Hans Hopfen
Verdorben zu Paris
Hans Hopfen

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Zweiter Band.

IV.

Das war am Napoleonstage, vier Monate nach den Erlebnissen, welche der vorhergehende Abschnitt geschildert; am fünfzehnten August des Jahres Eintausend achthundert sechzig und drei, desselben Jahres, da wir daheim in Deutschland in der sogenannten freien Reichsstadt Frankfurt ein großes Scheibenschießen feierten, in demselben Monate, da in derselben Stadt Frankfurt ein todtgeborenes Reformproject zur Welt gebracht war, aus welcher Ursache die größere Mehrheit unserer Landsleute, die Bewohner obengenannten Gemeinwesens insbesondere, in außerordentlichen, unbegreiflichen, nicht enden wollenden Jubel verfielen.

Auch der Baron war von dieser mehr festlichen als feierlichen Stimmung angesteckt und schleppte schwer an trügerischen Hoffnungen; dagegen sein Freund Huber hier wie überall sich mit seinem Pessimismus deckte, der nur von heroischen Mitteln die Heilung deutscher Schäden für möglich hielt.

Diese Meinungsverschiedenheit setzte die beiden Freunde oft in dauernde Hitze zum größten Leidwesen Euphrasie's, welche zwar in der Zwischenzeit ihre vorgefaßten Meinungen von Deutschland und seinen Bewohnern aufs Gründlichste und Angenehmste hatte reformiren lassen, die aber nichtsdestoweniger für lange dauernde politische Dissertationen weder Neigung noch Verständniß besaß.

Zu allem Ueberflusse fingen die Herren, wenn sie sich auf solchem Felde erhitzten, in tyrannischer Rücksichtslosigkeit gegen ihre kleinen Ohren oder aus Rücksicht auf die langen Ohren anderer Gäste – sie fingen bald an, Deutsch zu sprechen.

Euphrasie hatte trotz der glücklichsten vier Monate ihres Lebens, welche sie eben verbracht, trotz der Hochachtung, welche sie vor dem Baron und 2 seinem gelehrten Freunde hegte, vor der deutschen Sprache noch größere Scheu, als vor der deutschen Politik. Aber sie kannte den Meister als unbeugsamen Tyrannen, an Einwendungen oder gar an Widerrede war nicht zu denken. Drum wenn beim Nachtisch solche Streitigkeiten auftauchten, empfahl sie sich schweigend, zog sich mit einer Handarbeit auf ihr schmales Kathederchen zurück und blickte nur zuweilen mit dem einen Auge über die hurtige Nadel weg nach den beiden Männern, die mit dem Kaffeelöffel in der Hand sich ihre entgegengesetzten Meinungen vordemonstrirten.

Heute gings ihr ganz besonders nah. Mehr als zehnmal schon hatte sie den Faden zerrissen, die Beiden kamen noch immer nicht zu Ende. Und sie selber war Schuld daran.

Sie hatten im Laufe des Vormittags großes Geschäft gehabt. Nun, da sich die Menge nach Schluß der Theater in der schönen Nachmittagssonne auf die großen Festplätze begab und das Lateinerviertel weniger besucht war, hatte der Herr des Hauses versprochen, sie auf die Esplanade vor den Invaliden und des Abends in die elyseischen Felder zu führen. Sie hatte sich so unbändig drob gefreut. Da bestand aber der Baron darauf, daß Doctor Huber mitginge, und nun wollte sich der Spielverderber nicht bereden lassen.

Es war zum Verzweifeln.

– Laßt mich von Euren Festen weg, rief er, ich bin ein griesgrämiger Patriot, und ich konnte schon in der Heimat an alledem kein Gefallen finden, was sie ihre Volksfeste nennen. Und dann erst hier!

Curt entgegnete:

– Bei all Ihrem Pessimismus müssen Sie doch zugeben: Volksfeste sind nothwendig; sie waren, seit Völker bestehen, ein mächtiges, prächtiges, weitreichendes Mittel, den einzelnen Stämmen die Zusammengehörigkeit zu einem großen untrennbaren Ganzen zu versinnlichen, und was kann es Erhabeneres, Ermuthigenderes geben, als wenn die colossale Menge, die von Nah und Fern aus allen Gauen zusammengeströmt ist, aufwogt in Freuden bei dem Gedanken des Vaterlandes? Ja, ein Volksfest ist ein schönes Ding!

– Ja wol, schrie der Doctor ärgerlich, aber das Napoleonsfest? – Nennen wir das Kind vom Anfang an beim rechten Namen: das Napoleonsfest ist kein Volksfest, sondern ein Pöbelfest, und ein Pöbelfest in des Wortes verwegenster Bedeutung. Seine Veranstaltung und Inscenirung ist ein Cardinalpunkt jenes Programms, das auch die alten, winkeligen, originellen Gassen von Paris durchbricht und neue, breite, in uniformem Kasernenstyl gemauerte Straßen an deren Stelle baut, und so die Hände und Häupter einer Menge beschäftigt und nährt, welche, wenn sie feierte und hungerte, auf unangenehme Ideen und gefährlichen Zeitvertreib verfallen könnte; desselben Programms, welches die Pflastersteine aus dem Boden jener Straßen entfernt 3 und den schweigenden Macadam darüber stampft, auf welchem das gröbste Fuhrwerk kein Geräusch macht und der kein Material abgibt für gelegentlichen Barricadenbau; desselben Systems, welches durch ein gemeingefälliges und gemeingefährliches Loskaufs-Geschäfts-Institut den Besitzenden der Bürgerpflicht des Militärdienstes entledigt und die ganze Wehrpflicht auf eben jenen letzten Stand legt, der dadurch abermals etwas mehr beschäftigt und versorgt und mit den Interessen der nunmehrigen Dynastie verknüpft wird, und zum Dank dafür die trefflichen, zuverlässigen Berufssoldaten und Prätorianer liefert, mit welchen man Geschichte aller Art und Civilisationen der sonderbarsten Gattung machen kann.

– Sei's darum, antwortete Curt, mir macht es dennoch Freude, mich unter Tausende von freudigen Menschen zu mischen. Um der Geladenen willen mag ich des Festgebers vergessen. Fröhliche Leute beobachten, macht selber fröhlich.

– Nicht eben Jeden, widerredete Huber, und was die Menschen betrifft, so habe ich auch meinen eigenen Geschmack. Die drei Hauptfiguren, welche in tausendfacher Vervielfältigung das Napoleonsfest bevölkern, sind der vergnügte Blousier, der gaffende Provinziale und der betrunkene Soldat.

Diese letztere Figur des betrunkenen Soldaten ist so recht eigentlich die Zierde dieses Festgewühls. Das Militär wird an jenem Tage im eigensten Sinne des Wortes auf Regiments-Unkosten getränkt. Und das wackelt und schreit und schwitzt und rempelt in der Masse des anderen Volks herum, daß es eine Art hat.

Da das Alles mit viel Güte, Einigkeit und Gegenseitigkeit abgeht, so wäre am Ende nichts so absonderlich Auffälliges daran, – aber unser Einer wird durch die angezechten Soldaten Gottes immer an den Tag der Wiedergeburt des französischen Kaiserthums erinnert. Man kann es hier, so oft man will, von den glaubwürdigsten Personen sich erzählen lassen, wie man an jenem famosen zweiten December die Truppen berauschte und dann die Berauschten auf die Straße schickte mit der Weisung, eben gerade dreinzuschießen. Wens traf, das war ja einerlei. Schrecken sollte verbreitet werden, und der Schrecken wirkt am raschesten, wenn die schädliche Kraft wie ein Naturunglück auftritt, das wahl- und gnadelos den Freund wie den Feind, den Müssiggänger wie den Streitgerüsteten schlägt.

Auf dem Kirchhofe des Montmartre sieht man einen runden Platz, in dessen Mitte ein schmuckloses Kreuz gepflanzt ist. Darunter ruhen und schlafen sie die armen Opfer jenes Schlachttags, und zu Füßen des Kreuzes liegt immer ein dichter Haufen von weißen und gelben und schwarzen Immortellenkränzen aufgeschichtet, welche in andersfarbigen eingeflochtenen Blümlein die Weiheschrift tragen. »A ma mère«, »à ma soeur«, »à ma fille«, »à ma grand'-mère« findet sich häufig neben und unter den Bezeichnungen 4 männlicher Todter. Es ist ein trübseliger bitterlicher Anblick, diese Schichte halbverwitterter Todtenkränze, aus denen hie und da ein neu aufgelegter grell hervorsticht. Traurig rauschen die Blätter in den hohen Kirchhofsbäumen, und von Heinrich Heine's Grab herüber, das nicht weit davon, kommen die Vögel geflogen und zwitschern um das steinerne Kreuz.

Sonderbar, wie sich die Zeiten so rasch ändern und die Leute! Der Neffe wird schwerlich ein deutsches Genie finden, welches über ihn selbst in eine ähnliche Extase gerathen möchte, wie Heinrich Heine schon über des Onkels Lieblingsgaul zu gerathen sich nicht entbrechen konnte. Und doch, was sind die Schrecken und die Opfer des zweiten December, was alles Leid und Unrecht, das hinterdrein kam, gegen das völkermörderische Erdenwallen jenes corsischen Dämons!

Dafür steht zu hoffen, daß einst in der Fülle der Zeiten, wenn Louis Napoleon gestorben, begraben und mit Denkmälern und Säulen geehrt sein wird, auch zu Füßen seiner Standbilder ähnliche Immortellenkränze liegen und schweben werden, wie sie unter dem steinernen Kreuze seiner Staatsstreichopfer gehäuft sind und wie man sie auch um den Unterbau und das Geländer der Vendômesäule gesteckt und gehängt. Haben Sie diese schon einmal des Genaueren betrachtet?

Es gibt keine seltsameren Geschöpfe als die Menschen sind. Eines dieser seltsamen Geschöpfe hat in den größten, höchst angebrachten der Immortellenkränze der Vendômesäule eine schwarze Tafel einfügen lassen, auf der mit weithin sichtbaren Lettern folgende merkwürdigste aller Inschriften zu lesen steht:

»A te essere il più maraviglioso della creazione il cielo conceda quella pace che ti negò la malvagità degli uomini.«

Merken Sie sichs, lieber Herr Baron, da Sie das noch nicht gewußt haben werden: man hat ihn nicht in Ruhe gelassen auf Erden, den armen Friedliebenden, die Ruchlosigkeit der Menschen hat ihn nicht in Frieden gelassen.

Curt sagte:

– Es scheint, Sie wollen uns Ihre Weigerung nur empfindlicher fühlen machen; wer sieht und hört wie Sie, ist in Paris ein gar schätzenswerther Cicerone.

– Sie sind doch selber lange genug am Ort, lachte der Doctor.

Und Jener entgegnete:

– Wenn nicht um meinetwillen, so thuen Sie's dieser armen Waise zuliebe, die sonst gar nichts von dem Feste zu sehen bekommt.

Da diese Worte französisch gesprochen waren, so nahm sie Euphrasie als ein Zeichen, daß sie nun selber interveniren dürfte. Sie sprang von ihrem Sitz herab und hätschelte und schwatzte um den Doctor herum, daß dieser endlich nachgab, um sich der Katze zu erwehren. 5

– Wir wollen uns vergleichen, rief er, die intimeren Herrlichkeiten des Festes gehören Euch allein, aber ich gebe Euch das Geleite bis an die Schwelle, bis in den Vorhof sozusagen, ich meine, bis auf die Place de la Concorde. Dort wollen wir, wie es immer meine Gewohnheit ist, ein kleines Weilchen in andächtiger Stille auf dem schönen Platze stehen bleiben, auf welchem vor Jahren die Schreckensherrschaft ihre Civilisations-Maschine aufgepflanzt hatte. An derselben Stelle hat man nach langwierigen Berathungen, ob hier ein Brunnen, eine Reiterstatue, ein Tempel oder sonst ein sühnendes Bild zu stehen habe, ein ganz gleichgiltiges Monument hingesetzt, das Geschenk eines orientalischen Autokraten! An dem furchtbarsten Fleckchen Erde, welches die neueste Geschichte mit ewigen Schauern dem Gedenken der Menschen geweiht, ragt der Obelisk von Luxor nichtssagend oder doch eine fremde unverständliche Sprache redend, gen Himmel, dem Zahnstocher eines Mammuth vergleichbar.

Dorthin wollen wir unsere Wallfahrt unternehmen. Haben wir dort unser gemeinschaftliches Gebet verrichtet, so geben wir uns die Hände und scheiden. Ihr schwimmt mit dem Strom der Menge lustig weiter, ich gehe meiner Wege allein dahin, wo Scharteken und Folianten schon allzulang des Säumigen harren. Seid Ihrs zufrieden?

Sie warens alle Drei.

Euphrasie hüpfte und sang, denn nun erst glaubte sie, daß sie wirklich etwas von dem Feste sehen werde. –

Fragt aber der Leser, was denn so Großes an dem Feste zu sehen wäre, so antworte ich in Kürze:

Das Napoleonsfest besteht aus folgenden Hauptstücken: aus der großen Revue über Linie und Nationalgarde am Vortage; dann am fünfzehnten August selbst aus zweimaliger Kanonade vor dem Invalidendome, den üblichen kirchlichen Feierlichkeiten, dem tricoloren Häuserschmuck, dem Getriebe der aus allen Landestheilen herbeigeströmten Provinzialen und des eingeborenen Pariser Volkes, aus den unentgeltlichen, um Ein Uhr Mittags beginnenden Vorstellungen sämmtlicher Theater, dem Festgewimmel zwischen den Esplanaden der Invaliden und auf der Place du Trône, wo des Tags über in einer Menge Schaubuden Seiltänzer, Akrobaten, wilde Thiere, polnische Martyrerscenen und ähnlicher Marktbuden-Spectakel zu genießen ist, auf je zwei im Freien errichteten Theatergerüsten militärische Pantomimen aufgeführt werden und allüberall des Weitläufigeren gegessen, getrunken und gespielt wird; endlich beleuchtet man des Abends den Tuileriengarten, die Place de la Concorde, die elysäischen Felder und die öffentlichen Gebäude, die Thürme und die Kirchen und brennt auf dem Pont de Jena und auf dem Thronplatz große Feuerwerke ab.

Almosen und Ordensverleihungen sollen an dieser Stelle auch noch erwähnt sein.

6 Die große Revue unterblieb in diesem Jahre.

Man hatte in Erfahrung gebracht, daß ein Theil der Nationalgarde eine so leicht verständliche als schwer zu übersehende Demonstration zu Gunsten eines polnischen Krieges vor dem Kaiser an den Mann zu bringen beabsichtigte.

Da aus mancherlei Gründen eine solche Demonstration höchstenorts nicht gewünscht werden konnte, so ließ man gegen diese Agitation agitiren, und nachdem eine Weile hin und her agitirt worden, war die große Hitze so gefällig, einen plausiblen Grund abzugeben, mit der Revue die ganze Gelegenheit zu beseitigen.

Umso stattlicher und reichhaltiger wurden die anderen Festlichkeiten in Scene gesetzt.

Die Einrichtung, an einem nationalen Festtage sämmtliche Theater unentgeltlich zu öffnen, ist eine sehr beachtenswerthe, und eine geschickte Leitung könnte auf diese Weise große Wirkungen erzielen, wenns verlangt würde. Diesmal wurde indessen kein sonderlicher Unfug getrieben, und, etliche Siegeshymnen und Festcantaten abgerechnet, spielte man in allen Häusern am gewöhnlichen Wochen-Repertoire weiter, nicht besser, nicht schlechter als an anderen Tagen; nur die Stunde war ungewöhnlich und die Toilette des Publicums, welches meist in Hemdärmeln prunkte.

Für den deutschen Leser dürfte an diesem Tage die Esplanade vor den Invaliden wol den interessantesten Schauplatz bieten.

Wir drängen uns an den Schmalz- und Spiel- und Weinbuden vorbei; wir wollen uns nicht vor den Seiltänzern und Baumkletterern zu lang verhalten. Riesen und Zwerge, Seeschlangen und Magenkrebse verlocken unsere Neugierde nicht sehr; selbst die in einer Gauklerbude von vielversprechenden Menschen beiderlei Geschlechts in zerrissenen Tricots marktschreierisch angekündigten »Martyrs de la Pologne« können uns nicht zu eingehender Besichtigung veranlassen, denn das Alles kann man wol bei anderer Gelegenheit und anderswo sehen.

Was uns mächtig anzieht, das sind die zu beiden Seiten vor dem Invalidenhotel hochaufgepflockten Theaterkasten, wo vor Tausenden und Tausenden dichtgedrängter, im Schweiße ihres Angesichts gaffender Zuschauer »militärische Schauspiele« aller Art aufgeführt werden vom Morgen bis in die sinkende Nacht.

Diese Schauspiele haben die modernste Geschichte, die jüngsten Kriegsthaten des »süßen Frankreichs« zum Gegenstand, und was ein gefühlstüchtiger Franzose ist, der meint dabei in Begeisterung und Ruhmesbedürfniß seine Herrscherdreieinigkeit: Karl den Großen, Ludwig den Heiligen und Napoleon den Ersten auf den Wolken sitzen zu sehen, wie sie aus ihrer Himmelsloge zufrieden auf ihr Volk herabblicken, das sich in seinen jüngsten Thaten hier bespiegelt.

7 Dem Schreiber wie dem Leser fehlt der nöthige Enthusiasmus. Wir sehen Niemanden hinter den Wolken als die Sonne, welche Verstecken spielt und die dichtgeschaarte Menge dennoch weidlich schwitzen macht. Aber die Menge ist nichtsdestoweniger aufmerksam und zufrieden und merkt nicht, wie hier das civilisationstragende Frankreich seiner selbst spottet und weiß nicht wie.

Vor einem immerhin sehr verehrten Publicum, welches zu Tausenden unter freiem Himmel steht, hat das Wort natürlich seine dramatische Bedeutung verloren; man spielt Pantomime und unterstützt deren Wirkungen mit möglichst viel Kleingewehrfeuer und türkischer Musik.

Auch die eine und andere traditionelle Maske der Pantomime ist mehr oder weniger verändert zu finden, vor Allem Pierrot, der neben der »großen Nation« im Allgemeinen der specielle Held in Rede stehender Dramen. In dem einen Stück ist er ein Unterofficier bei der Expeditions-Armee des humanen General Forey, welcher – ich meine den Pierrot – trotz seiner Albernheiten und Begriffsverwirrungen den Mexicanern viel Schaden anrichtet. In dem anderen Stücke, vor welchem wir uns just befinden, ist er ein civilisationsbedürftiger Chinese.

Soeben hat sich vor der Erstürmung Pueblas auf der Bühne linker Hand der Vorhang gesenkt; die Menge drängt wie ein Strom, der seine Ufer verläßt, unwiderstehlich auf das andere Feld der Esplanade, und schon erhebt sich der Vorhang der Bühne rechts, erhebt sich vor einem stillen Thale unweit des Blauen Flusses. Ein spitzgezacktes Häuslein lehnt an der einen Coulisse, und vor diesem Häuslein machen Pierrot und sein Vater und seine Schwester verschiedene Dummheiten und Faxen.

Trotz ihrer Lächerlichkeiten sind diese Leutchen doch der Civilisation würdiger, als die verstockte Mehrzahl ihrer Landesgenossen, und wie alle ehrenwerthen Sterblichen, welche vor einem Confiscationsdecret mehr Angst als nach dessen Widerrufung Zutrauen besitzen, sein sollten, sind sie Vaterlandsverräther aus Neigung und Beruf.

Unter Anderem verbergen sie französische Krieger, überliefern Festungen, betrügen und, wenns nicht zu gefährlich wird, bekämpfen ihre Landsleute u. dgl. mehr.

Es dauert ziemlich lange, bis der Flüchtling versteckt und aufgefunden, die Hehler in Todesgefahr gebracht und wieder erlöst, die Landesvertheidiger zu wiederholtenmalen geschlagen und ihre Festungen genommen sind. Dann rüstet man Siegesfeste und Paraden, führt Aufzüge und Musikbanden über die Scene, und voran dem siegreichen Heere, von den Zuschauern mit Acclamation begrüßt, marschirt la vivandière des Zouaves kecken Erobererschrittes.

Nun empfängt das Verdienst seine Kronen und der Repräsentant des unterjochten Chinesenstammes, Pierrot, die drei Hauptstücke der Civilisation: 8 die Marketenderin der Zuaven tanzt ihm den Tanz der Civilisation, den Beine verschleudernden Cancan; ein Unterofficier gibt ihm den Rock der Civilisation, eine Voltigeurs-Uniform; ein Anderer gibt ihm den Tabak der Civilisation (mit welchem anderen sollte er einen Chinesen überraschen?) den Regietabak.

Der arme Pierrot verliert alle Freude an der Völkerbeglückungswirthschaft; der neue Tabak verzieht ihm das Maul und ängstlich hält er sich in seiner grotesken Weise die Rocktaschen zu; in der engen Uniform, die nicht nach seinem Leibe geschnitten, quälen ihn alle Recrutenleiden, und nach den französischen Commandoworten faßt er Alles verkehrt an; der Cancan endlich stellt seine bisherige Anschauungsweise von Vergnügen und Grazie auf den Kopf; er versucht nachzuahmen, er will den völkerbeglückenden Civilisationstanz auch tanzen; aber er fällt ein- ums anderemal zur Erde, und endlich bleibt er liegen und man sieht es seinen kläglichen Mienen und Geberden wol an, wie er unter dem Hohngelächter der Eindringlinge die ganze neue Wirthschaft zum Teufel wünscht.

Wenn es einem Unternehmer einfallen sollte, auf einem deutschen Volkstheater, oder in einer unserer Marktbuden nur, dieselbe Pantomime unverändert aufzuführen, die nächstgelegene französische Gesandtschaft würde sich wol das baldige Verbot einer so wirksamen Travestie des kaiserlich französischen Civilisations-Unternehmens zu erbitten wissen.

Den herrlichsten Eindruck fürs Auge gewähren jedenfalls die Illuminationen, welche mit einbrechender Dunkelheit in ganz Paris aufleuchten; am schönsten auf dem Stadthause, auf der Place de la Concorde und den diesen zunächst liegenden Champs Elysées.

Doch davon später. –

Unsere Freunde nahmen den Weg vom Lateinerviertel herüber durch das Faubourg St. Germain.

Das stille Legitimisten-Quartier war noch stiller als gewöhnlich.

Nur selten, daß sich ein Menschenkind über die Straße wagte, und dann war es ein Lakai in dunkelfarbiger Livree oder ein Pferdeknecht in der Stalljacke.

Die Wohnungen dieser oft menschenleeren Straßen gehen, wie die Anschauungen ihrer Besitzer, nach rückwärts hinaus; aber ihr Horizont ist auch da vermauert und beschränkt, wenn auch voll Blüthen und Hoffnungsgrün. Für sie gibt es kein Napoleonsfest und mit dem Obelisk von Luxor glauben sie auch die Terreur für immerdar aus der Welt Gedächtniß verbannt. Bei der heimlichen, aber mannichfach zu Tage tretenden Cavaliersverehrung, welche den Franzosen im Blute steckt, ist die Rolle dieses so schweigsam scheinenden Faubourg vielleicht noch lange nicht ausgespielt. Vielleicht erzeugt es in seiner intimen Verbindung mit der clericalen Partei noch einen Wechselbalg, der auch seine Ansprüche an die Welt und das Leben machen mag.

9 Es wäre voreilig, sich über solcherlei Conjectur zu unterhalten; nur einen guten Einfluß des Faubourg St. Germain will ich erwähnen, seinen Einfluß auf die französische Gesellschaft, deren Prototyp der »Unterofficier wie er sein soll und muß« geworden ist.

Der Unterofficier ist das Ideal des imperialen Volkes, und weder die Bürger, noch die Geldmänner, noch viel weniger die Pflastertreter des Boulevards und die Damen hinter Notredame de Lorette, auch nicht der »Löwe vom Quartier Latin« würden diese martialische Verbauerung aushalten; aber jene unausgesprochene Hochachtung, welche die adelsgierige nachäffende Eitelkeit vor dem Faubourg St. Germain trotz aller alle Vorurtheile blamirenden Redensarten hegt, wird ab und zu ihr wirksames Gebot vor dem um sich greifenden Unterofficier stellen: Bis hieher und nicht weiter! –

Als Euphrasie mit ihren beiden Begleitern nun endlich die Regionen des Festes und der Freude erreicht hatte, fanden sie sich bald in so drängendem Gewühle, daß alle Mühe und Achtsamkeit der drei Personen nöthig war, um nicht von einander getrennt zu werden. Es war nicht möglich, über den Pont de la Concorde zu gelangen, so heftig strömte ihnen das Volk entgegen.

Das hatte seinen eigenen Grund, einen Grund, der aus dem Hutschwenken der Menge und dem immer wiederholten Rufe: »Vive l'empereur!« leicht erkannt wurde.

Sie sahen empor und stellten sich auf die Zehen.

Mitten im festlichen Volksgewoge, durch welches ein Detachement voranschreitender Gendarmen den Weg säuberte und sichtete, kam er im offenen Wagen daher, der Verfasser der großen Schauspiele: »China«, »Mexico«, »Krim«, »Italien« und anderer Werke von geschichtlicher und geschützkundiger Bedeutung, er, der den »Neffen als Onkel« für die moderne Bühne bearbeitet und sich so viele Mühe gibt, den Julius Cäsar ins Französische zu übersetzen.

Der Kaiser war in Civilkleidern; ihm zur Seite saß, feierlich den Grüßen des Volkes dankend, die Kaiserin Eugenie, ein schönes Weib, dem man ansieht, daß es doch noch schöner gewesen sein muß.

Die Bildnisse, welche man bei uns von Napoleon III. kennt, sind meist recht ähnlich; selbst die Conterfeie des Kladderadatsch sind in ihrer Art sehr glücklich. Aber was jedem ernsten wirklichen Porträtmaler, mag er auch ein großer Künstler sein, wiederzugeben schwer fallen wird, das ist der merkwürdig tiefsinnige Ausdruck, der über diese gallertartigen Züge ausgegossen ist. Unter den weichlich anschwellenden Brauen, welche, ein Familienzug, den Gesichtern des Onkels wie des Neffen den bekannten wollüstig grausamen Charakter geben, blickt eine eigenthümliche Mischung von Strenge und Schmerz, mit mattglänzenden Augen dankend, fragwürdig vornehm auf die vor seinen Trabanten ausweichende Menge.

10 Des Kaisers Gesicht ist aschenfahl, ein kaum merkliches Bewegen geht nur selten darüber hin; er sieht aus wie ein »unglückseliger Atlas«, der eine Welt auf seinen Schultern trägt, eine Welt, die ihn zum größten Theil nichts anging, und die er nun doch tragen muß, weil er sie sich aufgesackt, tragen muß mit ruheloser, erfinderischer Anstrengung und Sorge, denn beim geringsten Versehen rollt sie zerschmetternd auf sein Haupt und auf die Häupter all der Seinen. –

Die Dreie gingen lange neben dem Wagen her, denn Euphrasie hatte weder den Kaiser, noch die Kaiserin jemals von Angesicht zu Angesicht gesehen, und das war ein Schauspiel, welches Einem in dieser Zeit nur äußerst selten zu Theil wurde.

Auf einmal merkte der Baron, daß sein Freund heimtückischerweise im Gewühl entwischt war; er hob Euphrasie in einen Wagen und fuhr mit der Glücklichen, Schauenden, Staunenden ein paar Stunden lang in der geschmückten, erleuchteten, von zahllosen Massen durchwogten Stadt umher.

Als der Wagen wieder hielt, war es ganz Nacht geworden. Sie stiegen aus, um die elysäischen Felder zu Fuß zu durchwandeln.

Die Illumination hatte hier ihr Bestes gethan und mit verschwenderischem Luxus die genannten Gefilde in einen Wald von Lampen tragenden Bäumen und Gerüsten verwandelt, der durch die Vermehrung von Licht und Schatten ein zauberisches, die Augen täuschendes Ansehen erhielt. Die schon ohnehin nicht sparsam aufgestellten Gascandelaber waren um das Doppelte vermehrt, statt der einfachen Laterne trug jeder ein ganzes Bouquet von Lichtern und jeder dieser Candelaber war außerdem mit dem zunächststehenden durch eine bogenförmige Röhre verbunden, an der eine milchweiße Lampe neben der anderen aufgesteckt war, so daß sie wie große leuchtende Perlenschnüre durch die Nacht glänzten.

Zu beiden Seiten des also erhellten Weges sah man, so weit das Auge reichte, die Bäume mit Leuchtballons von allen Farben und Formen behängt, die wie colossale Früchte anzuschauen waren und in ihrem milderen Lichte zu der schärferen Gasbeleuchtung im Vordergrunde wirksamsten Contrast bildeten.

Schweigend, staunend, glückselig schlich die junge Frau am Arme ihres Herrn in diesem feenhaften Haine dahin.

Er hatte sie noch niemals also unter versammeltes Volk geführt, und nicht ohne stolze Befriedigung sah sie herab auf die Vorübergehenden zu ihrer Seite und hinauf zu den Leuten, die drüben in der Allee in Wagen fuhren, welche schrittweise einer dicht hinter dem anderen hinschlichen, wenn nicht der ganze Zug stockte oder stillhielt.

Curt selber schien weniger Antheil am Festjubel zu nehmen.

Das lärmende Gewühl ringsum vereinsamte ihn in seinem Denken und die in Freuden Stummgewordene an seiner Seite störte ihn nicht. Er dachte 11 dran, wie und mit wem er zum erstenmale unter eben diesen Bäumen gewandelt.

Damals war er noch ein rentenverzehrender Aristokrat, der in den Tag hineinlebend an vorsehende Sterne glaubte.

Im Gegensatz zu diesem Bilde kam er sich heute sehr kleinbürgerlich herabgekommen vor.

Die Stunden, die er dem beschäftigungslosen Gaffen und Flaniren heute zugestehen durfte, Stunden, deren sonst jedweder Tag seine vollen vierundzwanzig geboten, sie waren nur an diesem Abend zu entschuldigen, wo sie wie jene, welche den Tag des Schaltjahrs geben, vom Rande seiner Werkelzeit abfielen.

Zuweilen griff er nach der Uhr, berechnend, wie viel Zeit nach Abzug der Heimfahrt noch zum sorglosen Schlendern übrig wäre. Denn zu Nacht mußte man auf Gäste, auf viele, wenn auch nicht festsitzende Gäste gefaßt, also selber auf dem Platze sein.

Er hätte sich überhaupt nicht vom Hause entfernt, wärs nicht geboten gewesen, dem fleißigen verlässigen Ding, welches ihm jeden Wunsch an den Augen absah und musterhaft in der Wirthschaft schaltete, eine seltene Freude zu gewähren. Dies Kind füllte sein Leben nicht aus, es nahm nicht einen besonderen Platz in seinem Herzen ein; er fühlte für dasselbe nicht mehr, als die beruhigende Zufriedenheit des guten Hausvaters gegenüber der tadellosen Sorgfalt einer Dienerin und die menschliche Regung des Blutes im gutmüthigen Verkehr mit einer manchmal ausgelassenen, niemals zügellosen Lustigkeit.

Euphrasie war selig, Curt war zufrieden, denn wol verglich er sein heutig Selbst mit dem vor Jahresfrist, nicht aber das Weibchen von heute mit dem Mädchen von dazumal.

Marguerite war aus seinem Herzen getreten wie aus seinem Gesichtskreise. Die glühende Neigung langer Jahre, sie hatte sie mit auf ihre Flucht genommen.

Es war ein harter Schlag für den ehrlichen Curt gewesen, aber auch nur Ein Schlag. Sie hatte ihn betrügen können, langsam, lauernd, systematisch betrügen können – also gut, daß das noch beizeiten gekommen und sie davongegangen.

Und sein Trost war:

– Es ist nun einmal so und nicht anders, nicht also wie Du Thor überlang Dir eingeschwatzt, und darum Herz sei still!

Curt war ein Mann und hatte verwunden. Er hatte sich damals sagen müssen, daß er mehr werth war als Jene, er durfte sich heute sagen, daß er selber mehr werth war als damals. Und es war doch nichts vom Pharisäer in dieser aufrechten Seele.

12 Er hatte eine richtige Ahnung davon, daß es der Segen der Arbeit, die Befriedigung tagtäglicher Pflichterfüllung war, die ihm das Leben wohnlicher scheinen ließ als in den Tagen sorglosen Schlemmens. Und was er that und trieb war nicht viel und nicht schwer.

Er war ein simpler Wirth in einem lustigen Winkel von Paris, ein sorgsamer Wirth, den seine Gäste lobten und bezahlten, ein geplagter Mann, der mit Sorgen in der Früh aufstand, aber beruhigt im Gemüth zu Bette ging.

Paris gilt so allgemein in der Welt für die Stadt der Nichtsthuer und der höheren Vaganten. Und so sehr mit Unrecht, denn sie ist vor Allem eine Stadt der Arbeit, der Arbeitskraft und der Arbeitslust.

Warum anders wohnten so viele Deutsche dort? Wer nicht arbeiten kann oder mag und es dort nicht lernt, der wird auf die Dauer in Paris sich nicht behaglich finden können – er hätte denn glücklicher- oder unglücklicherweise über ein so großes Vermögen zu verfügen, daß selbes durchzubringen schon an sich eine Arbeit wäre.

Sagen wir auch das noch. Curt hatte Verstand und Erfahrung und gefiel sich in der Ueberzeugung, daß er zu keinem Berufe besser getaugt hätte, als zu demselben, dessen er nun mit langsam wachsenden Erfolgen wartete. Seine Philosophie sagte ihm, daß es wol nicht einerlei wäre, was ein Mensch triebe, daß es aber zunächst darauf ankäme, wie Einer Sachen triebe. – Vor Allem aber predigte sie laut und unwidersprechlich, daß einzig in der Congruenz von Pflicht und Neigung und Vermögen das von Allen verlangte, von Vielen gesuchte, von Wenigen Gefundene liege, was die Menschen – das Glück nennen.

Er ließ es jederzeit gelten, daß man stolzere Pflichten haben und zu erhabenerem Geschick geboren werden könnte, als nun sein Leben erfüllten, aber zum gleichen Geständniß hielt er unter Tausend wenigstens Neunhundert neunundneunzig verpflichtet.

Nicht Alles, was den Menschen als stolz und erhaben galt, galt es auch ihm.

Und was nachbarlich um sein Leben kam und ging, mochte ihn nur selten veranlassen, das harte Haupt zu senken.

Freilich war er der Erste und bisher auch Einzige seines alten, ahnenreichen, weitverzweigten Geschlechts, welcher in einer fremden Vorstadt also philiströse Hantirung trieb, und – die Wahrheit gestanden – er sah zuweilen, wenn in sorgenschweren Träumen der Alp seine Brust bedrückte, durch mehr denn achtzehnmal achtzehn zinnerne und andere Särge die turnierfähigen Gerippe derer von K . . . . . . .'s sich nicht ohne Mühsal umkehren.

13 Wenn aber der Tag Traum und Alp und Gesicht verscheuchte und die lichte Pariser Sonne ihm den Morgengruß durch die Vorhänge schickte, dann lachte er wol und besann sich, daß genau besehen sein unnahbarer Oheim in seiner Charge am noch immer nicht mediatisirten Hofe von Dingsda ganz dasselbe Geschäft verrichtete, wenn er vor seinem Serenissimo die Schüsseln auftafeln ließ.

Freilich, es macht einen Unterschied – wen man bedient. Aber Curt tröstete sich auch darin, wenn die übermüthige Schaar seiner Studenten von der medicinischen Schule herüber in seine Säle stürmte. Wie manches blitzende Auge, wie manche schöngewölbte Stirne fiel dem Beobachter auf, der vor den lachenden oder sinnenden Burschen Platten und Becher aufmarschiren ließ. Dort saß vielleicht ein bald berühmter Helfer der Menschheit, ein großer Dichter, ein Held zukünftiger Schlachten? Und Onkel Serenissimus war kein Helfer und kein Held, er hatte keinerlei Genie, nicht einmal Hunger und Fröhlichkeit, Eigenschaften, mit welchen des Neffen Gäste sämmtlich so reich gesegnet waren.

Es hätte doch wol anders kommen können, wenn . . . und wenn . . . und wenn!

Ei ja doch! Aber da wir nicht leben konnten, wie wir wollten, so laßt uns trutzig erst recht darauf los leben, wie wir müssen.

Also dachte er, wenn er die krausen, unruhigen Häupter übersah, welche die gute Laune und der junge Ruf seiner Wirthschaft an den blanken Tischen in und vor dem Hause zusammengeführt und durch Gesang und Lärm und Lachen aller Art trällerte der brave Mann sein neuestes Lieblingslied unter den blauen Himmel:

Il était un roi d'Yvetôt
Peu connu dans l'histoire...
. . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . .
Et couronné par Jeanneton
D'un simple bonnet de coton.

Auch in einer einfachen blanken Zipfelmütze von Kattun kann Poesie liegen. Es gibt eine gewisse kleine Poesie des Lebens; die Reinlichkeit ist ihre Grammatik und Syntax, der Geschmack ihre Metrik und Prosodie, ihre Stimmung Wohlbehagen.

Ein Weib, das also dichten kann, darf viele Fehler haben, ihr würden um dieser Einen Tugend viel andere zugeschrieben werden.

Kommt dazu noch eine unterwürfige Dankbarkeit, wie sie in Euphrasien lebte, und trifft dann solch ein Wesen auf einen ausgedienten, abgehetzten Junggesellen, wie Curt einer war, na, so brauchen ihn die bösen Menschen deßhalb noch nicht zu beneiden, aber die guten dürfen ihm – verzeihen. 14

– Madame, sagte der Baron zu seiner Begleiterin, es wird spät; wir müssen an mögliche Gäste denken. Auf die Jungens allein ist kein Verlaß.

– Wenn wir nur rasch einen Wagen bekommen! entgegnete Jene mit ebenso plötzlicher als ungeheuchelter Besorgniß.

Sie wendete sich und reckte den Hals und spähte nach einem leeren Fiaker.

Und als Curt sie vertröstete, bis sie nur erst wieder aus dem überfüllten Haine wären, ging sie rascher als er. Fast that es noth, daß er sie verhielt.

Auf einmal blieb er wie angewurzelt stehen.

Sie zog ihn am Arm, sie wiederholte, sie verstärkte seine eigenen Mahnungen.

Curt schien taub und gefühllos; alle seine Sinne schienen in die Augen geflüchtet, die stier und staunend auf einem offenen Wagen hafteten, welcher langsam ein lichtübergossenes, reich gekleidetes, fürnehm blickendes Menschenpaar vorüberzog.

Vom Manne war wenig zu sehen, als das blasse, ruhig lächelnde Gesicht. Eine Wolke von weißem Tüll und seidenen Bändern, die wachsend aus dem Wagen zu quellen schienen, deckte ihn zu. Auf dem Tüllgewoge schwankten zwei lebende Blumensträußchen auf und ab und weiter zurück ein weniger lebendiges Mädchenangesicht, lässig in ein weiches Wagenwinkelchen gedrückt, im Nacken leise geschaukelt, unbeweglich in den Zügen, die Augen nach den mattleuchtenden Kugeln in die Höhe hebend, die wie gleißende Hesperidenäpfel von allen Zweigen hingen.

– Ach, der wunderbare Strohhut! lispelte Euphrasie, welche gehorsam wie immer mit ihren Blicken denen des Meisters zu folgen getrachtet hatte.

Curt schwieg und wendete sich, da der Wagen vorübergefahren war, und verfolgte nun seinen früheren Weg, wie wenn ihm nichts Bemerkenswerthes begegnet wäre.

Die Französin ward durch sein Schweigen in unbehaglichere Stimmung versetzt.

– Kennen Sie den Herrn im eleganten Wagen? fragte sie schmeichelnd. Ich, ich erkannte ihn sogleich.

– So?

– O, wer kennt ihn nicht? Das ist der hübsche Corse, der Hauptmann bei den Zuaven war. Er trieb sich zuweilen im Quartier herum, da habe ich ihn gesehen und habe ihn im Gedächtniß behalten, weil man Wunderdinge von ihm erzählte, d. h. von seinem Reichthum. Er war nämlich dabei, als unsere Truppen den Sommerpalast des chinesischen Kaisers plünderten. Der Palast soll selber so groß sein, wie eine respectable Stadt, 15 Villen und Gärten, Straßen und Seen einschließen und mehr Schätze darin, als europäische Menschen je beisammen gesehen haben. Man sagte sogar, daß er eine ganz kleine liebenswürdige Chinesin herübergebracht hätte; die soll so winzige Füße haben, daß sie damit nicht gehen, und so langgeschlitzte Augen, daß sie sich über den ganzen Rücken sehen kann. Das muß sehr practisch sein, besonders beim Toilettemachen. Und man sagt, die chinesischen Damen machten sehr viel Toilette. Opium soll sie auch rauchen – leidenschaftlich, ja – vielleicht ist sie daran gestorben. Denn ich hörte neulich sagen, daß der saubere Herr auch andere Fräuleins entführte, die eben keine Chinesinnen wären.

– Wer hat das gesagt? unterbrach sie Curt.

– Ich glaube, es war Monsieur Sève, lautete die Antwort, aber ich weiß es nicht mehr gewiß, es kann auch ein Anderer gewesen sein; auch war die Erzählung nicht sehr genau und kam aus dritter und vierter Hand. Die eine Hand überlieferte, daß die Entführte das einzige Kind eines steinreichen Banquiers wäre, die andere Hand nahm all das weg und versicherte, daß es ganz einfach nicht mehr und nicht weniger als die Tochter eines Straßburger Pastetenbäckers gewesen, die nach Paris gekommen wäre, um Sauerkraut zu verkaufen, bei welcher Gelegenheit sich der corsische Eroberer unsterblich in sie verliebt hätte.

Monsieur Sève schwatzte noch gar viel, wie daß die Beiden lange Zeit in allen See- und Flußbädern herumkutschirt wären. Nach Paris sind sie erst vor kürzester Zeit zurückgekehrt und schon weiß man neue Wunderdinge zu berichten, insbesondere von ihrer Wohnung. Das Herrchen soll sich ein kleines Haus in den elysäischen Feldern gemiethet und dieses von oben bis unten mit chinesischen Beutestücken verziert haben. Statt der Sessel und Canapees Polster und Matten, Papier an den Wänden, auf dem Fußboden Porcelan und dazu ein Haufen von drolligen Sachen, Glöckchen und Papageien, Theekessel und Opiumpfeifen, Larifari und was weiß ich. Gewiß ist es sehr merkwürdig, wenns überhaupt gewiß ist. Monsieur Sève lügt ja so erstaunlich gern und lügt mit besonderer Anstrengung, wenn er merkt, daß ich nichts von ihm hören will. Und das laß ich ihm stets bald genug merken. Es ist nothwendig –

Also schwatzte die Kleine weiter.

Der Wagen, in dem sie saßen, fuhr schnell dahin und bald waren sie wieder in ihrem Quartier und bald thronte Euphrasie wieder auf dem schmalen Kathederchen inmitten zechender, rauchender, plaudernder Gäste, und Curt ging von einem Tisch zum andern, befahl den Kellner, sah überall zu und legte selbst rasche Hand an, wo's nöthig war.

Später als sonst verliefen sich die Gäste.

Den Wenigen, die nicht vom Flecke kommen konnten oder wollten – Monsieur Sève gehörte gewohnheitsgemäß zu diesen – deutete Curt in 16 verständlicher Weise an, daß hier in seinem Hause nicht länger ihres Bleibens wäre.

Nachdem die Sperrstangen vor die Bude geschlossen und alle Lichter gelöscht waren, stieg er auf seine Schlafkammer, kleidete sich rasch um, knöpfte sich, obwol es eine warme Nacht war, den Rock bis an den Hals zu und steckte in die Brusttasche einen kleinen vierläufigen Revolver – er wußte selber nicht warum.

Er dachte vielleicht auf alle Fälle.

Er dachte aber gar nichts, denn als er auf die Straße kam, faßte er sich selbst beim Kopf und fragte sich, ob er denn plötzlich verrückt geworden sei.

Er fragte sich nicht, was er thun, was er unternehmen, versuchen wollte, er überlegte nicht, er raste.

Je länger, je fester und herrischer er den Eindruck, welchen das unerwartete Wiedersehen Marguerite's aus ihn gemacht, bewältigt und verborgen hatte, desto unbändiger schlug nun die Leidenschaft in ihm durch, da er allein auf der öden Straße stand.

Es war ihm, als hätten alle die alten Gedanken und Gefühle auf einmal die Gräber seines Herzens gesprengt und stürmten nun zu Kopf. Ihn schwindelte.

Er hielt sich an der Geländerstange des Trottoirs fest, welches hier gegen die tiefer liegende Fahrstraße geschützt war. Er wäre sonst zu Boden gefallen; so sank er blos in die Knie.

Er hätte im Augenblick sterben mögen – und wenn nicht sterben, morden . . . beides zugleich? . . .

Warum nicht? Und aber warum denn?

Er preßte die Stirne fest gegen die kantige Eisenstange des Geländers. Das kühlte und schmerzte zu gleicher Zeit und brachte doch ein wenig zur Besinnung.

Er konnte einen Entschluß fassen, aber auch nur Einen.

– Nach den elysäischen Feldern! rief er einem Kutscher zu, in dessen Wagen er sprang.

Wie er dahin kam? – Ihn däuchte es, im Nu.

Wars Schlaf, wars eine Ohnmacht, die ihn um den Weg getäuscht? Er fragte sichs nicht.

Von den Bäumen wurden da und dort die Leuchtballons abgenommen, andere waren verlöscht, andere verbrannt; der ganze Hain sah müde und abgelebt in die schwüle, späte Nachmitternacht hinein. Nur die beiden Perlenschnüre von Gaslampen längs des Hauptweges glänzten ununterbrochen, ungeschwächt, ein greller Gegensatz zu dem fast verwüsteten Gefilde, das sie durchschnitten.

17 Aufwärts durch die Bäume lugend, sah man einsame Sterne am Himmel hinirren.

Unter den Bäumen wankten die spärlichen Nachzügler gemeinerer Freuden, mancherlei Trunkenbolde und etwas weniger Polizisten. Dort legte sich Einer ins Gras, der die Last seiner Sorgen oder seiner Freuden nicht mehr weiterschleppen konnte; hier gruppirte sich ein wankendes Häuflein um einen länglichen Tisch, auf dem eine landesübliche Art von Kegelspiel um ein paar Sous gewagt wurde. Dort ein Gesang, hier ein Fluch, hüben ein Schrei und drüben Schläge. Und zwischendurch eine mühsam rollende übernächtige Droschke, die endlich jenseits des Industrie-Palastes stillhält, da wo die ersten Häuser stehen und schöne Straßen strahlenförmig sich verbreiten nach allen Seiten der Windrose.

Da stand er wieder auf seinen Füßen und sah um sich in die Nacht. Da waren tausend Häuser mit Tausenden von Menschen darin. War er hiehergekommen, ein verschwindend Wesen unter Tausenden herauszufinden und jetzt mitten in der finstern Nacht bei verschlossenen Thüren und Fenstern?

Er hätte sich sagen müssen, daß er ein Thor sei, aber er sagte sich:

– Und ich finde sie doch!

Auf was vertraute er?

Auf die Spürkraft der Liebe, auf den Instinct eines mitfühlenden Herzens?

Nein, denn er liebte sie nicht mehr. Er hatte Wochen und Monate ihrer nicht mehr gedacht, als nur um sich das Denken an die Unwürdige zu untersagen, er hätte den Menschen hassen können, der auch nur ihren Namen vor ihm ausgesprochen; er empfand es auch jetzt, daß dies Auflodern gestorbenen Verlangens, das ihn wie Fieber und Wahnsinn umtrieb, nicht Liebe und nicht Sehnsucht sei; daß es gehen würde wie es gekommen, zurückschwinden in die Nacht, aus der es wie ein Meteor, wie eine sinnberaubende Erscheinung, so plötzlich hervorgesprungen war, verschwinden spurlos, folgelos, um nie mehr wiederzukehren.

Aber dem Verlangen dieses dämonischen Augenblicks sollte sein Recht werden.

Er wollte sie nicht schädigen, sie nicht kränken, er wollte nicht vor sie hintreten und zu ihr sprechen: »Grete, warum hast Du mir das gethan?« Er wollte sie nicht anklagen um sein Elend, er wollte sie nicht schelten um ihr Glück; er wollte sie nicht einmal anrufen wegen ihrer Sünden, aber sehen wollte er sie, das Weib noch einmal mir den Augen sehen, das er jahrelang bestaunt und nie betrachtet, das Weib, an das er geglaubt hatte, wie an keinen anderen Menschen, wie an keinen Gott, das Weib, das keinen Tropfen Treue in ihrem abtrünnigen Blute hatte und ihn betrogen und genasführt wie einen tölpelhaften Schäfer; das Weib des Anderen, das 18 er ihm gönnte – aber sehen wollte er sie noch einmal und heute noch. Er wollte es.

Langsam schlich er Straße auf Straße ab und spähte nach allen Lücken. Dort schimmerte ein Licht, dort schloß ein später Nachzügler des verklungenen, erloschenen Festes sein Fenster. Einen Mann, der unterwegs ihm in die Quere kam, erschreckte er mit sonderbaren Fragen, ob er nicht wüßte, wo der Capitän Soundso wohnte.

Der Mann antwortete mit allgemeinen Betrachtungen, die er mit Rücksicht auf die vorgerückte Zeit abgab, und sah sich im Weitergehen nach einem Polizei-Soldaten um, in dessen Schatten er dann seinen Weg weiter verfolgte.

So trieb es Curt ein paar Stunden lang.

Erschöpft und traurig setzte er sich auf eine Bank des Cours la Reine nahe am Flußufer, faßte die brennende Stirn in beide Hände und schalt sich heftig in unausgesprochenen Worten.

Vom Platze François I. erklang es wie Wagengerassel. Er sprang auf; ein hurtiger Fiaker sauste an ihm vorüber, ein zweiter und dritter. Eine lustige Gesellschaft schien da auseinanderzustieben, und, wie der Baron eilig die Straße hinablief, sah er am Portal eines Hauses ein Pärchen stehen, das hielt ein anderes Pärchen bei grüßenden Händen. Die lichten Frauenkleider schimmerten, vom Nachtwind in fliegende Falten geworfen, unter dem düsteren Schatten der Bäume hervor und helle Stimmen hörte man weithin in der Stille der Nacht gute Ruhe wünschen und auf Wiedersehen, auf baldig Wiedersehen.

Curt horchte, wie der Schlüssel das Schloß umschlug; er sah, wie das scheidende Paar über die Straße ging. Es konnte nicht weit zu wandern haben, aber es wanderte mit Weile.

Sorgsam, kein Auge von jenen Beiden verwendend, schlich der Verfolger im Schatten.

In einer Gasse jenseits der Avenue Montaigne entschwanden sie seinem Blick.

Als er in die kurze Gasse kam, sah er keine menschlichen Gestalten mehr. Die Häuser waren dunkel.

Eines derselben fiel ihm auf. Es war gar so winzig und niedlich. Es stand in einem kleinen Garten, an dessen Zaun er sich drückte, um nicht von oben gesehen zu werden.

Aber wohnte das Pärchen auch wirklich hier im Hause? Und wenn auch, war das wirklich Marguerite gewesen, die er bei Nacht in solcher Entfernung und von rückwärts erkannt haben wollte?

Da kam Licht in den Oberstock. Eine Hand griff über sich ins Fensterkreuz, und nun tänzelten die grünen Querlatten wagrecht über das 19 schimmernde Viereck. Aber sie deckten es nicht, denn sie wurden nicht geschlossen; auch die Scheiben blieben geöffnet und trällernd klang es in die Nacht hinab:

Muß i denn, muß i denn
Zum Städtele 'naus.

Es war nur die Weise, nicht die Worte. Doch Curt kannte die Stimme wohl, obwol es elf Jahre waren, seit er sie dasselbe Lied nicht wieder hatte anheben hören.

Mit der momentanen Ueberkraft, wie sie die Leidenschaft gewährt, bog der Baron mit den bloßen Händen einen Eisenstab aus dem Geländer des Gartens.

Er konnte sich nun, wenn auch nur mühsam, durch die Lücke zwängen. Als er aber endlich im Garten stand, brachten ihn die kahlen Wände nahe zum Verzweifeln. Da war kein Griff für die Hand, keine Stütze für den Fuß. Vier Fenster im Oberstock und vor jedem ein kleiner Balcon, aber keine sichtbare Möglichkeit, ihn vom Boden aus zu erreichen. Dabei kreischte der Kies unter jedem seiner Tritte so laut, als riefe er um Hilfe. Curt sprang ins Gras zurück.

Ein paar Blumenscherben zerbrachen unter seinen Stiefeln.

Er biß grollend die Zähne übereinander und wagte nicht aufzusehen, obwol er hörte, wie oben ein Fenster ging und dann verschlossen wurde.

Wieder trat er ans Geländer zurück in den Schatten des freistehenden Hauses und harrte schweigend. Aber es rührte sich nichts, man hatte ihn nicht gesehen.

Auf das Geländer steigen, sich oben mit den Füßen zu halten und dabei mit den Händen nach dem Balcon zu haschen suchen, war nur zu denken, nicht auszuführen.

Ein schlankes junges Bäumchen ragte zur Seite in die Höhe, sich vornüberneigend wie ein zu rasch aufgeschossenes Kind.

Er faßte das Stämmchen in seine Fäuste.

Sollte das den starken rüstigen Mann tragen können? Kaum! Dennoch versuchte ers.

Rasch war er daran emporgeklettert. Raschheit that noth, sonst wars unmöglich. Der Stamm blieb ihm sozusagen sonst in den Händen. Der neigte sich und nickte tief, krachte und brach.

Curt reckte den linken Arm ausgreifend hoch in die Luft, im Niederschlagen krallte er ihn ins Geländer des Seitenbalcons; die rechte Hand war blitzschnell daneben. Das Bäumchen schnellte halbgeknickt zurück und Curt's lahmes Bein schlug unbeholfen, wie's eben ist, mit der Kniescheibe gegen die Mauerkante, daß ers schlaff hängen ließ und eine zeitlang mit drei Beinen am Geländer klebte, und also in gefährlicher Lage den Schmerz verwand, der ihm im Augenblick alle Beweglichkeit raubte.

20 Die wackeren Arme kamen zuerst zu sich; ein kurzer Ruck und ein langsames Ziehen, und des Freiherrn ganze gewaltige Gestalt schob sich um die Steinfassung.

Der zierliche Balcon war ihm fast zu enge, als er sich nun auf dem Boden desselben zusammenkauerte und, den Kopf an die Scheiben der Glasthüre drückend, durch eine Ritze spähte, welche der innen angebrachte schimmernde Vorhang in Folge zufälliger Verschiebung auf der einen Seite freiließ.

Das Auge gewöhnte sich nicht sogleich an dies Geschäft. Er sah erst nur nacheinander da und dort einzelne Gegenstände, einen zurückgeschobenen Schemel, zwei vollgepackte offenstehende Reisekoffer, ein weißes Nachthäubchen, das an der Erde lag.

Curt hörte flüstern, hörte reden, aber er verstand nur einzelne Worte und diese außer Zusammenhang.

Er rutschte, auf dem einen Bein sitzend, zur Seite und fand eine andere Lücke zwischen Holz und Vorhang hinter der Glasscheibe. Ein friedliches, freundliches Bild bot sich ihm dar, das ihn aber nicht freundlich, nicht friedlich stimmte.

Es waren offenbar Reise-Vorbereitungen, welche die Belauschten anstellten.

Fortunato saß im großgeblumten Schlafrock vor einem mit Juchten überzogenen Kofferchen, Marguerite in weißem Pudermantel kniete an der Erde jenseits des Kofferchens. Beide hatten die Hände auf das kleine Möbel gelegt, faßten bald dieses, bald jenes an, ließen es hinter den rothen Juchten verschwinden oder legten es beiseite, je nach dem Ergebniß einer reiflich aber leise geführten Berathung.

Dabei sahen sie sich zuweilen recht lang in die Augen. Marguerite seufzte ab und zu, und dann fuhr ihr Fortunato mit beschwichtigender Hand über das offene Haar.

Einmal, als er wieder also that, sah ihn das Weib erst lächelnd, dann so schmerzvoll an, dann stieß sie einen kurzen Schrei aus, im Nu glitt das Kofferchen beiseite und sie schlang die feinen Arme, an denen die weiten Aermel zurückfielen, wild um den Hals des Mannes, der sie wiederholt langsam und wie tröstend küßte.

– Ich kanns nicht fassen, sagte Marguerite sehr laut, daß ich Dich missen soll, daß ichs lernen muß, Dich zu entbehren! Haben wir, seit ich Dein Eigen bin, denn eine Stunde noch getrennt gelebt? Schau, es ist verzeihlich, wenn ich mich noch immer nicht dreinfinden kann. Vergib, ich will – ach Gott, ich muß mich ja wol drein ergeben. 21

– Weine nicht, Marguerite! sagte nun der Mann. Schau, die Trennung soll ja nicht lange währen. Mein Vater hatte sonst eine Gesundheit von Eisen. Eher will ich glauben, daß er einem jähen gewaltigen Stoß erliegt, als daß der alte Nimrod sich ans Bett gewöhnen und in zähem Siechthum sein liebes Leben verlungern soll. Mir aber sagt das Herz, keins von beiden ist der Fall, Gott sei's gedankt. Die Einsamkeit zwischen Wäldern und Bergen ficht ihn an, die Genossen rüstiger Jahre sind unter die Erde gegangen, die jüngeren Cumpane sind in der weiten Welt. Onofrio, seiner Schwester Sohn, ist zur See, ich hier in Paris, das vergrämt ihn zumeist. Er weiß, daß ich raste und faullenze, daß ich längst genesen bin und er hat noch nicht einmal das Kreuz der Ehrenlegion auf meiner Brust gesehen und auf meinen Schultern noch nicht die Hauptmanns-Epauletten. Er hat ein Recht, mit mir zu grollen und zu schmollen und barsch zu verlangen, daß ich heimkehre, daß ich mich zu seinen müden Füßen setze und ihm erzähle, wie weit ich mit den Meinigen gekommen. Aber sorge nicht, daß er mich daheim behalten wolle! Mein Vater ist gar nicht weichlich, verzärtelt hat er seine Kinder so wenig als ihn das Schicksal, er ist rauh und herbe und gibt sich – 's ist einmal so seine Art – noch ein weit bärbeißigeres Ansehen. Er ist ehrliebend und streng und dabei ganz in der Stille doch ein wenig ehrgeizig auf sein einziges Söhnlein. Er will, daß ich Carrière mache; am allerwenigsten würde er dulden, daß ich mich in Ajaccio am häuslichen Herde versitze – verlaß Dich drauf, ehe fünf Wochen ins Land gehen, hat er mich schon wieder fort und gerade nach Paris geschickt.

– Und wenn er Dich nun nicht fortschickt? fragte Marguerite kleinlaut und spielte nachdenklich mit seinen Händen. Was dann?

– Was dann? wiederholte lächelnd der Corse. Dann wird es zu Paris ein hübsches Fräulein geben, das sich trösten wird über den Verlust eines Liebhabers, der langweilig und häßlich war und kaum der vielen und großen Neigung werth, die es an ihn, den Taugenichts, verschwendet; dann wird es eines Tages einen besseren Mann finden und Gott loben und sagen: »Der Vater Fortunato's hats recht gemacht, daß er ihn daheim verhalten!«

Marguerite schloß dem Neckenden den Mund mit der flachen Hand und indem sie den anderen Arm um seinen Hals schlang und sich ganz nahe an den geliebten Mann heranrückte, rief sie:

– Sprich nicht so gottlos, nicht in dieser Stunde; sie ist zum Spotten und Hänseln nicht gemacht.

Dabei lächelte sie, aber die Thränen liefen ihr über die Wangen.

Als Fortunato die Thränen rinnen sah, schalt er sie zärtlich ein kindisches Tröpfchen, trocknete ihr die Augen mit seinem Tuch und hauchte sie an und küßte sie und schalt und koste sofort.

22 Sie hörte ihm mit seligen Blicken zu und unterbrach seine lästerlichen Reden:

– Gehe weg und schweige still, sprach sie, oder schmähe nur weiter, ich weiß doch, daß Du mich lieb hast, weiß, daß Du wiederkommen mußt und wirst. Und was brauchts weiter! Gehe Du nur immerhin!

– Weißt Du das so gewiß? fragte Fortunato und lachte.

– O ja! antwortete Marguerite und sah dabei sehr überzeugt aus.

–Woher?

– Daher!

Sie tickte mit der Hand nach ihrem Herzen.

– Wie gut Du bist, Du gute, liebe, arme Marguerite! rief der Mann, auf dessen Stirne in dieser Secunde ein unlesbarer Gedanke geschrieben stand.

In seine Augen kams wie Rührung und er schloß die schmiegsame Gestalt mit Macht und Ungestüm an seine Brust. –

Curt kauerte noch immer auf dem Balcon.

Kein Wort, keine Bewegung war ihm entgangen. Seine Züge blieben so reglos wie seine Hände, die der mitgebrachten Waffen so wenig mehr gedachten, als sein eigenes Herz des Grolls, der ihn bis hier herauf gebracht. Er sah und hörte, und was er hörte, was er sah, veränderte seine Stimmung so sehr, daß er sich besinnen mußte, wie er denn bis vor dies Fenster gekommen.

Angesichts der Wirklichkeit, der unleugbaren, greifbaren, nicht zu verändernden, zerfloß der Grimm, die Eifersucht und Rachelust in seiner Seele wie das Eis in thauwarmer Nacht und mit ihnen zerfloß das letzte Restchen Liebe, das unvermerkt und unbeachtet weiter gewuchert bis auf den heutigen Abend, wo es ein unverhofftes Wiedersehen verrathen und im Augenblick so sehr vergrößert und gesteigert hatte, daß nichts in seinem Wesen mehr Platz haben wollte, als diese einzige jähe ungeheure Leidenschaft.

Noch einmal warf er einen langen Blick durch die Spalte des Vorhangs, noch einmal prägte er sich Gestalt und Züge der Einstgeliebten in die Augen – aber ohne Reue, ohne Groll, etwa wie wenn man das Bild eines langverstorbenen Menschen betrachtet oder in ein Buch eine welke Rose legt, die gestern uns eine Hoffnung, eine Freude zu deuten gesendet war. Gestern ist vorüber, die Blume hat keinen Duft mehr, wir klappen das Buch zu und stellens zu den übrigen.

Der Baron zuckte die Achseln und wendete sich ab.

Ein leiser Seufzer ging über seine Lippen, aber es war nicht zu sagen, ob er dem nun für immer verlorenen Mädchen galt oder dem schadhaften Fuß, dessen Schmerzen sich vernehmlich meldeten, nun Curt sich behutsam aufrichtete.

23 Er sah über die Brüstung hinab in den dunklen Garten. Es war nicht übermäßig hoch und für ein Paar gesunder Beine keine sehr gewagte Expedition, den Boden zu erreichen. Curt aber merkte wohl, daß bei seiner Körperverfassung ohne Schaden nicht fortzukommen. Und fort mußte er, Zeit war keine mehr zu verlieren.

Er trat über die Brüstung, kniete sich auswärts in die Fugen, faßte dann ein Säulchen im Geländer mir beiden Armen, dann mit beiden Händen und ließ sich, so lang er war, in den dunklen Garten hinabhängen.

Es waren nur etliche Schuh zwischen der Erde und seinen baumelnden Sohlen.

Er überlegte, ob das eine gesunde Bein stark genug sein würde, die Last seines wuchtigen Körpers im Sprung zu fassen, oder ob doch nur auf beide Beine Verlaß wäre.

Lang konnte er nicht deliberiren, denn die Kraft der Arme ließ nach und die Hände drohten auszugleiten.

Man hat ihn wenigstens nicht fallen gehört; auch gesehen hat ihn Niemand.

Von Glück ist auch zu sagen, daß eine Droschke des Weges dahergekommen, nachdem er sich auf zwei Händen und einem Bein bis an die Ecke der Avenue Montaigne geschleppt hatte und dort ein Stündlein oder mehr zwischen Geduld und Verzweiflung gelegen war.

Etliche Tage mußte er das Bett hüten und hatte Zeit, darüber nachzudenken, wie unnütz es für einen aufstrebenden Geschäftsmann sei, nach Mitternacht auf zwecklosen Abenteuern herumzuliegen.

Ab und zu kam der Eigenthümer des Geschäfts in seine Krankenstube, rang die Hände und jammerte laut. Wol zehnmal des Tages ließ er ihn fragen, wol zwanzigmal fragte er ihn selber, wann er denn wieder flott auf seinen Beinen zu stehen gedächte. Währte es noch lang, so müßte die Wirthschaft elendiglich zugrunde gehen.

Curt mahnte bald müd, bald gröblich den sorgenvollen Schneider daran, daß das Geschäft unter seiner Leitung einen unvorhergesehenen Aufschwung genommen; worauf der Andere versicherte, daß damit eben nichts bewiesen, als wie nothwendig die Gegenwart seiner Person dem Geschäfte wäre.

Darauf versetzte der Baron, daß Bier und Kaffee hauptsächlich deßhalb besser abgesetzt würden, weil der Eigenthümer sich verschworen, sich nicht mehr in ihren Absatz zu mischen; er möge auch ferner immerhin seinen Schwur halten.

– Wer sollte denn nun zu Allem sehen? heulte der Schneider.

Das hätte ihn nicht zu kümmern, brummte der Baron. 24

– Wen denn? schrie der Andere.

Und so gings weiter den folgenden Tag wie den vorigen.

Weit seltener ließ sich Euphrasie bei dem Kranken sehen. Na, ihre Anwesenheit, ihre ungetheilte Fürsorge waren dem Geschäfte noch nie so nöthig gewesen. Trotz der angestrengtesten Thätigkeit hatte die hübsche Frau des Lumpensammlers Zeit und Gelegenheit genug, sich über das nächtliche Streunen ihres Angebeteten und dessen nächtliche Unfälle allerhand zusammenhängende Gedanken zu machen. Euphrasie war ein sehr verständiges Frauenzimmer, dennoch erbauten sie ihre stillen Gedanken keineswegs. Konnte das nächtliche Streunen des Barons nicht Gewohnheit und nur die diesmaligen Schläge etwas Außergewöhnliches sein?

Sie wollte, sie durfte ihm keine Vorwürfe machen. Er war der Herr, auch Herr seiner Zeit.

Pflegen konnte sie ihn ohnehin nicht; je weniger Aufsicht sie der Wirthschaft abbrach, desto mehr verdiente sie seine Zufriedenheit. Das war klar, meinte sie, und er werde es schon merken.

Zwei Wochen voll großer Schmerzen und kleiner Leiden, einiger Verlust an Geld und Waaren, zwei zerschlagene Spiegelscheiben und drei demoralisirte Kellner waren die nächsten Folgen jener Nacht nach dem Napoleonsfeste. Dann stand Curt wieder auf den Beinen, trat fest und energisch auf, der überzählige Schneider blieb wieder weg, die versprengten Kunden kehrten zurück, Alles ging wie vordem seinen Gang zum Guten.

Auch Euphrasie schmollte nicht lange; der Baron schien auch das Wenige nicht bemerkt zu haben. So ließ sie ihn auch nichts weiter merken. Was sollte es den Planeten anfechten, daß auch seine Sonne – »vielleicht« – ihre Flecken hatte?

Curt hatte sich auf dem Schmerzenslager des Reiflichen mit der Frage beschäftigt, ob es nicht doch gut gethan wäre, wenn er sich über die Kränkung hinwegsetzte, die er erfahren, und vor Marguerite hinträte und zu ihr spräche als Warner, als Vater, als Freund, als Landsmann?

Sein Sinn und Verlangen stand nicht darnach. Umso eher wäre er zu bereden gewesen, daß er doch, was er nicht gerne wollte, zu thun verpflichtet wäre.

– Nein und aber nein! sagte er sich nun, da er genesen aufrechtstand, wenn auch an einem Stecken. Du hast sie nicht zu warnen mehr, ihr nichts zu rathen, sie ist Deine Landsmännin nicht mehr und Du nicht ihr Freund. Und jetzt, gerade jetzt vor sie hintreten, da der Geliebte zeitweilig in der Ferne weilt – das sähe nicht nur aus wie Feigheit, das wäre feig!

So unterbliebs denn. 25

 


 


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