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Max Eisenhut war an diesem Feiertage nicht nach Mariatannerl gegangen. Die Begegnung mit Florencens Vater hatte seinen früheren Plan aufgehoben. Nun er wußte, daß der Staatsrath nach langer Abwesenheit im Kreise seiner Familie den Nachmittag verbringen werde, konnte es nicht in Eisenhut's Absicht liegen, dieß Wiedersehen durch einen unerbetenen Besuch zu stören. Was auch wollte er dem Manne sagen, was er ihm nicht schon heute Morgen gesagt hatte oder heut' Abend noch nicht sagen durfte?
Nachdem er den vornehmen Herrn von Angesicht kennen gelernt hatte, war er erst recht entschlossen, nur als ernsthafter Freier vor ihn und seine Tochter hinzutreten. Zuerst freilich vor die Tochter.
Nach Pilgertumulten und Wallfahrtsexzessen hatt' er kein Verlangen, so trieb er sich fern von Mariatannerl im Wald und auf abgelegenen Gehöften herum, die er lange nicht gesehen hatte. Spät am Abend, als die Sonne schon hinunter, kam er in sein Dorf zurück.
281 Schon unterwegs hatte er Diesen und Jenen, der an ihm vorüber gegangen, von dem Wunder sagen hören, welches heute nächst der alten Gnadenkapelle geschehen sein sollte.
Doch waren es konfuse Geschichten, die einander widersprachen, so daß Max nicht einmal genau darüber klar werden konnte, ob einem Mann oder einem Weibe so seltsames Heil widerfahren sei, geschweige daß er hätte ahnen können, welch' eine Patientin der Moosrainerin den Streich gespielt habe, außerhalb der Anstalt so augenfällig zu genesen.
All' der groben Aufschneidereien und Widersprüche satt, stand er Keinem mehr Rede, der unterwegs ihn anrief, ob er denn auch das neueste Ereigniß schon kennte, sondern ging des nächsten Weges auf den Pfarrhof.
Er wußte, daß ihm hier reiner Wein werde eingeschenkt werden. Er wußte auch, daß er den braven Johann von Gott in der übelsten Laune finden werde. Er achtete es als Freundespflicht, an solchem Abende dem vielerprobten Manne beizustehen, und wär's in keiner anderen Weise, als daß er die ersten und vehementesten Ausbrüche eines Unmuths geduldig mit anhörte, welcher, so berechtigt er war, sich doch gegen Niemand äußern durfte, der weniger zuverlässig und verschwiegen war als der alte Praktikant.
In der That fand er denn auch unseren Johann von Gott Brettschneider in einem Grimm, der sich sonst zu dem Wesen des nüchternen Seelsorgers nicht schickte.
Schon die alte Haushälterin, welche Eisenhut die Thür öffnete, hatte rothgeweinte Augen. Sie mußte schlimm 282 angelassen worden sein, denn ohne auch nur den Mund aufzuthun, schlich die sonst so geschwätzige Dienerin gleich einem schuldbewußten Jagdhund in ihre Küche zurück.
Den Pfarrer traf Eisenhut in Hemdärmeln und Suwarowstiefeln; das schwarze Mützchen schief auf der blanken Tonsur wandelte er die knappe Wohnstube auf und nieder, einem brüllenden Leuen, der seinen Käfig mißt, nicht ganz unähnlich.
Auf Eisenhut's schalkhaften Gruß ward er ordentlich böse.
»Was los ist, fragst Du? Der Teufel ist los, alle Narren sind los! Man sollte die halbe Menschheit in den Irrenthurm und die andere Hälfte in's Zuchthaus sperren!«
»Die Anwesenden sind hoffentlich ausgenommen!« scherzte der Praktikant. »Du redest ja noch ärger als mein Herr Notar und Du wirst Dir, zur Besonnenheit gekommen, fürcht' ich, schwere Bußen auferlegen ob solchen Schwelgens in der Todsünde des Zornes. Was bringt Dich denn so in Harnisch? Doch das neueste Wunder nicht?«
»Was sonst! Ihr Weltkinder habt gut lachen. Ihr meint, es ist einerlei, ob das Volk, wie ihr euch ausdrückt, ein bischen mehr, ein bischen weniger Unsinn mit sich herumträgt. Wer aber sein ganzes Leben lang bemüht ist, die hartherzige Menschheit zu reiner Liebe Gottes und zum Mitleid mit ihresgleichen und mit aller Kreatur zu überreden, wer seinen Beruf darin zu finden glaubt, dieß unausrottbare Heidenthum wenigstens mit so dicker christlicher Tünche zu überziehen, daß es wie Christenthum aussieht, und dann 283 immer wieder findet, daß die Mühe verloren ist, weil Eiferer und Betrüger es nicht lassen können, die Bestie im Menschen herauszukitzeln und seine Vernunft aus Brodneid oder Gewinnsucht zu vergiften – soll solch' ein armer Mensch nicht in Verzweiflung gerathen?
»Könntest Du an meiner Statt nächstens in den Beichtstuhl und an die Betten der Sterbenden gehen, Du würdest Hände ringen und Thränen vergießen, was für Gedanken, Wahnvorstellungen und Unthaten solch' ein Ereigniß wie das heutige im Gefolge hat.«
Der zornige Mann sprach noch mehr und noch Aergeres in diesem Sinn. Johann Brettschneider war kein tadelloser Heiliger. Unter seinem schwarzen Rocke schlug ein heiteres, aber auch ein gutes Herz. Trotz mancher kleinen Schwächen, von denen normale Menschen selten frei sind, meinte er es ehrlich mit seiner Religion und sein Priesterthum durchdrang weihevoll alle seine Gedanken. Wahr ist's, er fastete nicht mehr als er mußte; er zog eine gebratene Gans gesottenem Kuhfleisch vor und wußte ein gut Glas Wein von einem herben Krätzer wohl zu unterscheiden; es kam sogar vor, daß er manchmal ein auf dem Index verfluchtes Buch las; und doch war Jeder, der ihn kannte, überzeugt, wenn sein Glaube, wenn sein heiliger Beruf eines Märtyrers bedürfte, der alternde Brettschneider würde sich kürzer besinnen, für seine Wahrheit blutige Zeugenschaft zu leisten, als mancher junge, augenverdrehende Eiferer, der die Welt nur durch die trüben Scheiben seines Konvikts gesehen hat und doch mit 284 so gründlichem Abscheu gegen sie erfüllt ist, daß ihm der Allvernichter unentbehrlicher erscheint als der Allerhalter.
Eisenhut ließ den Pfarrer eine Weile toben. Dann meinte er, die Sache würde sich wohl nicht so ärgerlich begeben haben. Er sollte genauen Bericht von Augenzeugen abwarten.
Der Andere blieb grimmig vor ihm stehen.
»Augenzeugen hab' ich ja im Hause. Kam die Närrin, meine Häushälterin, nicht schnurstracks von Mariatannerl dahergelaufen, um mir diese geweihte Photographie da zu bringen, welche sie um schweres Geld erstanden, damit sie mich über Nacht vom Zipperlein heile? Aber ich meinte, ich kriegte das Reißen dießmal zur Abwechslung in den Händen. Es war gut, daß sie davonging! Wofür predigt unsereiner in der Kirche, wofür lehrt er in der Gemeinde und in der Schule, wenn die eigenen Hausgenossen, die über ein Menschenalter mit ihm tagtäglich verkehren und seine Meinungen und Ermahnungen aus der ersten Hand kriegen, bei der ersten besten Gelegenheit es an Dummheit und Heidenschaft allen Anderen zuvorthun!
»Uebrigens –« fuhr der Pfarrer etwas langsamer fort und dabei rieb er sich mit zwei Fingern das Kinn, als wollt' er fühlen, ob am Abend die Bartstoppeln schon wieder über die am Morgen glattrasirte Haut hervorstächen. Er that immer so, wenn er nachdenklich wurde. »Uebrigens brauchst Du gerade auch die Sache nicht gar so heiter anzusehen. Ein Schatten von der Lächerlichkeit streift doch ein Bischen auch Dich!«
285 »Mich?« rief Eisenhut. Er wollte auflachen, aber eine recht unangenehme Empfindung ließ den lustigen Vorsatz urplötzlich nicht zur Ausführung kommen. »Was geht denn mich das Wunder an?«
Johann von Gott zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, wie ihr Weltkinder dabei empfindet,« sagte er, »aber sollte ich eine Schwiegermutter nehmen dürfen, so wäre mir eine, welche die Anwartschaft geltend macht, als Heilige in den Kalender gesetzt zu werden, die allerunangenehmste. Ich verstehe freilich nichts davon.«
»Von Schwiegermüttern oder von Heiligen?« fragte Eisenhut, mit einem Scherz seine Ueberraschung noch für einen Augenblick bemäntelnd.
»Vielleicht von beiden nichts,« antwortete der Pfarrer, »vielleicht auch nichts von einem dritten Ding, das man gemeinhin Freundschaft nennt . . .«
»Johann!« rief Eisenhut und streckte begütigend die Hand nach dem Priester hin.
»Ich dränge mich in Niemands Geheimnisse, auch in die Deinen nicht. Aber daß Du mir keine Sylbe davon sagst, was das halbe Dorf weiß, was des Zlabinger's Katherl Jedem erzählt, der's hören will . . .«
»Was erzählt die Person?« rief Eisenhut zornig.
»Allerhand, und unter Anderem, daß Du mit einer der Töchter der Frau Staatsrath von Rüdenhausen in einem näheren Verhältnisse stündest, als zu anderen Menschenkindern. Sie will sogar dabei gewesen sein, wie Du in's 286 Garn gingst. Daß Du nicht mehr über Zlabinger's Schwelle kämest, das unterbliebe nur aus Verbot der eifersüchtigen Damen von Rüdenhausen, welche das Katherl für viel zu gefährlich erachteten für die Ruhe Deines Herzens wie für die Sittlichkeit Deines Wandels.«
»Und in solchen Mäulern liegt der Ruf guter Menschen!« sagte Eisenhut schmerzlich bewegt. »Aber ich will ihr's eingeben, daß sie eine schamlose Verleumderin ist.«
»Du würdest dem guten Katherl damit schwerlich etwas Neues sagen,« entgegnete der Pfarrer, auf den des Freundes Aufflammen beruhigender als vordem sein Zureden wirkte. »Das Frauenzimmer ist sehr gehässig gegen Dich gesinnt. Ich frage nicht, warum. Aber jetzt, wo die Mutter Deiner Dame in Aller Mund ist, würdest Du durch eine Interpellation bei diesem Schandschnabel nur zur Vergrößerung des Skandals beitragen.«
Erst jetzt begriff Eisenhut, wer denn heut' im Walde vor Mariatannerl die Hauptrolle gespielt hatte. Er bat den Pfarrer um ausführlichen Bericht und hörte staunend und bedauernd, was heut' Abend meilenweit in der Runde Einer dem Andern erzählte.
Er beklagte die Frau, den Mann, die Töchter, sich selbst. Bei diesen Klagen ward ihm zweierlei immer klarer.
Erstens, daß es nun unter allen Umständen seine Pflicht sei, einem Mädchen, das, wenn auch ohne sein Verschulden, mit ihm in's Gerede gekommen, seine Hand anzutragen.
Und zweitens, daß er mit Ausführung dieses Vorsatzes 287 keinen Tag mehr verlieren dürfe, wenn sein Antrag noch zur rechten Zeit und hier am Orte gemacht und beschieden werden solle. Denn der Mann, welchen er heute früh hatte kennen lernen, schien ihm durchaus nicht von der geduldigen Art zu sein, daß er unter Lächerlichkeiten stillhielte und seiner Gattin, seinen Kindern gestattete, vor dem Abhub zusammengelaufener Bauernschaften und anderem Pöbel die durch ein Wunder Begnadeten zu spielen.
Peinigende Unruhe kam über Eisenhut's Gemüth, so daß er am liebsten gleich vom Pfarrhause weg nach Distelfeld gerannt wäre. Aber seine Uhr zeigte ihm, daß das nutzloses Beginnen wäre, denn jetzt, eine Stunde vor Mitternacht, lagen die Fräulein und die Frau von Rüdenhausen nach der Moosrainerin unerschütterlichen Hausgesetzen längst zu Bette und ließen sich bessere Wunder träumen, als sie am Tag erleben gemußt.
Eisenhut selbst fand spät erst Schlaf, und dann war es ein schwerer, undurchsichtiger Schlaf, der von Träumen nichts wußte, weil er die Ruhe einer ganzen Nacht in wenige Stunden zusammenpreßte.
Am andern Morgen, noch eh' er auf's Landgericht ging, brachte ihm der Briefträger ein großes Schreiben mit amtlichem Siegel. Er griff mechanisch nach einem Stuhl noch während des Lesens und setzte sich, als er fertig war. Solch' eine Bevorzugung hatte er nicht erwartet. Die Ueberraschung war ihm fast zu groß. Er hatte sich so lang in Bescheidenheit geübt, daß er sich nun im Handumkehren nicht 288 drein finden konnte, sein Theil vom Tische zu nehmen, auf dem für Alle gedeckt war. Er las das Blatt noch einmal. Man bot ihm wirklich das beste Notariat im Königreiche! Er faßte sich an den Kopf. Der Minister sprach in einem Handbrief von allzu lang' verborgen gebliebenem Verdienst, das endlich an die rechte Stelle gehoben werden müßte. Was hatte er mehr gethan, als seine langweilige Pflicht? Was war der kleine Schnauzenberg für ein großmächtiger Freund! und wie hatte er den Hülfreichen in seinem Unmuth verkannt!
Er setzte sich sofort hin und schrieb an ihn, wie an den Minister. Dann ging er auf's Landgericht und arbeitete wie alle Tage. Er hätte sich geschämt, mit solch' einem Glück in der Tasche den Saumseligen und Fürnehmen zu spielen oder zu feiern, ehe er seinen Abschied in aller Form erhalten haben würde. Gerade heute war er pünktlich und genau. Freilich ging's ihm rascher von der Hand als sonst. Auch nach Tische beim Notar arbeitete er im Flug auf, was vorlag. Ein paar angesetzte Kommissionen hielten ihn doch bis in den späten Nachmittag in der Stube und sein Chef, nur allzu ärgerlich über den sicheren Verlust des gewohnten Helfers, war weniger als je in der Laune, ihm Arbeit abzunehmen.
Endlich war Feierabend! Er kleidete sich rasch um. Eine Stunde später zog er nicht ohne Herzklopfen die Glocke vor dem Hause Distelfeld.
Nur Fräulein Non-non empfing ihn. Frau Eleonore war unsichtbar. Seit jenem Abenteuer im Walde, das sie 289 wider Willen in so heiligen Geruch gebracht hatte, war sie von geistlichen und weltlichen Frömmlern, Bettlern und Projektenmachern so stürmisch überlaufen worden, daß sie ihre Thüre für Jedermann verschlossen hielt und ein für allemal den Befehl gegeben hatte, abzuweisen, wer immer sich melden ließe. Nicht einmal mehr die Moosrainerin empfing sie, nachdem ihr diese in einer empörenden Szene Dinge gesagt, die eine Frau von Rüdenhausen nie hätte hören sollen. Mit Herrn Eisenhut würde sie wohl eine Ausnahme machen, meinte Non-non; aber jetzt habe sie sich eingeschlossen, um zu schlafen. Er sollte gegen Abend wiederkommen. Max fragte nach den Fräulein. Diese begleiteten eben den Herrn Staatsrath nach der Eisenbahnstation. Derselbe hätte leider schon heute reisen müssen. Die Damen könnten mit dem Einpacken nicht vor morgen oder übermorgen fertig werden.
»Schon morgen?« Eisenhut wußte nicht, ob er es laut gesagt hatte. Es klang etwas in ihm, wie wenn eine Saite gesprungen wäre. Und er horchte, wie der schrille Klang gemach vertönte. Dann erst, ob auch Non-non ihre Ungeduld merken ließ, sagte er:
»Wann kommt der Wagen von der Station zurück?«
»In einer Stunde gewiß.«
Also heut' Abend muß es entschieden sein. Er war von seinem heut' erhaltenen Glücke noch so voll, so freudig bewegt, daß er gar nicht denken konnte, das andere, größere, eigentliche Glück könnte sich ihm versagen. Auch vermaß er sich, die Stunde leicht herumzubringen. Aber darin 290 täuschte er sich. Bei der Moosrainerin wollte er nicht einsprechen. Er mochte sich nicht von ihr die Stimmung verderben lassen. In den Wald hinauf ging er auch nicht. Waren noch zu viele Pilger drin. So strich er zwischen den Gebäuden hin und her; setzte sich ab und zu auf eine Gartenbank; trat etliche Mal auf die Landstraße und sah in den fliegenden Staub, der aber keinen Wagen enthüllte. So lernte er, wie lange sechzig Minuten dauern können, und endlich wurde es Abend.
Es dunkelte schon, da er wieder den Wald durchschritt und an der Grenze seines alten Besitzthums nachdenklich stehen blieb. Die ganze Vergangenheit der achtzehn Jahre, die er über dem Moos verlebt, kam ihm in den Sinn. Er sah sich mit dem Büchsenschaft an der Schulter im Hinterhalte stehen, während der Auf ihm die Vögel vor den Schuß lockte, er sah sich an derselben Stelle der süßen Stimme lauschen, die ihm zum ersten Mal das Geheimniß stiller Liebe entdeckte. Welche Zeit lag dazwischen! Wie ein Vorwurf fiel es ihm auf's Gemüth, daß ihm das Glück, nach dem er so wenig gefragt, nun eine Gabe nach der andern in den Schooß geworfen hatte. Er war nun ein gemachter Mann, er besaß ein kleines, unabhängiges Vermögen, ein großes, einträgliches Amt und war der Liebe seiner Florence gewiß. Ein Gefühl frommer Demuth gegen gnädig waltende Mächte überkam ihn. Er nahm sich vor, sein Glück allezeit zu verdienen und sein Weib so glücklich zu machen, als es menschenmöglich wäre.
291 Mit diesem Gedanken brach er eine schöne rothe Steinnelke, die ihm zu Füßen an langem Stengel blühte. Er hielt sie noch in der Hand, als er durch den Garten der Villa Distelfeld schritt.
Kaum daß er über der Schwelle war, im Treppenflur kam ihm Florence entgegen. Sie hatte offenbar auf ihn gewartet. Sie freute sich innig ob des endlichen Wiedersehens und hatte dieser Freude kein Hehl, ob sie sie schon in Worten nicht ausdrückte. Sie bat ihn, in den Salon des Erdgeschosses zu treten. Da standen Kisten und Koffer halbgefüllt im Durcheinander unfertigen Einpackens und leider, ach leider Dame Non-non mitten darunter.
Die Arme mit Kleidern und Tüchern überladen, drückte das alte Fräulein wiederholt das Bedauern ihrer Herrin aus, die von den Erfahrungen des gestrigen und den Anstrengungen des heutigen Tages zu sehr ermüdet sei, um Herrn Eisenhut zu empfangen. Sie ließe ihn vielmals grüßen und hoffte, ihn bald einmal an ihrem gewöhnlichen Wohnort oder vielleicht schon morgen in Distelfeld noch einmal zu begrüßen.
Bei dem Worte »morgen« schüttelte Florence hinter dem Rücken ihrer Gouvernante so deutlich das Haupt, als wollte sie sagen: Das ist eine Finte! Wir reisen morgen früher ab, als du kommen kannst.
Eleonore schämte sich eben, so bald nach dem Abenteuer, das sie erduldet, einem vernünftigen Manne wie Eisenhut vor's Gesicht zu treten. Der dachte nun freilich nicht daran, 292 sie ob ihrer Wundergeschichte auszufragen. Was Anderes aber sollte die Wächterin der Schwelle, die kurzsichtige Non-non, denken, als er ihr versicherte, er habe Nothwendiges mit der Frau von Rüdenhausen zu besprechen, und was Anderes sollte sie thun, als mit geheucheltem Bedauern seinem Wunsche widersagen?
So blieb denn Eisenhut nichts übrig, als sich zu empfehlen. Aber beim Scheiden nahm er Florence so bedeutungsvoll bei der Hand, daß sie wohl fühlte, daß sie ihm folgen sollte und demgemäß, ohne auf Fräulein Bourgignon's Ermahnung zu hören, den alten Praktikanten in den Flur begleitete.
»Reisen Sie wirklich schon morgen, mein Fräulein?«
»Morgen mit dem Frühesten! bestimmt.«
»Ich muß Sie noch vorher sprechen! unter vier Augen sprechen!«
Das Mädchen senkte das erröthende Angesicht zu Boden und lächelte kaum sichtbar, als sagte sie: ich erwartete das.
»Florence!« scholl jetzt ein dringender Ruf von Oben. Es war die angstvolle Stimme der Mutter, die seit gestern die Mädchen keinen Augenblick von ihrer Seite lassen wollte.
»Ich will Sie so nicht verlieren!« sagte Eisenhut, sie zurückhaltend.
»Erwarten Sie mich im Garten!« lispelte das Mädchen. »An der Jasminhecke. Auch ich habe Ihnen etwas zu sagen . . . Jetzt muß ich fort. Hören Sie, Mama ruft zum dritten Male . . . Auf bald also! Auf bald!«
293 »Und bald auf ewig!« flüsterte Max.
Sie konnte es kaum mehr hören. Flink wie eine Gazelle war sie die Stufen hinangesprungen. Oben auf dem Treppenabsatz blieb sie noch einmal stehen und sah herab mit ihren großen, seelenvollen Augen. Sie hatte beim Trennen der Hände vorhin die rothe Steinnelke behalten. Jetzt drückte sie einen Kuß darauf und neigte, also grüßend, die Blume am langen Stengel. In der nächsten Sekunde war Eisenhut allein.
Er ging in den Garten und setzte sich auf eine Bank nächst der Jasminhecke. Florence schien heute das einzige vernünftige Wesen in diesem Hause zu sein. Hatte die Mutter nicht geschrieen, als ob sie in's Wasser gefallen wäre! Hatte Non-non sich nicht so kalt und vorsichtig gegen ihn verhalten, als ob er ein Fremder wäre, der eine geheime Schuld einzufordern käme!
Da saß er und lauschte. Es war fast Nacht geworden. Das ungewisse Dämmerlicht, das, immer mehr verschwindend, strichweise zwischen Erd' und Himmel schwebte, gab allen Formen und Farben verwischtes Ansehen. Es war etwas Magisches, Sinnberückendes in der schwülen Luft, oder kam es nur dem harrenden Manne so vor, dem das brave Herz ungeduldiger als je gegen die Rippen pochte.
Da rauschte was über den Kiesweg. Ein weißes Kleid schimmerte wie ein schwebendes Wölkchen die schattenhaften Büsche entlang. Das ist sie! jubelte sein Gefühl, und er trat der Hastigen hastig entgegen.
294 Er ergriff ihre beiden Hände und küßte sie. Dabei berührte etwas kitzelnd seine Wange. Es war eine Blume, die das Mädchen in der Hand hielt, die Steinnelke, die er vor einer halben Stunde gepflückt hatte.
»Wie gut, daß ich Sie hier finde!« lispelte das Mädchen. »Es wäre denn doch abscheulich gewesen, von einem so guten Freunde ohne herzliches Lebewohl zu scheiden. Auch meine Schwester will Ihnen noch Ade sagen. Aber wir dürfen Mama nicht zu gleicher Zeit verlassen. Ich muß nun rasch wieder fort!«
»Ja, die Minuten sind kostbarer, als je welche in meinem Leben verronnen. Ehe Ihre Schwester kommt, ehe ich mit irgend einer Menschenseele noch ein Sterbenswort rede, lassen Sie mich wissen, ob mein Herz, ob Ihre lieben Augen mich nicht getäuscht haben. Entscheiden Sie über den ernsten Antrag eines ernsten Mannes. Ich hätte nicht bis heute gewartet, Sie zu fragen, aber erst heute ist meine Lebensstellung so glücklich gestaltet, daß ich Sie ohne Bedenken fragen kann, wollen Sie mein Weib werden?«
»Ich!« sagte das Mädchen und zuckte zusammen.
»Ja, Sie und sonst Keine auf der weiten Welt!«
»Also wirklich! Und ich Thörin habe gedacht, meine Augen so gut im Zaume zu halten! Und habe gedacht, mit diesen meinen thörichten Augen zu sehen, wie Ihnen meine Schwester weit besser gefiele, denn ich!«
Sie ließ sich auf die Bank sinken und bedeckte die Augen mit der Hand. Es war ein Seufzer, der zu Eisenhut's 295 entsetzten Ohren drang, ein schmerzlicher Seufzer, wie von einer Weinenden. Er setzte sich zu ihr und bat:
»Mein Fräulein, fassen Sie sich. Ich harre Ihres entscheidenden Wortes.«
»O Sie guter Freund!« antwortete Jene, während sie die Augen mit vollem, feuchtem Glanz auf die seinen richtete und ihre sanften Hände auf des Mannes zuckende Faust legte: »Warum haben Sie nicht früher gesprochen! Ich fühl's, ich hätte Sie sehr lieb gewinnen können. Ach, gestern wär's noch Zeit gewesen. Heute früh habe ich mich mit dem Rittmeister Baron Eberstein verlobt. Ich kann mein Jawort nicht zurücknehmen. In der seltsamen Situation, in die wir durch die abgeschmackte Wundergeschichte gerathen sind, würde alle Welt sagen, daß nicht ich, sondern der Baron, um der Lächerlichkeit zu entgehen, die Verlobung rückgängig gemacht hätte. Das würde Papa auf's Tiefste betrüben. Der brave Mann, den Papa von dem Vorgefallenen telegraphisch in Kenntniß gesetzt, hat telegraphisch seine Bitte um meine Hand erneuert und auf demselben Weg erhielt er mein Wort. Schelten Sie mich nicht. Ich glaubte bis vor wenigen Wochen, ich glaubte fest, den Baron zu lieben . . . Manchmal glaub' ich es noch jetzt.«
Das Mädchen hielt die Hände in ihrem Schooße gefaltet und blickte schamhaft und verlegen auf sie nieder. Eisenhut erhob sich von der Bank. Es kostete ihm Mühe, zu sprechen:
»Ich danke Ihnen für diese Wahrheit. Verzeihen Sie mir und leben Sie wohl!«
296 Mit eiligen Schritten verließ er den Garten.
»Eisenhut!« rief eine sanfte Stimme hinter ihm.
Er wandte sich nicht um. Der rauschende Wald verschlang seine Tritte.
Auf der Bank neben dem Jasminbusch saß noch lange das weißgekleidete Mädchen und sah auf die Steinnelke, die wie eine Blume des Schattenreichs zwischen ihren Fingern im Dunkel zitterte. Sie machte sich allerhand Gedanken, und mehr als einmal seufzte sie, bis der kühle Nachtwind und der fallende Thau die Leichtgekleidete in's Haus trieben. 297