Hans Hopfen
Verdorben zu Paris
Hans Hopfen

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I.

Im Anfange des Jahres 1863 gab Monsieur Samuel Klopffechter einen glänzenden Ball zu Ehren seiner einzigen Tochter Marie, die er sehr lieb hatte.

Monsieur Klopffechter wohnte in der Rue de Rivoli, genüber dem Tuileriengarten in prachtvollen Räumen, an deren Einrichtung und Ausschmückung sich Geschmack und Kunstverständniß seiner Gattin in so merkwürdiger Weise bethätigt hatten, daß diese Wohnung noch jetzt für eine der zierlichsten und heimlichsten in ganz Paris gilt. Leider war diese herzensgute kluge Frau bald nach ihrer Uebersiedlung an einem Nervenschlage gestorben. Da hatte der Witwer sein Herz und seine Wohnung verschlossen. Die Vorhänge blieben herabgelassen, die Bilder und Kostbarkeiten und Möbel kamen unter Staubdecken und Ueberzüge.

Samuel lebte nur seinen Geschäften und der Erziehung seiner beiden Kinder und beeilte sich nicht, einen Schmerz zu überwinden, welchen er einen ewigen nannte.

Also wuchs unter gedämpftem Lichte ein schönheitstrahlendes Mägdelein heran, und als Papa Klopffechter sich dieser Wahrnehmung trotz aller Vorkehrungen nicht mehr entschlagen und der Kalender und die Welt nichts mehr dagegen einwenden konnte, ließ er die Jalousien öffnen, die Ueberzüge abnehmen, schmückte sich mit seinem schönsten Lächeln und führte sein Töchterchen in die Welt und die Welt in sein Haus.

Monsieur Klopffechter war kein schöner Mann und konnte wol auch in jüngeren Jahren nie für einen solchen gegolten haben. Er sah meist recht vergnügt, nie aber harmlos und ebenso mißtrauisch als unerbittlich aus; seine Nase war krumm, sein Mund geradlinig. Dabei pflegte er die Gewohnheit, mit den Nüstern zu zwickern, als wüßte er überall seinen Theil auszuschnobern, und nach jedem fünften Worte sich die linke Hälfte der Oberlippe abzulecken.

Er hatte die Augen eines Bagnoprofoßen und den Wanst eines Eunuchen, Hände wie ein Knecht und Füße wie ein Sklave.

Trotzdem hatte er seine Häßlichkeit niemals zu beklagen, seiner Persönlichkeit Leibesschönheit zu wünschen noch nicht Ursache gefunden. Er war Philosoph, keck und – reich.

16 Daß Klopffechter ein Deutscher hebräischer Confession war, brauche ich nach Nennung seines Namens kaum ausdrücklich zu versichern. Um aber seinem Porträt den entscheidendsten Zug zu geben, sage ich: er war aus Frankfurt am Main. Dorthin waren seine Eltern aus Oesterreich in der milden Zeit des Dalbergischen Regiments gezogen und dort zu Ansehen und Reichthum gediehen.

Ueber seinen mißrathenen Namen vermochte der Mann sich weit weniger zu beruhigen, als über Gestalt und Gesicht. Die oben genannten drei Haupteigenschaften hatten ihm im Lauf der Zeiten nicht nur nach und nach eine Menge Trostgründe unter der Form von einheimischen Bühnenkünstlerinnen und Ladenjungfern, englischen Gouvernanten und anderen importirten Luxusartikeln weiblichen Geschlechts in die Arme geführt, sie hatten auch dafür gesorgt, daß ihr Besitzer sich im Besitze einer lebenslänglichen Herzensneigung glücklich wissen konnte, als ihn in reiferer Jugend dies Bedürfniß überkam.

Aber auch dies ernste, schönste, stärkste Bedürfniß seines ganzen Lebens konnte nicht befriedigt werden ohne jenes bittere Gefühl, welches Klopffechter mit seinem Namen empfangen hatte, zu bestärken, zu steigern, zu übertreiben.

Er hätte es leicht wie Andere machen und sich mit nachgeäfften adeligen Passionen, welche ihm seine Mittel erlaubten, über Bürgerrechte trösten können, die ihm versagt blieben. Er hätte sich als ein Bruchtheil eines Volks in Völkern betrachten und seine Heimat so weit wie seine Wechselbriefe reichen lassen können.

Er hätte sich glücklich fühlen können als Mitglied jener immer mehr bei lösendem Zwang aus dessen Nachwirkungen sich formenden zweiten Aristokratie des Geldes, welche an allen Hauptstädten Europas der ärmeren und nur scheinbar älteren weiland privilegirten Kaste Concurrenz macht. Er aber meinte, er könnte Besseres und Gescheiteres treiben, und daß er denn doch nicht konnte, wie er wollte, verbitterte ihm das Leben. Verhältnisse, mit denen diese sich versöhnt, die Jenen gar ans Herz gewachsen waren, Klopffechter empfand sie nur in ihrer häßlichen Komik und fügte sich nur widerwillig in ihre scheinbaren oder wirklichen Vorzüge.

Eine practisch tüchtige, weit aussehende Begabung wie die seinige wollte wirken, wo und wie es ihr gefiel, nicht in eng gegebenen Schranken.

Er empfand ein lebhaftes Vaterlandsgefühl und hatte doch kein Vaterland.

Es drängte ihn, sich als Bürger unter Mitbürgern zu bethätigen, und er war und blieb – Klopffechter.

O über diesen Namen; er empfand ihn wie ein Brandmal – aber er trug ihn wie eine Krone.

17 Als einst an den Ahn die moderne Nothwendigkeit, sich von anderen Mitmenschen durch einen Familiennamen zu unterscheiden, in Gestalt einer staatlichen Verordnung und eines Josephinischen Polizei-Commissärs herangetreten war, da hatte es sich gefügt, daß dieser letztere auf den Ahn, ich weiß nicht, mit wie viel Recht oder Unrecht, einen gar boshaften Eigensinn wirken lassen, und von diesem Eigensinne gegen alle Gewohnheit weder durch Geld noch gute Worte abzubringen gewesen war. Nicht Levy und nicht Hecht, der Ahn, welcher ein berühmter Rabbi und großer Schriftgelehrter war, mußte Klopffechter heißen, und Klopffechter hießen alle seine Nachkommen und vom Ahnherrn auf die Enkel ging mit dem Namen auch dieses Namens Stolz und Groll.

Wenn Samuel gute Freunde riethen, seinen Namen ins Französische oder Ungarische frei zu übersetzen, pflegte er barsch zu antworten, daß er's Gott sei Dank nicht nöthig hätte, seine Kleider, geschweige gar seine Haut und noch weniger seinen Namen färben zu lassen.

Als er aber seinerzeit vor dem Mädchen gestanden, das er sich zum Weib erwählt, hatte er es doch mit zweien von den wenigen Thränen seines Lebens fragen gemußt, ob es so einen abscheulichen Namen durch ihr ganzes Erdenwallen und dereinst auf ihrem Grabsteine tragen wollte.

Das Mädchen war ihm um den Hals gefallen und hatte gesagt, daß es auf der weiten Welt keinen besseren, keinen wünschenswertheren Namen gäbe.

Diese Antwort wäre wol im Stande gewesen, Klopffechter mit seinen gesellschaftlichen Unterscheidungszeichen zu versöhnen, allein dabei war noch ein anderer Umstand, der ihn nur umsomehr verbitterte.

Seine Braut war eine Christin, ein armes, aber gutes Frankfurter Bürgerskind, und sie zu ehelichen war nach den Gesetzen der sogenannten freien Stadt ebensowenig möglich, als es, wenn möglich, den beiderseitigen Anverwandten Freude gemacht hätte. Samuel aber trug auf den festen Schultern einen gar harten Kopf, sein Bräutchen war just auch nicht von den Weichmüthigen, und nach vielem bürgerlichen und familiären Aerger und Gram saßen Herr und Frau Klopffechter junior in wohlversorgter Häuslichkeit zu Lyon, wo der Gatte sich mit viel Geschick und Glück am Seidengeschäfte betheiligte.

Nach wenigen Jahren genoß er alle Freuden des Vaters, alle Rechte des Menschen, alle Pflichten des französischen Bürgers. Er lobte Gott und das Jahr 1789 und schimpfte auf seine Heimat, daß es ein Graus war. Die Leute, welche ihn umwohnten, zerdrückten mit ihren weichlichen wälschen Zungen den ihnen ewig unaussprechlichen Namen in einen sonderbaren, nichtssagenden, unkenntlichen Lautklumpen zusammen, und wenn der Träger desselben ihn unter ein Schriftstück setzte, oder wenn er ihm auf einem früher 18 unterfertigten wieder vor Augen kam, sah er ihn immer ein Weilchen mit malitiösem Lächeln an, als wollte er sagen:

– Gelt, Alter, ich habe dirs eben doch abgewonnen und bin der Stärkere von uns Beiden.

Im Jahre Achtundvierzig kaufte sich Samuel die Grundrechte deutscher Nation und hing sie in einem goldenen Rahmen über seinem Betet auf. Der Gedanke, welcher ihn damals anwandelte, nach Frankfurt zurückzusiedeln, ward ihm aber bald wieder verleidet.

So blieb er in Lyon und ward immer wohlhabender und fühlte sich immer zufriedener. Der rothe Knopf der Ehrenlegion ließ nicht lange auf sich warten.

Als der große Bürgerkrieg in Amerika losbrach, verdiente Klopffechter gelegentlich der Lieferungen für die Südstaaten große Summen. Er zog sich von den Geschäften zurück, ließ sich in Paris nieder, machte ein angenehmes Haus und verdaute sein Frühstück auf der Börse.

Da, auf der Sonnenhöhe seines Daseins, traf ihn das Unglück. Seine blühende Gattin riß der Tod jählings von seiner Seite, und nun verschloß sich der Witwer in seine glänzenden Gemächer und seinen finsteren Schmerz, nur mehr der Erinnerung an die Geschiedene und der Pflege seiner heranwachsenden Tochter lebend.

Als Marie achtzehn Jahre alt geworden, legte Klopffechter seine Trauerkleider ab, knüpfte die früheren Verbindungen mit der Gesellschaft wieder an und öffnete seinen Salon.

Er war ein guter Wirth und es fehlte nicht an den verschiedenartigsten Gästen, die er alle mit gleicher Liebenswürdigkeit empfing und mit dem gleichen zufriedenen Selbstbewußtsein. Er war überall. Er schüttelte hier Einem die Hand, ließ sich dort in ein nichtssagendes Gespräch ein, fragte einen Diener, ob Mademoiselle Marie ihre Toilette noch immer nicht beendet hätte, gab einem anderen den Auftrag, Fräulein Marguerite möchte sich doch beeilen; dann mischte er sich leutseligst in einen Schwarm junger Mädchen, an deren Scherzen und Schäkern er sich gütlich that oder wies einem Kunstkenner die Schätze seiner Wohnung.

Gold, Marmor, Glas, Malerei und Getäfel, Holz und Gewebe mancher Art fügten sich hier zu einem Ganzen von fürstlicher Pracht, welches in reiner künstlerischer Schönheit sich gebildet. Hier wurde das Auge nirgends durch aufdringliche Schaustellung des Reichthums, das Gemüth nicht durch unheimliche Pracht, die Harmonie nirgends durch kleinliches, wenn nur kostspieliges Beiwerk gestört, wie das in den Wohnungen üppiger Pariser so häufig.

Das Verweilen in diesen Räumen war so anregend als das Durchwandeln derselben erquickend. Wie Formen und Farben der Möbel und 19 Wände der einzelnen Gemächer einander folgten, ergänzten, entsprachen, war zu bewundern ein Genuß.

Am höchsten schätzte der Besitzer ein nach einer kleineren Seitenstraße gelegenes geräumiges Zimmer, in welchem etwa vierzig bis fünfzig Gemälde neuerer Meister zu sehen waren.

Von Deutschen waren Rahl, Knaus, Riedel, Schleich, die Achenbach, Heilbutt und Böcklin vertreten.

In diesem stillen reichgeschmückten Gelaß hatte Frau Klopffechter ihre besten Stunden verlebt; hier hatte sie tagelang sitzen und schauen mögen, mit ihrem Eheherrn rathend, ihr Töchterchen unterweisend, sich in ihre Bücher vertiefend oder auch nur ihre Kunstschätze betrachtend, ihren Gedanken nachhängend, sich der Heimat erinnernd und der Fremde, welche sie an Samuel's treuer Hand durchfahren.

Hier, ihrem Lieblingsbilde, der sonnebeladenen römischen Campagna gegenüber, im vergoldeten Lehnstuhle, dem alten Prunkstücke eines venezianischen Palastes, hier hatte sie auch den letzten Abend mit den Ihrigen verbracht, in heiterer Laune, in ununterbrochenem Gespräche, bis es sie schläferte und sie hinüberging, um lächelnd einzuschlummern und nicht wieder zu erwachen. –

Gegenüber dem Lieblingsbilde, der sonnebeladenen Campagne, im alten vergoldeten Lehnstuhl, sitzt heute ein junger, schmächtiger, geschmeidiger Mann mit kleinen raschen Augen. Die scharfe große Nase, dem Schnabel eines Raubvogels vergleichbar, biegt sich über den dunklen militärisch gedrehten Schnurrbart. Die derbere Rechte dreht am spitzen Knebelbart, die Linke trommelt auf der Armlehne den Generalmarsch der Ungeduld oder der Langweile.

– Oh, oh! sagt er jetzt, rüttelt sich fester in den alten Dogenstuhl hinein, so daß die kleinen Füße nicht mehr den Boden berühren und hin- und herzuläuten anfangen.

– Aber Anatole, das ist ja schrecklich langweilig! fährt er auf gut Pariserisch fort.

Und der Angeredete, welcher zwischen den Vorhängen der Thüre steht, – wendet sich bittend um und ruft besänftigend:

– Gedulde Dich noch ein Weilchen, Fortunato, es geht nicht anders.

– Meinethalben, wenn Dirs Vergnügen macht! erwidert gähnend Fortunat und Anatole verschwindet.

– Jetzt fangen sie gar an zum Clavier zu singen – auf einem Ball! O, diese Deutschen! Aber das singt überall!

Er legt den Kopf ins Genick, so daß der Strahl eines Wachskerzenbouquets, welches neben einer verschlossenen Thüre angebracht ist, ihm gerade ins Gesicht fällt.

20 Er hat ein hübsches offenherziges Aussehen, aber auch verbrannt von der Sonne.

Der dreißigiährige Herr ist viel gereist und dabei gar viel zu Fuß, unter Sack und Pack; Algerien, der taurische Chersones und die Lombardei, – China und Mexico haben ihn gesehen.

Das letztere Land ist ihm übel bekommen, von dort haben sie ihn bald wieder nach Paris geschickt; er trägt das Kreuz am rothen Bande wahrlich nicht unverdient.

– Immer singen, ja wol! fuhr er, die Augen auf die Decke heftend, fort, als wäre Anatole noch im Zimmer. Das erinnert mich an die gefangenen Tiroler Jäger, die sangen noch als – ach, die armen Teufel, die braven Kerle!

Aber man merkts, daß man in einem deutschen Hause ist, fuhr er unwillig mit einem derben Handschlage auf die Stuhllehne fort. Es riecht hier ordentlich nach Sentimentalität; sie liegt in den Möbeln, sie hängt an den Wänden, sie fällt vom Gesims auf Einen herab und steckt Einen an. Zum Teufel ihre Tiroler und ihre Juden! Was thut das mir? Ich will in meinen Cercle, mein Spielchen machen, Anatole. He? – Anatole? Ja so, der ist im Tanzsaal! Richtig, sie tanzen. Im Grunde ists im Cercle auch langweilig, na und wie! das ewige Spielen! – Es ist nicht die Beschäftigung, es sind die Menschen.

Ich habe keinen Freund mehr in der Welt. Anatole ist auch nicht von meinem Schlag. Was ich lieb gehabt von Herzen, die trauten Jugendgenossen, die wackeren Kerle, mit denen ich in der Wüste gewohnt und den Löwen gejagt, die besten aus der algerischen Schule, wo sind sie hin? In den Gräben von Sebastopol, auf den Feldern Italiens sind sie liegen geblieben und von all dem stolzen, muthigen, lieben Leben ist nichts mehr zu finden als ihre Spitznamen und die erblassende Erinnerung an etliche gelungene Streiche. Ehrgeiz, Corpsgeist, Rauflust, es sind lauter schöne Dinge, aber die alten Cameraden sind nicht mehr da; und ich habe sie lieb gehabt meine alten Cameraden.

Und doch, es lebe der Ruhm, es lebe die Armee, es lebe Frankreich! Zu allen Teufeln mit den schwarzen Gedanken. Ich glaube, ich bin wie Anatole reif zum Heiraten. Wo steckt denn der Biedermann?

Er unterbrach sich selbst und stand auf, um in den Saal zu gehen; da hörte er plötzlich etwas hinter sich zur Erde fallen. Er wendete sich um und sah nichts.

Es mußte hinter der verschlossenen Thüre neben dem Lichterbouquet. es mußte im andern Zimmer gewesen sein. Welcher Unsichtbare läßt da drinnen einen empirischen Gegenstand realster Härte fallen, wenn hier draußen der Letzte der alten algerischen Schule in melancholische Träumereien sich verliert? Sehen wir einmal zu!

21 Eben machte Fortunat eine Bewegung nach der Thüre hin, da kam ein hochstämmiger Mann aus dem Salon. Er trug nicht gerade den modernsten Frack in dieser Gesellschaft; sein kurzes Haar war wie sein Kleid eigenhändig vom Eigenthümer gebürstet worden, aber er sah doch nicht übel aus und hielt sich gar kräftig und stramm, obwol er auf dem einen Bein ein klein wenig hinkte.

Curt musterte das Zimmer wie ein alter Bekannter, heftete seinen Blick erst auf die Thüre des Nebenzimmers, dann auf Fortunato, der sich den Anschein gab, die Bilder zu bewundern.

Dann stellte er sich in eine Fensternische, sah in die Nacht hinaus, wo hinter den schwarzen Bäumen des Tuileriengartens der Himmel durch die Unzahl der jenseits brennenden Gaslichter mit einem breiten Lichtstreif, einem verglühenden Nordlicht ähnlich, gesäumt war.

Fortunato pflanzte sich vor einem anderen Bilde auf und Curt fing an, ganz leicht auf den Scheiben zu trommeln.

Es war der Dessauermarsch.

Da aber Fortunato Miene machte, die ganze Galerie studiren zu wollen, so wendete sich Curt vom Fenster ab und ging mit allem Anschein von Gelassenheit nach der Thüre zurück, durch die er gekommen.

Auf der Schwelle begegnete er Anatole, der sich mit einem Taschentuche Luft fächelnd hastig auf den Zuaven zutrat.

– Nun, mein Freund, bin ich ganz zu Deinen Diensten. Ich habe getanzt, ich habe meine Pflicht gethan, ich war liebenswürdig; ich kann gehen.

– Aber ich, mein Freund, war noch gar nicht liebenswürdig; ich muß also noch hier bleiben.

– Ah bah, was thust Du denn hier, mein kleiner corsicanischer Eisenfresser?

– Zuvörderst studire ich die Galerie.

– Du? Hör' auf!

– O, das ist sehr lehrreich. Sieh einmal diesen Gott an, der sich vor der furchtbaren Mittagshitze ins Schilf gerettet hat. Das ist wirklich gemalte Hitze. Und wenn ich den armen schwitzenden Gott betrachte, mundet mir dies Gefrorene noch eins so gut. Sieh hier diesen Sohn des Tizian mit Liebchen und Laute spielend; ei, das verlockt nach schmeichlerischer Musik, das inspirirt zu scherzhaftem Schwatzen, zu zärtlichem Geplauder. Es leben die jungen Mädchen! Gibt es Schöneres auf Erden als das Weib? Sieh diese üppig hingegossene Venus. O, des herrlichen Malers! Welch schöne Menschen doch die Götter waren! Vielleicht ist uns ja eine menschliche Göttin näher als wir beschränkte Sterbliche wähnen. Geh' in den Saal, geh' in den Cercle, ich will hier bleiben, ich will Musik hören, tanzen, plaudern, will liebenswürdig sein wie Du.

22 – Versuche es! entgegnete Anatole mitleidig, das leicht bewegliche Soldatengemüth belächelnd.

– Nun, und Du, hast Du das Fräulein des Hauses schon erobert?

– Noch nicht einmal gesehen, versetzte Anatole gleichgiltig und putzte mit wählerischem Augenzwinkern seine Lorgnette.

– Sie soll sehr hübsch sein, was?

– Ich glaube ganz im Gegentheil, leidlich häßlich.

– Warum nicht gar?

– Eine blonde Jüdin, das kann gar nicht anders als häßlich sein. Das sollte es von rechtswegen gar nicht geben. Das Haar der Zionstöchter sei dunkel, blauschwarz wie Rabensittiche, von mystischem Glanze überschillert, als knisterte geheimes Feuer Jehovah's durch die glänzenden Flechten, welches dem Ungeweihten, der sie berührt, die Finger versengt.

– Damit decretirst Du dem Geschlechte die ganze schönere Hälfte weg. Blond ist jetzt Mode zu Paris. Ich gehe in diesem Punkte mit der Mode. Und Du hast vollends Unrecht. Die Typen der Schönheit: Allmutter Eva, die Büßerin Magdalena, warens nicht blonde Jüdinnen?

– Ja, in der Malerei; Du scheinst Dich darauf zu verstehen.

– Und in der Poesie:

Blond wie das Korn«

singt Alfred de Musset.

– Was verstehst Du von Malerei und Poesie, halbbarbarischer Insulaner!

– Vielleicht mehr als Du übercivilisirte Spielratte.

– Meinethalben. Ich mache keine Verse. Nützte mich auch nichts, meine Thesis zu behaupten; 's ist ja nicht einmal eine rechte Zionstochter mehr, schon mit deutschem Blute gefälscht.

– Gutes Blut, Bruder; ich habe alle Achtung vor deutschem Blut, seit ich es neben französischem fließen sah auf den fruchtbaren Ebenen der Lombardei. Dort hatte ich Gelegenheit, es zu vergleichen, und kann Dir versichern, es sieht dem unseren verdammt ähnlich.

– Du bist heute merkwürdig sentimental.

– Daran ist dieses Haus schuld, diese Galerie und vor allem dieser alte Stuhl. Warum hast Du mich in ein deutsches Haus gebracht, wo in jedem Winkel ein Hoffmann'scher Kobold, hinter jeder Thüre eine unruhige Fee lauert. Nachgerade fängts mir an hier zu behagen. Und weil ich nun schon einmal so mitten in einem deutschen Hause und in deutscher Sentimentalität mich verloren, so wollte ich gleich auch, ich hätte ein deutsches Liebchen und säße in diesem alten Stuhl, und sie säße auf meinen Knien und ihr liebes loses blondes Haar fiele mir über das andächtige Gesicht, derweil sie mir schauerliche Geschichten erzählte von blauen Blumen in verzauberten 23 Wäldern, von ewigen Lichtern in gothischen Domen, von redenden Thieren, vom murmelnden Rhein.

– Unglücklicher, Du sprichst ja wie ein geborener Deutscher. Am Ende verstehst Du gar Deutsch?

– Noch nicht. Aber ich wills meinethalben lernen.

– Lernen? Du?! Herr, vergib ihm, er weiß nicht, was er spricht.

Fortunato warf sich lachend, am Aerger seines Freundes sich weidend, in den sammtüberzogenen Venetianer. Als Anatole dies sah, rief er noch ungeduldiger:

– Ich dachte, Du willst tanzen.

– Aha, antwortete der Muthwillige, meine Beredtsamkeit thut ihre Wirkung. Du sehnst Dich bereits nach Deiner deutschen Dame und willst doch wissen, ob und wie schön sie ist?

– Denke nicht daran.

– Tausend Donnerwetter, aber Du möchtest sie denn doch gerne heiraten!

– Entschieden! . . . aber sicherlich nicht um ihrer Schönheit willen.

Nach diesem unzarten Geständniß trat ein kurzes, aber peinliches Schweigen ein.

Es war Anatole, als striche der Wind durch seine Seele und lüfte dort vor einer Stelle, die er nicht zu verheimlichen, aber doch zu verhüllen pflegte, den Schleier allzuhoch.

Hinwiederum schien Fortunato mehr gesehen zu haben, als ihm selber lieb war.

Der jüngere Anatole, welcher sich nach dem Stoßseufzer seines ihm zur Religion gewordenen Cynismus doch leichter aufsammelte, brach, sich räuspernd, die Stille.

– Nun, willst Du kommen?

– Sofort, entgegnete lächelnd und zögernd der Officier, aber sieh doch einmal zu, ob die Luft rein ist.

– Wozu?

– Ich bitte Dich.

– Um was denn?

– Eine Minute lang dort Schildwache zu stehen.

Anatole ging achselzuckend nach dem offenen Nebenzimmer; der Andere war mit einem Satz an der geschlossenen Pforte und legte das Auge ans Schlüsselloch.

Es war ganz stille im Gemach; die Lichter an den Wänden, die schweren Fransen an den Vorhängen bewegten sich leise im Luftzug, der vom Saal kam und ein sanftes, kaum vernehmliches Geräusch von Tanzmusik, Kleiderrauschen und Geplauder mit sich führte. Fortunato blieb in regloser 24 Stellung und merkte gar nicht, daß die Schildwache zurückgekommen war und ihm ungeduldig die Hand auf die Achsel legte.

Anatole rüttelte nun die Schulter des Schauenden derb genug; dieser rührte sich nicht.

Erst als der Drängende leise sprach: »Man kommt!« ließ der Andere sich bewegen und folgte dem Freunde.

– Was hast Du denn gesehen?

– Nicht eben viel.

– Und hat Dich doch fast versteinert?

– Das Wenige war sehr schön.

– Zum Beispiel?

– Zum Beispiel einen weißen, weichen, schmächtigen Mädchenarm.

– Deren gibts noch.

– Solche nicht allzuviel. Er bewegte sich so anmuthig.

– Was that er denn?

– Er wand Zöpfe um einen kleinen Kopf, dessen Gesicht ich nicht sehen konnte.

– Blonde Zöpfe, nicht wahr blonde? lachte Anatole.

– Diesmal warens kastanienbraune. Beruhige Dich, alter Gallier.

– Ihr Soldaten seid doch wie die Kinder. Man meint, Ihr hättet noch nie ein Weib gesehen!

– Ich werde Dir nächstens von meinen Eroberungen in China erzählen, aber vorderhand sage mir, wer das sein mag.

– Weiß nicht. Das Zimmer wird sonst, soviel ich neulich sah, nicht bewohnt; der alte Herr nennt es seine Bibliothek. Ein Deutscher kann ja ohne Bücherkram nirgends gedeihen.

– Vielleicht ists Deine Zukünftige?

– Ah! Die ist ja blond.

– Das Unglück!

Beide lachten und traten durch ein kleineres Zwischengemach in den geräumigen Tanzsaal. Unter der Thüre ging Curt an ihnen vorüber, der langsam und mit ungleichen aber gemessenen Schritten wieder die »Galerie« aufsuchte.

– Was ist denn das für ein Sauerkrautkopf? fragte Fortunato seinen Schnurrbart streichelnd leise den Genossen.

Und dieser erwiderte:

– Was weiß ich; irgend so ein grober deutscher Klotz, der zu nichts gut ist, als zum Trinken und Rauchen und Philosophiren. Hol' sie alle der Teufel!

– Nicht so geschwind, Anatole, und schilt mir nicht in einemfort auf die Deutschen.

25 – Nicht auf die Weiber, meinethalben! – Aber auch nicht auf die Männer?

– Auch nicht, mein zierlicher Salonheld; ich sage Dir, es sind keine Chinesen und – man hat nicht alle Tage das bessere Glück

– Du sprichst nicht wie ein Franzose!

– Der ich doch bin!

– So halb und halb ein verdorbener.

Fortunato würdigte diesen Scherz nur eines verächtlichen Seitenblicks und kehrte dem Spöttelnden den Rücken zu. Im glänzenden Gewühle des Festes hatten sich die Beiden gar bald verloren.

– Wollen Sie sich nicht dem Fräulein des Hauses vorstellen lassen? fragte den Corsen ein Freund im Vorüberflug.

– Sie sind ja ganz Feuer.

– Ei, sie walzt aber auch, wie es nur eine Deutsche kann.

– Zeigen Sie mir sie doch einmal.

– Sie tanzt eben an Ihnen vorüber!

Diese?!

Fortunato folgte mit gebannten Augen der schwebenden Gestalt, die zwischen den bunten Gruppen der Tanzenden bald auftauchte, bald verschwand. Wenn sie aus der Tiefe des Saales wieder näher und näher gegen ihn heran sich drehte, schien sie ihm wie das Glück, das aus dem bunten Durcheinander der gleichgiltigen Welt ihm unerwartet, langersehnt entgegenschwebte, und unwillkürlich sprach er:

– Aber dieser Anatole ist ja ein Spitzbube!

Ein Paar, das ihm zur Seite stand, wendete sich nach dem Murmelnden überrascht um; er aber merkte es nicht. Ein wehendes weißes Kleid streifte ihm die Knie im Vorüberfluge; eine Welle von Tüll und Bändern, dem Wellenschaum der ewigen Aphrodite vergleichbar, aus welchem ein schwarzer Männerarm ein Mädchen emporzuheben schien. Wie in der Sonnengluth eine Blume, so wiegte sich der Oberkörper kaum merklich im Elemente der Melodie.

Aus dem blendenden Weiß des Gewandes stieg blendender der Nacken, und glänzender als ihre Schultern war ihr Haar, das gescheitelte, krause, dichte, wie angehauchtes sich wieder verklärendes Gold.

Sie senkte die langen Wimpern tief, als suchte sie etwas auf dem Boden; aber Fortunato sah auf dem Boden nichts Besonderes, als ab und zu die Spitze eines seidenen Schuhes, der wie das Köpfchen einer Silberschlange aus dem wogenden Tüll hervorhuschte und wieder verschwand. Die ganze Gestalt war anmuthige Bewegung und die gewölbten Lippen lächelten glücklich vor sich hin; ein Lächeln, das von dem Manne nichts wußte, der sie stürmisch an seinem listigen Herzen hielt; ein Lächeln, wie man's nur Einmal lächelt im Mädchenleben, so arglos und doch so bewußt, ein unschuldiges, 26 seelenvergnügtes und doch so bedeutsames Lächeln, denn es ist ein Abschiedsgruß an die Kinderzeit und ein Willkomm zu aller späteren Zukunft, das Sichmündiglächeln der Jungfrau, das Lächeln des ersten Walzers.

– Dieser Anatole tanzt wie ein Recrut, brummte Fortunat in seinen Bart. Kannst auch noch lange nicht Alles, blasirter Hexenmeister. Wenn Du so fortholperst, wirst Du die Autorität, die ich Dir über meine gute Haudegenseele eingeräumt, noch einbüßen müssen. Wie er sie an sich drückt; ist das der gute Ton, dessen Virtuose Du bist? Man meint, er wolle sich an ihr festhalten. Ei, zum Teufel, er stolpert wirklich, er fällt! Ana –

Ehe Fortunato seine Gedanken beendet, streckte er die Arme aus und haschte, griff und hielt die taumelnde Marie, welche in der Bewußtlosigkeit eines Augenblicks das schöne Haupt an seine Brust lehnte, die sonst nur das Kreuz der Ehrenlegion und die Zeichen dreier glorreichen Feldzüge schmückten.

Anatole krachte dicht vor ihr mit beiden Knien auf den Estrich und sein Gesicht war blasser als das blasse Kleid, welches dem Fallenden die Stirne streifte.

Marie zuckte zusammen, schlug die Wimpern auf und drehte das schwere Köpfchen im Halbkreise.

Um sich wieder fest auf die Füße zu stellen, faßte sie mit fester Hand Fortunato's Arm; dann erst sah sie ihm ins Gesicht und, da es ihr ein ganz fremdes war, so erröthete das ihre bis unter das Stirnhaar.

Sie sprach noch nicht; auch der Corse fand kein Wort. Da kam aber schon, besorgt und rücksichtslos mit den Händen seine Gäste zur Seite schiebend, auf großmächtigen Plattfüßen wie auf zwei Flußschifflein fahrend, der Herr des Hauses herangeeilt und überhäufte sein Kind mit einer Fluth von ängstlichen Fragen, die es eine um die andere lächelnd verneinte.

Nun fanden sie Alle Worte und redeten Alle zusammen, Klopffechter, Marie und ein Halbdutzend sich ablösender Gäste, die sich nach dem Befinden der Tänzerin erkundigten und wieder weiterhüpften; am meisten sprach Anatole, seine Zunge klapperte wie ein Mühlenrädchen; am wenigsten sprach Fortunato, am wenigsten mit Worten, denn seine Augen redeten umsomehr und umso verständlicher.

Aber Niemand achtete dessen jetzt, auch Marie konnte es nicht, denn er war zurückgetreten und sah nur ein Viertheil des brennenden Angesichts, auf dem noch immer Röthe und Blässe wechselten.

Was seine Augen sprachen, er wußte es auch selber nicht, denn er wußte nicht, was er dachte.

Er wußte nur, daß ein leichter Luftzug, der aus der langen Zimmerflucht durch die Saalthüre hereinhauchte, ihm wohlig das glühende Gesicht kühlte; – er fühlte nur, daß ein kantiges Seidenband, im Luftzuge gehoben, 27 von Mariens Schulter nach seiner Wange züngelte, und in diesem kaum merklichen Kitzeln seiner vielgeprüften Epidermis verlor sich ein paar Augenblicke lang all Empfinden und Bewußtsein eines ganzen, stolzen, probehaltigen Mannes.

Es nahm ihn Jemand bei der Hand – er wußte nicht wer? – Derselbe stellte ihn der Geretteten vor – er wußte nicht wozu? – sie sprach mit ihm – aber er wußte nicht was? – und er antwortete – ohne zu wissen wie? – sie trennten sich endlich – er wußte nicht warum?

Da war der Walzer zu Ende und da begann Fortunato wieder zu hören und zu sehen und zu denken wie sonst.

Das Erste, was er dachte, war ein unaussprechlicher corsischer Fluch und das Zweite die stärkere Wiederholung des letzten Gedankens, den er vor dem Taumeln Mariens und dem Aufruhr seiner Sinne entlassen. Diesmal dachte er nämlich nicht: »Dieser Anatole ist ein Spitzbube!« sondern er dachte sich kurz und bündig:

– Dieser Anatole ist ein hinterhältiger Schuft!

Und mit diesem groben Gedanken hatte er Recht, denn ein hinterhältiger Schuft war dieser Anatole in der That und in der Wahrheit, obwol es ihm Niemand auf den ersten und selten Einer auf einen späteren Blick ansah.

Er war zu lang ein ehrlicher Kerl gewesen, um dessen Aussehen und Gebahren so rasch zu verlernen, zu verlieren. Wenn ihm jetzt Einer nachschliche, wie er bei der ersten schicklichen Gelegenheit der Gegenwart seiner gewollten Braut zu entschlüpfen und in der Einsamkeit der »Galerie« sich im oftgenannten Lehnstuhl zu sammeln suchte; wer ihn hier belauschte, der hatte vielleicht ihn ebensowenig wiedererkannt als einen Mann, der bisher nur unter einer Maske mit uns gesprochen.

Anatole's Züge, welche sonst die Glätte des Dandys, die Steifheit des Aristokraten, die Kaltblütigkeit des Spielers festhielt, so daß nur der schmale blasse Mund, die großen braunen Augen und die durchsichtigen Augenlider sich bewegten, diese Züge zuckten jetzt wie im Fieber.

Der schmächtige Körper, welcher seine vornehme Haltung sonst nie verlor, saß eingeknickt und schlaff mit vornüberhängendem Haupte und die wenigen sorgsamst gepflegten Haare, welche diesem jungen Manne noch geblieben und durch ihren Mangel seiner niederen Stirne das Aussehen einer hohen gaben, lehnten sich gegen die gewohnte Ordnung auf; nur der einzige in die Höhe gedrehte Schnurrbart ließ sich nicht irre machen und blieb in der allgemeinen Aufregung steif und unbeweglich stehen.

Wer aber glaubt, daß Anatole's Fassung aus der Befürchtung erschlaffte, er möchte seine Aussichten auf Mariens Hand, respective deren Mitgift und die Aussicht, Klopffechter dereinst zu beerben, durch seine Ungeschicklichkeit verloren haben, der irrt sich.

28 Fürs Erste brauchte er das nicht zu befürchten, und wäre es auch gewesen, so hatte er seit langer Zeit die Gewohnheit, große Summen im Handumkehren zu gewinnen oder zu verlieren, ohne ein Fältchen im Gesichte zu ziehen. Diesmal war es eine größere, eine sehr große Summe gewesen, aber immerhin nur eine Summe.

Ein Gentleman erschießt sich wegen eines bösen Spiels, aber er macht gute Miene dazu.

Was ihn auf einen Augenblick aus dem Gleichgewichte brachte, war einzig und allein der Vorwurf, sich – wenn auch zufällig – in einem Salon lächerlich gemacht zu haben und das Bewußtsein, daß im Augenblicke ein paar Dutzend Backfische und zwei Dutzend Laffen ihn wirklich auslachten.

Anatole strich das Haar zurecht und sah längst wieder aus wie immer, aber er zögerte an der Schwelle des Salons und überlegte im Zurückgehen:

– Soll ich das Werben um Marien aufgeben oder fortsetzen? Was ist das Klügere?

Er griff in die Tasche, legte ein Zehnfrankenstück in seine linke Hand und sagte im Geiste zu sich:

– Kopf oder Schrift!

Er steckte das Gold aber sofort unbesehen ein, setzte sich in den Stuhl und machte folgende Wette mit sich selber:

– Wenn die erste Stimme, welche ich, ohne mich vom Flecke zu rühren, hier deutliche Worte sprechen höre, eine weibliche Stimme, so nehme ichs für ein gutes Zeichen und werbe weiter um jeden Preis; wird es die Stimme eines Mannes sein, so mag das Fräulein des Hauses heimführen wer mag.

Er lächelte wieder, schlug ein Bein über das andere, zog ein Notizbuch und schien zu rechnen.

Während wir in Deutschland solchen Fatalismus für albern halten, gilt er in Frankreich für die Eigenschaft bedeutender Menschen.

Anatole war nun weder ein alberner, noch ein bedeutender Mensch, sondern ein ganz gewöhnlicher, mit alltäglichen Anlagen, aus welchem Glück und Erziehung, je nachdem sie ihm gegönnt ward, Gutes oder Schlimmes bilden mochte.

Mitten im Faubourg Saint-Germain geboren, als der Sprosse einer alten, adeligen, starr legitimistischen Familie, welche aus dem Schiffbruche der Revolution nur wenige ihrer ehemaligen Glücksgüter gerettet hatte, verlor er seinen Vater schon in früher Jugend und seine Mutter, eine geborene Herzogin von zahllosen Ahnen, übernahm mit Hilfe eines vorsündfluthlichen Abbés die weitere Heranbildung ihres einzigen Kindes.

29 Der Knabe machte diesen beiden Pflegern niemals besonderen Kummer, freilich auch nie besondere Freude; er lernte, was ihm der alte Geistliche zu lernen gab, aber er las auch nie einen Buchstaben mehr, versäumte weder den Gottesdienst noch die Reitstunde und galt in der ganzen Nachbarschaft seines Gutes als vortrefflicher Sohn, guter Christ und braver Edelmann.

Als er herangewachsen war, fühlte er das hohe Bewußtsein, zum großen Herrn geboren zu sein, mit untadelhafter Deutlichkeit. Leider aber war das Vermögen, welches diesen Ansprüchen zur Seite stand, nicht groß genug, sie vollgiltig zu befriedigen, jedoch auch nicht so klein, um ihn ganz auf deren Befriedigung verzichten und in bescheidener Existenz sich begnügen zu lassen.

In die Armee zu treten, um ein öffentliches Amt sich zu bewerben, gestatteten die Traditionen seiner Mutter nicht.

Und wenn er schon seine Mutter nicht immer fragte, so widersprach er ihr doch nie, und er gefiel sich anfangs gar wohl in der einzigen Aufgabe, seines Namens würdig zu faullenzen, gesellig zu sein und Gott walten zu lassen.

Da er sich zuweilen langweilte, so spielte er zuweilen, natürlich nur mit Standesgenossen.

Aber man kann auch merkwürdigerweise an Standesgenossen sein Geld verlieren, sehr viel Geld, mehr Geld, als man hat.

Anatole widerfuhr dies, und er kam in der ersten Verzweiflung seiner jungfräulichen Seele auf den Einfall, daß er vielleicht gewinnen möchte, wenn er mit Leuten spielen würde, die zur Abwechslung einmal unter seinem Stande wären.

Er war zu delicat, diese Frage seiner Mutter vorzulegen; so entschloß er sich denn allein und spielte und gewann.

Die Folge davon war, daß er nun mit Ebenbürtigen und Nichtebenbürtigen spielte, in Clubs und Salons, in Bädern und Spielhöllen. Und die Folge davon war, daß er nach ein paar Jährchen wechselnden Glücks tiefer im Schlamm saß als je vordem.

Er bat ein Zeichen vom Himmel herab, ob er leben oder sterben sollte, denn es war nicht mehr zu gewinnen, weil nicht mehr zu spielen, weil nicht mehr zu borgen.

Da starb seine alte Mutter und er ward Herr seines ganzen Vermögens. Allein sein ganzes Vermögen reichte nicht hin, auch nur zwei Dritttheile seiner Schulden zu bezahlen.

So zahlte er die Hälfte des einen Dritttheils und versuchte mit dem Rest sein Glück auf die gewohnte Weise, leider auch mit dem gewohnten wechselnden Erfolge, der ihn nach Ablauf zweier weiterer Jahre abermals nacht und hilflos auf den Sand setzte.

30 Nicht ganz hilflos!

Im Laufe der Zeit und des Lebens, welches er geführt, hatten sich in dem Enkel der Geharnischten Eigenschaften verkrüppelt, welche früher zu den Grundzügen seines Wesens zu gehören schienen, und wieder andere Eigenschaften ausgebildet, die er selber kaum, und noch viel weniger seine Erzieher, in ihm berücksichtigt oder vermuthet hatten.

Nichts ist richtiger, als daß schon im Kinde der Mann steckt; aber er steckt darin wie die Statue im rohbehauenen Block, wie im Rundstück die Münze – das entscheidende Gepräge, unter dem es dann von Hand zu Hand geht, gibt nach langem Schmelzen und Schieben und Schneiden erst ein später, kurzer, entscheidender Schlag.

Seht dort den blassen Knaben neben dem wappengeschmückten Betschemel der Marquise; die langen wohlgepflegten Locken fallen schwer auf das romantische Sammtröckchen; er wendet die Augen nicht vom Altar und hält die Hände regungslos gefaltet, nur die unschuldigen Lippen beben wie zwei junge Rosenblättchen im Morgenwind, so daß alle Leute, die ihn sehen, auch loben und des Glaubens sind, der Himmel müßte seine Freude an solchen kleinen Edelleuten haben.

Währenddessen zählt der kleine Edelmann mit Lammsgeduld die kleinen Rundscheiben im Altarfenster, denn . . . gibt die Summe eine gerade Zahl, so kommt Vetter Guy heute Nachmittags aufs Schloß; gibts aber eine ungerade Zahl, so läßt der liebe Herrgott regnen und dann ists wieder nichts. – Verräth das Kind den kahlköpfigen Dandy, der hier zwischen Haufen Goldes in seidenen Gewändern mit fürnehm regungsloser Miene die Volte schlägt?

Was ihn zum erstenmal auf diesen Weg geführt: der langweilige Sermon eines Hofpredigers? der boshafte Witz eines Verführers? das flehende Händeringen eines in Bedrängniß verfallenen Busenfreundes? der verächtliche Gestus einer Courtisane? Ich weiß es nicht; aber ich weiß, daß er diesen Weg mit der Entschiedenheit und dem Enthusiasmus beschritt, mit der unbesiegbaren Energie und der triumphirenden Virtuosität verfolgte. als wäre er eigens dafür geboren worden und müßten diesem Lebensberuf alle anderen Rücksichten sich bequemen.

Seines Thuns und Lassens Zweck und Richtschnur war: in der Welt, die er sein nannte, zu glänzen, zu gelten, nothwendig zu sein. Hatte er im Anfang gespielt, um sich die Mittel zu diesem glänzenden, auffallenden, kostspieligen Treiben flüssiger zu machen, so lebte er dies Leben jetzt, um spielen zu können.

Ihm waren die prächtigsten Salons nur die Vorzimmer zu jenen Stübchen, darin der grüne Tisch stand. Er verschwendete, weil das Geld unter den Karten, wie's im Fluge gefangen worden, im Fluge vergangen ist. Aber er konnte darben und entbehren, um sein Sümmchen für den Einsatz nicht 31 anzutasten. Was war ihm dies Erdenwallen ohne die prickelnde Wollust von Furcht und Hoffnung, ohne den wärmeren Herzschlag zwischen raschem Gewinn und jähem Verlust?

An- und Auskleiden, Nähren und Verdauen einer blutarmen Maschine, welche für schätzenwerth zu halten man nur im Vergleich mit anderen vermochte, und diese Eitelkeit zu befriedigen, mußte man sein Geld vergeben, seine Gesundheit ruiniren und seine Laune preisgeben. Hatte er früher nur den größeren Theil seiner Mitbürger geringgeschätzt, so verachtete er jetzt alle; hatte er vordem die Sterblichen in solche getheilt, welche Ahnen, und andere, die nur Vorfahren hatten, so theilte sich die Menschheit jetzt in Leute, von denen man gewinnen konnte, und diejenigen, bei welchen eben nichts zu holen war.

So ging bei ihm die Habsucht mit der Verschwendung, kindischer Aberglaube und greisenhaftes Mißtrauen, weltmännischer Leichtsinn und spitzbübische Vorsicht Hand in Hand.

Diese spitzbübische Vorsicht hatte ihn unter derjenigen Hälfte der Menschheit, bei denen etwas zu gewinnen war, eine Dame finden lassen, welche jung, schön, tadellos, von uralter Herkunft und großen Reichthümern und noch überdies eine Verwandte seines Geschlechts war. Gewitzigt durch überstandene Wechselfälle hatte er schon in den Tagen seines Glanzes sich dem erblühenden Mädchen mit vollem Bewußtsein seiner redlichen Absichten genähert. Mit der Familie seit Urväterzeiten alliirt, hatte sein häufigeres Erscheinen im gräflichen Hause nichts Auffälliges, ja der alte Graf spielte mit viel Behagen und Gefühl den Mentor und den Protector der blutsverwandten Waise.

In eine Heirat zwischen dieser und seiner Tochter hätte derselbe indessen gutwillig sich nie ergeben, da er, abgesehen von dem anrüchigen Leumund seines liebenswürdigen Vetters, bestimmten, schon vor der Geburt des Heirats-Objects gefertigten Familien-Convenienzen sich nimmer zu entziehen gedachte.

Anatole täuschte sich darüber nicht im mindesten, da er aber ebenso unerschrocken als das Mädchen unerfahren und unbedeutend war, so practicirte er unter den Reizen des Geheimnisses und Verbotenseins eine eitle Liebe so weit, als sie das eigennützige Raffinement einer lieblosen Gaunerseele eben nothdürftig bringen konnte.

Manchmal dachte er von der sauren Arbeit wieder abzustehen; da kam er in die großen vermaledeiten Calamitäten, das Schicksal spielte einen Trumpf um den anderen gegen ihn aus, ihm blieb nur die einzige Karte mit seiner königlichen Herzdame; allein auch diese sollte übertrumpft werden.

Die Beredtsamkeit der Verzweiflung mochte dem lüsternen Comteßchen wie die Sprache der Leidenschaft klingen; sie verabredete, beschwor und bereitete mit dem berechnenden Romeo eine nächtliche Entführung. Ehe aber noch 32 der Tag zur Rüste gegangen, hatte sich die Kleine, von Furcht und Reue geplagt, dem staunenden Erzeuger zu Füßen geworfen und – »Alles gestanden«.

Statt einer zitternden Braut erwarteten vier handfeste Lakaien den Verführer, in deren härtester Umarmung er wider Willen vor dem modernen Arzt seiner Ehre erschien.

Der Graf legte die Stirne in furchtbare Falten; aber beide Theile begriffen gar bald, daß vorliegender nächster Versuch des Jungfernraubes unter erschwerenden Umständen weder durch Meuchelmord, noch Zweikampf, noch einseitige Züchtigung aufs Zweckmäßigste gesühnt und in allen seinen Folgen vereitelt würde. Dies konnte nur das tiefe, unverbrüchliche, heilig gelobte Schweigen. Anatole schwur.

Aber Strafe muß sein! Und so mußte sich der mit allen Qualen gesegnete Anatole auch noch zu einem zweiten und dritten Gelöbniß entschließen, ehe das so unerhört von ihm beleidigte Haus ihn lebendig und heil entlassen wollte.

Nie – das war das zweite – sollte er gegen Einen der Sippe ein Wort richten, und wo sie rechtwärts gingen, linkswärts gehen! Nie mehr – und das war das dritte und ärgste, was das empörte Vaterherz sich zur Sühne, jenem zur Strafe ausgeklügelt – nimmermehr sollte er das verlangende Auge nach der Tochter eines turnierfähigen Stammes erheben, in der Tiefe der Roture sich die Gesponsin seines verstoßenen Daseins suchen, und also zu lebenslänglicher Mesalliance verurtheilt setzte man ihn vor die Thüre.

Hätte Anatole schon damals gewußt, daß Gott einen Monsieur Klopffechter habe wachsen lassen, der nicht abgeneigt wäre, eine schöne Tochter und eine noch weit schönere Mitgift an einen französischen Edelmann zu vergeben, wahrlich, der Verurtheilte war bereits tief genug gesunken, um sofort zur Execution zu schreiten. So aber drückte ihn das Gefühl seiner Verschuldung lebhafter als das seiner Strafe.

Seine Lage war furchtbar, seine Verzweiflung betäubend. Von unvertröstlichen Gläubigern verfolgt, mit seiner Verwandtschaft auf ewig überworfen, ohne jegliche Aussicht, sich irgendwie aufhelfen zu können, fing er schon zu überlegen an, ob nicht eine rasch und eigenhändig vollbrachte Todesstrafe dem milderen Gerichte vorzuziehen sei. Nach kurzer Zwiesprache mit seiner Eitelkeit war er entschieden, daß es nobler sei, sich auf der Höhe unbezahlter Schulden eine wohlanständige Kugel in das erschöpfte Erfindungsorgan zu jagen, als mit der Doppelschmach der Armuth und der Lächerlichkeit beladen aus der Gesellschaft, die man die bessere nennt, zu verschwinden und aus ohnmächtiger Entbehrung unter den gemeinen, das tägliche Brod mit saurem Schweiß verdienenden Pöbel gemengt, jene Glücklichen zu beneiden, welche noch immer spielen können.

33 Er bestellte sich einen opulenten Leichenschmaus, und wie er so in einer regnerischen Dämmerstunde, welche er seine letzte wähnte, vor einem wohlbedeckten Tischchen des Café riche saß und versuchte, was er Alles noch vor der unverdaulichen blauen Bohne zu sich nehmen könnte, gesellte sich ein Herr zu ihm, mit dem er als alten Bekannten, als wohlangesehenen Mann und Mitglied seines adeligen Cercles in ein weitläufiges Gespräch zu gerathen eben nicht umhin konnte. Es war die folgenschwerste Unterhaltung in Anatole's ganzem Leben.

Denn – wer hätte das geahnt? – jener edle, wohlangesehene, langjährige Bekannte entpuppte sich nach und nach vor dem staunenden Tischgenossen als ein Theil des Theils, der zwar noch niemals Alles war, aber doch nicht selten Alles weiß.

Anatole gegenüber war Letzteres in unfehlbarer Vollkommenheit der Fall. Der Herr kannte nicht nur seine unmäßige Eitelkeit und zügellose Spielwuth, er wußte die Summe seiner Schulden bis auf den letzten Liard, und konnte sie in ihre einzelnen Forderungen zerlegen und ihnen gegenüber die Activa des Gläubigers in ihrer ganzen unwiderleglichen Unzulänglichkeit specificiren.

Und, was den Ueberraschten vollends außer Fassung brachte, der Furchtbare erzählte ihm haarklein Genesis und Vereitlung seines Entführungsprocesses; nicht nur die Donnerkeile des Vaters konnte er wiederholen, nein, auch die Lispelworte der Liebe; ja selbst was Niemand gehört und der Verführer selber längst vergessen – die Polizei wußte Alles.

Anatole saß vor dem Geheimnißreichen wie ein geknebeltes Opferthier und sah ihn mit großen Augen an, und wußte nicht, was Alles das bedeuten sollte.

Der Andere aber nahm ihn vergnügt beim Arm und führte ihn hinaus auf die wunderbare Steige des Boulevard des Italiens und zeigte ihm unter dem aromatischen Wölkchen einer echten Havana all das Schaubare, was ein ehrgeiziges Wesen reizen, einen sinnlichen Menschen entflammen, einen habsüchtigen in Wuth bringen kann.

Die Geldgier liegt wie ein epidemisches Fieber in der Pariser Luft, und wenn es überall peinlich ist, arm zu sein, so fühlt man es in Paris unertragbar, nicht reich zu sein.

Hier schlenderten gute Freunde an ihnen vorüber, modische Jungherrn in untadeligen Kleidern, in der Götterlaune eines köstlichen scherzgewürzten Desserts, lachende Augen und grüßende Hände, »heute Abend im Club!« »Du kommst doch in die Oper?« »Zu der?« »Zu dem?«

Jenem hatte Anatole eine Spielschuld zu zahlen von gestern; er würde heute gewiß gewinnen, denn der Andere hat ja verrufenes »Pech«; von Diesem hätte er sogar ein jüngst geliehenes Sümmchen zu erwarten; das wäre 34 ein Einsatz, freilich nicht groß, aber sicher, weil dieser immer der Erste auf dem Platze.

Handschlag und Stelldichein und Vorübergehen, denn Anatole ist ja im wichtigsten Gespräche mit dem Alten.

Dort die herrlichen Frauen in blendenden Gewändern, prangende Schönheit und neckische Koketterie, Virtuosinnen des Genusses und mühsame Eroberungen, Alles, was Du willst, und Alles in Reichthum und Behagen, Alles reinlich, Alles zierlich, Alles gewählt und Alles im Ueberfluß! Wie das blickt und lächelt und vorüberraschelt in Seiden und Pelz, in Blusten und Spitzen, und allem schicklichen Schmuck und Zierrath nach der neuesten Mode! Und drüben die wiehernden Racepferde, die Jockeys, die Kutscher, die Postibone und die schlanken, hochräderigen, wiegenden Wagen, hinsausend wie Riesenblumen im Winde über den wimmelnden, den lautlosen, den lichtüberflutheten Macadam. Und hüben unter riesigen Schaufenstern, von Feenhänden gelegt und geordnet, in magisches Licht getaucht, und käuflich für Geld wie Alles, die Kostbarkeiten, die Meisterstücke, die Wunderwerke der bewohnten Welt.

Und die Luft so kühl und feucht, so nervenprickelnd – halb Herbst, halb Winter, die rechte Zeit, die aller Freuden Anfang.

Und all diese Freuden kannst Du haben, lieber, guter, kluger Anatole; Du brauchst dafür nichts als Leben und Geld. Das Leben mußt Du eben nicht in traummüthiger Anwandlung von Dir werfen und das Geld wird er Dir schaffen der vernünftig redende Mann, welcher Dich glücklicherweise beim Speisen getroffen heute Abend im Café riche und nun mit Dir bummelt zwischen der rue Richelieu und der rue Louis le Grand auf und ab, Arm in Arm.

Na, was er dafür von Dir will – muß man denn der Sache gleich den schlimmsten Namen geben? Im höflichen Frankreich? In der Sprache der Diplomaten? Sagt er zu Dir: Seien Sie gefälligst ein Schuft? Bewahre! Ein kleines unsichtbares Rädchen, sollst Du Dich einsetzen lassen in die colossale Regierungsmaschine und dort gedreht und Andere drehend am gewaltigen Werke der Staats- und Weltbeglückung Dein Theilchen leisten.

Im Schweiße Deines Angesichtes etwa? In abspannenden Nachtwachen? In Nacheiferung bewunderter Mustermenschen? Nein! Du sollst Niemand bewundern als Dich selbst, sollst nicht schwitzen als auf Turf oder Tanzplatz, sollst keine Nächte verwachen, als die vor dem grünen Tisch. Du sollst leben wie bisher, und vor allem viel, sehr viel in Gesellschaft gehen. Dein Name, die Traditionen Deiner Familie, der legitimistische Wohlgeruch, in den Deine ganze charmante Persönlichkeit getaucht ist, sie öffnen Dir jeden Salon diesseits und jenseits des Wassers, sie stellen Dich erhaben über 35 jeglichen, auch den leisesten Verdacht. Zuweilen besuchst Du in einer gemüthlichen Morgenstunde diesen Herrn oder einen anderen Chef, einen Minister! – und entrichtest ein kleines Stimmungsbild, ab und zu mit einem interessant skizzirten Dialog, mit pikant eingestreuten persönlichen Bemerkungen ergänzt – was ist dabei? Es gilt das Wohl des Staates und vor Allem Dein eigenes Leben!

Du bist freilich bisher ein starrer Legitimist gewesen, na ja, man hat Dich von Kindesbeinen an auf die Bourbonen abgerichtet.

O Richard, ô mon roi!
L'univers t'abandonne.

Und wenn der Erdkreis Dich verlassen, was hülfe Dir dann ich! Und wenn auch: fragt der Ertrinkende die rettende Hand, ehe er sich packen läßt, erst, wo sie ihre Seife kauft? Gehts in der Politik anders als im Leben Heinrich V.? Napoleon III.? Was sind sie mehr eben als zwei Könige im Kartenspiel?

Lilie oder Biene? pile ou face? Schrift oder Kopf? Ein Wurf – die Biene hat gewonnen!

Und welch ein kurzsichtiger Grübler Du bist! Brauchst Du denn Alles zu sagen, was Du weißt? Mußt Du denn mehr wissen als Du magst? Welch ein Einfluß! Allen Freunden kannst Du Gutes erweisen, allen Deinen Feinden kannst Du schaden; und welch einen Hochgenuß für einen feinen Schlaukopf wie Du bist, gelegentlich ganz unvermerkt und in den zierlichsten Formen ein und ein anderesmal einen allmächtigen Minister hinters Licht zu führen!

Leben! Gold und Macht!

Und doch, Du kannst noch zaudern?

– – Sie flanirten noch immer auf dem Boulevard, aber sie schwiegen und sahen gerade vor sich hin.

Ein feiner Regen feuchtete das Pflaster, daß es im Widerscheine der Schaufenster glänzte und all das niedliche Schuhwerk sich schürzender Weiber über eitel Glas zu trippeln schien.

Der Alte führte den Ueberlegenden nun in rascheren Schritten, aber ohne ein Wort zu sprechen, an der Komischen Oper vorüber; dann bogen sie linker Hemd in die kurze rue d'Amboise.

Vor der engen Bude eines gemeinen marchand de von hielt der Eine still und Anatole sah ihn fragend an..

Jener lachte ihm zu:

– Entweder oder! Verlust oder Gewinn! Ein winziges Spiel!

– Meinethalben!

Und sie traten ein.

So ein Weinspelunkelein, wie es in Paris viele Tausende an allen Ecken und Enden gibt, ist nicht zum Sitzenbleiben eingerichtet. Der Arbeiter, der 36 Soldat, der Austräger, oder wer sonst im Vorübergehen Durst bekommt. nimmt hier stehenden Fußes ein Gläschen Wein, eine Mischung von Absinth und Wasser, eine Frucht in Schnaps und wirft in Eile ein paar Sous hin, wenn er nicht mit irgend einem Cumpan an der kleinen aufrecht stehenden, mit Ziffern und Figuren bemalten Drehscheibe stehen bleibt, um mit einem Fingerdruck seine Zeche auszuspielen.

Zwei fuselselige Blousenträger verließen just mit ihren schwieligen Fingern die Drehscheibe, an deren Drücker nun Anatole seinen Handschuh legte. Schnurr! Dann kam der Alte. Schnurre, das drehte sich gut! Die Lilien hatten verloren. –

Anatole blieb am Leben und ging unter die fashionablen Spione. Seine Schulden waren bezahlt, er bezog einen anständigen Gehalt, er erfüllte seine Aufgabe zu höchster und allerhöchster Zufriedenheit und Niemand in der Gesellschaft dies- oder jenseits der Seine hatte eine Ahnung davon, mit wem man es in diesem Vielgewandten zu thun hätte.

Merkwürdig! Je weniger sein Geschäft nach Ehre ging, desto ehrgeiziger, desto scrupulöser, desto erpichter war er darauf, im übrigen Leben ehrbar und geehrt dazustehen. Die angeborne Eitelkeit carrikirte sich selbst mit fieberischer Reizbarkeit; die vernichtende Schmach seines eigenen lohnabwerfenden Judastreibens störte ihn längst nicht mehr in seiner unverschämten Selbstvergötterung. Er hatte sich vor seinem Rasirspiegel seine eigene Philosophie zum Taschengebrauche zusammengeklügelt und befand sich bei derselben leidlich wohl.

Ihre Hauptgrundsätze waren: daß der Schein mehr werth sei als das Wesen. Daß am ganzen Leben das Leben das Wichtigste. Daß das eigentliche, einzig wünschenswerthe Leben in der Befriedigung all seiner Passionen bestünde, daß nur ein Thor um die Wahl der Mittel verlegen sein könnte, sich seine Passionen zu befriedigen. Daß die überwiegende Mehrzahl der Menschen aus Thoren bestünde, daß es also Pflicht, Aufgabe und Behagen eines klugen Mannes, die überwiegende Mehrzahl der Menschen zu belügen, zu übervortheilen, auszubeuten. Daß man die wenigen Klugen scheuen, je nach der Macht und Thatkraft behandeln, nach höchsteigenen Rücksichten schonen oder unschädlich machen müßte. Bezüglich der Mittel gilt hier dasselbe wie oben, wie immer keine Rücksichten, keine Gefühle, keine größeren Zwecke. Krankhafter Indifferentismus, gemeine Gassenprosa und die nach Innen und Außen verlogene Renommisterei diabolisch sein sollender, großartig scheinen wollender Charakterhaftigkeit waren die kläglichen Grundzüge dieses Systems, deren Fächer und Fallschirm in der zur selben Zeit in Aller Munde befindlichen Modephrase: tout comprendre c'est tout pardonner.

Wer so viel begriffen und verziehen, begreift darin endlich auch, daß man auf einem glattgewichsten Parquette ausgleiten und über einige Ellen weißen Tüll stolpern könnte; begriff es und vergab sichs.

37 Und also beschwichtigt, saß er denn da, dieser Schuft im Frack oder, wie er sich selbst nannte, »der starke Mann, die ungebundene Selbstsucht, der Marquis des Verfalls«, dem eigenen Gewissen ein Fratzengesicht schneidend, dem eigenen Wollen eine Wette haltend, horchend, ob die Stimme, die er zunächst werde reden hören, einem Männlein eignen werde oder aber einem Fräulein, ob er freien sollte um dieses Hauses Kind, ob nicht.

– Also ja! rief er lachend aus, sprang auf und sah sich nach der Stimme um, die er gehört.

Es war eine lichte, lachende Stimme, bei deren Klang Einem das Herz im Leibe hüpfte; die Stimme klang aus dem Zimmer, welches Anatole als die Bibliothek bezeichnet hatte, und wie vordem Fortunat das Auge, legte nun er das Ohr ans Schlüsselloch, denn wenn er schon sein Orakel hörte, verstand er es doch nicht.

Das Horchen half auch nichts, denn die Stimme redete Deutsch, und das abergläubische Herrchen gerieth in Aerger über sich selbst, denn er überlegte einen Augenblick, ob denn nicht etwa bei seiner Wette das Verstehen mit inbegriffen oder nicht.

– Ah bah, es war blos vom »hören« die Rede gewesen!

Mittlerweile sagte die liebliche Stimme:

– Hätte ich Dich nicht so lieb, Du Wilder, wärst Du dann hier?

– Hats denn Mühe gekostet? antwortete ein anderes tieferes Organ.

– Nicht die geringste. Bist ja ein Herr Baron.

– Das kann nicht geleugnet werden.

– Und wie gefällt Dirs denn hier?

– Im Augenblicke vortrefflich. Aber die Zeit ward mir arg lang unter all den fremden wälschen oder verwälschten Puppen, da Du immer nicht kamst.

– Ich mußte vor allem meinen Zögling fertig putzen, dann konnte ich erst an meinen Staat denken.

– Soll ich Dir helfen?

– So nicht, Du Arger, sonst werden wir im Leben nicht fertig, und ich möchte doch dabei sein, wenns drüben hoch hergeht.

– Du eitle Grete.

– Grete! wiederholte sie spöttisch gedehnt.

– Na, was ist denn?

– Könntest wol auch Marguerite sagen.

– Daß mich Gott behüte! Du aber solltest Dich schämen, daß Dir die liebe Muttersprache nicht mehr recht ins Ohr passen will.

– Meine Mutter sprach am liebsten französisch. Weißt Du's nicht mehr?

– Wol, und Gott verzeih's ihr.

38 – Na, schon gut; laß die alten Geschichten. Komm in den Saal, ich bin fertig.

– Hast Du den Blumenstrauß hier absichtlich liegen lassen?

– Deine Blumen? I bewahre! Wo sind sie denn? So! Ich hatt's blos in der Eile vergessen. Die lieben Blumen! Ich danke Dir noch recht schön für Deine Aufmerksamkeit. Du bist so gut! Dafür will ich aber auch mit Dir eins tanzen, daß es eine Art haben soll.

– Tanzen? Ich habs Tanzen lang unterwegs lassen müssen.

– Ah ja so! sagte sie sehr traurig.

– Ich muß froh sein, wenn mir das steife Bein das Gehen nicht verleidet.

– Wie aber auch nur der Schacht hat einstürzen können. Es ist gar zu dumm!

– Wer hieß Dich auch an einem Krüppel Gefallen zu finden?

– Aber man sieht Dir sonst gar nichts an – – ich meine, daß Du trotz des leidigen Beins ein gar hübscher, stattlicher Mann bist. Komm, gib mir Deinen Arm; ich will mit Dir Staat machen.

Anatole hatte sich wieder unter die Tanzenden gemischt und suchte sich der Tochter des Hauses zu nähern. Fortunato sprach schon wieder mit ihr, und wie es schien recht eindringlich. Ein Dritter kam hinzu und tanzte mit ihr davon. Da sagte der Eine zum Anderen:

– Es scheint, Du machst Dir meinen Fall zunutze.

– Wieso? fragte Fortunato erstaunt.

Die innere Glückseligkeit leuchtete noch aus seinen Augen und man konnte leicht merken, daß er Mühe hatte, seine Gedanken auf einen anderen Gegenstand zu lenken.

Anatole hielt es deßhalb für gut, die sonst so beliebten Umschweifen beiseite zu lassen und redete trocken und gereizt:

– Wieso? Weißt Du nicht, daß ich alle meine Hoffnungen auf diese Partie gesetzt habe, daß ich ein ruinirter Mann bin, wenn dieses Mädchen versagt?

– Na, was thue ich denn Arges?

– Du tanzest mit ihr, Du –

– Ich habe noch keinen Schritt mit ihr getanzt; das soll erst kommen.

– Das soll aber nicht kommen!

– Oh lala! Willst Du es hindern?

– Begreifst Du denn nicht, daß es ohnehin nicht so leicht ist, unter all den Gaffern, Springern und Bewerbern, die sich unser Amphitryo geladen, den Goldfisch zum Stehen zu bringen? . . . . Wenn nun auch Du noch –

– I was kümmern denn Deine Heiratsprojecte mich?

– So, sie kümmern Dich nicht?! Thor, der ich war! Ich glaubte, 39 mich auf Dich in jeder Lebenslage verlassen zu können. – Ich nahm Dich mit in dies Haus, weil ich einen Freund haben wollte, der mir hilfreich zur Seite stünde, wer weiß denn, was Einem in Gesellschaft Alles widerfahren mag. Und nun? . . . verlange ich etwa, daß Du statt meiner ein Vermögen auf eine Karte setzen sollst? daß Du Dich für mich schlagen, betrinken, lügen sollst? Nichts von alledem, sondern eine Gefälligkeit so winzig, daß sie kaum mehr den Namen verdient, das armselige Opfer einer windigen Laune – und er? »Was Du mich wol kümmerst!« bläst er mich an. O, über diese hochgelobte – corsische Freundschaft!

– Corsische Freundschaft! wiederholte Fortunato, und ein Blitz des Zorns leuchtete aus seinen kühnen Augen. Man spricht davon! Du aber thust mir leid.

Der Marquis sah den Officier bittend an, als hoffte er eine zweite Antwort, und Jener fuhr milderen Tones fort:

– Geh, geh hin zu Deinem blonden Dämchen, ich werde Euch in Eurem süßen Vorhaben nicht im mindesten stören.

Damit drehte er dem Lauernden den Rücken zu; dieser aber faßte ihn bei der Hand und flüsterte ihm in einer Art von Rührung zu:

– Aber was wirst Du machen, mein guter Fortunato, Du wirst Dich langweilen.

– I so scheere Du Dich den – ich mich langweilen? Es gibt noch etliche mehrere Mädels in der Welt und die hier im Saale sind wahrlich nicht die schlimmsten! Schau Dich nur rund um! Ei, dort die schönen braunen Haare, meint man nicht, der niedliche Kopf könne die Last von Zöpfen kaum ertragen, und doch guckt der liebe schlanke Hals so hurtig und neugierig hin und her. Ei, ich kenne diese Haare schon; wahrlich, wahrlich, das sind die Haare von jenseits der Galerie, die Zöpfe aus der Bibliothek.

– Es ist die Gouvernante hier im Haus, eine Elsässerin, näselte Hoffnung witternd Anatole.

– Also auch ein deutsches Liebchen! rief der Soldat nicht ohne Bitterkeit. Na, da habe ich ja, was ich brauche. Und Gouvernante, sagst Du; i das paßt mir. – Wenn sie nur das Gesicht zeigen wollte. Ist sie hübsch?

– Sehr interessant! beeilte sich Anatole zu versichern, der den gefährlichen Freund in seiner jüngsten Caprice nur allzu gern bestärken wollte. Ihre Augen sprechen!

– Deutsch? lachte Fortunato.

– Die allerschönste, allerverständlichste Sprache von der Welt, die Sprache der Wilden und der unsterblichen Götter, die Sprache der Liebe!

– Du wirst förmlich warm! Aber nun wendet sie das Haupt! Oh über 40 das allerliebste Stumpfnäschen! – Allein sie scheint zu schmollen; sie sieht gar traurig drein.

– Das thut sie nicht immer.

– Warum aber jetzt hier mitten auf einem Ball?

– Unser feister Teutone von vorhin scheint sie zu langweilen. Sie wird lieber tanzen wollen.

– Na der kann geholfen werden.

– Und mir auch – endlich! murmelte Anatole für sich, ohne dem Davonstürmenden nachzusehen, und wendete sich zu Marien mit einer tiefen Verbeugung.

Margarethe stand regungslos und schweigend da; von dem dunklen Thürpfosten, an den sie sich lehnte, hoben sich die feinen, schmächtigen, ein wenig nach vorne gebeugten Schultern gar anmuthig ab. Zuweilen ging ein leises Zittern, wie ein Schauern über die große schlanke Gestalt; man konnte nicht sagen, war es geheime Lust, war es verhaltener Unmuth. Es war wol beides zugleich, denn immer tiefer senkte sie die kurze Stirne, immer länger zogen sich die schmalen Lippen in die Wangen und der starre Blick sah immer starrer in das kreiselnde Gewühl der Tanzenden, so daß er keine Formen mehr unterschied, nur lichtüberglitzerte, in einander schwebende, rasch sich drehende Farben.

Diesen starren Blick verschleierten schon die Thränen, die er annoch zurückdrängte, um sie hernach allein statt eines Nachtgebets zu weinen.

Nun kreuzte sie trotzig die nackten Arme vor der Brust und betrachtete wehmüthig spöttisch die kostbaren weißen Spitzen, welche auf ihre feinen Muskeln zitternde Schatten zeichneten. Diese Spitzen waren ein Geschenk Mariechens, und Margarethe hatte sich so kindisch darauf gefreut, sich just heute damit zu putzen. – Und nun zürnte sie gar der unschuldigen Geberin ob ihrer bethörenden Freigebigkeit.

Eine bezahlte Gouvernante, ein ablohnbares Stückchen halbgelehrter Weiblichkeit, ein armselig Nutzmöbel, das man ohne Umstände in einen Winkel schob, sobald das Haus sich zum Feste schmückte – was lag daran, ob sie sich putzte; wer sah danach, ob sie hübsch war; wer fragte sie, ob sie tanzen konnte?

Es schmerzte sie im Halse und die kleinen weißen Zähne spielten leise mit der Unterlippe.

Die Musik klang so tobend laut, daß sie sich die Ohren hätte zuhalten mögen. Sie wäre gern auf die Straße gelaufen, so weit sie die Füße hätten tragen mögen, nur um diese abscheulichen geschmückten Menschen nicht mehr zu sehen, die sich so unbändig freuten, freuen konnten ohne sie. Eine Empfindung stieg in ihr auf, als hätte sie ihnen ein Leides anthun können mit ruhigem Blut, diesen Stolzen, die sich etwas Besseres dünkten als sie.

41 O, wer ihr jetzt ein Mittel an die Hand gegeben hätte, sich über diese ganze hoffährtige Gesellschaft, über die ganze alberne, gewissenlose, kränkende Welt in sichtbarer Weise emporzuschwingen, daß sie beachtet, beneidet werden müßte – sie hätte ihm Leib und Seele verschrieben.

Curt, welcher neben ihr saß, sah die Schatten ihrer Gedanken immer düsterer auf ihre Stirne fallen; er sah ihrs an, daß sie sich selber wehthat, und ihr leise den Ellbogen mit der Hand berührend, wie um sie zu erwecken, rief er sie sanft an. In seiner Stimme war Mitleid und Vorwurf und vor allem sehr viel Liebe.

– Gretchen!

– Laß mich zufrieden. Du kannst mir ja doch nicht helfen, sagte sie barsch, den Ellbogen in die rechte Hand passend und über und über im Gesichte erglühend, daß sie es zur Seite wenden zu müssen meinte.

Aber sie sollte bald wieder gradaus sehen und dann die Augen niederschlagen und dann das Haupt hoch heben, denn vor ihr stand ein hübscher Mann, der hübscheste, der zierlichste von Allen, die im Saale waren, und bat sie um einen Tanz.

Als er eingetreten war, hatten die Mädchen die Köpfe zusammengesteckt, denn sie kannten ihn schon – wenn auch nur vom Sehen oder Hörensagen – sie nannten ihn den schönen Corsen, den tapferen Capitän, den schwerverwundeten Ritter. Geheimnißvolle Geschichtchen, halbvollendete, leise zuwispernde flogen über ihm in der Luft; Geschichtchen von fremden Prinzessinnen, nächtlichen Abenteuern, schwarzen Bärten und etwas Blutrache. In ganz Paris war kein interessanterer Mann als dieser, der, wie aus einem verbotenen Roman entwischt, hier unter der Blüthe höherer Mädchenschulen frei herumgehen, ja sogar von rechtswegen sie um die Hüften fassen und mir ihnen tanzen durfte.

Allein er war stolz und sah gleichgiltig in den verschämt fliehenden Schwarm unschuldiger Kinder. Und nun seh' mal Einer zu, mit der Gouvernante da vom Hause that er so verbindlich und unterthänig; er tanzte nur mit Wenigen, aber mit Margueriten tanzte er sogar mehrmals, man hätte fast sagen können, zu oft, wäre es nicht eine Gouvernante gewesen; da hatte es freilich so gut wie nichts zu bedeuten.

So sind nun eben die Leute, rasch und albern, und beurtheilen nichts lieber, als was sie nicht verstehen. Ich weiß nur ihrer Fünfe, aber von den Fünfen weiß ich, daß ihnen das fleißige Tanzen Fortnuatos mit Margarethen gar Mancherlei zu bedeuten hatte.

Am meisten freilich den beiden Mädchen. Sie schliefen heute nicht wie sonst in nachbarlichen Stuben, denn aus dem Gelaß der Gouvernante hatte man geräumt, was nicht niet- und nagelfest war, und einen kleinen Theesalon geschaffen, der von allen Gästen gelobt wurde. Gretchen's Toilette und Schlafstelle war interimistisch im Bibliothekzimmer angebracht worden; 42 doch ehe sie dasselbe suchen ging, half sie nach gewohnter Weise Marien entkleiden und zur Ruhe bringen. Das war gar schwer heute Abend; die Kleine hielt nicht stille und das Plaudern nahm kein Ende. Und Gretchen war das Plaudern nicht zuwider.

– Sag einmal, Marguerite –

– Nu, was solls denn noch?

– Ja – ach richtig! Der Zuaven-Capitän, der hübsche, mit dem schwarzen Schnurrbart, tanzt er gut?

– O, unvergleichlich! Aber hat er denn nicht auch mit Dir getanzt?

– Nein.

Es ward eine kleine Pause.

Nur die Falten an Mariens Ballrobe, welche die Erzieherin über die Hüften niederstreifte, hatten was zu knistern, aber der vorlaute Pendel an der kleinen alten silbernen Uhr, welche vor dem Spiegel der Toilette stand, überschrie sie und hieß sie stille sein.

Marie schlüpfte aus der Robe heraus, und indem sie in die weiten Aermel eines weißen Linnenmantels huschte, der vom Halse bis an die Knöchel der Füße herabfloß, erzählte sie, wie um sich selbst und vor allem Fortunato zu entschuldigen, die Geschichte von Anatole's Kniefall und Ungeschicklichkeit, die wol auch auf sie ein ungünstig Licht habe werfen müssen. Das schien sie sehr zu beunruhigen, ob sie sich dabei nicht recht ungeschickt, ja gar lächerlich benommen hätte.

– Aber tröste Dich, Kindchen, Du bist ja immer herzig und hübsch.

– Meinst Du? erwiderte sie und sah Margarethen, die vor ihr kniete, um die Schuhe zu lösen, mit großen Augen an.

Dann legte sie ihr die Hände um den Hals und fing an, sie auf den Mund zu küssen, wol über ein dutzendmal, und dazwischen sagte sie:

– Ja, wenn ich wäre wie Du, so gut, so klug, so gewandt – und so hübsch! Sei still, Du warst heute sehr, ja recht sehr hübsch warst Du. Besonders wenn Du sprichst und dazu lachst, da möchte ich Dir immer gleich um den Hals fallen, Marguerite, so lieb und lustig sieht das aus; und was Du sprichst ist auch lustig und lieb. Mir dagegen war die Zunge wie angebunden, und als der schnauzbärtige Monsieur mit mir plauderte, da schwatzte ich albernes Zeug zusammen wie ein kleines Mündel, dem man die Puppe weggenommen. Er hat sich gewiß bei Dir über mich beschwert?

– Wo denkst Du hin!

– Gewiß nicht? Hat er nicht von mir gesprochen?

Margarethe war nur um sechs Jahre älter als ihre Pflegebefohlene, aber sechs Mädchenjahre sind viel, besonders bei einer Gouvernante. Sie sagte ein entschiedenes, nicht allzu rasches, ausgenossenes Nein und legte einen triumphirenden Blick auf das fragende Mädchen, das dieses stolzen 43 Blickes Gewicht und Bedeutung nicht fühlte, nicht ahnte, sondern mit einem arglosen Seufzer antwortete.

– Das beruhigt mich wirklich. Der dumme Anatole!

– Pst, Kleine! Der dumme Anatole wird vielleicht ein Tages Dein gescheiter Mann! sagte das ältere Mädchen, mit dem Finger drohend.

Das jüngere schüttelte aber den Kopf dazu; dann sprachs:

– Ich werde Papa versichern, daß mir leicht ein anderer Mann lieber ist.

– O, das braucht Dir Papa nicht zu glauben.

– Papa glaubt Alles, was ich ihm sage.

Damit sprang sie ins Bett.

– Auch daß Du jetzt ruhen und schweigen und schlafen willst?

– Auch das! Gute Nacht, gute, liebe – wunderhübsche Marguerite.

– Gute Nacht, kleines Kind!

Sie hörte das Rauschen von Margarethens Ballstaat auf den Gängen verklingen, eine Thüre ging und sie drückte sich fest und tief in die Kissen. Aber der Schlaf wollte nicht kommen. Vor ihren Augen flimmerte es noch immer wie Lichter und tanzende Gestalten, in ihren Ohren lebten die Weisen der Polkas und Quadrillen wieder auf, bald eine nach der andern, bald mehrere zugleich, ein Chaos von Melodien; ihr schwindelte, und obwol sie lag, schien sie zu taumeln, zu sinken – in seinen Arm zu sinken. Sie stützte den Kopf in die Hand und den Elbogen ins Kissen und dachte an Margarethen.

– Aber ich bin kein kleines Kind mehr! sagte sie unwillig vor sich hin. Aber wenn ich kein kleines Kind mehr bin, warum hat »er« nicht mit mir getanzt, keine einzige Tour, nicht Einen Schritt? Marguerite weiß es vielleicht recht wohl und wills nur nicht sagen, um mich nicht zu beschämen. Mit ihr hat er ja so viel gesprochen und so sehr viel getanzt!

Sie schwieg und sah auf den reichen, mit phantastischen Blumen gestickten Teppich über dem Estrich; das silberne Uehrchen schien ihr eine eindringliche Rede halten zu wollen, denn es tickte gar eifrig drauf los. Allein das junge Mädchen achtete nicht auf das alte Uehrchen; es schlug vor ihrem Bette die weißen Vorhänge zurück, in deren langen zitternden Falten Licht und Schatten Versteckens spielten und einander flohen und haschten, und wieder sagte sie:

– Nein, ich bin kein Kind mehr, ganz gewiß nicht mehr!

Sie hatte gehört, daß erwachsene Leute, wenn sie des Nachts nicht schlafen können, in Büchern zu lesen pflegten. So streckte sie die Hand aus und nahm wahllos den ersten besten Band an sich, den sie greifen konnte, legte ihn aufgeschlagen neben sich ins Kissen und sah, eine lange blonde Flechte spielend um den bloßen Arm drehend, gedankenvoll über das Buch 44 hinaus in das lichtüberflimmerte Dunkel ihres Kämmerleins. Dann seufzte sie einmal und noch einmal, und dann wollte sie wirklich lesen in dem Buche. Sie merkte nun, daß sie es verkehrt vor sich liegen hatte; allein es war ihr so bekannt, daß sie es auch verkehrt lesen konnte. Darum schlug sie das Buch hastig zu und warf es weit von sich, daß es laut aufknallend durch die stille Nacht im letzten Winkel niederfiel. Dann löschte sie das Licht aus und drückte sich rechts herüber.

Aber wieder fing das unsichtbare Orchester ihrer erinnernden Nerven in heillosem Durcheinander zu musiciren an, und aus den Falten ihres Betthimmels quollen wie Fünkchen aus dem Zunder und überrieselten und überkrochen sich, hundert- und hundertmal vervielfältigt, aufrecht stehend und verkehrt die wenigen Worte, welche sie vorhin unwillig gelesen, die vielgelesenen Worte:

»Calypso ne pouvait pas se consoler du départ d'Ulysse.« –

Margarethe war immer hastigeren Schrittes durch die dunklen Gänge geeilt, und nun die Thüre hinter ihr abgeschlossen war, sank sie erschöpft in den nächsten Stuhl, als hätte sie gefürchtet, die übergroße Last ihrer Freuden nicht mehr weiter tragen zu können und den besseren Theil davon unterwegs zu verlieren. Sie lächelte, schloß die Augenlider und streckte die Arme lang von sich.

Da glitt etwas raschelnd an ihr nieder, daß sie entsetzt aufsprang und scheu hinter sich sah.

Es war nichts weiter als ihr Ballbouquet, welches sie unvermerkt aus der Hand entlassen, die es bisher unvermerkt festgehalten. Der Staub des Tanzsaals lag auf den armen Blumen Curt's, halb verwelkt, halb zerdrückt, lehnten sie müde und ordnungslos in einander und boten keinen erfreulichen Anblick mehr.

Margarethe mochte das auch fühlen.

Sie hob sie rasch vom Boden auf und schaute rund um, wo sie etwa unterzubringen wären.

Es war ein hohes, düsteres, winkeliges Gemach, gar freundlich am lichten Tage, aber etwas schauerlich zu Nacht. Schwere dunkelgrüne Vorhänge, die wenigen Möbel vom nämlichen Stoff bekleidet und ringsum zierliche Glasschränke, welche viele Winkel im Zimmer machten und gar heimliche, dem Lesenden willkommene Nischen und Verstecke freiließen. Auf den Schränken standen Gypsabgüsse antiker Büsten; sie schienen, wenn sie ein Lichtstrahl überflog, zu lächeln und leise Zwiesprache zu halten und nach den vielen Büchern zu blinzeln, die in Grün und Gold gebunden durch die Glasfenster schauten.

Von der Decke herab hing eine Lampe mit einem Metallschirm an einem langen Flaschenzug; sie beleuchtete einen runden Tisch inmitten des Zimmers. Sonst war es dunkel.

45 Um den glänzenden Ring, welchen der Schluß des Lampenschirms auf der mit Büchern und Karten belegten Platte abzirkelte, haschten Schatten nach Schatten, in die nur selten, wenn der Flaschenzug ein wenig ins Schwanken kam, sich ein fürwitziger Lichtblick verirrte, um jählings zu verschwinden. Die Falten der Vorhänge lagen wie aus Stein gehauen. Nichts regte sich. Selbst der Staub schien zaghafter hier zu fallen in diesem Gemach der Sammlung und der Beschaulichkeit, in welches Margarethe Blumen, lichte Farben, leichtfertige Gedanken und ihren kleinen Handleuchter gebracht.

Das arme Licht flackerte gar ängstlich und gedrückt vor der herrischen Dunkelheit, die ihm hier rings entgegengähnte, als sollte es gleich verschlungen sein, und wagte es nicht einmal, den halbwelken Blumenstrauß hell und günstig zu beleuchten, welchen Margarethe mit nachdenklichem Anblicke in Händen hielt.

Es währte nicht lange; sie schüttelte den Strauß abwärts gewendet, als sollten die Gedanken, welche soeben unwillkürlich in die Blumen gefallen waren, nicht darin haften bleiben.

Dann ging sie auf den Fußspitzen an einen Schrank, dort ganz da drüben in einen rechten Schmollwinkel, und legte das trockene Grünzeug oben darauf hinter eine der Büsten. Es war die Büste des Nero, die lächelnde des Tyrannen.

Auf einem Sofa hatte man ihr das Bett bereitet. Sie sah es – sie strich es gleich und entkleidete sich.

Dabei dachte sie an die letzten Reden Mariens, und als sie endlich fertig war, kam ihr ein sonderbarer Einfall. Aber es war kein Spiegel in dem ganzen Zimmer. Hatte sie doch selbst ohne einen solchen sich zum Balle putzen müssen. Sie brauchte auch keinen – damals; aber jetzt! Sie hätte so gerne gewußt, ob sie wirklich so hübsch war, wie ihrs die Kleine hatte einschmeicheln wollen.

Sie drehte die Lampe herab, sie blies das Licht aus und huschelte sich in die Decken. Das Haupt aber legte sie sachte, sanft und sorgsam in die Kissen, als trüge sie eine junge Krone mit zu Bette, die man ihr erst kürzlich ins Haar geflochten.

Ihr war so königlich zu Muthe.

– Ein Zimmer und kein Spiegel drin; 's ist doch zu toll – – aber er hats ja gesagt!

Und sie entschlief. –

Mittlerweile rollte der Wagen hurtig durch die Nacht in welchem Anatole und Fortunato saßen. Jeder in einen Winkel gedrückt, eine Cigarre rauchend, schweigend.

Aber nicht eines Jeden Schweigen war gleich behaglich. Und weil Anatole im Nachtheile, war ers auch, der zu sprechen begann.

– Es ist zu spät. Im Cercle wird Niemand mehr wach sein. Man 46 merkts, daß wir Zwei heute dort gefehlt haben. Ich denke, wir fahren gleich nach Hause.

– Ich unter allen Umständen.

– Zu schlafen, zu träumen?!

– Warum denn nicht »träumen«?

– O, Du hast Recht! erwiderte der Marquis, die Ellbogen auf die Knie stemmend und über die gefalteten Hände das Kinn lehnend; dabei sah er zu Boden, als wollte er den listigen Blick seiner Augen verstecken. Du hast das bessere Theil erwählt. Marguerite war bezaubernd. Ich wüßte nicht zu sagen, was sich lebendiger an ihr rührte, Füßchen, Augen oder Zunge. Sie tanzte mit der Seele, nicht blos mit dem Leibe. Und sie tanzt vorzüglich, wie eine Willis tanzt sie. War auch ein Werben und Buhlen um ihre Gunst . . . d. h. nachdem Du sie in Schwung gebracht. Aber Du wardst belohnt – ich dagegen! O, dieses entsetzliche Kind des Hauses! Das spricht und deutet nichts, rührt sich nicht und versteht nicht. Sie tanzt lebensgefährlich und führt Dialoge, die Einem zum Selbstmord aufmuntern könnten. Und so ein Ding soll ich heiraten!

Der Corse legte einen Blick auf den vorgebogenen Kahlkopf Anatole's, so mißtrauisch und verächtlich, als wollte er sagen:

– Für wie dumm hältst Du mich denn eigentlich?

Der Andere jedoch sah davon nichts und fuhr ungestört fort:

– Bildet sich was ein auf ihres Vaters vieles Geld – na, wenn das liebe Geld nicht wäre. Wie glücklich erscheinst Du mir heute mit Deinen geordneten Verhältnissen und freigebigen Eltern, Du Glücklicher, der Du es nicht nöthig hast, Dein Glück zu machen – wie ich. Man war eigentlich geradezu unartig gegen mich, wahrscheinlich um mir einen Vorgeschmack ehelicher Freuden zu geben. Welch eine Erziehung! Entschieden ist Fräulein Marguerite eine sehr schlechte Gouvernante – aber es müßte eine unvergleichliche Geliebte sein! – Hör' einmal, tapferer Capitän, fuhr er nun auf und sah blinzelnd und die etlichen Barthaare schalkhaft streichelnd auf den Genossen, wie wär's, wenn Du diese gottgefällige Eroberung zu Stande brächtest? Laß uns mit vereinten Kräften arbeiten, Einer dem Anderen zu Gefallen und Nutzen, mir das Kind und Dir die Pflegerin. Es ist ein ungleich Theilen, ich gebe es zu – aber der bessere Theil wird Dein. Na, was sagst Du?

Der Corse sagte nichts. Er saß da, unbeweglich, in seinen Mantel gewickelt, um das Haupt sich dichte und dichtere Tabakswolken blasend, daß man kaum seine Züge erkennen mochte.

– Fortunato! He, was machst Du?

– Ich höre.

– So gib auch Antwort; willst Du?

– Meinethalben.

47 – Also topp?!

Und er hielt ihm die Hand hin.

– Sei zufrieden und laß mich stille liegen.

– Ei, das zärtliche, das schnurrbärtige Wickelkind! lachte Anatole nicht ohne Aerger.

Und der Andere erwiderte langsam:

– Ich bin kein Wickelkind, aber es braucht auch nicht Jeder so ein ausgelernter Diplomat zu sein wie Du.

– Zu viel Ehre! Ich bin nichts als ein kleiner Marquis des Verfalls. Auch meine verehrlichen Mitmenschen pflege ich nicht zu überschätzen und behandle sie eben – wie sie's verdienen.

Fortunato nahm die Cigarre aus dem Munde, sagte aber nichts. Doch schienen seine Augen das »wie sie's verdienen« zu wiederholen, als wollte er sichs gut merken.

Anatole schwatzte weiter und überhäufte ihn mit gefälligen Redensarten, aber der Soldat hörte nur das »wie sie es verdienen« mehr. Und als sie daheim angelangt und ein Jeder – sie wohnten im nämlichen Hause – nach seinen Zimmern gegangen war, nahm der Corse eine kleine Schreibtafel und überschlug, wie viel denn eigentlich der »Marquis des Verfalls« ihm schuldig wäre. Er zog die Summe, warf das Täfelchen bei Seite und kam auf andere Gedanken.

Mit den anderen Gedanken ging er zu Bette. –

Unterdessen war Curt nicht gar zu weit gekommen. Er ging langsam, denn sein steifes Bein machte sich heute wieder einmal recht vernehmlich. Er hatte gar so viel stehen müssen, und was die rechte Hüfte nur als Müdigkeit, das fühlte sich in der linken schon wie Schmerz. Da drüben stand wol ein Fiaker und der Weg bis hinüber in die rue Monsieur le prince war weit. Aber der Winter 1863 schloß das zwanzigste Semester des Freiherrn v. K.; jenseits der nächsten Ostern gab es für Curt kein Familien-Stipendium, keinen Zuschuß, kein Geld mehr. Er hatte seine Zeit verloren, sich seiner Familie völlig entfremdet und mit dem Leichtsinn des Mißgeschicks von einem Tag auf den anderen, von einer Hoffnung sich auf die andere vertröstet.

Nun galts einen Entschluß fassen, eine Gelegenheit ergreifen – oder besser eine Gelegenheit finden.

Ists denn so schwer, hier im Nabelpunkte der Welt, wo alljährlich Tausende und Tausende von deutschen Landsleuten sich eine Zukunft gründen, Geld verdienen, reich werden, hier im arbeitgebenden Paris, Fuß zu fassen und sich richtig fortzubringen? Freilich, wenn die Grete wollte – aber freilich, wenn das Gretel nicht wäre gewesen, der Curt wäre lange nicht mehr hier unter den Wälschen, sondern säße daheim in seinem kleinen Raubstaat sicher und fest; er könnte dort die Güter wohlhabender Verwandten 48 bewirthschaften, oder er hätte eine Officiersstelle, ein Amt erworben, vielleicht gar sich einen Namen gemacht. Aber die Gretel wollte nicht aus Frankreich heraus, damals – und jetzt wars viel zu spät dazu. Er hatte Niemand in der Welt mehr, zu dem er sagen mochte: »Gut Freund!« und: Du magst mir helfen!«

Das Gretel war sein Umundauf, sein Eins und Alles. sein Fürchten und sein Hoffen geworden. Und wenn er schon auch nicht tanzen und sie nicht pfeifen konnte, so geschah doch Alles, wie ers ihr an den Augen absehen durfte, und hätte sie gesagt, ich möchte, daß Du mir zu lieb einen dummen Streich machst, er hätte wol sagen dürfen: es kommt auf einen mehr oder minder längst nimmer an.

Sein Bein that ihm arg weh.

Es war eine milde Nacht.

So setzte er sich auf eine Bank zwischen den kahlen Bäumen des Boulevard Montmartre, legte den linken Fuß über seinen Ziegenhainer und ruhte und sann weniger darüber, was da werden sollte, als wie es eben gekommen.

Damals! Du liebe Zeit!

Soll ich euch künden, was hier unter einem kahlen Baum im Hauche der Nacht über seine Seele ging, so spreche ich vielleicht nicht Allen verständlich – aber wer das deutsche Studentenleben nicht kennt, der kennt das Leben wie Einer die Poesie, welcher den Homer nicht gelesen und nicht die Nibelungen.

Die Studentenzeit ist die epische Periode eines modernen Menschen, wie die Liebe seine lyrische, sein späteres gereiftes Erfahrungs- und Berufsleben seine dramatische.

Wer will es leugnen, daß diese die bedeutendste, werthvollste, die alle früheren wieder in sich birgt?

Wer weiß nicht, daß die Lyrik so alt ist, wie das Epos, und zu allen Zeiten gewesen?

Und trotz alledem, wann und wo fände ich Preises genug für jenes herbere Dichten und Dasein, jenes mystische Verweben von Poesie und Wirklichkeit, primitive Empfindungen, aufrechte Charaktere, die Lust der Lieder und der Waffen, eine Welt, die die Sorgen auf ein Minimum beschränkt, welches noch lachen kann und verlacht werden, Trunk und Händel alle Tage, wenig gemeiner Eigennutz und wenig falsche Sentimentalität, aber Blut und Wein, unverbrüchliche Treue von Mann zu Mann, unglaubliche Ehrlichkeit, unvergleichliche Geradheit und jenes unschätzbare Theilchen gesundheitbezeugender Rohheit, welches gnädige Götter der Jugend unseres Volkes in Ewigkeit bewahren mögen!

49 Nicht jedes Volk, nicht jede Seele lebt sich gleichaus durch alle drei Stadien der Poesie; manch ein Dasein wird nach der ersten epischen Blust ein ewiger Werkeltag; das Weib, das sein Herz singen gemacht hätte, hat er in dem knappen, von allen Seiten mit Brettern vernagelten Winkelchen Welt, darin seine Bestimmung sich vollendet, nimmer zu Gesichte bekommen; zu einem ordentlichen Drama fehlts oft auch an Raum und Handlung und Charakteren; und kommt denn doch eines zu Stande, so ists ein gewöhnlich Rührstück oder eine trockene Haupt- und Staatsaction oder gar nur eine alberne Posse, mit etlichen Späßen und Zoten nothdürftig genießbar gemacht. Die Poesie fehlt. Und wem sie fehlt, der hält die Hand übers Auge, wenns Feierabend wird, und sieht hinüber im Geiste in die liebe Zeit, ins Damals, da er Poesie leibhaftig erlebte, mit ihr verkehrte Tag für Tag, von Angesicht zu Angesicht, und vielleicht nicht einmal wußte, mit wem. In manchem kleinen Flecken Deutschlands curirt ein tapferer Arzt und richtet ein gerechter Richter, der, so alt und grau er schon ist, seine Sackuhr nicht von der liebgewohnten dreifarbigen Schleife trennen mag, und es gibt mehr, aber viel mehr Menschen als man glaubt, die nichts, aber auch gar nichts lieber gehabt haben, als jene Welt, jenen Staat im Kleinen, jene Verbindung auf der Universität, in der sie erst von den Aelteren gedrillt und dann von ihrem Ehrgeiz und anderen guten und schlechten Eigenschaften geplagt und in Athem gehalten wurden.

Krankheit, Engherzigkeit und schlechte oder gar einfältige Gesellen können Einem Epos und Paradies und ewige Seligkeit verderben, warum nicht die Studentenzeit?

Aber Curt hatte es gut getroffen, zu gut hätte ich beinahe gesagt, wenn man so etwas überhaupt auf Erden sagen dürfte.

Er war gesund an Leib und Seele, das Leben war ihm neu und reizvoll; er brachte ihm jene tüchtige Bildung entgegen, ohne welche kein rechter Genuß vollständig; er hatte Muth und Laune, war von gewandter Faust und Zunge und erfreute sich eines »guten Wechsels«. Die Leute, unter die er ging, hätten gute Geister nicht tauglicher aus allen Winkeln des Vaterlandes zusammenführen können.

So trug er die Nase gar hoch und lebte herrlich und in Freuden jahrelang.

Ist aber ein Sprüchlein Schätze wert, welches über das akademische Leben gesetzt ist und hoch in Ehren zu halten, heißt:

»Alles hat seine Zeit.«

In zwei Facultäten, wie er selber schon erzählt, ohne sein Verschulden verunglückt, fing er an, wenn ihn zuweilen hinterm Krug der Mißmuth anwandelte, sich für einen »Pechvogel« zu halten, und schob die Entscheidung einer dritten Berufswahl auf die lange Bank. Er trieb Allerlei, las und lernte dies und jenes und hätte um den guten Rath, den ihm Niemand 50 sagen konnte, recht viel gegeben. Aber die Noth zwang ihn nicht; auf Jahre hinaus war für ihn gesorgt; Lust und Freude saßen neben ihm, da ließ er sichs weiter nicht anfechten.

Studentische Angelegenheiten und akademische Händel aller Art gaben ihm vollauf zu thun und zu denken, er stand in großem Ansehen, sein Wort galt überall und wo er hinschlug, wuchs kein Gras mehr. Er war ein tüchtiger Bursch, wie's nur je einen gegeben.

So hatte er zehn Semester hinter sich gebracht und man bat ihn beim Scheiden recht herzlich, doch ja im elften wiederzukommen. Als er aber nach den Ferien wieder antrat, da wollts ihm denn doch zuweilen scheinen, als wäre er ebenso viele Jahre als Wochen ausgeblieben; er konnte sich nicht recht in die Jungen finden und die Jungen sich nicht recht in ihn. Manches, was ihm früher höchst ergötzlich erschienen, dünkte ihm jetzt kindisch und unsinnig; dawider vermißte er in anderen Stücken, die er wichtiger nahm denn jeden Pflichteifer, die Anhänglichkeit, die Aufopferungsfähigkeit »seiner Generation«.

So kam er mit den Jüngeren in Hader und diese fanden es so komisch als unbequem, daß er Alles besser wissen wollte.

Er wußte auch Alles besser, und doch hatten die Jungen recht, wenn sie ihn mit schuldiger Achtung ins Philisterium wünschten, wo es am tiefsten wäre; sie hatten Recht, denn die Jugend hat das Recht, thöricht zu sein und Dummheiten zu machen, und hat die Pflicht, mitten hineinzupatschen, daß Gott erbarm', dieweil eben Alles seine Zeit hat, und was man nicht am eigenen Leib erfahren, Keinen fördert und bewahrt fürs spätere Leben. Es muß einmal geirrt und das Pfadfinden will gelernt sein – das ist so Menschenbrauch – also besser in der Frühe, denn Mittags oder gar zu Abend.

Curt ward es immer ungemüthlicher; man ließ ihn mit aller Zartheit fühlen, daß seine Zeit vorbei; er fühlte es auch recht sehr und war im zwölften Semester wieder in Heidelberg.

Einer Neigung folgend, welche ihm noch aus seinen montanistischen Studien geblieben, wollte er nun Chemie studiren.

Nach wenigen Wochen fand er, daß dies wunderschöne Fleckchen Erde zwischen Neckar und Rhein eines der elendesten Nester trüge, die Gott erschaffen, und daß man nur zwischen der Fink und den Schüttenhöfen ein menschenwürdig Dasein führen könnte. Vor Heimweh nach der Carolina Augusta ward er fast krank und in den Weihnachtsferien reiste er hinüber. Aber – Wunder, auf der Fink saß ledernes Volk, auf den Schüttenhöfen war die alte Lustbarkeit verschwunden, und was sich auf dem breiten Stein rempelte – possenhafte Kerle, zu denen er kein Herz mehr hatte. Die Trunkenen zogen ihn lachend auf, »den alten Corpssimpel«, der immer wieder »über die Höhe« käme.

51 Er konnte nicht schnell genug zum Thore hinaus.

Zu Heidelberg studirte und laborirte er ziemlich fleißig, war aber keine rechte Herzensfreude dabei, denn er hatte das Fach ohne Beruf und Ueberzeugung ergriffen; er hatte noch immer kein Sitzfleisch gewonnen und sein unruhigeres Blut, seine derbere Lebenslust, nur zeitweilig verhalten, rumorten in ihm wie toll, als es anfing, Frühling zu werden und in den Bäumen sich der Saft rührte.

In einer Mußestunde fiel ihm Straßburg wieder ein, die damalige Wasserpartie und das kleine Mädel mit den »gelben Füßen« und den braunen Zöpfen.

Seine gegenstandslos gewordene Sehnsucht ließ ihn den grillenhaften Einfall mit Gier erfassen, und noch vor Ostern kam er die Kinderspielgasse dahergeschritten und zog die Schelle an dem Hause mit der grünen Thüre über den drei Treppensteinen.

Die Alten erkannten ihn auch wieder und hießen ihn willkommen, das Gretel aber, nach dem er sich erkundigte, das eben erst achtzehn Jahre und sicherlich gar ein stattlich Fräulein geworden sein mußte – das Gretel war nicht daheim, sondern in einem Schweizer Pensionat – selbstverständlich in der französischen Schweiz. Auf die Feiertage wurde es aber erwartet.

Als er Margarethen endlich zum erstenmale wiedersah, das war am Ostersonntag, wie sie aus der Kirche kam. Die lustigen Augen ließ sie gar flink rund um sich gehen und grüßte nach rechts und links die Nachbarsleute, die sie so lange nicht mehr geschaut. Er wußte nicht, ob sie ihn erkannt hatte, denn da sie an ihm vorüberging, grüßte sie ihn nicht, sondern sah ihm lange und fest ins Gesicht, so fest, daß sie dabei gar nicht merken wollte, wie sie aus einem Büschel weißer Wiesenblumen, die sie mit dem Gesangbuch und dem Sacktüchlein in Händen hielt, die allerschönste hatte fallen lassen. Curt hob die Blume auf als ein gutes Zeichen.

Des Abends sprach er im Hause vor. Da lachte sie und sagte, sie erkenne ihn wohl.

Als er aber später um eine der weißen Blumen im Glase bat, verweigerte sie's entschieden. Die Blümlein wären noch so rar; er solle später einmal anfragen, wenns Blüthen schneie.

Nachher schenkte sie ihm einen langen Grashalm, der neben den Blumen im Wasser stand, und da er ihn schmollend betrachtete, sagte sie:

– Wer das Wenige nicht ehrt, ist des Mehreren nicht werth. Das sollt er sich nur gleich gut merken für heute und alle späteren Tage.

Gretchen's Eltern waren nicht arm, aber auch nicht reich. Die Mutter drang darauf, daß Gretchen nach Paris müßte. Sie hätten sie deßhalb so viel lernen lassen, damit sie in einem der ersten Häuser eine Stelle erhalten 52 könnte, sich ein Stück Geld machte und, vor Allem eben das Wichtigste, eine zeitlang in der Hauptstadt lebte.

Curt warf so nebenhin, er ginge jetzt auch nach Paris, um beim Professor Würtz seine Studien fortzusetzen.

Darüber verflossen acht Tage, und Curt hatte ein paarmal es merken können, daß Gretchen, rasch von der Handarbeit aufblickend, neugierig in die Augen sah, die sich nicht von ihr abwendeten, so lange sie zugegen. Sie hatte große graue Augen, die sie blau nannte, aber Jedermann thats wohl, wenn ihn die Augen anschauten; es war Muth und Kraft, was herausschaute, Lust des Lebens und ein gar fröhliches Herz. Heute aber dunkelte es zuweilen drüber hin wie Schmerz oder Schwermuth; das stand ihr noch gar viel schöner, meinte Curt. Und da er ging und Gretchen ihm das Geleite gebend ins Wurzgärtlein hinterm Haus zurück wollte, faßte er sie fester bei der langen schlanken Hand, und so standen sie ein Weilchen auf dem Flur, Aug' in Aug', Hand in Hand, ohne ein Wort zu sprechen. Ihr Antlitz zuckte, als ränge sie mit Thränen, aber plötzlich lachte sie laut auf, und da Curt, wie vom Zauber gelöst, sie nun um die Hüfte faßte, schob sie flugs die rechte Hand vor den Mund und sagte leise_

– Der Vater!

Und dann:

– In Paris!

Ein paar Wochen später bat sie ihn, er sollte abreisen. Er hatte die langen Gesichter von Vater und Mutter und Tanten wohl vermerkt, die immer länger wurden, je weniger er sie zu beachten schien. Nun aber gings nicht fürder mehr so an. Er senkte das Haupt in Zorn und Trauer. Margarethe rührte ihm die Schulter mit der Hand und lispelte ihm ins Ohr so nahe, daß er den Hauch verspürte:

– Sie gehen eben voraus, Conrad, ich folge nach. Es währt nicht mehr lange. Dann laß ich von mir hören.

Er reiste ab und kam nach Paris Mitte des Sommers.

Man sagt, Paris sei im Sommer gar nicht Paris. Mag sein! Ich aber sage: Paris ist Paris und wundersam zu allen Jahreszeiten für den, der es zum erstenmal begrüßt.

Curt vergaß auf die Dauer, daß er eines Mädchens Kommen hier erwartete.

So ward es Herbst.

Als er eines Tages nach längerem Versäumniß auf Würtz' Laboratorium kam, händigte ihm der Diener einen Brief ein, in welchem Gretchen ihm ihre Ankunft mittheilte und daß sie vorderhand bei einer verwitweten Tante untergebracht wäre, wo er sie besuchen dürfte.

Nun hub ein Leben an für die Beiden!

53 Curt hatte sich bereits so viel Ortskenntniß erworben, daß er den Cicerone machen konnte. Er führte die staunende Provinzlerin an seinem glücklichen Arme über Boulevards und Plätze, in Sammlungen und Theater; er durfte mir ihr Landpartien machen, und wenn er ihr ab und zu, was sie in einem Schaufenster allzu niedlich befunden, als Geschenk brachte, so ward es nach einigem Sträuben wol angenommen.

Die Tante war natürlich überall dabei und wich nicht von der Pflegebefohlenen Seite, denn einestheils erforderten dies der Anstand und die Sitte, anderestheils lebte sie schon so lange, so lange in der großen Stadt an der Seine und hatte deren Wunder rechts und links noch niemals so mit Muße, so eines nach dem anderen und so billig gesehen – »denn der Herr Baron bezahlten Alles«.

Dafür drückte sie wol einmal ein Auge zu oder auch zwei, wenn sie in einem Wagen über Land fuhren, wo sie ein Mittagsschläfchen improvisirte. Und wenn die Beiden von einander Abschied nahmen, pflegte sie sich so anhaltend und gründlich zu schneuzen, daß die Verliebten sich unbemerkt ein- und andermal küssen konnten.

Curt war glückselig, er dachte nicht an den kommenden Tag; er dachte nur: wer das Wenige nicht ehrt, ist des Mehreren nicht werth; er dachte, daß »Gott in Frankreich« keine leere Redensart, und daß es über die Maßen merkwürdig, wie man ein altes, genau besehen grundhäßliches Weib liebgewinnen könnte, welches ihr bischen Deutsch vergessen und das Französische noch immer nicht recht gelernt hätte.

Als er aber eines Abends sein Schiebfach ordnete, fand sichs, daß er in dritthalb Monaten nahezu die Pension eines Halbjahrs ausgegeben. Was nun thun? Das Beste war, er gestand Margarethen die Lage der Dinge. Diese schalt ihn liebfreundlich aus, schmollte ein wenig, ließ sich leicht versöhnen, nahm aber kein Geschenk mehr von ihm an, ließ sich nimmer von ihm über Land fahren und zeigte ihm zuweilen das Angesicht der Tante, welches immer härter, trockener und unfreundlicher wurde. Es währte nicht lang, so mußte sich Gretchen fügen und um die Stelle im Hause Klopffechter bewerben, welche sie auch wirklich erhielt.

Nun sah sie Curt nur selten, und er hatte alle Muße, sich in der großen Stadt umzuthun, ob nicht irgendwo für ihn ein nahrhaft Plätzchen sich wiese.

Er meinte es redlich und treu. Es fand sich auch dies und das, was ihm hätte wol taugen mögen, denn er wollte zum Ziele gelangen auf jede mögliche ehrbare Weise, und die aristokratischen Prätensionen, welche vordem seinen Lebensgang geregelt, seine Berufswahl eingeschränkt hatten, waren ihm nicht hieher gefolgt, wo er auf dem historischen Pflaster dreier Revolutionen die erste aufrichtige Neigung seines Lebens verfolgte.

Paris ist vor Allem die Stadt der Arbeit, und dieser Charakter, der 54 vor allen anderen Eigenschaften dem deutschen Wanderer einleuchtet, hatte auch Curt's leichtsinnige Seele beschämend und weihevoll berührt. Gerade inmitten all dieses prächtigen Wohllebens, dieses sorglosen Genießens und unsinnigen Vergeudens erhebt sich mit unausweichbarer Hoheit, mit einziger Berechtigung die Arbeit, die täglich sich das Leben und die Freiheit verdient und alle die höchsten Güter der Welt.

Aber Aller Anfang ist schwer, und nirgends schwerer als zu Paris. Curt war manchmal nahe am Verzweifeln und Margueritens Wiedersehen tröstete ihn selten, ermunterte ihn wol nie. Aber er liebte das krittliche Ding nichts desto minder.

Margarethe hatte im Hause der reichen Leute gar bald die Sitten, aber auch die Bedürfnisse der reichen Leute zu den ihrigen gemacht. Sie wollte hoch hinaus und immer in der Art, die sie die französische, die pariserische, die einzig lebenswürdige däuchte. Und wenn dann Curt mit seinen bescheidenen Aussichten und kleinen Anfängen kam, so zog sie spöttisch den Mund oder drehte ihm gar den Rücken und fragte, ob der Herr Baron denn nichts Gescheiteres anzufangen wüßten.

Wenn sie hernach schmeichelte oder maulte, war Curt schwach genug, ihr nachzugeben.

So ließ er Manches vorüberfahren, was ihm gewinnverheißend entgegenkam, legte gar Eins und Anderes beiseite, was schon Früchte trug, wenn auch mäßige, doch sichere. Was sollte ihm alles Placken und Gewinnen, wenn seines Herzens Freude nicht dabei war? Und da er noch auf lange hin von Noth nichts zu fürchten hatte, so half ihm um Ueberlegen und Bedauern nächst der Liebe auch der Leichtsinn herum, und Curt vertröstete sich, wenn auch mit Sorgen und vereitelten Mühen, von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr.

Je kürzer die Zeit der Sicherheit, je größer Gretchen's Ansprüche, desto schmaler, bescheidener und obscurer wurden die Gelegenheiten, welche sich Curt boten, Geld zu verdienen.

Einmal hatte ihn das Glück näherkommen lassen; er hatte, da die Mode des Biertrinkens immer mehr und mehr um sich griff, zwischen deutschen Brau- und französischen Kaffeehäusern zu seinem Vortheile vermittelt. Aber es währte nicht gar lang, und allerlei Mißgeschick, ein Falliment und mächtigere Concurrenz kamen drein und verdarben ihm das Geschäft. Er verlor Geld, Zeit und Laune.

Und so saß er zwischen Nacht und Morgen auf einer Bank unter den Bäumen des Boulevard Montmartre, bis ein Stadtsergeant ihn aus seinem Sinnen weckte mit der Versicherung, daß hier nicht geschlafen würde.

– Das weiß ich, sagte der Baron und trollte sich, denn wer Land und Leute kennt, läßt sich mit einem sergeant de ville nicht in langathmige Erörterungen ein.

55 Sie sagen immer auf Diensteid aus, sind sehr jäh zu erboßen, sehr langsam zu calmiren und haben nicht, aber behalten immer Recht. Sie fühlen es nur allzu gut, daß sich in ihnen die beiden wichtigsten Typen der modernen französischen Gesellschaft umarmen: der Unterofficier und der Polizeimann.

Als Curt an die Ecke kam, welche die rue du faubourg du Montmartre bildet, sprach er einen der Arbeiter, welche mit Besen und Bürsten den Macadam bearbeiten, mit einem »Guten Morgen, Landsmann« um Feuer an. Man wird selten auf Antwort warten müssen, wenn man diese Pariser Pflasterpfleger deutsch anredet.

Der Mann in der blauen Blouse bedankte sich für die Cigarre, welche ihm der Baron anbot, und auf die Frage, weß Gaues er wäre, sah er ein Weilchen stolz von seiner emsigen Hanthierung auf und sagte lächelnd:

– Echtes Berlinerkind, Vollblut Vater und Mutter!

– 's ist doch wunderlich, sagte Curt, daß die meisten Pariser Gassenkehrer deutschen Ursprungs sind.

– Hat sich was zu wundern, versetzte der Andere, ohne im Bürsten innezuhalten, woso sollten denn die Schweinigel von Franzosen so 'ne wunderbare spiegelblanke glattrasirte Sauberkeit auf ihr Pflaster 'rauskriegen? Pure Unmöglichkeit. So was kann nur unsereener. Det is so, wat man den objectiven Grund nennt; wat aber den subjectiven betrifft, so bedenken Sie man, daß alle Jahre ihrer sechzigtausend Deutsche nach Paris kommen, die denn doch nich allesammt reüssiren können – wenns auch schon Vielen jelingt, na so doch nich Allen. Ich bin ooch Eener von den Wenigen jewesen, die wo nich – nanu, reineweg verderben will man denn doch nich, Hunger und Durst hat man zuweilen, so greift man denn zum Besen. Ooch ein schönes Instrument, von dem man sich an seiner Hobelbank nichts hat träumen lassen.

– Wirds Ihnen nicht manchmal recht sauer?

– Hat sich wat sauer zu werden. Arbeit is Arbeit. Und wer nich arbeitet, soll ooch nich essen. Und dann denk ich mir – det nemlich die subjective Rechtfertigung zur objectiven jibt – ich seeg' und kehre man nich für diese welschen Bummler und Pflastertreter, sondern für die vielen tausend Landsleute, wo gleichfalls druff hin- und herrennen müssen. Sind ihrer ja so viel, daß man keen Wort Franzö'sch zu können und doch das Maul keene eenzige Stunde zu halten braucht in dem großen Babel. Drittens hat ooch Babylon seine Vorzüge und viertens – bitte Allens zu merken – so'n Besen nährt seinen Mann.

– Möchten Sie trotz Allem nicht lieber in der Heimat sein?

– Ach herrje, na ob! Aber 's hat so seine Schwierigkeiten..

– Haben Sie schon gedient? fragte Curt.

– Eben nich. Indessen . . .

56 Man konnte, was er weiter sagte, nicht mehr verstehen, denn die Arbeit nöthigte ihn, weiter in der Mitte der Straße sich zu schaffen zu machen.

Curt grüßte und ging die lange rue Montmartre hinaus, an den Markthallen vorüber u. s. w.

Es tagte schier, aber Paris schläft lange. Nur in den »Hallen« war Licht und Bewegung. Menschen und Schatten, Eßwaaren und Gaslaternen tauchten aus der Finsterniß und verschwanden in jenem riesigen Gebäude, welches die Stadt der Feinschmecker ebenso mit ihren Leckerbissen versorgt wie mit dem nothwendigsten Bedarf der Hausmannskost. Sonst war auf dem weiten Wege Niemand zu sehen, als hie und da ein schlaftrunkener Händler, der auf seinem zweiräderigen Karren zu Markte fuhr, oder ein Stadtsergeant, der seine Capuze etwas zur Seite lüftete, um den späten einsamen Fußgeher mißtrauisch zu begucken, oder ein zerlumpter Knochensammler, welcher – die alte Mistbutte, die ihm Brodkorb ist, auf gekrümmtem Rücken, in der Hand ein spitziges, fürwitziges, unerschrockenes Stäbchen – Kehricht und Gosse durchstöbert nach Allem, was da kurzsichtigen Sterblichen nicht mehr als brauchbar erscheint und es doch noch ist.

Der Baron dachte an all der Leute Hanthierung, dachte an die Heimat und an verlorene Jahre, dachte, daß Müßiggang Aller Laster Anfang, und wie Marguerite so gut tanzen könnte und kreuzlustig sein mit anderen Leuten.

Sein Herz war gar beredt in Gründen für und wider. Aber die Vertheidigung fiel doch länger, wärmer und glänzender aus denn die Anklage.

Er war, als er über dem Wasser war, auch über allen Zweifeln, und als er in die rue de la Harpe kam, in welcher er wohnte, hatte sich seine Seele wieder ins alte Gefühl gefunden und Gretchen stand wieder einzig und allein vor ihr, lieb und gut und treu, wie sie es damals – wie sie vielleicht es niemals gewesen. Und die Gedanken, die er wandern schickte dem noch nicht grauenden Tage entgegen, waren voll lichter Liebe, voll blinden Vertrauens.

Die Straße war leer und dunkel; nur aus dem Erdgeschoß des Hauses neben dem Postfiliale fiel ein röthlicher Schein auf das feuchte Pflaster.

Curt sah durchs Fenster. Ein Dutzend junger Mädchen saß in einem großen Gelaß an langen Tischen, auf welchen dicke Ballen gedruckten Papieres lagen. Sie falzten und falteten die Journale, welche Paris beim Frühstück lesen wollte.

Zuvörderst am Fenster saß ein schmächtiges blutjunges Dirnchen von kaum sechzehn Jahren.

57 Man konnte das Gesicht nicht sehen, welches sich unter dem schweren, sorglos übereinandergesteckten rothgoldigen Haar hinter zwei magere Schultern bückte. Um die Schultern geschlungen, auf dem Rücken in einen Knoten geknüpft, trug sie einen groben, abgenützten, abgefärbten Shawl, in den sie sich zuweilen mit einer kurzen Bewegung des Nackens heimlicher zurechtrücken zu wollen schien, denn es mußte noch sehr kalt in dem Arbeitslocale sein, so kalt, daß man den Hauch fliehen sah, der ihr von Mund und Nase ging. Aber die hageren rothen Händchen wirthschafteten so hurtig, so tapfer drauf los mit dem alten gelben Falzmesser, daß es nicht gar lange währte und das Mädchen lüftete das Tuch und fuhr mit dem Rücken der linken Hand über die Stirne, vor der ein weit abstehend widerspänstiges Goldlöckchen im Schimmer der Gasflamme wie ein winziger Heiligenschein erglänzte.

Gar rührend war sie anzuschauen, die arme, sich mühsam abhastende Gestalt.

Ein unsichtbarer Engel schien die Stöße von Papier zu schichten und zu ordnen, die aus ihren flinken Händen emporwuchsen. Der Engel des Segens, welchen das Gotteswort der Strafe gezeugt, als die ersten Eltern die harte Erde bezogen, das ewige Wort der Menschenbestimmung: Im Schweiße Deines Angesichts sollst Du Dein Brod gewinnen.

 


 


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