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Im Anfang des October saßen der Pächter und der Eigenthümer des uns bekannten Bier- und Kaffeehauses am letzten Tischchen bei einander auf der Straße vor den Glasscheiben.
Curt hatte diesmal den Schneider bitten lassen und suchte ihm nun begreiflich zu machen, daß er Willens wäre, ihm seine Rechte an Haus und Geschäft abzukaufen, theils mit dem, was er sich bereits redlich erspart, theils mit späteren, gerichtlich zu stipulirenden Abschlagszahlungen.
Der Schneider entgegnete darauf mit Händeringen (wie er gewöhnlich seine Reden zu ergänzen pflegte), daß er zu seinem himmelschreienden Schaden zu spät erkannte, um wie Vieles der Pachtschilling geringer wäre, als er von Gott und rechtswegen sein sollte. Von Kauf könnte unter solchen Umständen keine Rede sein, aber die Summe des Zinses müßte beträchtlich erhöht werden und zwar sofort, das würde der Baron selber einsehen.
Der Baron sah das keineswegs ein, sondern setzte den Drohungen des Eigners seinerseits die wirksamere Drohung entgegen, den Pachtvertrag ohneweiters zu kündigen.
Mit dem geizigen Schneider war schwer zu reden, seine Heftigkeit und Rohheit hinderten ihn stets, die Hälfte von dem, was man ihm entgegnete, aufs erstemal zu begreifen.
So währte es über eine Stunde und kostete dem Baron nebst sieben Schöppchen Bieres – der Eigenthümer zahlte grundsätzlich niemals – seine beste Laune. Und als dieser endlich die Hand zum Scheidegruß bot, war nicht mehr erreicht, als daß zwischen Weihnachten und Neujahr endgiltig über die Sache berathen werden sollte.
Curt schlug nicht ein, erklärte noch einmal seinen unabänderlichen Willen und ging ins Haus.
Der Schneider rief ihm nach; Curt hörte nicht mehr und Jener ging händeringend von dannen.
Euphrasie fragte nach dem Erfolg der Unterredung, deren Zweck sie wohl kannte.
Ein verstimmtes »Nein!« war alle Antwort, die ihr wurde.
Der Baron setzte sich in einen Winkel des um diese Zeit wenig besuchten Etablissements, riß die nächste beste Zeitung an sich und verbarg mit derselben sein zorniges Gesicht.
Anfangs that er wol nur so dergleichen, als ob er läse, und dachte derweil über Mittel und Wege nach, den filzigen Mann denn doch zum gewollten Geschäfte zu nöthigen. Allmälig aber fing er wirklich zu lesen an und las das ganze Blatt von Anfang bis zu Ende, Leitartikel und Feuilleton, 26 Telegramme und Tagesanzeigen. Eine der letzteren las er zu öfterenmalen, legte das Blatt weg, ging dann mit schweren Schritten zwischen den Tischen auf und nieder, um endlich wiederholt nach jener Zeitung zu greifen und zu sehen, ob die Ankündigung wirklich so lautete, wie er sie gelesen. Er hatte sich nicht getäuscht, er wußte sie bereits auswendig.
Es war eine ganz alltägliche Einladung zu einer Mobiliar-Versteigerung. Curt konnte sichs nicht gewiß versichern, aber hätte doch Tausend gegen Eins gewettet, daß das in der Ankündigung bezeichnete Haus, in welchem die Versteigerung stattfinden sollte, und dasjenige, dessen Balcon er vor sieben Wochen so unerfreulich geräumt, eins und dasselbe wären.
An dem ausgeschriebenen Tage fuhr er in einem Feierstündchen hinaus. Und richtig, wie er in verzeihlicher Neugier vermuthet hatte, zierte die in der Zeitung gelesene Nummer das kleine freistehende Haus, das vier Fenster im Oberstock und vor jedem einen kleinen Balcon hatte.
Die knappe Wohnung wimmelte von kauflustigen Leuten. Das Gerede von Fortunato's chinesischen Beutestücken mochte wol Manchen angelockt haben. Indessen war, soweit sich Curt über die unruhigen Köpfe der Bietenden und Gaffenden umschauen konnte, nichts von Absonderlichkeiten zu bemerken. Es war eine gut pariserische, geschmackvolle, aber immerhin einfache Einrichtung, die hier unter den Hammer kam.
Man sah, daß sie mit Geschick und Verstand, und wie sie für das heimliche Häuschen eben paßte, ausgewählt und zusammengestellt worden war. Wenig Prunk und viel Comfort; schlichte Farben und zierliche Formen. Möbel und Geräth waren noch ziemlich neu und gut erhalten und sahen aus, als hätten sie bisher nur glückliche Tage und lachende Menschen gekannt.
Sie wurden, wie es schien, bei wenig Ueberbieten zu mäßigen Preisen losgeschlagen.
Curt war noch nicht lange eingetreten und hatte sich eben ein wenig die Wände und was zwischen ihnen sich befand, betrachtet, als auf einmal etwas mehr Bewegung in der Versammlung entstand.
– Das ist ein schönes Stück! Passen Sie auf! sagte einer seiner Nachbarn zu einem Anderen, der sich sofort auf die Zehen stellte und die Nase hob, während der Commissär der Versteigerung mit seinem Siegelring auf einen kleinen gläsernen Pocal tickte, welchen er hoch in der anderen Hand über die Köpfe der Versammelten hielt.
Das gab so hellen schönen Klang, daß ein allgemeiner Ausruf des Erstaunens und der Freude laut wurde, welcher diesen dunklen feilschenden Männchen sonst nicht geläufig zu sein schien.
Der Commissär nannte einen niedrigen Preis; sofort hagelten die kreuz und quer überbietenden Stimmen darein. Dann gings langsamer, nur Drei oder Vier, die Liebhaber, welche das alte, schön klingende Glas zu besitzen 27 wünschten, steigerten vorsichtig und hartnäckig Schritt vor Schritt gegen einander.
Es war ein feingeschliffener, rundlicher Becher auf langem schlanken Stengel, ähnlich wie man sie bei uns auch, am häufigsten in früheren Reichsstädten, finden mag, aber ein gar seltenes Exemplar. In die Schale von mächtig dickem Glase hatte ein geduldiger Künstler des siebzehnten Jahrhunderts die Jagd des Adonis in winzigen Figürchen eingeschnitten, deren Gruppen durch die verschiedensten Arabesken getrennt und verbunden waren. Zierlicher noch als der Becher war sein Deckel, der über dickem Knauf in eine lange conische Spitze verlief.
– Ist vielleicht ein Halbdutzend solcher Schalen da? fragte der Kleine, welcher noch immer auf den Zehen stand, seinen Nachbar.
– Wo denken Sie hin! Es gibt kein ganzes Dutzend in ganz Paris, antwortete der Gefragte.
– In Paris gibt es Alles, versetzte Jener. Es müssen aber doch ihrer zweie da sein, solche Becher.
– Was Sie sich nicht Alles einbilden! Das ist der wahre Becher für die Abendmalzeit der Verliebten. Ein Herz und Ein Haus, Ein Bett und Ein Glas.
Statt weiterer Antwort mischte nun der kleine Mann sein Angebot zu denen der beiden Steigerer, die bis jetzt allein ausgehalten hatten. Es war, als ob sich diese Beiden den Besitz des erstrebten Glases nur unter einander nicht gönnen wollten, denn dem Dritten wich bald Einer nach dem Anderen. Und der Hammer fiel zu seines Angebotes Gunsten.
Mit triumphirendem Schmunzeln brachte der kleine Mann das eroberte Kleinod herab und wies es dem Nachbar, der ihn so recht eigentlich zur Ersteigerung desselben verhetzt.
Unter Lobsprüchen und Scherzreden ging das Glas in sechs, acht Händen herum.
Auch Curt hatte Gelegenheit, es näher zu betrachten und zu bewundern.
– Nehmen Sie sich in Acht! rief nun der Kleine seinem Freunde zu, der nunmehr das Gefäß in breiten Händen wog und sehr sachverständig dreinsah.
– Ich gebe Acht, war die Antwort.
Sie beruhigte aber den Eigenthümer keineswegs. Er streckte die Arme aus und stellte sich hoch auf die Zehen, um nach seinem Gute zu haschen.
Der Andere wich in seinem Eigensinn zur Seite und erst mit dem vierten Griff gelang es dem Verdrießlichen, den theuer erkauften Pocal wieder zu sich zu reißen.
28 Im nämlichen Augenblick gab ihm ein Dritter, der auf einen folgenden Gegenstand zu hoch gesteigert haben mochte und sich nun ärgerlich und grob mit den Ellbogen durch die Anwesenden drängte, einen Rippenstoß. Der Stoß war heftig genug, um das noch eben auf seinen Fußspitzen balancirende Männchen aus dem Gleichgewicht zu bringen. Es stolperte über den Fuß seines Freundes und fiel einem steigernden Vormann auf dem Rücken. Dieser schob ihn gröblich und eiligst von sich, und ehe der Ueberraschte Zeit fand, ein Bein vors andere zu setzen, schlug er schmerzhaft mit dem Ellbogen gegen die Wand.
Das Glas, welches er fest in seinen Händen behalten, gab schrillen Klang und die Augen der Nächststehenden erkundigten sich nicht, ob der Träger, sondern ob sein Gut Schaden gelitten hätte.
In Trümmern wars gerade nicht, aber hin ist hin! Das starke Glas der Schale war bei dem heftigen Anprall gegen die Wand nicht zersplittert, allein aus dem Rande war ein längliches Stück geschlagen, etwa so groß wie ein Frauenmund. Es sah aus, als hätte Einer das Fehlende herausgebissen. Ein zwiefacher Sprung zog durch die Höhlung bis in den Stiel. Der Deckel, den der Eigner in der anderen Hand gehalten, war unversehrt geblieben, aber er hielt nicht mehr fest auf der zerstörten Rundung, sondern kippte jäh zur Seite, so oft auch der Mann, der nun nicht mehr auf den Zehen stand, den Versuch machte, die Scherbe zu bedecken.
– Lassen Sie's sein! rief ihm der schadenfrohe Nachbar zu. Niemand wird hinfort mehr aus diesem Becher der Liebe trinken. Drollig, wie abgebissen! Ist es nicht, als ob der Geist des Hauses sein schönstes Stück gegen fremde Schacherer vertheidigte?
– Aber ich habe es bezahlt und noch dazu sehr theuer! entgegnete der Andere weinerlich.
– Das schadet Ihnen nichts! sagte Jener drauf. Und trösten Sie sich; ei wer weiß, ob Ihnen das verhexte Glas nicht Unglück gebracht, ob Sie nicht am Ende gar den Tod daraus getrunken hätten!
Die Umstehenden lachten. Curt, ernster gestimmt, wie er war, hatte wenig Lust, die weiteren Trostgründe und ihre Wirkung zu beachten. Er ging hinweg.
Im Garten angekommen, sah er sich nach dem Hausmeister um und fand auch bald ein behaglich wandelndes Menschenkind von reiferen Jahren, welchem nach seinem Aussehen und persönlichem Gehaben das Amt eines Thürhüters mit Sicherheit zu vindiciren war.
Außer dem gewöhnlichen mißtrauischen Faullenzergesicht, welches diese Menschengattung kennzeichnet, tragen die Concierges von dem Stadttheil zwischen der Rue du Faubourg St. Honoré und der Seine sich gerne mit gewissen englischen Manieren, die sie den vielen Miethsleuten dieser Nation abgeguckt haben. 29
– Wessen Eigenthum sind denn die Möbel und Geräthschaften, welche hier im Hause verkauft werden? fragte der Baron.
– Eines Herrn aus Corsica, der dorthin zurückgekehrt, war die Antwort.
– Seit wann denn?
– Es mögen etwa fünf – auch sechs Wochen sein.
– Und Madame? Ist sie ihm gefolgt?
– O nein.
– Sie wohnt also noch in Paris?
– Gewiß!
– Und wo denn?
– Ja, wo nur gleich? . . . Rue du Bac . . . Numero . . . habs vergessen. Aber Sie wissen ja wol die Wohnung des Herrn Marquis Anatole de . . . . . . ac?
Curt bejahte diese Frage, nur um die Mittheilungen des herablassenden Thürhüters nicht zu unterbrechen.
Dieser fuhr fort:
– Alsdann wenden Sie sich gefälligst an den Herrn Marquis. Er ist es, der Vollmacht über Mobilien und Immobilien des früheren Besitzers erhalten hat und ausübt; er läßt Versteigerungen ausschreiben, er verabschiedet treue Diener, er bezahlt unverschämte Gläubiger, er hat auch das Vergnügen, Madame zu beherbergen, was weiß ich wo &c.
Nach diesen Worten verneigte er sachte das runde Haupt und verfolgte so gravitätisch wie vordem seinen Wandel auf und ab längs dem schmucken Häuschen, aus welchem noch immer die Stimmen der Mehrbietenden tönten.
Curt eilte hindan.
– Von einer Hand zur anderen, und ach, in was für Hände! sagte er laut vor sich hin.
Er dachte nicht an eigenes, längst verwehtes Hoffen und Wünschen; ein tiefes Mitleid mit aller menschlichen Creatur war über ihn gekommen.
Als er in seine Bude trat, fand er die Kellner unter der Thüre stehen und plaudern.
Es waren noch wenig Gäste da und diese saßen im Freien. Drinnen war Niemand als Euphrasie, die so emsig in die Fliegenfüße ihres Rechenbuchs vertieft schien, daß sie des Meisters Ankunft gar nicht bemerkte. Sie saß wie verzaubert auf ihrem Kathederchen, den linken Ellbogen aufgestützt, mit der schmalen wohlgepflegten Hand die Augen deckend. Nichts regte sich an ihr als die drei Finger der Rechten, welche sachte mit der Feder über die Ziffern ihres Journals fuhren, und die schön gewölbten Lippen, welche lautlos mit diesen Ziffern sprachen.
30 Der Baron trat langsam vor das Pult und begrüßte das überraschte Frauenzimmer, indem er ihm freundlich die Wange berührte.
– Armes Geschöpf! sagte er und seufzte schwer.
– Warum beklagen Sie mich? antwortete das Mädchen und sah ihn lachend an und dann den hellen Strahl, welchen die Sonne durch die offene Thür ins Zimmer tanzen ließ.
– Ach, ich beklage Euch Alle! erwiderte Curt und kehrte sich zur Seite. Euer Leben ist mit Abgründen gepflastert.
Euphrasie besann sich, ob sie nicht schmollen sollte. Aber der Baron sah ernstlich betrübt ans und noch dazu bei dem schönen Wetter. Drum sagte sie mit gewohnter Heiterkeit:
– Es gibt noch Wege und Stege, lieber Herr. Man muß sich eben zuweilen gegen sich selbst protegiren. Und kennt man nur seine richtigen Anhaltspunkte, ich meine seine redliche Arbeit und die feste Hand, die Einem ein braver Freund entgegenstreckt, wie Sie, so kann man schon von Glück sagen und hat weder auf Abgründen, noch auf Eiern zu tanzen und hilft sich durch und braucht nicht zu verderben.
Sie legte die eine Hand fest auf ihr Rechenbuch und streckte die linke über das Kathederchen weg dem Baron entgegen. Der ergriff sie alle beide und sah der Heiteren lange in die dunklen Augen, die jetzt kein Bischen schielten und nur einmal leise zuckten, um ein winziges Thränlein zu entlassen, das dann ungestört bis über die halbe Wange lief, da es schon vertrocknete.
– Nicht wahr, Euphrasie, Sie sind glücklich? fragte Curt.
– Gar sehr, mein lieber Herr Baron! war die Antwort.
– Und es hat Sie nicht einmal so gar viel Mühe gekostet?
– Je nun, wer weiß!
Euphrasie lachte; sie schielte wieder ein ganz klein wenig und steckte sofort ihr Näschen in das Buch.
Der Baron schaffte seine Sonntagskleider beiseite und ging rüstig an die Geschäfte.
Die Zimmer, welche Marguerite in der Rue du Bac bewohnte, waren schmal und unbehaglich, und zeigten jene verlogene Eleganz, welche bei genauerem Zusehen nicht nur nicht Stich hält, sondern ärmlicher und bedenklicher Einen anmuthet, als jene schlichte Sparsamkeit, die mit Wissen und Willen des Schmuckes entbehrt, um sich mit dem Nothwendigen zu begnügen.
31 Das bauschige Sofa, der große Spiegel, der vergoldete Tisch sahen im Halbdunkel dieser schweren Vorhänge wol auf den ersten Blick so aus, als wäre bei ihnen ein gar behagliches Wohnen. Aber die arme Marguerite hatte Zeit und quälerische Laune genug, dem verschlissenen Zeug in die Falten zu sehen und zu erkennen, daß dieser Spiegel, wo er nicht blind war, schief und grünlich zeigte, daß auf dies Gestühle kein Verlaß, daß der vierte und einzig solide Fuß ihres Tisches nicht mit ihm geboren worden und daß sie vom Nöthigen und Ueberflüssigen alles das entbehrte, was ihr in der letzten Zeit das Liebste geworden war.
Von draußen herauf klang das unablässige Lärmen des geschäftigen Verkehrs, der sich in dieser langen Straße eine schmale, aber geräuschvolle Bahn durch das schweigende, vornehm feiernde Faubourg St. Germain gebrochen.
Gähnend schleppten sich die Tage hin und zuweilen fröstelten sie Einen an, daß Marguerite Feuer im Camin machen ließ. Aber vor dieser Flamme war kein Stillsitzen und Insichversenken möglich, der Rauch schlug durch alle vier Ecken des Mantels und umkräuselte mit lästigen Wölkchen selbst die aufdringliche Stockuhr, deren rostrothes Figürchen eine Schäferin ohne Kopf zeigte, während das Werk trotz aller Sorgfalt der Behandlung Margueriten um die Erkenntniß betrügen wollte, wie viels geschlagen hatte. Wenns regnete, wollten die Fenster nicht recht schließen.
Der Schreibtisch war so eng und unbequem, daß es ihr jedesmal recht schwer wurde, wenn sie ihre Eltern belügen und ihnen schriftlich versichern mußte, daß es ihr wohlergehe und sie sich glücklich fühle in ihrer neuen Stellung als Gesellschafterin einer fabulosen Baronin, die nur in diesen Briefen existirte.
So ward ihr der Tag zur Last und sie konnte sich doch auf die Nacht nicht freuen.
Hinter diesen langen Vorhängen stand ein schlechtes Lager, so unerquicklich und hart, daß sie kaum Schlaf darauf, viel weniger die süßen Träume finden mochte, die allein sie zurückzaubern konnten in ihr liebes kleinwinziges und doch so hochherrliches Königreich jenseits des Wassers in den elysäischen Gefilden.
So lange sie noch drüben wohnte, in der engen, stillen und doch so stolzen Häuslichkeit, wo jedes Tüpfelchen und Zipfelchen nach eigener Wahl und Anordnung seinen Platz hatte, und jeder Winkel durch Erinnerungen glückseligen Zusammenlebens geheiligt und gefeit war, so lange focht sie kein Arg und kein Zweifel an und ihre Seele lebte in Frieden und Gleichmaß und liebte und hoffte und glaubte drauf los, als gälte es Berge zu versetzen.
Fortunato hatte ihr nur ein einzigesmal geschrieben. Das war bald nach seiner Abreise von Paris und noch ehe er den Continent verlassen. Einen 32 seltsamen, verwunderlichen, unverdaulichen Brief. Sie hatte recht weinen müssen und konnte ihn doch nicht recht verstehen, obwol er deutlich genug abgefaßt war.
Jede Französin hätte ihn verstanden, und sie bildete sich ja viel darauf ein, Französin zu sein, die Närrin mit ihrem schwerfälligen deutschen Herzen!
Sie nahm den Brief hin wie sie manch andere häßliche Grille des leichtaufwallenden Mannes hingenommen hatte. An ihm fand sie ja Alles schön. Und war die erste Bosheit vorüber, so war er stets dreifach gütig und liebevoll gegen sie gewesen.
So legte sie den Brief zu den übrigen und hoffte zuversichtlich auf den zweiten und, als kein zweiter kam, umso zuversichtlicher auf die baldige Ankunft dessen, der ihn schreiben sollte. Denn war es nicht ein untrügliches Zeichen, daß er des Schreibens nicht mehr nöthig achtete, weil er sich schon des Kommens befleißigte? Den einen Fuß im Wagen, was sollte er noch die Hand bemüßigen?
Sie hatte sich in ihrer Einsamkeit ein Vertheidigungssystem zusammengerichtet, welches auf alle und die entgegengesetztesten Fälle schlagfertig war. Zunächst war es der strenge Vater, die Rücksicht auf die alten engherzigen Familienglieder, welche Fortunato, wie sie sich ausgeklügelt, nicht zum Briefstellern gedeihen ließen. Zwar der Geliebte war kein gefangenes Mädchen und gar nicht von der schüchternen, gehorsamen Art, die sich im Zwange nicht zu helfen weiß. Ein Mann, ein Corse, ein Soldat. Wollte er dem sehnenden Schatz ein Lebenszeichen geben, war nicht der Schaft seiner Jagdflinte, der Knauf seines Sattels, ja jeder Stein am Wege gut genug, um dem Blättchen Papier, das Jeder aus seiner Brieftasche nehmen kann, zur Unterlage zu dienen?
– Aber so ein abgerissen Papierchen mit flüchtigem Bleistift bekritzelt, das wäre ihm nicht gut genug für mich, für die ihm niemals etwas zu gut und zu theuer gewesen!
Und so hieß es wol auf bessere Gelegenheit warten . . . warten und immer warten.
Also entschuldigte und vertröstete sich Marguerite weiter. Denn die Liebe hat keine Logik und ist so erfinderisch, und immer noch und nicht umsonst trägt Amor vor den Augen eine Binde.
Was war sie ihm gewesen?
Gerade heraus gesagt: Ein lüsternes Mädchen, das sich ihm in einer Stunde höchster Aufregung unverhofft und unerbeten an den Hals geworfen.
Der erste Eindruck entscheidet ja meist über die Achtung, die uns der Andere zollen zu müssen glaubt.
33 Jene drei unschuldigen gedankenlosen Küsse in Einer Nachmittagsstunde dreien Männern gegeben, entschieden Fortunato's Urtheil über Marguerite für alle Zeit.
Wäre ein Engel vom Himmel gekommen und hätte die Hand auf ihre Stirne gelegt und dies Haupt von jenem Leichtsinn freigeschworen, den sie leider nur allzu emsig zur Schau trug, Fortunato hätte dem Engel nicht geglaubt.
Wol schien ihm zuweilen in den Momenten höchster Lust und Hingebung, daß das Wesen, welches sich an seine Brust schmiegte, ein anderes, höheres, reineres wäre als jenes, welches im tagtäglichen Verkehr so gerne zeigte, wie weit sie's im lieben chic gebracht. Aber wenn die Leidenschaft verkühlt, schob er diese Beobachtungen mälig beiseite und sagte sich vor, daß eben die ungewohnte deutsche Sentimentalität einen flüchtigen Heiligenschein um die schöne Sünderin verbreitete.
Und war ihm dennoch in begeisterten Nächten unter hingebenden Küssen ein höheres, heiligeres Wesen erschienen, so nannte er das später nicht die echte wahre Margarethe, sondern mit anderem Namen und schalt die erregten Sinne, welche der schönen Wirklichkeit ein schöneres Traumbild unterschoben, das da Maria hieß nach wie vor.
Nicht daß er Marguerite mißachtet hätte, er schätzte sie in mehr als in Einem Sinn; er hatte sogar von Zeit zu Zeit geglaubt, sie zu lieben, aber was er empfunden, war doch weiter nichts als Verlangen und später Dankbarkeit gewesen. Nie war ihm der Gedanke gekommen, sie auf rechtmäßige oder unrechtmäßige Weise zur Gefährtin seines Lebens zu machen. Er hatte, durch Mariens Zurückweisung und das Fehlschlagen seiner kühnen Pläne aufs Tiefste erschüttert, sich und sein Herz trösten, täuschen, vergessen wollen. Er wäre, um dem Hohn seiner verzerrten Hoffnungen zu entfliehen, in einen Sumpf gesprungen.
Aber sein allzeit gütiges Schicksal hatte ihn vor solcher Gefahr gerettet, und im Augenblicke, da sich Marie von ihm gewendet, ihm Margarethen aufgedrungen, ehe er nur Zeit, sich zu besinnen, zu wählen, zu unterscheiden gehabt. Es war für ihn eine Rettung, eine Zuflucht gewesen. Und er umklammerte dies jähe Geschenk der Götter mit einer Gluth und Heftigkeit, die der Heftigkeit des Rückschlags, welchen er von Marien empfangen, entsprach, und als Leidenschaft der Leidenschaft wol glich und doch nicht die Liebe war.
Er hatte sich Margarethen mit einer Wuth und Hitze hingegeben, die in mänadischem Ueberfluthen alle Zweifel mit sich fortschwemmte, und, selbst besinnungslos, keine Besinnung aufkommen ließ. Er vergeudete mit ihr Zeit und Geld und Gefühl.
34 Als er endlich auf solchen Umwegen wieder zu sich selbst gekommen, war ein halbes Jahr seines Lebens und ein Vermögen dahin, und sein leeres Herz schrie hungriger als je nach anderer Nahrung.
Sollte er nun Bedenken tragen, ein Verhältniß nicht ebenso leichtsinnig und leichtfertig zu lösen, als es Marguerite begonnen zu haben schien? Er wäre schwer davon zu überzeugen gewesen.
Auch hatte Niemand ihn zu überzeugen versucht, Marguerite am allerwenigsten. Sie hatte sich immer Mühe gegeben, eine rechte Französin zu sein, und der Erfolg dieser Mühen war nur der, daß sie sehr gefallsüchtig, leidlich lüstern und vor Allem überaus leichtsinnig erschien.
Fortunato war eitel genug, zu glauben, daß sie seinen Verlust nicht allzu leicht, nicht gar zu rasch verschmerzen werde; er meinte sogar, annehmen zu dürfen, daß sie ihm unter allen Verhältnissen einen hohen Grad von Freundschaft bewahren; nichts aber konnte ihn auf die Vermuthung bringen, daß sie gerade sich nicht nach landesüblicher Weise trösten, ihn nicht mehr als sich beklagen und schließlich einen Anderen nehmen werde. An einem – Anderen konnte es ihr nicht fehlen; er hatte sie gar sehr zu Ruf und Ansehen gebracht, man hatte ihn viel beneidet und sich mancherlei Mühe gegeben, ihm seine Schöne abwendig zu machen. Er war auch stolz auf sie gewesen und hatte gute Zeit mit ihr verlebt, wäre das viele Geld nicht so jäh auf die Neige gegangen, hätte Papa nicht so energisch gerufen u. s. w., wer weiß, wie lang er nicht noch bei ihr im Venusberge geblieben. Sie war ihm werth . . .
. . . Was war er ihr! . . . Ein Gott, ein Mann! Glück, Leben und Denken! Die Sonne ihres Daseins, die ihr tausend Geheimnisse dieser schönen Welt in üppiger Fülle aufgeschlossen.
Fortunato hatte nicht geheuchelt und sich nicht besser gestellt, als er war. Er gehörte überhaupt nicht zu denen, deren Wollen und Handeln schwer zu begreifen war.
Sie aber begriff nur ihre große Liebe und maß sich, ihn, die Welt mit diesem Maßstabe, und jeder Zoll daran war Hoffnung und jede Linie Geduld.
Wol kam endlich ein Brief aus Corsica, aber nicht an Marguerite, sondern an Anatole, der sich weigerte, denselben zu zeigen. Er theilte ihr nur mit, daß sein Freund ihn beauftragte, das Mobiliar des kleinen Hauses, welches er in den elysäischen Feldern vordem gemiethet hatte, zu verkaufen und den Erlös nach Abzug etwaiger Schulden Margarethen zur Verfügung zu stellen.
Er sagte ihr auch, daß Fortunato nicht daran dächte, seine Heimat zu verlassen, und daß er, selbst wenn er nach Paris käme, doch nicht in ihre Arme zurückkehren würde.
35 Aber wenn das Alles in dem Briefe stand, warum zeigte Anatole ihr den Brief nicht?
Der Marquis des Verfalls hatte dafür seine guten Gründe. Die Verlassene aber sah in seiner Weigerung nur den Beweis seiner Falschheit und die Gewähr ihrer Hoffnung, daß die vorenthaltenen Zeilen ganz das Gegentheil enthielten.
Hatte der Freund des Geliebten doch schon am Tage nach dessen Abreise ähnliche Reden fallen lassen. Hatte er doch keine Gelegenheit versäumt, den Theuren bei ihr zu verdächtigen.
Und war der Grund doch klar und unverholen. Er hatte selbst seine Augen auf sie geworfen und versuchte es auf allerlei Weise, den Geschiedenen aus ihrem Herzen zu verdrängen.
In der That ließ es sich Anatole sehr angelegen sein, die verlassene Ariadne zu trösten und ihr als erlösender Dionysos zu erscheinen. Dies Vorhaben wurde ihm nun freilich sauer genug gemacht; er aber blieb guten Muths und hoffte mit Zuversicht auf seinen endlichen Sieg. Es mußte ja gelingen.
Von der Nothwendigkeit war er, wie wir später einsehen werden, aus zwingenden Ursachen überzeugt.
Außerdem schmeichelte es seiner alten Eitelkeit, Fortunato's Nachfolger in einem zärtlichen Verhältnisse zu werden und vor dem ganzen galanten Paris als solcher zu gelten, nachdem sich Fürsten und Banquiers vergebens versucht hatten, die Spröde ihrem ersten Galan wegzukapern. Drittens war die Arme in seiner Gewalt und durch ihr still zurückgezogenes Verhalten, welches die sichere Hoffnung auf Fortunato's Rückkehr bedingte, nur umso mehr von ihm abhängig.
Die ihm gewordene Vollmacht ward richtig befunden, die Versteigerung der Möbel und Geräthschaften gerichtlich festgesetzt, und Margarethe sah sich eines Tages bemüßigt, das trauliche Häuschen zu verlassen und jene Wohnung zu beziehen, welche der Marquis in der Rue du Bac für sie gemiethet.
Sie meinte, dieselbe wäre wol im Auftrage Fortunato's besorgt worden.
Anatole entgegnete verbindlich lächelnd, über diesen Punkt nicht mit ihr streiten zu wollen.
Ihre Garderobe war schon gepackt. Und sie folgte dem Drängenden ohne Klage, ohne Wort in den bereitstehenden Wagen. Sie wußte gar nicht, wie ihr geschah.
Als die Pferde anzogen, trieb sie's, das Köpfchen zum Wagenfenster hinauszustrecken und noch einmal das liebe Haus zu betrachten.
Da fing sie bitterlich an zu weinen.
36 Anatole aber begütigte sie und sagte, sie habe keinen Grund. Sie könnte ja, wenn sie wollte, drei Häuser haben, eigene und schönere denn dieses; aber weinen müßte sie nicht, sondern lachen, immer lachen. Eine Französin und weinen! . . . es wäre denn aus Zorn!
So trocknete sie denn ihre Thränen und sah mit trockenen Augen die neue, enge, unheimliche Häuslichkeit, die ihr bereitet war. Sie ließ Anatole reden und lästern und horchte wieder nach Innen. Aber es wollte ihr bald nicht mehr so gut gelingen wie ehedem. Mit der Veränderung des Orts und dem Wechsel der Gewohnheiten schien auch in ihrem ganzen Wesen eine Neuerung vor sich zu gehen.
Ein seltsam Unbehagen überkam sie oft so jähe, daß weder Vernunftgründe, noch Zerstreuungen anwendbar waren. Oft rang sie nach einem Gedanken und konnte doch keinen erfassen; die Augen wurden ihr naß und sie wußte nicht warum; sie wollte in ihren Erinnerungen jagen und ihr Besinnen konnte sich doch von der Zukunft verhüllten ungewissen Bildern nicht losmachen.
Sie war so viel allein! Sie sah des Tages oft stundenlang gerade vor sich hin, ohne ein Wort zu sprechen. Manchmal wußte sie nicht, sollte sie schlafen oder gähnen, und hier an der Hand der langen Weile kamen die sie an der Stätte des alten Glücks nicht heimzusuchen gewagt, der bittere Zweifel und die nagende Angst und tausend böse seltsame Gedanken.
Der Marquis besuchte sie des Tages oft zweimal. Er gab sich Mühe, sie auf heitere Einfälle zu bringen und erzählte ihr lustige Geschichten aus der ganzen und halben Welt.
Sie hatte Anatole sonst nie recht leiden mögen. Aber er war doch ein Zeuge jener glücklichen Zeit gewesen, war der einzige Mensch, der sich nicht in seinem Betragen gegen sie verändert, ja eher noch aufmerksamer und zuvorkommender erwies als früher. Manchmal, wenn er ging, kam ihr die Vermuthung, daß Fortunato vielleicht ganz ihrer vergessen, daß sie vielleicht von der Güte eines Mannes lebte, dem sie nichts weiter als eine unnütze Last wäre, für welche der Großmüthige keinen Dank begehrte.
Dann wurmte sie's oft, daß sie nicht freundlicher gegen ihn sein konnte, wenn er bei ihr war, und trat noch rasch ans Fenster und grüßte lächelnd hinab, während er die englischen Leitseile aus der Hand seines kleinen Grooms nahm und nun, nach einem letzten längeren Blick zu ihr, davonfuhr.
Dann versäumte er es wol nicht, am Abend solch eines günstigeren Tages noch einmal bei ihr vorzusprechen und sie zu besuchen.
37 Bald wars eine Loge in der Oper, bald ein Souper unter Freunden, bald dies, bald jenes Vergnügen, was er ihr in seiner Gesellschaft anbot. Sie aber lehnte als Fortunato's treue Strohwitwe jedes derartige Ansinnen noch immer halsstarrig ab.
Anatole verlachte sie wegen ihres blinden Glaubens, der denn doch keine Berge versetzen könnte; ließ auch gegen sie oder gar gegen den abwesenden Freund ein herberes Wort fallen.
Darob ereiferte sich nun wieder Marguerite, zuweilen so heftig, daß sie dem Gekränkten die Thüre wies.
Das hielt den Marquis zwei, drei volle Tage von ihrem Hause fern, und die Einsame hatte mehr Zeit, als ihr lieb war, über ihren Jähzorn nachzudenken.
Da las sie in den Zeitungen von Theatern und Bällen, Festen und Schaustücken, neuen Moden und alten Freunden, und sie langweilte sich in ihrer freiwilligen Clausur erst recht und sehnte sich ordentlich nach dem Wiederkommen des herzlich gern Verstoßenen, wie der Mann auf dem öden flachen Regenwasser der Sündfluth sich nach der Taube gesehnt haben mag, die in ihrem Schnabel ein grünes Zweiglein brachte, Gruß und Zeichen einer lebendigen, farbenfrohen, schwer vermißten Welt.
Kam er dann endlich, so war ein Schmollen und Versöhnen und Händedrücken zwischen ihnen, wie zwischen Verliebten. Und als diese Zank- und Sühnescenen des Oefteren nöthig wurden, konnte Marguerite sich nicht verhehlen, daß dieselben ein wirksames Mittel gegenseitiger Annäherung wären. Sie machte sich Vorwürfe, fühlte sich Anatole ernstlich und dauernd verpflichtet und nahm sich vor, nachsichtiger oder doch nachgiebiger gegen ihn zu sein, nur um ihm nicht noch tiefer verpflichtet zu werden und die gegenseitige Annäherung nicht noch zu steigern.
Ein neues Stück im Théâtre du Palais Royal machte damals viel von sich zu reden. Ach, wo in der Welt lacht man so sehr aus Herzens Grunde, wie in dieser Pflegestätte des alten unerschrockenen gallischen Humors!
Marguerite las von der überaus drolligen Comödie und der köstlichen Darstellung in den Zeitungen.
Der Marquis schien unter die Schwärmer gegangen; er erzählte einen Tag um den anderen von der gelungenen Farce, gab die Witzworte und Spässe daraus zum Besten und versuchte sogar einzelne Couplets zu singen. Noch immer schlug Gretchen ab, ihn nach dem Schauspiel zu begleiten. Als aber die Lust am größten geworden, bat sie ihre Miethsfrau, eine alte, sehr höfliche und gefällige Pariserin, sich doch auf ihre Kosten den Spaß anzusehen und ihr dann haarklein zu berichten, was sie auf den Bretern und in den Logen Alles geschaut.
38 Die diensteifrige Vettel ließ sich das nicht zweimal sagen und Marguerite blieb aus bis spät in die Nacht, um ja nichts von dem Eindruck zu verlieren, welchen jene Glücklichere heimzubringen hatte.
Allein lag es am Fassungsvermögen, lags an der Ausdrucksfähigkeit ihrer Gesandtin, der mittelbare Genuß fiel nicht nach Wunsch aus. Die Miethsfrau kam ihr sehr bornirt und vor lauter Freude ganz confus vor; die Zuschauerinnen und ihren Staat hatte sie gar nicht beachtet, und was auf der Bühne vorgegangen, doch auch nicht in sich aufgenommen; ihr Bericht befriedigte sie nicht im Mindesten.
Marguerite legte sich nur noch aufgeregter zu Bette, und nachdem sie lange keinen Schlaf finden konnte, träumte sie bis gegen Mittag gar lebhaft und deutlich von Brasseur und Gil-Peres und einem halben Dutzend erster Liebhaberinnen, welche ein unmögliches Vaudeville nach dem anderen zum Besten gaben.
Sie wurde durch die Frage geweckt, ob ihr Anatole, der auf dem Wege nach dem Bois vorüberkam, einen guten Morgen bieten dürfte.
Sie hätte ihn unter allen Umständen abgewiesen, wäre die gestrige Erzählung ihrer Miethsfrau nicht gar so widerspruchsvoll und ungenügend gewesen und hätten die Träume nicht noch so mächtig nachgewirkt, daß sie deren Erinnerung und die Berichte der lebendigen Menschen mit einander verwechselte.
Sie rieb sich noch die Augen und wollte es vor sich selber gar nicht Wort haben, daß sie die Erlaubniß gegeben, als Anatole schon ins Zimmer trat, sich zu ihr ans Bett setzte und in unvergleichlicher Laune von tausend Dingen zu schwatzen begann, die sie eigentlich gar nichts angingen.
Er bat sich aus, ihre Hand küssen zu dürfen, und nachdem dies verweigert worden, that er es umso heftiger ohne Erlaubniß und behielt noch dazu die Hand in der seinen und spielte mit den schlanken rosigen Fingern, die sich ihm nicht heftig entziehen konnten, da die Rücksicht auf ihre Kleidung und Lage Margueriten weder Kampf noch Flucht erlaubten.
Der Marquis lobte die schöne, allzu rasch entschwundene Zeit der Ruelles, da nicht nur die Hofdamen Ludwig's XIV. sondern alle Damen von Welt, auch Künstlerinnen und wohlhabende Bürgersfrauen, ihren Verehrern, Freunden und Günstlingen im Bette liegend Audienz gaben. Wie läppisch und unbequem erschienen ihm dagegen die Gepflogenheiten in den modernen Salons, und er beklagte es unter standesgemäßen Schwüren mit ungeheuchelter Betrübniß, um nahezu zwei Jahrhunderte zu spät geboren zu sein.
Noch aufrichtiger beklagte er es, heute nicht länger bei seiner Schutzbefohlenen verweilen zu können.
39 Marguerite war nie so gütig, so kleinlaut, so nachgiebig gewesen – und er, der Unglückselige, mußte zu einer Wette fahren – zu einer Wette, die er mit ziemlicher Sicherheit zu verlieren bestimmt war – aber Spiel und Wette gingen Allem vor.
Marguerite hatte ihm sogar zugesagt, heute Abend mit ihm das Théâtre du Palais Royal zu besuchen; sie schien in der Laune, ihm heute keine Bitte verweigern zu können, und er war durch ein leichtsinnig gegebenes Ehrenwort hinweggerufen!
So wollte er wenigstens ein Küßchen mit auf den Weg nehmen; aber die Schelmin wendete auf echt Pariserisch das Haupt zur Seite und grub Mund und Nase in den letzten Winkel ihres Kopfkissens. Anatole mußte sich bescheiden, seine Lippen auf eine der langen dunklen Locken zu drücken, welche unter dem spitzenbesetzten Nachthäubchen hervorquellend auf dem blanken Linnen lagerte.
Er sprach sehr viel dabei, wenn schon sehr eilig, und fragte endlich, mit doppelter und getheilter Ungeduld die Thürklinke pressend, ob er heute Abend würde gnädiger behandelt werden.
Marguerite setzte sich in ihrem Bette auf, sah ihn lange an und hatte dann doch keine Antwort, als ein herzlich übermüthiges Lachen, und da er, schon mit einem Fuße über der Schwelle, wiederholt und dringender seine Bitte vorbrachte, erhielt er auch nicht mehr, als ein spöttisches, unzuverlässiges:
– Après le spectacle - peut-être.
Anatole verschwand und Marguerite umfaßte mit den Armen ihre Knie, stützte auf die Knie die Stirn und horchte, wie das Geräusch der Wagenräder des Versuchers so hurtig sich verlor, wie es andere Laute übertönten, die wieder von anderen verschlungen wurden und diese auch.
Also saß sie wol über eine Stunde, und als die kunterbunt plaudernde Miethsfrau sich wegen des verspäteten Dejeuners meldete, fand sie die Augen des Mädchens roth und naß. Und als Anatole nach dem Diner am Abend kam, waren die gerötheten Augen noch nicht trocken und ließen sich auch nicht trocknen, weder durch Zuspruch, noch durch Vorwurf.
Grete versicherte, recht leidend zu sein, und der Marquis, der trotz aller Einwendungen denn doch allein abziehen mußte, hatte triftige Ursache, dem neunzehnten Jahrhundert, dem Elsässer Mädchen und der verlorenen Wette zu fluchen.
Als er wieder fort war, that es der Einsamen fast leid, daß sie sich anders hatte nicht entschließen können. Sie zog des Oefteren die Uhr und berechnete, wie viel Acte derweilen abgespielt sein könnten. Und schließlich legte sie sich wieder mit rothen nassen Augen zu Bette, wie sie sich nicht anders daraus erhoben hatte.
40 Als der Marquis zwei Tage lang nichts von sich hören ließ, reuete es Marguerite ernstlich, nicht gefälliger gewesen zu sein, und sie dachte schon daran, allein mit der Miethsfrau das Palais Royal zu besuchen. Freilich blieb die Ueberlegung nicht aus, daß sie dadurch Anatole ohne Noth und Absicht derb vor den Kopf stoßen würde. So unterbliebs denn, aber die Neugierde ward nur immer heftiger und noch heftiger, als sie gar in den Zeitungen las, daß die Vorstellungen des neuen Stücks wahrscheinlich demnächst unterbrochen werden müßten, um den angestrengten Schauspielern einige Erholung zu gönnen.
Am dritten Tage nach Anatole's Ausbleiben kam ein Commis von Maugas, dem feinsten Damenschneider in Paris. Er hatte ein Wunderding von Robe mit dem dazu gehörigen Aufputz abzuliefern. So schwer der Stoff, so reich Besatz und Zier, war doch das Kleid nicht auffallend, sondern schlicht von Farbe und von jener soliden Eleganz und kostbaren Einfachheit, welche das Entzücken der Kennerin.
Marguerite wollte anfangs zweifeln, daß das theure Geschenk ihr gehören sollte; sie wußte nicht, von wem es kommen könnte und wünschte den Bringer zu befragen.
Allein die Miethsfrau, welche das Ding in Empfang genommen, hatte den Commis verabschiedet. Sie meinte ohne Kopfzerbrechen den guten Geber rathen zu können und hieß die Zweifelnde statt alles längeren Zauderns und Deutelns das schöne Kleid einmal anzulegen und also kurz und gut zu versuchen, ob es denn wirklich ihr auf den Leib geschnitten wäre oder nicht.
Es dauerte eine gute Weile, bis Marguerite sich zu dieser Probe entschloß. Erst am späten Nachmittage gab sie der ungeduldigen Alten nach. Nun wies es sich freilich, daß der Schneider an keine andere Gestalt gedacht haben konnte. Da war kein Häftchen und kein Fältchen, das nicht paßte; die liebe Haut saß nicht genauer über dem Körper, und Mädchen, Wirthin und Zofe fanden kein Ende in Loben und Betrachten und Staunen und Verwundern.
Marguerite stand vor ihrem Ankleidespiegel und drehte sich und wendete sich nach Geheiß der beiden Anderen, von denen die Eine, sich mühsam auf den Zehen wiegend, ihr an der Halskrause nestelte, während die Dienerin auf dem Estrich kniete und die schweren Falten in die Schleppe strich.
Da klopfte es an der Thüre und der Marquis trat ein.
Er grüßte heiter und herablassend, pries der Geschmückten zierliche Gestalt und Haartracht und fragte, ehe noch eines der gaffenden Weiber zu Wort kommen konnte, leichthin, ob sein Schützling sich nicht heute Abend von ihm ins Theater des Palais Royal geleiten lassen möchte.
41 Sofort fielen die beiden Vetteln mit Schwören und Jubiliren ein: das wäre eine gottgegebene Gelegenheit, sich vor Sünde zu wahren, denn Sünde wärs, solch ein Prachtstück, wie Gretchen eben auf dem Leibe trug, nicht gleich vor aller überraschten Welt zu zeigen, anstatt stillvergnügt das Bischen Staub innerhalb dieser engen vier Wände damit aufzuregen.
Marguerite wollte etwas sagen, aber die Weiber schrien dazwischen, und als Anatole dieselben endlich unter Protesten abzutreten bewogen, hatte sie angesichts des bescheidenen Mannes den Muth verloren.
Wäre er inständig und dringend geworden, ja hätte er nur seine Bitte wiederholt, sie wäre wol darauf vorbereitet gewesen, freundlich abzulehnen. Allein er war nur mit ihrer Toilette beschäftigt.
Wie eine sorgende Mutter, die ihr verschüchtertes Töchterchen zum ersten Balle rüstet, betrachtete, prüfte, berieth er die vor ihm Stehende von allen Seiten.
Seinem genauen Kennerblicke mochte nichts entgehen.
Marguerite konnte nicht anders, als seine Rathschläge annehmen und genau befolgen.
Und wo es noth ihm däuchte, legte er, da Niemand just bei der Hand, wol selber eine Stecknadel fester an oder eine Locke gefälliger über die schönverhüllten Schultern.
Endlich, da nichts mehr zu verbessern, rief er der Magd, ihrer Gebieterin den Mantel umzulegen, und bot ihr selber den Arm. Gretchen wurde roth bis unters Haar, sie sah zur Seite, biß sich in die Lippen und machte dann nur die Eine Bedingung, daß der Marquis sie in eine von den kleinen, halb versteckten Logen führe, wo sie nicht auffallen und kaum gesehen werden konnte.
Anatole sagte dies mit Freuden zu und hatte es, vor die Theaterkasse gelangt, nur herzlich zu bedauern, daß er ein ausverkauftes Haus fand, somit Margueriten nur die Wahl zwischen Heimkehr oder dem Besuch seiner schon früher erstandenen Loge bieten konnte.
Diese wäre sich selber lächerlich erschienen, hätte sie jetzt, über der Schwelle des lustigen Musentempels, noch die Rückkehr verlangt. Bald thronte sie in einem Fauteuil von hundert und hundert Gasflammen beleuchtet, dem Schauspiel gegenüber selbst ein Schauspiel, nach dem sich alle Gläser, alle Augen drehten.
Alle gemeinsamen Freunde besuchten die Loge, Herren aus der feinsten Welt, und sie überhäuften Marguerite mit den freudigsten Grüßen und priesen sich glücklich, daß sie wieder erschienen wäre unter ihnen und Hoffnung gäbe, die Freuden des nahen Winters zu verherrlichen.
Musik und Glanz, Schmeichelei und Galanterie überboten sich, ihre Sinne zu erquicken, die jeden Klang, jedes Wort der lang entbehrten, lang gewohnten Freuden in sich sogen.
42 Es war Alles um sie her wieder wie es sonst gewesen, prächtig, verschwenderisch, lebenslustig und leichtfertig.
Wenn ein überraschend beißendes Witzwort, ein schlagendes Couplet das Gelächter und den Beifall des Hauses zum Sturme steigerten, kehrte sie sich wol jählings um, in der Meinung. mit verständnißinnigen Augen die Augen Fortunato's suchen zu müssen. Da zuckte sie wol schmerzlich zusammen und fuhr unwillkürlich mit der Hand nach dem Herzen oder Haupt. Sie meinten es Beide gar nicht fassen zu können, daß Fortunato nicht hier ihr zur Seite saß. Dann drehte Marguerite wol nochmals das Antlitz zurück und sah ihren Begleiter lang und prüfend an, der ach nur allzu sicher und gewiß Anatole war.
Aber zu kopfhängerischen Gedanken war hier nicht Zeit und Ort. Und die wenigen windigen, die sich hier herein und an sie wagten, verscheuchte gar bald die spöttische Musik und das derbe, thränenpressende Lachen, welches glücklich macht.
So saß sie da und ließ sich eine seltsame Geschichte vorspielen von übertölpelten Gatten und verdächtigen Frauen; kaum erdenkliche Carricaturen mir hirnwüthigen Grimassen in bald unmöglichen, bald alltäglichen Situationen; das Wahrscheinliche in phantastischen Fratzen, die aber gefällig, gutmüthig und lächerlich aussahen und selbst ein Publicum von verrosteten Hypochondern aufgeheitert hätten, geschweige denn ein Weibchen, das so gerne lachte und dem das Lachen so schön anstand, wie Marguerite. Ihre Einbildungskraft und ihre Eitelkeit schwelgten und berauschten sich, und so hatte sie nur ein halbes Ohr und gar keinen Widerspruch dem Projecte zu bieten, welches auf Anrathen etlicher eifrigen Freunde nach Schluß des Schauspiels ausgeführt werden sollte.
Auf dem anderen Seine-Ufer, drüben im Garten der Closerie des Lilas, wo die Studenten und die Studentinnen ihre gliederverrenkenden Bälle aufführen, ward heute ein seltenes Vergnügen erwartet, welches auch außerhalb des lateinischen Viertels das galante Paris als ein denkwürdiges Ereigniß in Aufregung versetzte.
Eine famose Cancantänzerin, welche sich gröblichst und nicht nur mit den Füßen gegen die bestehenden polizeilichen Verordnungen vergangen hatte, war vor etlichen Monaten aus der Hauptstadt verwiesen worden. Sie hatte ihr Exil dazu benützt, in London Gastrollen zu geben. Nun aber die Zeit ihrer Strafe zu Ende war und in Paris mit dem Spätherbst die tollen Freuden wieder in Flor kommen, welche derweilen ihren Sommer- und Ferienschlaf gehalten, nun hielt sie's nicht länger aus unter den Heiden, und die Polizei sollte ihr nur zu einem unerhörten Triumphzug Gelegenheit geboten haben.
Die Pächter der Closerie benützten diese Gelegenheit und riesige Plakate 43 luden die Neugierigen von beiden Ufern der Seine zum feierlichen ersten Wiedersehen der aus der Verbannung heimkehrenden Cancanistin ein.
Unsere Gesellschaft im Theater des Palais Royal hatte beschlossen, diesem Spectakel ein Stündchen zu widmen und dann bei einem Restaurant des Faubourg St. Germain ein solennes Souper einzunehmen, welches sofort durch einen der Bedienten bestellt wurde.
Es lag in Anatole's Absicht, gerade heute, da Marguerite sich einmal nachgiebig und willfährig erwiesen, Vergnügen auf Vergnügen zu häufen, eins das andere steigernd, eins das andere überbietend. Heute galts ihm, sein Opfer nicht zum Bewußtsein kommen zu lassen, ja nicht einmal zum Worte.
Je mehr gute Freunde sich heute an ihn herandrängten, desto erwünschter waren sie ihm, denn jeder war ein Zeuge seines Verhältnisses zur gefeierten Schönen, und jeder ein Hinderniß mehr für diese, auf der einmal mit so viel Glanz und vor so vielen Bewunderern betretenen Bahn umzukehren.
Selbst die schüchternen Einwendungen wurden in dieser übermüthigen Gesellschaft, da einer den Anderen nur mit lustigeren Vorschlägen zu übertreffen suchte, wirkungslos.
Außerdem boten sich dem Marquis nur allzu viele Anlässe, Margueriten durch die intime Sorgfalt seiner Aufmerksamkeiten vor seinen Freunden als das erscheinen zu lassen, was sie doch noch nicht war, und andererseits den Gegenstand seiner Sorgfalt an deren zärtliche Aeußerungen zu gewöhnen und also seiner Eitelkeit wie seinen Herzenswünschen zu gleicher Zeit Vorschub zu leisten.
Des Mädchens Seele bewegte sich noch unter den Gestalten des tollen Lustspiels, dessen drollige Melodien in seinen Ohren summten, während Anatole den holden Leib in seinen Wagen hob und mit noch zwei Cameraden darin Platz nahm. Hurtig flog das Gespann unter den Laternen durch die Nacht.
Marguerite erwachte aus ihrem Nachsinnen und hatte sich an Vorschlag, Debatte und Beschluß so mechanisch betheiligt gehabt, daß sie nun erst fragte, was denn geschehen sollte, und als sie's erfuhr, nicht wenig erstaunt war.
Sie wollte sich verwahren; die Männer machten Chorus und lachten und flehten und schmeichelten. Sie meinte dem Marquis, während die Beiden gegenüber dies nicht achteten, leise ein ernstes, entschiedenes Wort zuflüstern zu müssen. Der sah sie stumm und bedeutungsvoll, ja ergeben und demüthig an. Sollte sie den Mann, der Alles aufbot, ihr, der Verlassenen, Vergnügen zu bereiten, den Mann, dem sie vielleicht ihren Unterhalt zu danken hatte, vor spöttischen Cumpanen bloßstellen? War sie nicht immer noch die 44 Herrin ihres Willens, ihrer Würde? Hatte sie noth, sich mit übertriebener Aengstlichkeit zu decken, mit einer Prüderie, die gar nicht nach ihrem Geschmack war? Sie, die richtige Französin, die kühne Pariserin von echtem Schrot und Korn!
Und nun gar sich wehren und vertheidigen, da Niemand noch sie angegriffen, vielleicht nicht einmal sie anzugreifen denkt – war das nicht schwächlich, pedantisch, lächerlich?
Aber Marguerite konnte es anfangen wie sie wollte, sie ward die Mahnungen, die Sorgen im Gewissen nicht los.
Je weiter sie die ungestümen Pferde von dem Theater des Palais Royal entführten, desto weiter blieben auch die lachenden Gedanken zurück, deren sie doch so stürmisch viele mit in den Wagen genommen hatte; aus ihren verschüchterten Ohren war alle Erinnerung jener sorglosen Liedweisen verschwunden, sie quälte sich umsonst, auch nur die einfachste Melodie zurückzurufen. Es ging nicht.
Die Genossen im Wagen schwatzten zu tolles Zeug durcheinander, und schwiegen sie auch ein Weilchen, Marguerite konnte doch nichts vernehmen, als das leise Zittern der Scheiben und das Huschen der Räder und – wie sie meinte – den jäheren Schlag ihres drückenden Herzens . . .
Sie lehnte sich fest in die Ecke und preßte die Hände in einander und schloß zuweilen die Lider.
Wie die Lichter und Schatten draußen auf der Straße an ihr vorüberjagten und sich nicht ins Auge fassen ließen, so wollte auch vor ihrem dahingerissenen Geiste keine Vorstellung, kein Gedanke Halt machen und haften. Ihr war, als sollte, als müßte sie an ein gewisses Etwas denken, und sie konnte sich doch nicht klar machen an was.
Ein verhüllter Gedanke schwebte dicht vor ihr, drohend, beängstigend, aufdringlich; sie jagte, schlug und griff nach ihm in die leere Luft, aber der Gedanke wich immer aus, und meinte sie ihn wirklich einmal zu fassen und zu halten, so schwebte er doch nur immer zur Seite und ballte sich dichter und räthselhafter zusammen, und was ihr haschender Geist ihm abgerissen, war nur ein Nebelfetzen, der nichtssagend zwischen den Fingern zerrann.
So lag sie im Wagen, behaglich hingegossenen Leibes und doch so athemloser Seele.
Sie sah die Gefährten Einen nach dem Anderen an, sie wollte sprechen und wußte nichts zu sagen.
Die Zunge lag ihr wie Blei im Munde und die Augen brannten wie Feuer. Ueber die Füße gings wie ein Frost und es fror sie immer höher hinauf, wie wenn man sie langsam in kaltes Wasser tauchte, und der Frost setzte sich am Herzen fest und schien krampfhaft auf alle Adern zu drücken.
45 Auf einmal meinte Marguerite klar und deutlich zu erkennen, an was sie denken sollte; sie preßte die Hände vors Gesicht und bat dann, ein Fenster zu öffnen.
Aber man öffnete bereits den Schlag.
Der Wagen hielt und fügte sich in eine lange Reihe anderer Wagen, die vor dem grell erleuchteten Thor der Closerie des Lilas Queue machten.
Die Herren riethen der Dame, auszusteigen, frische Luft zu schöpfen und vielleicht die etlichen Schritte bis zum Eingang zu Fuß zurückzulegen.
Marguerite stemmte sich mühsam in die Höhe und gleitete, von den sorgsamen Männern unterstützt, langsam auf den Tritt. Hier ruhte sie noch ein wenig, faßte sich, lächelte, schüttelte die Locken aus der Stirn und gab Anatole ihren Arm mit der Versicherung, daß das Uebel im Anflug vorübergegangen wäre.
Die Herren bahnten nun einen Weg durch den dichten Knäuel von Proletariern, Dirnen und Bummlern aller Art, welche gaffend, kritisirend, allerlei Geschrei ausstoßend in weitem Halbkreis das Thor der Closerie umstanden, den zu Fuße Kommenden an der Wand, den zu Wagen in der Mitte einen Zugang öffnend, welche nur durch die fortgesetzte und ziemlich derbe Achtsamkeit scheltender Polizisten reingehalten werden konnten.
Innerhalb des Kranzes geschah trotzdem noch mancherlei Unfug und die Stadtsergeanten hatten alle Augen voll Gräuel und alle Hände voll Menschen.
Hier fingen zwei ungeduldige Paare, welchen es nicht beliebte. die Eingangsthüre regelmäßig zu belagern, auf offener Straße zu tanzen an; dort kletterten etliche unnütze Jungen auf einen Gascandelaber, um besser sehen zu können; aus dem Saale erscholl ein unisones Geschrei: »à la porte! à la porte!« und die Polizei-Soldaten brachten einen lachenden Missethäter, an Kragen und Ellbogen fassend, über die Treppe herauf, um ihn an der Luft laufen zu lassen, während im Vestibule drei betrunkene Studenten einem überraschten Kaufmannslehrling den Hut mit Faustschlägen antrieben und dazu: »tête de calicot!« und »oh lala!« schrien aus Leibeskräften.
Marguerite sah in das bunte Treiben mit stieren Blicken, die Figuren bewegten sich vor ihren Augen wie die Steinchen in einem Kaleidoskop, deren Verschiebungen keiner selbstgewollten Absicht entsprechen. Sie selbst war willenlos gleich einer Marionette und ließ sich führen und stützen und mit sich geschehen, was wollte.
Sie war bis an das Haupt der Treppe, welche in die bunt erleuchteten Tanzsäle führte, gekommen, ohne zu wissen wie, und während einer der Begleiter die Billete löste, blickte und horchte sie mit schlaffen Sinnen die breiten Stufen hinab, auf denen Masken und Debardeurs lagerten, Orangen und Blumensträuße durcheinander fielen und Kommen und Gehen keinen Augenblick stillehielt.
46 Vor Kasse und Garderobe war ein arges Gedränge, welches ausgehalten werden mußte; Schreien und Pfeifen, auch Rippenstöße und Fußtritte fehlten nicht.
Endlich war unsere Gesellschaft wieder flott und setzte sich, an der Spitze Marguerite im Arme des Marquis, langsam in Bewegung.
Sie waren noch nicht über die Hälfte der Stufen gekommen, als unter den Gesängen, welche bald hier, bald dort im Gewühl der Tanzenden und Lustwandelnden laut wurden, eine Melodie die Oberhand behielt. Bald fiel die ganze Menschenmasse brüllend und jubelnd ein, daß die Musik übertönt wurde, verstummte und, den aus allen Ecken kommenden Wünschen und Drohungen nachgebend, nun selber die verlangte Weise mitspielte.
Marguerite blieb wie angewurzelt mitten auf der Treppe stehen; sie hielt sich mit der einen Hand fest am Geländer und war weder durch Anatole's Zureden, noch durch die Fragen der Gefährten, was ihr denn fehlte, vorwärts zu bringen.
Sie gab keine Antwort. streckte den Hals hoch aus den Schultern und sah aus, als ob sie nicht blos mit den Ohren das einfältige Lied vernähme, sondern dasselbe auch mit den Augen körperlich vor sich schaute und es durch den geöffneten Mund und die zitternden Nasenflügel in sich einathmete.
Ein Beben überkam die ganze Gestalt und schon brach sie bewußtlos zusammen und gleitete abwärts, mit Hand und Haar und Kleidern den dichten Staub des Tanzsaales von den Stufen fegend, bis ein Paar als kleine Kinder maskirte Weibspersonen sie bei den Beinen faßten und aufhielten.
Die Gefährten griffen ihr unter die Arme und trugen sie beiseite, während rasch ein bunter Haufe sie umdrängte, aus dem bald nach der Polizei, bald nach dem Arzte gerufen wurde.
– Da ist der Arzt! schrie der Student, welcher seinem »tête de calicot« bereits zum drittenmal den Hut angetrieben hatte und dicht hinter Margarethen in den Saal gekommen war; procul medico damnum non est, fügte er emphatisch hinzu und machte sich mit einem anderen Collegen daran, der Ohnmächtigen an die Pulsadern zu greifen.
Anatole und seine Freunde gaben ihm gute Worte, das drollige Männchen aber, dessen gutmüthige Stumpfnase drei carfunkelrothe Wärzchen zierten, ließ sich nicht irremachen und fuhr, ohne seine Sorgfalt zu unterbrechen und die Augen von Margueriten zu wenden, mit Pathos zu schreien fort:
– Verlassen Sie sich auf meine Weisheit und Erfahrung, meine Herren; beruhigen Sie sich ganz und gar, denn Madame ist in den besten Händen. Sie kennen mich nicht? Schade nur für Sie, meine Herren. Denn ich bin Sève, der später so berühmt gewordene Sève, bin der Saft, bin 47 succus et sanguis der modernen Arzneiwissenschaft, Leibarzt und Archiaccoucheur Ihrer Majestät Pimperlimbêche XXXIII., Königin von Golconda, Mitglied aller gelehrten Gesellschaften des orbis pictus etc. etc.! und dies hier mein ebenbürtiger Assistent und mein Synonymum. Verlassen Sie sich auf uns, meine Herren. Indessen kann ich Ihnen schon auf Ehre eines simplen Studenten der Medicin versichern, daß es zur Diagnose dieses höchst alltäglichen Vorkommnisses solcher Sommitäten der Wissenschaft nicht bedurft hätte, wie wir es sind. Jeder Sohn seiner Mutter kann, wenn er anders ein gutes Gedächtniß besitzt, Ihnen die tröstliche Versicherung geben, daß die Frau seines Vaters vor seiner Geburt ganz ähnliche Zufälle zu bestehen hatte. Das hat keine Gefahr. Beruhigen Sie sich.
Er erhob sich unter schallendem Gelächter der Umstehenden und, die Begleiter Marguerite's mit spöttischem Mitleide betrachtend, fuhr er fort:
– Die unwiderleglichen Resultate meines wissenschaftlichen Beobachtens und Nachdenkens erfreuen, entzücken, begeistern Sie nicht, meine Herren? Ihre Ueberraschung ist trübselig und ohne höheren Aufschwung! O, Sie sehen sich verdutzt einander an und möchten mich prügeln, weil ich die Wahrheit rede, oder vielleicht gar, weil ich nicht die ganze Wahrheit sage, die Sie selbst nicht sagen können. Trösten Sie sich auch hierin, meine Herren, wenn auch der Trost nicht von meiner, der erhabensten, Wissenschaft kommt, sondern von ihrer Schwester Themis, die keine Augen hat und deßhalb eine Binde trägt. Sie ruft Ihnen zu: pater est quem nuptiae demonstrant! Das kommt alle Tage vor! – Ich bin es, der Ihnen das sagt, Sève, der Unwiderlegliche. Wünschen Sie ferner meine Dienste, ich wohne Rue Racine 2 im sechsten Stock und ich habe gesprochen! Nun aber laßt uns endlich Eins singen, ihr Anderen. Hört ihrs, wie Trompeten und Geigen mit den Stimmen eurer Brüder und Schwestern wetteifern, um das unbeschreibliche, unvergleichliche Lied ertönen zu lassen, bei dessen Versen alles Gethier sich Sprache wünscht und selbst die leblosen Bilder der Kunst aus ihren Rahmen treten, von ihren Piedestalen steigen möchten, um mitzusingen, mitzutanzen. Vorwärts, du glücklichere Menschheit, vorwärts, marsch, ins Vergnügen! Ich grüße Sie, meine Herren.
Er wendete sich, und alle die Gaffer, welche ihn und den Gegenstand seiner Beobachtungen umstanden hatten, folgten dem Archimedicus der Königin von Golconda. welcher nun, die Hände über dem Haupte schüttelnd, auf dem Stiefelhackend einherhüpfend, überlaut brüllend in den allgemeinen Gesang einstimmte, der, von dem Zwischenfall nicht gestört, noch immer in allen Ecken und Enden der weiten Säle fortdauerte.
Die Polizisten riethen Anatole und seinem Gefolge, das ohnmächtige Weib beiseite zu schaffen.
Diese hoben, von jenen unterstützt, Marguerite auf die Arme und trugen sie langsam und vorsichtig die Treppe hinaus und in den Wagen zurück, 48 etliche Orangenschalen und Confectreste nicht achtend, die nach ihren Hüten und Fräcken geschleudert wurden, und wenig erbaut von dem unaufhörlichen Geschrei, in das jeder Eintretende, der ihnen entgegenkam, schon auf der Schwelle einstimmte.
J'ai un pied qui r'mue,
Et l'autre qui ne va guère,
J'ai un pied qui r'mue,
Et l'autre qui ne va plus!
Der allzeit wißbegierige liebe deutsche Leser wird es mir doch wol gerne erlassen, wenn ich nicht mehr von den vielen Strophen des öfters in dieser Geschichte erklingenden Liedes wörtlich anführe, als er schon bereits davon weiß.
Man ist zwar in Deutschland noch immer gegen gewisse poetische Licenzen nachsichtiger, wenn sie im Gewande einer fremden Sprache bei uns antreten, aber die weiteren Verse gehören nicht zur Sache, mit der ich es in diesem Buche zu thun habe, und ich kann versichern, daß die Popularität, welche das Lied im Jahre der erzählten Geschichte errang und so lange und ausschließlich bewahrte, auch nicht jenen verschwiegenen Strophen zu danken ist, sondern den drolligen Refrainphrasen, der leicht eingehenden, grotesken Melodie und jenem unerklärbaren Geschick, das nicht nur, wie der Lateiner gesagt, die Bücher, sondern auch und erst recht die lieben losen Lieder haben, welche müßiggehenden Leuten in den offenen Mund fliegen, wie im Schlaraffenlande die gebratenen Tauben.
Nur darüber habe ich den Leser noch zu beruhigen, daß der weitere Inhalt des langen Gesangs mit dem Sinn oder Unsinn jener vier Zeilen, die seinen wiederkehrenden Refrain abgeben, in keinem Zusammenhange steht und zum Verständniß jener räthselhaften Aussage nicht das Geringste beitragen kann, welche uns versichert, daß Einer »einen Fuß hat, der sich bewegt, und einen anderen, der nicht mehr geht«.
Ein gebildetes Publicum braucht sich freilich ebensowenig wie ein gebildeter Autor mit diesem Bekenntniß zu begnügen. Aber die Bücher geben nun einmal keinen Aufschluß, was die vier Verse bedeuten sollen, welche man mit einigem Recht abstruse nennen dürfte, und die Weisen und die Fachgelehrten, welche ich wiederholt um ihre Meinung befragt, meinen trocken und überzeugungstreu, daß diese Verse gar nichts bedeuteten.
Der gebildete Leser hat aber noch immer das unverwirkte Recht, mehr von seinem Autor zu verlangen, und so ersuche ich ihn höflichst, wenn er mir anders bis hieher gefolgt ist, meine Erklärung sich gefallen zu lassen.
49 Das incriminirte Lied ist, wie manches andere in der Stadt beliebt und berühmt gewordene, auf dem Felde aufgelesen worden und erst von den normännischen Bauern auf die Pariser gekommen.
Ich selber habe in der Normandie die Landleute eine Art Rundtanz machen sehen, bei welchem sie sich ähnlich wie unsere Kinder beim Ringelreihen an den Händen faßten und also nach rechts oder links im Kreise drehten, daß sie mit dem Fuße, nach dessen Seite hin sie sich bewegten, ausschritten, und den anderen, von dessen Seite her sie kamen, steif ausgestreckt nach sich zogen.
Es sah gerade so aus, als sei es Tanzregel, nur »den einen Fuß zu rühren« und derweil den anderen hängen zu lassen wie einen, der »keine Bewegung machen« dürfte.
Den Tanz begleitete immer Gesang.
Als solch ein Lied beim Tanze zu singen, ist der »pied qui remue« aufgekommen, und seine immer wiederkehrende Rundstrophe, die mit dem Sinn des übrigen Textes in keinem Zusammenhang steht, bezieht sich lediglich auf die Bewegungen beim Tanze, welche sich – wie die Rundstrophe – von Zeit zu Zeit wiederholen und in ihren sie begleitenden Worten poetisch beschrieben werden.
Dies scheint mir glaubwürdig und ich biete es Anderen zum Glauben. Wer damit nicht zufrieden ist, wird mich erfreuen, wenn er etwas Besseres weiß und mirs mitzutheilen die Güte haben mag.
Als Marguerite aus ihrer Betäubung zu sich kam, fühlte sie, wie man ihr mit kaltem Wasser die Schläfe wusch und unter ihre Nase ein Riechfläschchen hielt und wie zwei emsige Hände sich Mühe gaben, ihr das Mieder zu lösen.
Sie schlug die Augen auf und sah in das bekannte Angesicht eines besorgten alten Weibes.
Das Licht that ihr weh; die Wimpern schlossen sich wieder, ohne daß das Haupt sich vom Kissen erhoben.
Kaum von der Ohnmacht entlassen, sank sie, todtmüde wie sie war, in einen schweren Schlaf. –
Sie erwachte spät. Es mochte wol in einer Stunde der Tag grauen. War ihrs doch, als hätte man sie geweckt. Aber es rührte sich weiter nichts mehr und so fiels ihr auch nicht ein, nach der Ursache ihres jähen Erwachens zu forschen.
Ihr Schlaf war so schwer gewesen, so bleiern, drückend, wie eine verlängerte Ohnmacht.
50 Sie schob den Arm unters Genick und besann sich, wo sie denn eigentlich wäre.
Aber es wollte nicht recht gelingen.
Ihr war, als trieften noch alle Sinne von letheischer Ueberfluthung. Sie öffnete die Augen; es war stockdunkel und sie merkte bald, was sich darin zu spiegeln schien, waren schwankende unsichere Bilder täuschender Einbildung, die vom eigenen Blut vors Gehirn gehaucht wurden. War das nicht das traute Kämmerlein im Hause Klopffechter, der Schatten dort das zierliche Tischchen inmitten und was dort an der Wand mit der Finsterniß kämpfte, um deutlicher vors Auge zu treten, warens nicht die langen Kleider, die am schöngeschnitzten altmodischen Rechen hingen? Dort hatte sie immer so süß geschlafen, wenn sie spät über einem Büchlein voll galanter Abenteuer die Lampe gelöscht.
Was jetzt vor ihre Seele zog und sie überreden wollte, daß sie Alles das selber erlebt, das stand wol auch in so einem Buch geschrieben, das sie vor dem Einschlafen gelesen, bis sie, wie's zuweilen geschehen, darüber eingenickt.
Nun konnte sie Wahrheit und Dichtung nicht mehr auseinander halten, welche der rächende Traum in ein festes Gespinnst geschlungen, das sie nun überdeckte und gefangen hielt.
Aber nein, sie wußte eine letzte Nacht im Hause Klopffechter, die nicht verschlafen, nicht verträumt, und doch so süß und unvergeßlich, und die doch, Gott sei Dank, Wahrheit und Wirklichkeit gewesen.
Und nun wußte sie's, auch der Nacht waren andere Tage und Nächte gefolgt, glückliche Tage, selige Nächte, und ihr Geist umklammerte diese Erinnerungen und hielt sie fest und saugte Labung aus ihnen.
Wieder sah sie sich an Fortunato's Seite, bestaunt, beglückwünscht, beneidet. Sie fuhren über Land und See.
Bald saßen sie lachend vor den goldüberronnenen Tischen zu Homburg und Baden-Baden; der Geliebte wollte sich nirgends am Spiel betheiligen, und doch sah sie, daß es ihn Ueberwindung kostete, Andere spielen zu sehen und sich zu enthalten, und dennoch hatte er die Spielhöllen ausgesucht und fand eine grausame Freude daran, sich selbst zu quälen und also über sich und seine geheimen Wünsche zu siegen.
Marguerite hatte es ihm erleichtern wollen und dadurch nur schwerer gemacht.
Sie hatte sich erboten, für ihn zu spielen, hatte ihm zuliebe sogar eine Gewinnsucht zur Schau getragen. die ihr nicht vom Herzen kam. Er aber hatte stets auch dies mittelbare Spielen verworfen.
Dann brachte er ihr wol am anderen Morgen ein köstliches Armband, eine prächtige Nadel, um ihre Lust am Golde einigermaßen schadlos zu halten.
51 Und nun sah sie sich wieder im stillen Garten über die kleine Wiese wandeln.
War das nicht schöner und köstlicher?
Sie gingen Hand in Hand und küßten sich das Lachen vom Munde und die Rührung von den Augen. Sie wies mit der einen Hand ins Grüne und er bückte sich, ihr in die andere die flüchtigen Sommerblüthen zu legen, die ihre Füßchen nicht zertreten wollten, weil ihr Herz noch eins so freudig unter ihnen schlug, hatten nur seine Finger die Blumen berührt, ehe sie ihr den Busen schmückten.
Ei ja die Liebe! Die Liebe fordert unerschwingliche, fordert unsterbliche Werke, doch sie bedarf ihrer nicht.
Ein Veilchen, das Müßiggang im Walde pflückt, genügt ihr als Morgengabe und wird ihr Symbolum des Glücks und Lebens, Unterpfand höchsten Vertrauens und Gewähr ewiger Treue, der Mühsal werth, die eine Ilias zu dichten kostete, für beider Indien Schätze nicht feil. Den Frommen schenkt der Herr eben im Traum.
Aber fromm sein ist schwer und man träumt nicht alle Tage. Die heute einen trockenen Grashalm mit aller Andacht küßt und ihm sein Plätzchen zwischen ihres Lieblingsdichters Lieblingsversen anweist – nimm Dich in Acht – vielleicht will sie morgen ein Fürstenthum zum Schemel ihrer Füße und in ihr Haar die gefesteten Strahlen der Sonne!
– Träume, Schäume! Man träumt, man schläft nicht einmal alle Tage! sagte Marguerite.
Sie sah sich stundenlang am Fenster stehen und Seufzer schicken in die hohe Luft, dem säumigen Geliebten Grüße denkend. Und er kam noch immer nicht und noch immer nicht und noch nicht, da sie in unheimlichem Stübchen, fern von der Wahlstatt ihres Glücks, freudelose Tage verseufzte, in Gesellschaft eines armseligen alten Weibes, einem Anatole zu Dank verpflichtet.
Aber Fortunato muß ja kommen, bald kommen, sie fühlts, sie weiß es. Die Leute sagen:
– Nimmermehr!
Weiß sie's besser, als die spöttischen, schadenfrohen, eigensüchtigen Leute? Nein, ja, und wieder nein und dreimal ja! Wenn sie nur wieder schlafen und träumen könnte!
Träumen und Schlafen! Sie ist noch so bitterlich müde und ihre wachen Gedanken haben keinen Zauber mehr, und Träume, heißt es, Träume kommen von Gott.
Sie schließt die Augen fest zu und wendet sich um auf dem Lager nach der anderen Seite.
Wol währt es noch ein Weilchen und sie seufzt noch eins- und 52 anderesmal, aber sie schläft doch endlich ein, schläft ein mit nein und ja. Und auch ein Träumlein geht über ihre Seele.
Was mag es bedeuten?
Wieder ists eine weite schöne Wiese, wie die lichte Hoffnung so grün. Die Sonne scheint so schön und warm. Und zwischen Wies' und Sonne jagt ein leichtes, duftiges Wölkchen dahin, so jäh, so eilig wie der blasende Wind. Und mit der Wolke läuft der Wolke Schatten über das grüne Gras und hinter dem Schatten läuft ein emsiges Hündlein, das will den Schatten fangen und kläfft und schnappt in die Luft und wills nicht müde werden. Der Schatten flieht immerfort und holt das Hündlein doch immer wieder von hinten ein. Dann läuft es nur immer geschwinder und bellt so laut.
So laut, daß Gretchen erwacht.
Es ist noch nicht hell im Zimmer. Aber der Tag beginnt doch schon zu grauen. Noch ganz leise, leise; aber durch die Spalte der Vorhänge dort geht schon ein Hauch des Zwielichts in die Stube und aus der Finsterniß lösen sich allmälig die Umrisse der Möbel und den Erwachenden begrüßt, wenn auch noch halb verhüllt, die trauliche Gewohnheit seiner stummen alltäglichen Umgebung.
Also jedoch will es Marguerite nicht erscheinen. Sie reibt sich die Augen.
Es kommt ihr vor, als hätten Bett und Fenster die Plätze gewechselt und ihre Füße lägen, wo sonst das Haupt zu liegen pflegte.
Aber wenns nur das wäre!
Solche schwere Vorhänge waren nie vor ihren Fenstern. Dort steht eine eiserne Geldkasse; wie kommt die hieher? Und was dort drüben an der Wand hängt, das sind zwei große türkische Pistolen.
Das ist nicht ihre Schlafstube, das ist nicht das Schlafzimmer einer Dame.
Sie setzt sich auf und schaudert.
War sie denn blind, daß sie das Nächste übersehen konnte, auch nur auf einen Augenblick?
Diese Kissen, diese Decken, das weitgeschweifte breite Bett und hier – sie stößt einen Schrei aus.
Sie ist nicht allein hier.
Aus seinen Kissen, seinen Decken hebt sich, vom lauten Aufschrei geweckt, der Marquis.
Sein unaussprechliches Lächeln begegnet dem sprachlosen Entsetzen in Margarethens Zügen.
Sie schreit noch einmal laut auf, sie ruft, sie erhebt sich und reißt an der seidenen Klingelschnur, die, ohne einen Laut zu geben, von der Wand fällt und sich zu ihren Füßen legt. 53
– Hund! schreit das emporgescheuchte Mädchen dem immer noch Lächelnden entgegen. Wer, wer hat mir das gethan?
– Nicht so laut, schöne Freundin, haucht der Marquis und schickt sich an, gemächlich in Schuhe und Schlafrock zu schlüpfen.
– Lassen Sie mich gehen, ungehindert, unberührt!
– Aber es hält Sie ja Niemand, meine Theuerste.
Marguerite tastete mit ausgebreiteten Armen in der noch immer sehr dunklen Stube umher, während der Marquis unfern von ihr stehen blieb und den Rücken an die hohe Bettstelle lehnend, mit andächtig gefalteten Händen seine Augen an den Bewegungen des schönen Mädchens weidete.
– Wo haben Sie meine Kleider hin versteckt? Meine Kleider, meine Kleider! stammelte Marguerite mit thränenerstickter Stimme.
– Hier sind sie ja, entgegnete der Marquis; gedulden Sie sich nur ein Weilchen, ich bringe sie Ihnen selbst. Wo sind sie denn nur gleich? Richtig, hier! Sie brauchen nur die Hand darnach auszustrecken.
– Bleiben Sie mir ferne!
Anatole blieb wieder stehen und betrachtete seine Gefangene mit lüsternen Blicken, wie sie rasch und wahllos in die wirr und bunt durcheinander geworfenen Kleider griff, welche über einem Stuhl und an der Erde lagen. Die nackten Füße hoben sich leuchtend von dem dunklen Teppich ab, in dessen weicher Fülle sie sich wie in reichlichem Moose eindrückten.
Anatole kniete nieder und hob bittend und beschwörend die Hände empor, und es gab kein gutes Wort, was er nicht verschwendete, um das wüthende Mädchen zu sänftigen, zu rühren, seinen schändlichen Wünschen geneigter zu machen.
Und als alle Bitten ungehört an ihr abglitten, brauchte er Drohungen, und als auch diese sich fruchtlos erschöpften, wollte er Gewalt brauchen. Er durfte sie jetzt nicht mehr entrinnen lassen.
Marguerite, die, zwischen Wuth und Angst getheilt, es nicht gewagt hatte, die Augen von dem Marquis abzuwenden, war nicht im Stande gewesen, sich zu bücken und ordentlich zu bekleiden. Das erste beste, was ihr in die raschen Hände gerathen war, ihren Mantel, hatte sie um die Schultern geschlagen. Sie streckte die Hände abwehrend vor sich hin, sie bat, sie rief, sie betete noch einmal. Aber Anatole faßte sie zärtlich bei den Armen und drängte sich heftig an die widerstrebende Gestalt, die in dem unbekannten Zimmer zwischen den vielen, schwerfälligen alten Möbeln keinen Ausweg sah.
– Anatole, ächzte sie mit heiserer Stimme und hob die Arme vor ihr Gesicht, Sie ersticken mich! Lassen Sie ab! Ich ergebe mich. Aber nur einen Augenblick Ruhe, nur einen Augenblick! Mein Bewußtsein droht mich zu verlassen wie meine Kraft.
54 Sofort gab der Marquis sie frei. Sie setzte sich erschöpft auf den Rand des Bettes, ließ Haupt und Arme sinken und es still geschehen, daß er unter heißen Schwüren und zärtlichen Entschuldigungen ihre Füße küßte.
Sie holte tief Athem, hob das Haupt, dann warf sie im Nu dem Knienden die schweren Decken auf das tief herabgebeugte Haupt, zog die Beine ins Bett und eilte über dasselbe hinweg nach der Thüre.
Ehe Anatole Zeit gehabt, sich aus dem Gewühl von Linnen und Seide, welches ihn bedeckte, freizumachen, war die Fliehende schon im anderen Zimmer. Einen mäßigen Glaskasten, der mit Silbergeschirr und kostbaren Porcelanschüsseln gefüllt neben der Thüre stand, ergriff sie mit wüthenden Händen, rückte ihn, stemmte sich mit Leibeskraft dagegen und warf ihn so vor den Verfolgenden, unter dessen Füße die Scherben seiner Schaustücke kollerten.
Glücklicherweise war der Diener, der zwischen diesem Gelaß und einem weiten Vorgemach in seiner Kammer schlief, nicht von dem Lärmen erwacht. Die Schlüssel steckten innerhalb der Thüren in ihren Schlössern und Marguerite war über der Treppe, ehe Anatole über das erste Hinderniß gekommen, das sie ihm in den Weg gelegt. Er mußte sich wohl besinnen, ehe er seine Sohlen, die ohne Socken in zierlichen Pantöffelchen staken, in dieser Dunkelheit auf einem Teppich laufen ließ, welcher mit Porcelanscherben und Glassplittern besäet war.
– Sie wird nicht ohne Hut und ohne Kleider, ohne Schuhe und ohne Strümpfe davonlaufen, sagte er verlegen lächelnd zu sich selbst; sie wird keinen Scandal machen und bald sich ruhig und reuig finden lassen, wenn sie nicht hinaus kann und die erste Wuth verbraust ist. O, die Weiber!
Er machte Licht und fing an, dem Bedienten zu klingeln, der lange genug auf sich warten ließ.
Derweilen klopfte Marguerite den Thürhüter aus dem Schlaf. Es war gar nichts Ungewöhnliches, daß eine Frauenstimme bei Tagesanbruch bat, den Riemen an der Pforte zu ziehen. Er sah drum auch nicht genau zu, drehte sich im Bett um, streckte die Hand aus und schlief schon wieder fest, da Marguerite das Schloß zuwarf.
Sie hatte sich nicht mehr Zeit genommen, als den Mantel regelrecht um die Schultern zu hängen.
Sie hatte auf der dunklen Treppe einen Fall gethan; ein stechender Schmerz durchdrang sie. Aber sie meinte ihn verwinden zu können. Sie war auf der freien Straße, sie war frei, und das die Hauptsache. Mit offenem Munde athmete sie die frische Morgenluft ein. Dann nahm sie den Mantel fest zusammen und fing an zu laufen.
55 Paris schläft um diese Zeit den festesten Schlaf. Leer und regungslos lagen die Gassen.
An den Straßenecken brannten die Laternen, mit deren Licht der schläfrige Octobertag, der seine ersten wolkenverschleierten Blicke über die Dächer gleiten ließ, noch keinen Streit zu wagen schien. Die Stadt sah aus wie eine Stadt aus Schatten.
Es war ein kaltes unheimliches Wetter. Der Wind strich herbe dahin, als ob er sich ärgerte, nichts unterwegs zu finden, als den Kehricht, welchen der letzte Lumpensammler verschmäht hatte. Der Regen trat dünn und leise auf wie ein vorsichtiger Bösewicht, der Einen langsam zur Verzweiflung bringen will.
Margarethe floh in der ersten Hast davon, sie wußte nicht, welchen Weg sie nahm; wußte sie doch nicht einmal, in welchem Quartier sie war. Die Angst jagte sie, und jagte sie wahllos aus der einen Straße in die andere.
Sie war nicht barfuß zu laufen gewohnt. Die zarten Füßchen, die auf dem nassen kalten Pflaster hindaneilten, zerquälte Schmerz und Frost, ein schneidiger, schleichender Frost, der bald den ganzen Körper durchrieselte, während die Stirne noch in Schweiß gebadet war. Aber bald war ihr Haar vom Regen naß und die Stirne kalt, und kalt der ganze Körper, der im armen Hemdchen unter dem Mantel zitterte. Sie fing an jämmerlich zu weinen.
Sie konnte nicht mehr weiter. Und wenn sie stehen blieb, fror sie's noch grimmiger.
Einen Augenblick kam ihr der Gedanke, wieder umzukehren.
Aber der Ekel schüttelte sie noch ärger als der Frost und gab ihr neue Kraft zum Laufen.
Nun fiels ihr auch ein, von den Straßenecken die Namen abzulesen, um zu wissen, wo denn im großen Paris sie wäre. Anfangs konnte sie sichs, trotzdem ihr die Namen bekannt waren, doch nicht vorstellen. Ein stechender Schmerz im Haupte wollte ihr alles zusammenhängende Denken verwehren.
Endlich merkte sie, daß sie wieder auf dem rechten Ufer sein müßte, nicht gar ferne von den großen Boulevards.
Es ging nicht mehr weiter. Die Füße, die nackt so ungeschickt waren und so oft fehl traten, versagten. Der Frost schüttelte sie wie im schlimmsten Fieber.
Sie kauerte sich in den Winkel eines Thorweges, zwischen Thüre und Eckstein, und wischte sich von den Wangen den Regen und die Thränen und trocknete die armen Füße und wickelte um sie die Zipfel ihres Mantels.
56 Sie hoffte, daß ein Fiaker des Weges kommen, welcher sie aufnehmen und nach Hause bringen würde.
Nach Hause! Dort war Anatole und die schändliche Kupplerin, die sie heute Nacht entkleidet hatte.
Sie biß sich in die Hände und ihr Weinen ward zum Wimmern.
Das unterbrach sie mit Gewalt, denn sie hörte einen Wagen in der Ferne rasseln, und nun noch einen und wieder einen. Sie athmete auf und sah nach beiden Enden der Gasse. Aber das Geräusch verlor sich wie es gekommen. Und kam wieder und verlor sich ebenso. Es ward immer heller. Es mußte bald lichter Tag werden.
Ein Fenster ging klirrend auf und schloß sich wieder. Und noch immer wollte kein Wagen kommen.
Am Ende dieses Tages las man in den Abendblättern unter der Rubrik faits divers die seltsame Geschichte, daß ein Mädchen, welches in der vorigen Nacht mit ihrem Liebhaber in Streit gerathen, und von diesem ohne Strümpfe und Schuhe in bloßem Hemd und Mantel auf die Straße geworfen worden wäre, sich gegen Morgen an einen Stadtsergeanten gewendet und denselben gebeten hätte, sie in ein Hospital schaffen zu lassen, da sie ohne Geld und Arbeit und sich schwer krank fühlte. Im Hospitale angekommen, wäre die Arme bald in ein delirirendes Fieber verfallen, und so keiner weiteren Aussage mehr fähig gewesen.