Und ich wiederhole Ihnen, daß der Herr Marquis allerdings und ganz unleugbar zu Hause ist. 99

– Und ich kann dies bestätigen! rief Huber von der Schwelle der offenstehenden Thüre. Hier steht Marquis Anatole v. . . . . . ac und brennt vor Begierde, den Herrn Baron Curt v. K . . . . . . . in seinen Gemächern zu empfangen. Welcher Halunke kann das Gegentheil behaupten? Treten Sie doch ein!

– Ei ja doch, treten Sie ein, mein Herr, lispelte Anatole in verlegener Wuth. Womit könnte ich Ihnen dienen?

Huber gab dem Freunde die Thürklinke in die Hand und vertrat dem Lakaien den Weg, welcher, sich laut beklagend, mit fechtenden Armen dem Baron folgen wollte.

– Sie sind nicht gerufen! herrschte er ihn an. Hüten Sie die Thüre und stören Sie die Herren nicht, welche wichtige Dinge mit einander auszumachen haben.

– Sie haben hier nichts zu befehlen, mein Herr.

– Ich befehle Ihnen zu schweigen und werde meinem Befehl körperlichen Nachdruck zu verschaffen wissen.

– Lächerlicher Brillenaffe, wollen Sie, daß ich Sie an der Schlinge Ihres Hosenträgers an diesen Nagel hänge? Was, man will uns vergewaltigen? Ihr wollt am hellen Tage Hausfrieden brechen mitten in Paris, und Sie wissen nicht einmal, daß mein Herr selber zur Polizei gehört –

– Aber so schreien Sie doch nicht so, Bürger! sagte nun ein anderer Mann, der mittlerweile die offengebliebene Thüre geschlossen hatte und nun dem Bedienten die Hand von rückwärts auf die Schulter legte.

Es war der Studiosus Sève, den Hut schief auf dem Kopf, die Rockärmel über die Handknöchel zurückgeschoben und mit einem Gesicht aus der Komischen Oper.

– Ich habe Ihnen, ohne es zu beabsichtigen, soeben einen Knopf von Ihrer Livree abgerissen, fuhr er gelassen fort. Erlauben Sie, daß ich Ihnen denselben zurückerstatte.

Damit zeigte er dem Ueberraschten ein blinkendes Goldstück von zwanzig Francs und ließ es in der flugs geöffneten Hand des Lakaien verschwinden.

Huber griff nun gleichfalls nach seiner Geldbörse und sagte kopfschüttelnd:

– Mir wäre das Mittel nicht eingefallen, und ist doch so einfach.

– Richtige Diagnose! das ist überall die Hauptsache! entgegnete der Mediciner.

Dann waren alle Drei still und konnte sich Keiner der inneren Bewegung entrücken, auch der tolle Studiosus nicht, und Einer wie der Andere horchte peinlich auf, ob der Baron nicht bald zurückkommen werde.

100 Dieser hatte beim Eintritt hinter sich den Schlüssel gedreht und zu sich gesteckt.

– Was soll das heißen? rief der Marquis, indem der Zorn seine Verlegenheit verschlang.

– Die Augenblicke, die ich mit Ihnen zu verbringen habe, versetzte Curt, sind zu selten, zu mühsam erkauft, als daß ich Sie nicht nach Kräften festzuhalten wünschte. Sie müssen es sich gefallen lassen, auf ein Viertelstündchen hier in der Stille mein Gefangener zu sein, wenn Sie es nicht vorziehen wollen, auf längere Zeit in ein Gefängniß des Staates zu wandern, nachdem Ihr stolzer Name, der allerdings schon lange genug auf dem Pranger Ihrer werthen Person steht, vor den Gerichten und in allen Zeitungen öffentlich zu Schanden geschleift wäre.

– Letzteres kann jedem Ehrenmanne widerfahren, sprach Anatole äußerlich gefaßt und mit anscheinender Geringschätzung. Vor den Gerichten dürfte ich indessen in diesem Augenblicke sicherer sein, als Sie, mein Herr.

– Lügen, dumme Lügen! antwortete mit verächtlicher Ruhe der Baron.

– In welchem Tone wagen Sie es mit mir zu sprechen! rief nun der Marquis und seine Augen blitzten vor Entrüstung. Sind Sie so entartet und verbauert, daß Sie den Koth, der an Ihren Stiefeln klebt, auch im Munde führen? Wissen Sie nicht, daß kein Edelmann, ja kein anständiger Mensch in Frankreich sich Worte ins Gesicht schleudern läßt, wie Sie sie eben gebrauchen, mir gegenüber und noch dazu in meiner eigenen Wohnung?

Curt erwiderte:

– Ich weiß, was Ihnen gebührt in Wort und That und seien Sie unbesorgt, daß ich Ihnen etwas bieten könnte, was für Sie zu schlecht wäre. Was indessen die Sicherheit Ihres juristischen Gewissens betrifft, so werfen Sie einen Blick in diese Abschriften, die ich Ihnen hier im Namen des Capitäns Fortunato auf den Tisch niederlege, und sagen Sie mir dann, ob Sie in Wahrheit hoffen, sich solcher Anklagen auf Betrug und Unterschlagung erwehren zu können.

– Es handelt sich den Teufel was um Ihre nachgeklexten Schmieralien! rief Anatole in wüthender Aufregung.

– Die Originalien liegen in sicherer Hand; ein Wink von mir, und sie liegen in denen der Justiz.

– Immer die Justiz und die Gerichte! Die alte Ofenbank der Feiglinge.

– Ich sage Ihnen ja, daß ich die Gerichte aus dem Spiele lassen und mich lediglich auf eine persönliche Unterhaltung mit Ihnen beschränken will. 101

– Also, mein Herr, wenn Sie nicht verlernt haben, was unter Edelleuten Brauch ist, was thun Sie nach solchen Worten noch hier im Zimmer? Wählen Sie Ihre Zeugen, wählen Sie die Waffen. Thun Sie, was Sie wollen, aber verlassen Sie meine Gemächer!

– Gedulden Sie sich!

– Nein, mein Herr, ich bin am Rande meiner Geduld. Ich verlange eine kurze, bündige Erklärung von Ihnen, ob Sie Willens sind. mir mit den Waffen in der Hand Genugthuung leisten zu wollen, und wenn nicht, so gehen Sie hinweg, augenblicklich, oder ich werfe Ihnen ein paar Ohrfeigen ins Gesicht.

Curt stellte sich, ohne ein Wort zu entgegnen, dicht vor den Wüthenden, kreuzte die Arme über der Brust und sah ihm fest ins Antlitz.

Anatole wich dem Blick aus; er ging zur Seite, ging im Zimmer auf und ab und rief:

– Wenn es Ihnen convenirt, mein Herr, hier hängen Degen, dort liegen Pistolen; greifen Sie zu, wenn Sie durchaus hier bleiben wollen. Wir können die Sache gleich hier abmachen, wenn es Sie gelüstet. Ich bedarf der Zeugen nicht. Sie haben die Ihrigen ja wol vor der Thüre.

– Ich habe mich zur Genüge geschlagen, mein Herr, und mit anderen Kerlen, als Sie sind. Zu Ihnen aber komme ich nicht, um Ihnen Ehre zu erweisen, sondern um Sie zu beschimpfen und zu züchtigen und zuvörderst, um Rechenschaft zu verlangen.

– Sie sprechen ja fast wie die Statue des Commandeurs zu Don Juan. Das macht mich lachen! sagte der Marquis und zwang sich zu einem heiseren Kichern.

– Lassen Sie die Umschweife, entgegnete Curt. Wo ist die Summe von fünfzehntausend Francs geblieben, über welche Sie in das Taschenbuch Ihres Freundes, des Capitäns, quittirten? Dieselben hatten die ausdrückliche Bestimmung, ins Eigenthum des Fräuleins Marguerite Fröhlich überzugehen.

.– Sie sind auch auf sie verwendet worden.

– Lügen, dumme Lügen!

Anatole wendete das Gesicht ab; er rief mit Heftigkeit:

– Ich sage Ihnen, das Geld ist allerdings auf Fräulein Fröhlich verwendet worden.

Dann fügte er kleinlaut hinzu:

– Zum Theil wenigstens.

– Zum Theil, wiederholte Curt und drückte die Fäuste zusammen, doch wol zum kleinsten Theil, und zum anderen Theil ist die Arme obdachlos, ohne Hilfe, ohne Geld, bloßgestellt und elend in jeder Weise in einem Hospital verstorben und um Gottes Lohn mit anderen feilen Dirnen verscharrt worden. 102

– Mein Gott, das ist nicht meine Schuld!

– Nicht?!

– Ich habe sie nicht nach dem Hospital gehen heißen, ich habe sie nach Kräften sogar zurückhalten wollen, es war für ihre Unterkunft und für ihr Fortkommen gesorgt, sie selbst hat freiwillig sich meinen Nachforschungen entzogen.

– Nachforschungen . . . Sie wußten also, wo sie Unterkunft gefunden?

– Das heißt . . .

– Und haben Sie dann das Geld ihr ins Hospital gesendet?

– Ich hatte dazu keinen Auftrag.

– Sie hatten den bedingungslosen Auftrag und hatten ihn längst vorher, Fräulein Fröhlich fünfzehntausend Francs und den Erlös aus der Versteigerung ihrer Mobilien einzuhändigen nach Abzug der Wirthschaftsschulden. Diese Schulden beliefen sich, wie ich von Ihrem Notar bestätigt erhalten, auf zweitausend und siebzehn Francs. Die Versteigerung ergab eine Summe, die nahezu den vierfachen Werth hatte.

– Ich konnte doch diese Summen nicht nach dem Hospital schicken? Fräulein Fröhlich hätte sterben können, ist gestorben . . . was wäre dann aus dem Gelde geworden?

– Ihr Verstand macht abgeschmackte Sprünge, Herr Marquis. Ich muß Sie bitten, Ihre Sinne zu sammeln und mir kurz und genau zu sagen, wo das Geld sich befindet, das baare Geld.

– Ach, es handelt sich um Geld, um baares Geld! sagte Anatole und ging an seinen Schreibtisch und nahm aus demselben einen Schlüssel.

Dann stand er wieder auf, setzte sich auf die Armlehne eines Fauteuils und sagte rathlos:

– Aber.

– Sie hegen Zweifel an meiner Berechtigung, die Summe zu erheben? ergänzte Curt und griff in die Papiere, welche noch immer auf dem Tische lagen. Hier sehen Sie Vollmacht und Auftrag des Capitäns Fortunato. Für was halten Sie mich?

– Für einen Ehrenmann . . . gewiß . . . ich hege keinen Zweifel . . . ich bitte nur zu folgen.

Anatole ging in das anstoßende Gemach, wo sich in einem Winkel eine kleine feuerfeste Kasse angeschraubt fand.

Curt blieb einen Moment auf der Schwelle gebannt stehen und fuhr mit der Hand über die Augen.

Er war im Schlafzimmer des Marquis; dort im künstlichen Helldunkel der schwer herabfallenden Vorhänge stand das Bett, wohin man einst die bewußtlose Kranke geschleppt; es war Alles noch wie damals, wie Marguerite es Schwester Theresen schaudernd berichtet und diese dem Baron.

103 Er blickte nach dem Marquis, der, ihm den Rücken kehrend, an dem geheimnißvoll glänzenden Metallschränkchen die Buchstaben verschoben und die Schlüssel einpaßte.

Ihm kam die Lust, dem Elenden sofort an den scharfen Kanten seiner eigenen Kasse den Hirnschädel zu zerschmettern; es zuckte ihm heftig von Herzen in die Faust – aber was war ein jäher Tod für diesen da noch anders als Gewinn?

Der Marquis wendete nun das Gesicht um; er stützte sich mit der Linken auf die Thüre des Schränkchens, die Oeffnung mit dem Rücken deckend, und reichte mit der Rechten dem Baron drei längliche Papierstreifen hin.

– Ich bitte, da nehmen Sie, mein Herr.

Dieser nahm und betrachtete und sprach:

– Das sind drei Billete, jedes zu fünfhundert Francs; was solls mir diesen fünfzehnhundert Francs?

– Sie sollen sie zu sich nehmen.

– Das thue ich, aber was weiter?

– Was weiter?! rief Anatole und versuchte noch einmal den Entrüsteten, den Unfaßbaren, den Auffahrenden zu spielen. Ist das nicht baares Geld? Sie wollten Geld. Sie haben Geld. Nun machen Sie, daß Sie fortkommen. Hinaus mit Ihnen!

Curt blieb unbeweglich und wiederholte trocken:

– Den Rest, mein Herr, den größeren Rest, was ist aus dem geworden?

– Was für ein Rest denn? schrie Anatole nun auf, und indem er heftig vom Schranke weg trat und mit den Händen in die Oeffnung deutete: Es gibt keinen Rest; da kommen Sie, da holen Sie, nehmen Sie, wenn Sie was finden. Meine Kasse ist leer, ich bin augenblicklich ohne Mittel, ohne Geld, ohne Credit. Aber in wenigen Wochen, in wenigen Tagen sollen Sie, soll Fortunato Alles erhalten. Mehr als er gegeben, das Doppelte, das Dreifache. Aber haben Sie Geduld, haben Sie Nachsicht, haben Sie Einsicht!

– Schließen Sie Ihre Kasse, mein Herr.

– Wozu? Ich sage Ihnen ja, daß sie leer ist.

– Umsoweniger Grund, sie offen zu lassen; schließen Sie und legen gefälligst den Schlüssel dahin, woher Sie ihn genommen. Dann wollen wir weiter reden.

Anatole zuckte die Achseln und willfahrte.

Dann fragte Curt wieder:

– Wann und in welcher Weise denken Sie, versprechen Sie die nicht unbedeutende Summe von doch nahezu zwanzigtausend Francs zurückzustellen? 104

– Wann? Vielleicht morgen.

– Vielleicht! Und wie wollen Sie zu der Summe gelangen?

– In derselben Weise, wie ich drum gekommen.

– Drum gekommen sind Sie?

– Zum Teufel ja, ich habe sie verloren – alle Wetter, Sie sind ja ein Mann, ein Lebemann, ein Cavalier; wozu weiters die Faxen? Gerade herausgesagt, ich habe sie verspielt.

Es ward still im Zimmer.

Man hörte nur den schweren Athem der beiden Männer gehen, bis Anatole wieder zu sprechen begann:

– Verspielt, verspielt! Es hört sich anders an, als es ist; man kommt dazu, wenn der Satan die Hand im Spiele hat. Ich habe kaltes Blut wie Einer; aber es gibt Zufälle, Schläge, die Einen außer sich bringen, gegen alle Rücksichten blind und taub machen. Spielschulden sind Ehrenschulden! Man ist seinem Stande, seiner Vergangenheit, seinem Namen verpflichtet, sich aufrecht zu erhalten . . .

Ach, was rede ich! Was sollen halbe Wahrheiten, verschämte Redensarten Ihnen gegenüber, nachdem wir so weit gekommen! Sie sind ein Mann von Kopf und Herz, Ihnen darf ich, Ihnen muß ich mehr sagen . . .

Wo fange ich nur an?

Sehen Sie, meine Existenz glich eine zeitlang diesem Geldkasten; von außen feuerfest und sicher, von innen mit Gold und Geldeswerth gefüllt. Dann ging Gold und Geldeswerth dahin, ich war ausgehohlt. Wer konnte mirs beweisen? Ich stand fest, viereckig, aufrecht, wohl verschlossen, Keiner wußte das geheime Wort, auf das meine Schlösser zu sperren waren, man konnte mich auf Kohlen setzen, selbst das Feuer hätte ich verachtet.

Aber in einer Zeit meinte ich erkennen zu müssen, daß es ein Feuer gibt, das alles Eisen schmilzt und Bande selbst vom schönsten Stahl zersprengen kann. Und Mensch bleibt Mensch und der Mensch bleibt Schwäche. Die Bande, die mich an Fortunato knüpften, Fortunato an mich, sind eigenthümlicher Art, kaum näher zu bezeichnen, aber glauben Sie, mein Herr, ich hatte ein gewisses Recht an ihn, ein Recht auch an sein Vermögen. Das Geld, welches er verwendete, hat ers von Eltern ererbt? durch Arbeiten verdient? im Krieg erbeutet?

Nichts von alledem, mein theurer Herr Baron. Er hats von mir, von meinen Bänken, von meinen Karten. Oder doch zum größten Theil.

Ich hatte, ich glaubte, ich durfte annehmen, eine Art Recht an dies Geld zu haben.

105 Kein Recht, wenn Sie wollen, aber doch einen Anspruch, in der Noth eine Anleihe bei ihm zu machen; mehr als das, ich durfte wol meinen, ihn an meinem Verluste betheiligen zu sollen, wie vordem an meinem Gewinn. Mißverstehen Sie mich nicht, mein Herr, ich möchte ja nicht zu viel sagen; Fortunato ist ein Ehrenmann, ein hitziger Mensch mit einer Kinderseele, über jeden Vorwurf erhaben, unbescholten ganz und gar. Aber auch ich bin ein unbescholtener Mann und ich wollte es bleiben. Und ich war in Gefahr, um meine Unbescholtenheit zu kommen.

Mein Gott, die Welt urtheilt so rasch, und gar die Jugend! Ein Gerücht, ein Verdacht entsteht, man weiß nicht wie. Man hat gut ein ungewaschenes Maul vor seinen Pistolenlauf zu stellen und es mit Pulver zu waschen und mit ein paar Loth Blei zu stopfen. Man hat nur den Unvorsichtigeren getroffen, nicht des Gerüchtes Urheber, geschweige gar das Gerücht selbst.

Das Gerücht stellte sich Ihnen nicht auf fünfzehn Schritt Entfernung; es ist unverletzlich, unverwundbar, es bedarf stärkerer Proben, peinlicherer Gottesurtheile.

Das Glück im Spiel erregt zuerst Bewunderung, Neid, Verdacht. Ein schlechter Spaß, vielleicht ein harmloses Witzwort, das Keinem sonst verdächtig oder auch nur zweideutig geklungen, es zwingt Sie, zu verlieren, zu spielen, bis Sie verlieren, zwingt Sie sozusagen, ihrem treuherzigen Glück mit eigenen Fußtritten den Hals zu brechen, Viel zu verlieren, Alles zu verlieren. Und dann? Was dann? Dürfen Sie wegbleiben und sagen, ich kann nicht mehr? ich spiele nicht mit? ich bleibe zu Hause? Nein, das dürfen Sie nicht, denn man würde glauben, Sie zögen sich auf verdächtige Reichthümer zurück, die in Wahrheit längst in alle Winde gejagt sind. Ich zum Mindesten muß glauben, daß man das glauben müßte. Und das soll man nicht glauben, von mir nicht, niemals! Also wiederkommen, lächeln und spielen, lächeln, wenn sie Einem auf die Finger sehen, spielen und verlieren und immer lächeln, aber immer wieder spielen.

Sie fragen womit? Aber das ist keine Frage. Nein, mein Herr, nein, oder Sie kennen nicht, was Leidenschaft ist. Borgen, stehlen! Lächerlichkeiten! Die Güter meiner Familie, ach was! die Mitgift meiner Schwester, die Pension meiner Mutter, den Preis meiner armen Seele würde ich zum Einsatz auf die Karte meiner Wahl setzen! Ich kenne das Glück, das liebe, eifersüchtige Spielerglück. Es will eine brutale Anhänglichkeit, aber solch eine zwingt es auch. Ich habe diese brutale Anhänglichkeit. Ich werde reich werden, verlassen Sie sich darauf, Fortunato soll reich werden und Sie auch und Marguerite auch –

Was red' ich! Marguerite ist ja todt! Na, gut denn, was helfen einer Todten zwanzigtausend Francs! Zwanzigtausend Francs in ein Hospital schleudern! Ach, mein Herr, Sie sind ruhig, kalt, unter schneienden Nebeln 106 geboren, mit gelassenerem Blut, was können Sie dafür, daß Sie das Spiel, das Glück, die Leidenschaft nicht kennen!

Ach, die Leidenschaft, sie entschuldigt viel, werden Sie sagen, mein Herr, aber sie entschuldigt nicht Alles. Meinetwegen Alles oder Nichts! Denk' ich denn daran, mich für einen Heiligen auszugeben, als den gestrengen Hüter gestrenger Sitten, als den eisernen Sohn einer eisernen Zeit? Aber nein und abermals nein! Was wollen Sie von mir, ich habe die Verpflichtung nicht auf die Welt gebracht, besser zu sein als meine Zeit. Sehen Sie sich doch um und um! Welche Sitten. welche Menschen! welche Triebfedern, welche Mittel, welche Zwecke! Und ich soll was Besonders sein? Ich habe nicht das Zeug dazu. Nein, ich bin, was meine Zeit aus mir gemacht hat und halte mich auch für nichts Besseres. Ich bin kein treuer Schäfer, der, um eine halbe Heerde und ein abgestanden Magdthum einzuheimsen, zwei Menschenalter unter dem lieben Vieh viehische Dienste verrichtet; ich bin kein Cincinnatus, der vom Pflug zum Pfluge geht; ich bin kein Ritter Bayard sonder Furcht und Tadel – ich, mitten im Verfall meiner Welt, meines Landes, meines Standes, meiner Familie, was soll ich anders sein, als ein simpler Marquis des Verfalls! – Verfiel nicht auch das große, das göttliche Rom, und war mehr werth als wir! Nun also denn! Sehen Sie rings um und um! Verfall, Verfall und wieder Verfall! Ich liebe den Verfall, ei ja denn, was sollen wir anders thun, was sollt' es uns helfen? Wenn die Ruine eines gewaltigen Schlosses den Berg hinunterkollert mit Zinnen und Brücken und Bogen und allen gewaltigen Trümmern, das einzelne winzige Stäubchen Malter, das aus der berstenden Fuge weichender Quadern springt, kann es im Wurf sich halten und pflanzen und aufrecken und sagen: Trotz alledem und ich bleibe bestehen? Wo wäre das? und was soll es anders thun, als sich fügen und hindanrollen, Schutt über Schutt, sinken und verfallen, und auch das nach ewigen, unabänderlichen Gesetzen?

Freilich, das ragende, das feste Schloß war schöner. Nenn' ich mich gut, nenn ich mich weise, schön, nacheiferungswerth? Fern sei es von mir! Ich nenne mich Mensch.

Aber Sie, mein Herr, sind Sie ein Patriarch, ein Held, ein Römer? Betrügen Sie sich nicht selbst! Sie sind auch nichts weiter als ein simpler Mensch, ein Mensch nach modernen Begriffen, ein Wesen ohne Religion und ohne Sittlichkeit, mit der Verpflichtung, möglichst viel Geld zu verdienen, mit den Rücksichten, welche Sie der Strafcodex zu beherzigen zwingt, und mit jenem vorsichtigst zu schonenden und allzeit aufzuwichsenden äußerlichen Firniß von Ehrgefühl, der ein Kleid Ihrer Kleider ist, nothwendiger als ein Feigenblatt, unbequemer auch, aber das Alleräußerlichste des Aeußerlichen. Ein Mensch unter Menschen, auch mit menschlichem Sinn und menschlichen Gefühlen, dem nichts Menschliches fremd sein kann. Auch die Leidenschaft nicht, auch nicht die Toleranz menschlicher Leidenschaften, menschlicher Schwächen! 107 Oder wie, haben Sie nichts im Gewissen, gar nichts, was auf dem Markte übel ausgestellt würde, was Sie lediglich mit dem Vertrauen guter Freunde berathen haben möchten, vielleicht nicht einmal mit diesen? Nichts, was Sie Kleinigkeiten, Sünden, Leidenschaften zu nennen belieben? Ich sage Ihnen ja! Und ohne Ihnen den Balken zuzuschieben, ich meine doch, daß auch der Splitter im Auge der Betrachtung werth sei und duldsam machen solle gegen Anderer Fehl. Ich forsche nicht nach Ihren Splittern und Leidenschaften, ich weiß zum Voraus, ich würde sie entschuldigen. Sie aber, Mensch wie ich, civilisirter Mensch, lernen Sie, üben Sie die erste Pflicht der Civilisation: Toleranz. Lernen Sie Leidenschaften verstehen und Sie werden sie zu verzeihen gezwungen sein, denn Alles verstehen heißt Alles verzeihen! Lernen Sie meine Leidenschaft begreifen und Sie werden mich entschuldigen!

Anatole hatte sich außer Athem geredet. Er wollte weiterfahren. Aber Curt ertrugs nicht länger und gebot ihm Schweigen.

– Armseliger Declamator, schrie er, wie lange soll Dein grimmassirender Witz noch Deinem Hochmuth die Leichenrede halten! Hör' auf, die liebe Gotteswelt als Schindanger zu verschreien, weil Du selber Mist geworden. Dein süßes Frankreich blüht und gedeiht und stänkert in allen fünf Welttheilen, als ob es seiner Allmacht Satrapien wären, und Du zeihst es des Verkommens, weil Deine Kaste nicht mehr weiß, wozu sie auf Erden ist, weil die Güter Deiner Familie in den Händen der Gläubiger, weil Du Dich selber zum Schurken degradirt hast? Der Verfall, auf dem Du Dich abwärts wälzest, war vom Anbeginn der Schöpfung; er fraß schon in der Genesis die Rotte Korah hinab und auf ihn berief sich Judas, der Erzschelm, wie Ganelon, der Verräther. Und alles Erbärmliche, Käufliche, Schamlose ist Dir verwandt. Mir aber bist Du nicht gleich und ich verbiete Dir den Gedanken, mich nach Dir zu schätzen und nach Deinen Leidenschaften. Ich bin vielleicht der Geringsten Einer meines Volks, ich war nicht bestimmt, mit meinen ungeschickten Händen an gewaltige und berühmenswerthe Dinge zu rühren, mit gemeiner Arbeit erober' ich von Tag zu Tag mir die Freiheit und das Leben; aber etwas vom Patriarchen, vom Römer und vom Helden steckt in mir, wie in Jedem meines Volks, wie in jedem echten Menschen. Du aber sollst den Namen des Menschen nicht eitel nennen, denn in Dir ist nichts vom Menschen mehr, als der nimmersatte Durst nach Gold und die bellende Beredtsamkeit des Lasters.

Wol kenne ich die Leidenschaft, das heilige Feuer, ohne welches die Menschheit fröstelt und verschrumpft wie die Geschöpfe in sonnenarmen Landen, aber eine andere Leidenschaft als Du, denn was Du so nennst, ist raffinirter Betrug, was Du sündigen nennst, ist käufliche Verrätherei, Spionage, Seelenschacher; Du nennst es Kleinigkeiten, die Pfennige der Armen zu unterschlagen, betäubte Weiber in Dein Bett zu zwingen und sie dann dem Elende, der Schande, dem Hospital preiszugeben. Und Du ladest mich ein, Dich zu 108 begreifen, ladest mich, den Koth zu kauen, damit ich wisse, was Deines Leibes Nahrung sei? Und Du meinst dabei ein Mensch zu Menschen zu sein? Und Du meinst, ich sei gekommen, mich mit Deinem Koth und Deinem Gelde abspeisen zu lassen?

Ich bin gekommen, Dich zu vernehmen, Dich zu richten, Dich zu strafen. Hier in der Höhle Deiner Laster, hier an der Stätte Deiner jüngsten Verbrechen, hier, wo ein armes Wesen, das ich einst geliebt und das Du und Deine Compagnie ins Verderben gelockt, das Du bestohlen, das Du um ein ehrlich Grab betrogen hast, einer teuflischen Berechnung zum Opfer bewußtlos gebrandmarkt werden sollte, nur damit das Geld, das Du verlottert, nicht mehr von Dir gefordert werden könnte! Aber womit straft man Dich? Mit dem Tode?

Auch die arme Marguerite ist todt, Du sollst ihr nicht unterwegs ins Jenseits begegnen, wenigstens nicht durch meine Schuld. Was fang' ich mit Dir an! Du sprichst Deine eigene Armseligkeit aus. Deine Religion ist ein Raritätenkasten, Deine Moral das Einmaleins, die Ehre ist Dir des Aeußerlichen Aeußerlichstes. Wol ist die Ehre sichtbar von Außen und stolz zur Schau zu tragen vor aller Welt. Sie verträgt kein täppisches Anfassen, denn sie ist feiner als das Gebilde von Goldstaub auf Schmetterlingsflügeln; schon ein Hauch trübt sie wie Glas, denn sie ist der Spiegel unserer Seele. Was weißt Du von Ehre, die doch nichts anderes ist, als die zarte Blüthe männlicher Tugend, wie das Roth auf gesunden Wangen die Blüthe frischen Bluts! Deine Ehre ist äußerlich wie die Schminke auf den welken Backen der Straßendirnen. Und diese Schminke will ich Dir von den Backen streichen und Dir Dein wahres Gesicht zeigen.

Er schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht, daß die Knochen klangen.

Anatole warf sich wüthend auf den Baron, der aber mit den Fäusten, die wie Zangen packten, griff ihn bei den Armen, schüttelte und drückte ihn und drückte ihn nieder ins eigene Bett.

Der Marquis rang den rechten Arm los und suchte sich zu erwehren mit gesteigerter Kraft; er bewegte sich mit fieberhafter Schnelligkeit; als wäre unter den Ohrfeigen des Freiherrn die Hölle in seine Adern gefahren, so stachelte, spornte, marterte ihn diese schimpfliche Behandlung, die Jener ihm anthat.

– Meine Waffen, knirschte Anatole, meine Waffen! und die lechzenden Augen gingen mit tantalischen Qualen im Kreise herum und schienen mit seinen Blicken die Pistolen von der Wand reißen zu wollen, die zu Häupten seines Bettes hingen, die seine Hand, nur um eine Spanne länger, hätte erreichen können. 109

– Erwürgen Sie mich lieber, fuhr er fort, erschießen Sie mich, ah! der ewigen Schande! ah! des schimpflichsten Schimpfes! Lassen Sie's genug sein! Geben Sie mir den Tod! Genug! . . . . Opium! . . . Geben Sie mir meinen Degen, pfui und Graus und Ekel!! . . . meinen Degen! ah!

Er schlug und kratzte, biß und spuckte.

Der Baron hatte es wenig Acht. Mit seiner linken Hand drückte er die Linke Anatole's diesem unters Kinn und hielt ihn so übers Rückgrat gebogen in die Kissen des Bettes, auf denen Marguerite vor Wochen aus ihrer Betäubung erwacht war. Mit der rechten Hand schlug er ihn rechts und links über die Wangen, bis ers müde werden wollte.

Curt's Hand pflegte daheim mit Einem Schlegeldruck den Keil aus des Eimerfasses Spundloch springen zu lassen. Sie war zum Müdewerden nicht gemacht.

Aber Anatole, dem das Wasser aus den Augen, das Blut aus der Nase lief, in dem der ganze Stolz seiner Erziehung, alles bewußte Gefühl seiner Persönlichkeit, alle besseren Erinnerungen seines Lebens unter der Schmach noch einmal aufwachten, sich emporreckelten, um sich dann machtlos zu krümmen, knirschend zu empören und elendiglich wieder in sich selber zu versinken, Anatole erlahmte an Körper und Geist. Er ließ die Beine sinken, reckte den freien Arm von sich, die Lippen traten hinter die Zähne zurück und die Zähne blieben offen stehen, ohne daß ein Laut, ein Hauch mehr drüber ging.

Curt hielt inne; es ekelte ihn. Er sah dem Marquis noch einmal ins Gesicht und ließ ihn liegen.

 


 


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