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Es ist immer nur der erste Schritt, der einen mächtigen Anstoß von Nöthen hat, und manche Handlung, die uns zu symbolischer Verwerthung viel zu geringfügig und lächerlich scheint, ist doch das ernsthafte Symptom einer tiefgreifenden innern Veränderung.
Wer Eisenhut gesagt hätte, daß er mit dem neuen modischen Sommeranzug auch einen neuen Menschen anziehen würde, der wäre wahrscheinlich schlimm bei ihm angekommen. Und doch war der neue Mensch, der den Rock anziehen sollte, früher fertig, als der neue Rock, der, wie es den alten Praktikanten dünkte, über Gebühr auf sich warten ließ.
Vor seine Gedanken war seit zwanzig Jahren zum ersten Mal wieder ein hohes Ziel gestellt worden. Sein Dasein hatte einen anderen Zweck, als Nahrung und Schlaf zu verdienen. Seine Wünsche drehten sich um ein edleres Wild als die Hühnerschaft, die im Moore nistete. Es war über ihn gekommen wie ein Zauber aus den Wolken. Und da seine Seele so lange brach gelegen, da er viele Jahre 153 keine Aufregung mehr in seinem Herzen vertieft und, unangefochten im Alltagsleben, sich Frische und Unverdorbenheit der Empfindung bewahrt hatte, so war der Wunsch nach neuem Glück, der jetzt ihn bewegte, von so jugendlicher Kraft, daß alle die Bedenken, die Sorgen, die Zweifel, die Entmuthigung, die Jeder in seinen Jahren und seiner Lage so natürlich gefunden hätte, ihm gar nicht nahen durften.
Er stand dem Glücke gegenüber wie ein Diener einem Herrn, den alle Anderen über Gebühr um Gunst und Gaben angefleht, während er bis heute noch seinen verdienten Lohn nicht gefordert hat. Jetzt war auch ihm die Zeit gekommen. Er hatte das Glück nie mit den tausenderlei Wünschen behelligt, wie die Anderen gethan. Aber jetzt wollt' er sein ganzes Theil auf einmal.
Er war nicht nur bei des Pfarrers Schneider in der Residenz gewesen, sondern auch im Ministerium. Allein die Herren im Ministerio hatten große, ungläubige Augen gemacht, wie da der vergessene Mann aus seiner hinterwäldlerischen Behaglichkeit aufgetaucht kam und Ansprüche auskramte, über die man längst, ach wie gar lange schon! zu den verschiedensten Tagesordnungen übergegangen war. Und selbst die Freunde lachten nur, als er von dem neuen Menschen und seinen ernsten Wünschen etwas merken ließ. Einem, der, wie er, mit solcher Lust und Behaglichkeit verbauert war, dem konnt' es doch nicht Ernst sein, über den Wald zurückzuwollen. Und wenn auch Ernst vielleicht, so war es doch über sein Vermögen. Er konnte nicht mehr unter den 154 Städtern fortkommen; er sollte das nur versuchen, um sich zu überzeugen. Was hatte er so viel Zeit verloren!
Eisenhut ballte die Faust im Sack und vermied die überklugen Freunde, die besser als er wissen wollten, wie ihm zu Muth war, was er brauchte, wollte und konnte. Aber auch ihre Unzuverlässigkeit rührte ihn nicht tief. Er war von der Kraft seines Willens so durchdrungen, von der Gerechtigkeit seiner Ansprüche so überzeugt und von Hoffnung und Geduld so gewappnet, daß ihn derlei kleine Mißhelligkeiten nicht nur nicht wankelmüthig machen, daß sie ihm nicht einmal die Laune trüben konnten.
Nun ging er daran, seinen alten Notar auszuholen. Der Mann war sehr alt, sehr bequem, aber auch sehr eigennützig. Er hatte sich in einem Dutzend Jahre so sehr daran gewöhnt, daß der schlichte, zuverlässige Eisenhut gegen mäßiges Entgelt für ihn die Arbeit that, daß jede Aussicht auf Veränderung dieser Lage ihn ernsthaft verstimmen mußte. Er fand gerade diese Art, sein Amt auszuüben und zu genießen, so behaglich und einträglich, daß er es mehr denn je liebte und weniger als je daran dachte, sich von diesem lieben Amte zurückzuziehen.
Der Eisenhut sein Bureau verlassen! Unsinn, nicht des Nachdenkens werth! Man wird ihm seinen Gehalt aufbessern – die Zeiten sind ja kostspieliger geworden – dann thut er wieder gut! Kein Zweifel!
Gewöhne nur Einer in seiner Gutmüthigkeit die Menschen daran, daß er ihren Karren schiebt, und sie werden 155 die Zumuthung himmelschreiend finden, ihn nicht in alle Ewigkeit als geborenes Zug- und Lastthier von Gottes Gnaden betrachten und behandeln zu dürfen.
Der biedere Notar wollte ebensowenig wie die Freunde in der Stadt und die Mächtigen im Ministerium daran glauben, daß der alte Praktikant anderswo als hier über dem Moor existiren könnte, wo die Jagd so gut, das Bier so vorzüglich, das Leben so billig und das Bureau so bequem war; er hielt es für ganz undenkbar, daß Eisenhut ihm aus dem Geschirr springen könnte.
Freilich erklärte sich der Konzipient mit aller Schonung allgemach deutlicher. Er wies auf seine ausdauernden, uneigennützigen Dienste hin, sprach von jüngeren Kräften und von der verdienten Ruhe, die sich ehrbares Alter gönnen sollte, und wie für den Fall, daß der Besitzer des Bureau sich in den Ruhestand zurückzuziehen gedächte, wohl er, Eisenhut, das beste Recht erworben hätte, ihn abzulösen.
Der alte Herr schien ihn erst gar nicht zu verstehen und gerieth hernach in tobenden Unmuth. Er hatte sich ein paar Jahrzehnte hindurch als Bauernadvokat sein tägliches Brod verdient und hatte sich erst nach Einführung des Notariats in seinen alten Tagen ein Vermögen gemacht, an dem er nun mit um so größerer Liebe hing, je länger er vergebens hatte darnach schmachten müssen. Ein Mann mit einem Vogelgesicht, mit rothen Augenlidern und blassen Augen, mit einer Habichtsnase und schlaff über die Kravate hängenden Backen. Er war einer von Denen, die noch 156 immer eine weiße Halsbinde tragen. Und über dieser sogenannten weißen Halsbinde wackelte das welke Haupt in Einem fort, als ob es nur so mit einem Stiel in die Kravate hineingesteckt, nicht fest an den Rumpf gewachsen wäre. Wenn er sprach, nahm er die dickgeränderten silbernen Augengläser in Einem fort ab oder auf. Und wenn er schwieg, rieb er sich den vorlauten Bauch, der das Auffälligste an der sonst ziemlich unbedeutenden Erscheinung war.
Da Eisenhut deutlich und bestimmt erklärt hatte, daß es ihm dießmal nicht um Gehaltserhöhung, sondern endlich um ein eigenes, wohl eingerichtetes und einträgliches Notariat zu thun wäre, daß er, falls dem Alten das seinige nicht feil wäre, ihn verlassen und sich um ein anderes umthun werde, so geriethen die Beiden hart aneinander. Zum ersten und letzten Mal im Leben. Sie waren bislang so gut miteinander ausgekommen. Bald stand es für Eisenhut fest, daß er diese Stelle aufgeben müsse, und demgemäß fiel in kurzen Worten seine Erklärung aus.
»Meinetwegen!« kreischte der Notar und schlug die Dose auf's Pult, daß es knallte. »Ich will Ihrem Glück nicht hinderlich sein, aber ich habe nicht Lust, mich Ihnen zuliebe in's Grab zu legen oder – was mir noch dümmer vorkäme – mich bei lebendigem Leibe von Ihnen beerben zu lassen.«
»Gott erhalte Sie noch lang und gesund, Herr Doktor! Nach unerlaubter Förderung habe ich nie getrachtet. Was ich für Recht halten muß, weiß ich allein. Jeder von uns 157 Beiden weiß, was er will. Genug von dieser Sache! Verlieren wir weiter keine unnützen Worte. – Also zu den Geschäften!«
»Ist mir auch lieber!« brummte der Notar. »Die Geschäfte bleiben immer das Wichtigste. Wo ist der Kalender? . . . Ja, was ich im Voraus bemerken wollte, die verdammte Person, die Quacksalberin, die Schwindlerin . . . ich kann mir keine Namen merken . . . die Dingsda . . .«
»Die Moosrainerin,« ergänzte Eisenhut.
»Ganz richtig. Eben die hat gestern in der Nacht noch einen Boten geschickt. Es will wieder Jemand, den sie mit ihren Teufelsmixturen zu Schanden kurirt hat, sein Testament machen. Es sollte gleich unsereiner mitkommen, so zwischen Elf und Mitternacht. Habe gesagt, wir könnten um die Zeit nicht aufwarten, aber morgen Nachmittag – wie heut also – würd' ich meinen Herrn Konzipienten schicken. So lange sollte sie ihrem Narren von Patienten das Leben lassen! – Die reichgewordene Bauernbagage glaubt, unsereiner muß nur so in die Höh' hupfen, wenn sie ›da komm' her‹ pfeift. Aufgesessen! Morgen ist auch noch ein Tag.«
Hier stopfte der Notar eine mächtige Prise in seine Habichtsnase und schneuzte sich zur Bekräftigung seiner Worte, als gält' es, die Mauern Jerichos umzublasen. Dann fügte er seiner vorigen Rede nur die doppelschneidige Versicherung hinzu:
»Die Welt wird immer dümmer.«
158 »Wer ist denn der gefährlich Erkrankte?« fragte, ohne von Papier und Feder aufzusehen, Eisenhut.
»Ja, wer ist's!« antwortete der Doktor, die Brille abnehmend und wieder aufsetzend, um die Hände frei zu machen, die nun alle Taschen umkehren sollten. »Wo hab' ich denn das Papier hingesteckt? . . . Ach, es ist droben in meinem Schlafrock. Es ist ja stockfinstere Nacht gewesen, wie ich's gekriegt hab'. Da hab' ich's halt oben in der Wohnung vergessen. Was schad't's! Seien Sie nur so gut, Herr Konzipient, und fahren's in Kommission hinüber. Die Moosrainerin ist ja ohnehin immer daheim. Und wenn nicht, weiß es das Murmelthier, ihr Mann. Sie sind ja, so viel man hört, bekannt und befreundet mit der saubern Familie. Da werden Sie Alles leicht erfahren, wo, wer und was. Ja, à propos, Sie haben ja gar nicht übel verkauft an die Rainmooserin . . .«
»Moosrainerin,« verbesserte Eisenhut.
»Meinetwegen der Teufel und seine Großmutter . . . Aber Sie hätten noch mehr kriegen können. Und weil Sie's nicht gekriegt haben, drum wollen Sie nun das Notariat auch. Was nit noch! . . . Ja, da war der Damian Bartel der Schlauere. Der hat die Marktschreierin, die malefizische, anders zu zwicken verstanden. Gott gesegne's ihm! Warum sind Sie nicht auch so gescheidt gewesen? Aber wie gesagt, die Welt wird immer dümmer!«
Eisenhut meinte auch ohne den Zettel in des Notars Schlafrock genau zu wissen, wer drüben in Mariatannerl 159 sein Testament zu machen Willens war. Und da er sich der seltsamen Diagnose, welche die Moosrainerin ihm erst kürzlich mitgetheilt hatte, deutlich erinnerte, so war er über die traurige Seite des Geschäftes so ziemlich getröstet. Er hielt dafür, daß die Aufregung in Vorbereitung, Aufsetzung und Einhändigung des Testamentes nicht viel anders gesucht werde, als eine Art Zerstreuung in der Langeweile dieses hinterwäldlerischen Kurortes, der aus allerhand und den verschiedensten Ursachen, gleichsam über Nacht, Mode geworden war.
Oder war doch noch Bedenkliches hinter der Sache und drohte den Menschen, die mehr als alle Anderen seine Gefühle und Gedanken beschäftigten, ein ernstes Unheil? Er konnte nicht recht daran glauben. Aber seine innere Unruhe wuchs doch mit jeder Viertelstunde und er beeilte sich, seine Akten zusammenzubinden und sich, sobald der ärgste Sonnenbrand vorüber, auf den Weg durch den Wald zu machen.
Hier im Schatten wandelnd, überfiel ihn auf einmal der Gedanke, ob nicht am Ende gar eines der süßen Kinder plötzlich verunglückt wäre und seinen letzten Willen zu Papier bringen wollte. Aber Mädchen von siebenzehn Jahren pflegen keine Testamente zu machen. Er mußte sich selbst belächeln. Eine Ueberlegenheit des Geistes, die auf die Dauer durchaus nicht hinderte, daß sein Herz den ganzen Weg entlang ihn mit ebenso thörichten Befürchtungen und unmöglichen Vorspiegelungen marterte, als sie jeder andere Verliebte in seiner Lage hätte ausdulden müssen. –
160 Das körperliche Befinden der Frau von Rüdenhausen war nun allerdings keineswegs so verzweifelt, daß bei längerem Ausbleiben notarieller Hülfe Gefahr im Verzuge gewesen wäre. Man kann, genau betrachtet, auch nicht beschwören, daß sich ihr Zustand in der letzten Woche verschlimmert oder aber der Bauerndoktorin über denselben ein neues, Bedenken erregendes Licht aufgegangen wäre. Nichts von alledem! Aber der macchiavellistische Kopf auf den derben Schultern der Moosrainerin hatte sich's nun einmal vorgesetzt, hier ein wenig Vorsehung zu spielen und die Marionetten, die sich freiwillig an ihre strammen Finger gehängt hatten, zu Nutz und Frommen Derer, die sie liebte, durcheinandertanzen zu lassen.
Nach der Geburt der beiden Zwillingstöchter hatte die zarte Frau von Rüdenhausen sich lange nicht erholen können. Es war ihr in Körper und Geist, wie sie sagte, eine gewisse Müdigkeit zurückgeblieben, der sie um so weniger Herr werden konnte, als sie schon von Natur ziemlich eigensinnig, träg und empfindlich war, sich in ihrem wagrechten Dasein, mit ihrer hübsch coiffirten Duldermiene ungemein interessant vorkam und von ihrem Gatten, ihrer Familie, ihren Freunden über alle Maßen verhimmelt, verweichlicht und verhätschelt wurde.
Anfangs wunderte sie sich oft selbst im Stillen, wie rasch alle Launen, die sie ausheckte, zu verwirklichen waren. Später fand sie es nur natürlich, daß sie für die lieben Ihrigen nach Willkür Regen oder schön Wetter machte, daß sie in 161 ihren kleinen, verzärtelten Händen die Zügel absoluter Herrschaft führte.
Manchmal kam es noch mit Gewalt über sie, daß sie des ewigen Haushütens müde ward. Dann ging sie mit einer Leidenschaftlichkeit und Ausdauer, die Jeden in Erstaunen setzte, in die große Welt, tanzte, ritt, dinirte, soupirte jeden Tag und Abend anderswo, stellte lebende Bilder und veranstaltete Wohlthätigkeitsvorstellungen, Tombolas, Picknicks, Zigeunerkonzerte, Reiterquadrillen und was ihr sonst in den erfindungsreichen Kopf kam.
Je athemloser sie dann jedesmal sich in den Strudel gesellschaftlicher Vergnügungen stürzte, desto rascher und kläglicher fiel der Rückschlag über sie. Sie erklärte dann plötzlich eines Abends, daß alle Kraft sie verlasse; sie litt an Schwindel, Herzbeklemmung, Athemlosigkeit. Das Leben war ihr nur auf ihrem Sopha erträglich, bei mattem Licht, weißer Kost, leisem Gespräch und beschränkter Geselligkeit. Jeder Versuch, sich zu ermannen, wurde durch Schmerzen, Thränen und allerhand Nervositäten bezahlt. Kaum daß sie ab und zu ein bischen sanfte Musik oder etliche Seiten aus ihren Lieblingsschriftstellern hören und ihre freilich sehr munteren Töchter ein paar Stunden im Tag um sich ertragen konnte.
Es versteht sich von selbst, daß eine von ihren Nerven so geplagte Dame auch für den herzlich geliebten Mann nicht immer zu sprechen, und wenn auch zu sprechen, nicht, immer von ungetrübter Laune war.
162 Herr von Rüdenhausen war der bequemste Mensch von der Welt. Ein Virtuose an Liebenswürdigkeit und Lebenslust. Niemand wußte, wie er, Anderen und auch sich selbst das Leben angenehm, ja genußreich zu machen. Es gab keinen duldsamern Mann als ihn. Er ließ Jeden nach seiner Fasson selig, sittlich und satt werden. Ganz erfüllt von jenem sublimen Egoismus, der in jedem Leidenden eigene Noth, in jedem Glücklichen eigene Lust empfindet, that er Alles, was nur in seinen Kräften stand, um Jeden in seiner Umgebung so glücklich als möglich zu machen, ließ sich aber auch nicht im mindesten stören, sein eigenes Glück, sein Behagen und seine Freude so vollständig zu gestalten, als es, ohne den Rechten Anderer zu nahe zu treten, nur immer thunlich war.
Er hatte seiner Frau jeden Wunsch von den Augen abgelesen, er hatte, wo sein gütliches Zureden nicht ausreichte, ihr den Gefallen gethan, ihre kleinen Leiden für große, ihre eingebildeten Schmerzen für wirkliche, ihre Launen für Bedürfnisse zu halten. Die Liebe half auch, den klugen Mann etwas zu verblenden. Und wenn endlich seine Frau immer und immer versicherte, daß ihr nur auf dem Sopha das Leben erträglich und ihr Einsamkeit ein häufiges Bedürfniß sei – warum sollte ein Mann von seinen Grundsätzen sie auf einen harten Stuhl und zu Gesellschaft zwingen, selbst zu seiner eigenen?
Er vernachlässigte seine Frau nicht. Denn er liebte sie aufrichtig und er war ein Mensch von feinster Lebensart und 163 der auf seinen Ruf hielt. Er hielt aber auch auf seine gute Laune, die er als die Lebensluft eines guten Charakters achtete, und bedurfte bei angestrengter Thätigkeit der Erholung, ja zuweilen der Zerstreuung.
Zu einer glänzenden Laufbahn mit glänzenden Fähigkeiten geboren, hatte er diese Gunst des Zufalls und der Natur durch Fleiß, Ausdauer und ernsthaftes Streben gleichsam zu rechtfertigen gesucht. Er füllte seine hervorragende Stellung mit all' der Gewissenhaftigkeit aus, die bei seiner Lebensauffassung zur Grundlage des Behagens gehörte; schonte seine Kräfte nicht und war in aller Verantwortlichkeit peinlich gegen sich selbst. Das Wohlwollen des Fürsten, das Vertrauen des ganzen Landes, die Achtung selbst gegnerischer Parteien lohnten ihm dafür. Aber um die Elastizität seines Wesens zu erhalten, bedurften seine Mußestunden Genuß und Abwechslung.
Er liebte frohe Gesichter und gute Kameradschaft, er liebte große Reisen und kleine Soupers, er hatte Augen für schöne Menschen und schöne Thiere, und war von Denen, welche die Jugend an Anderen immer mehr zu schätzen wissen, je mehr sie ihnen selbst entschwindet.
Zwischen ihm und seiner Hausfrau herrschte das artigste Einverständniß. Im Laufe der Jahre hatte sich eben die Lebensweise eines jeden der beiden Gatten so geregelt, wie sie eines jeden Neigungen am besten entsprach. Vielleicht empfand ein jeder der beiden Menschen im Stillen, daß er dabei ein wenig zu kurz käme. Frau von Rüdenhausen 164 erlaubte sich vielleicht auch, ab und zu diesem Gedanken zierlichen Ausdruck zu geben. Aber so wenig Herr von Rüdenhausen sich gestattete, die Wünsche seiner Frau mit seinem Besserwissen zu beherrschen, so wenig ließ er ihre Launen auf seine Bedürfnisse maßgebende Gewalt ausüben. So seufzte sie denn zuweilen aus Gewohnheit, wie er aus Gewohnheit lachte. Im Uebrigen lebten sie in Achtung, Liebe und Eintracht weiter ein Jahr um's andere und erfreuten sich am Gedeihen ihrer schönen Kinder.
Allmälig verlor Herr von Rüdenhausen einige Haare und nahm etwas an Leibesfülle zu. Seine gute Laune, seine Genußfähigkeit und Beweglichkeit blieben im Gleichen. Die Dame des Hauses aber ward nur immer melancholischer, je öfter sie den eleganten Handspiegel vor ihr noch immer interessantes Gesicht brachte. Die schöne Jugend war dahin! Kein Seufzer holte sie wieder ein. Die Frau war viel zu gescheidt, um sich darüber selbst zu belügen; sie hatte viel zu viel Achtung vor ihrer eigenen Schönheit gehabt, um sich auch jetzt noch schön zu finden.
Aber erfreulich war diese Entdeckung nicht und wirkte auch nicht so. Nun blieben die heftigen Aufregungen, welche sie zuweilen in den buntesten Strudel der großen Welt gestürzt hatten, gänzlich aus. Zum Unglück für ihr Gemüth und ihren Körper, denn dieß Aufraffen hatte immer kräftigend auf ihren Willen, dieß Untertauchen in den Strom der Freuden erquickend auf ihre Nerven gewirkt; erst mit der Uebersättigung hatten dieselben sich wieder unfreundlich gemeldet.
165 Nun aber kam ein Erschlaffen, ein Hinbrüten, ein Verzweifeln über sie, das selbst dem leichtlebigen Herrn von Rüdenhausen wie eine ernsthafte Gemüthskrankheit erschien. Er gab sich Mühe, dem Uebel zu steuern; er opferte Zeit und Freuden, um die Gattin ihrem Trübsinn zu entreißen. Umsonst! Er verdarb nur sich die eigene Laune, ohne die seiner Gattin im geringsten aufzuhellen. Er verursachte ihr nur neue Pein durch den Zwang, den sie ihm zu Gefallen sich auferlegte, heiterer zu scheinen, als sie war. Sie machte kein Hehl daraus, daß sie diese Verstellung immer mit gesteigertem Unbehagen, schlaflosen Nächten und beängstigenden Vorstellungen bezahlen müsse. So gab er die Mühsal auf und ließ sie, so leid es ihm that, gewähren.
War sie früher tagelang auf dem Sopha gelegen, so blieb sie nun im Bette wochenlang. Hatte sie früher die Speisen mit zimpferlicher Vorsicht ausgewählt, so aß sie jetzt oft tagelang gar nichts, und dann unregelmäßig, unvorsichtig und wozu ihre krankhafte Laune eben Reiz empfand. Sie war nicht zu überreden, in frischer Luft zu wandeln. Monate gingen darüber hin, bis sie sich entschloß, einmal im Wagen auszufahren. Und was weinte sie!
Nachdem sie diese unsinnige Lebensweise ein paar Jahre geführt und allem Zuspruch von Freunden und Aerzten den passiven Widerstand einer verwöhnten Frau entgegengesetzt hatte, strafte sich ihr Eigensinn am eigenen Leibe. Die schlechte Gewohnheit ward zur Krankheit.
Eines Tages, da sie, des Bettliegens müde, in einem 166 Anfall alter, plötzlicher Entschlossenheit aufsprang, um auf den Balkon zu gehen, versagten ihr die Kniee, die Beine knickten zusammen und da lag sie mitten auf ihrem Teppich, ein hülfloses Ding, das sich aus eigener Macht nicht mehr erheben konnte.
In ihrer Umgebung war Niemand, der sie zum Aufstehen zu zwingen gewagt hätte. Ihre krankhaft gereizte Phantasie ließ ihr Unfall und Schwäche im trübsten Licht erscheinen. Sie hielt sich für geschlagen und gelähmt, empfand an bestimmten Stellen ganz bestimmte Schmerzen, gegen die mit Umschlägen, Aderlässen und Medikamenten ein ebenso energischer als fruchtloser Vertilgungskrieg geführt werden mußte. Jede, auch die liebevollste Zumuthung, sich versuchsweise auf die Beine zu stellen oder gar sie zu erfahrungsmäßigem Gebrauche zu bewegen, ward mit den bittersten Vorwürfen, mit heiliger Entrüstung, mit Strömen von Thränen zurückgewiesen.
Die Aerzte waren natürlich von den verschiedensten Meinungen. Der Eine suchte den Sitz des Uebels hier, der Andere dort. Der Eine wollte innerlich, der Andere äußerlich darauf wirken. Der Fall machte Aufsehen. Fremde Berühmtheiten besuchten die interessante Patientin, um den gelehrten Kopf über jenen hülflosen Knieen zu schütteln, die hülflos blieben nach wie vor. Medizinen von allen Farben waren verschluckt, Pflaster und Bandagen jeglicher Art erduldet, Diäten der widersprechendsten Methoden überstanden. Alles ohne den gewünschten Erfolg. Jede Besserung erwies 167 sich als flüchtige Täuschung, die nur allzu bald dem gewohnten Zustande wieder Raum gab.
So waren wieder ein paar Jahre in häuslicher Betrübniß verwichen, da fingen die Zeitungen an, der bäuerischen Naturärztin, sei's durch Lob, sei's durch Tadel, Ruf zu bereiten.
Insgeheim bat Frau von Rüdenhausen eine vertraute Freundin, sich durch eigenen Augenschein von Charakter und Art der Moosrainerin zu überzeugen.
Diese, eine jener stets opferfreudigen Naturen, die nie müde werden, sich und ihre selbstlose Güte, hingebende Freundschaft und weise Geschäftigkeit in Szene zu setzen, überspannt und zu Superlativen geneigt, wie ihre Freundin, die sie ausgeschickt, fand in der Mode gewordenen Bäuerin eine messianische Gestalt.
Gerade in den höheren und anscheinend kälter gelegenen Regionen der Gesellschaft bricht manchmal ein plötzlicher Enthusiasmus aus, der leicht fanatische Formen annimmt. Solch' ein Enthusiasmus führte die Hand, die jetzt ein entzückendes Bild der Herrin von Mariatannerl und ihrer neuen Heilanstalt entwarf. Und nun mochten Mann, Arzt und Freunde sagen, was sie wollten, bei Frau von Rüdenhausen stand es unerschütterlich fest, nur von der Moosrainerin und von sonst keiner Heilkraft zwischen Himmel und Erde habe sie noch Genesung zu hoffen.
Der Staatsrath kriegte einen gelinden Schrecken, als er diese Absicht laut werden hörte. Alles, was nach einer 168 Lächerlichkeit aussah, war ihm zuwider; er konnte solche auch zu seiner Stellung nicht brauchen. Aber gewohnt, die Dinge, wie sie sind, zu nehmen, fand er allgemach auch an diesem Projekt eine gute Seite heraus. Und je länger er diese gute Seite betrachtete, desto mehr Hoffnungen sah er daraus erblühen. Bald hatte der Vorschlag seine volle Billigung.
Es war nach seinem Ermessen ein Landaufenthalt in frischer und gesunder Luft, und die Wirkung auf's Gemüth der Leidenden war ihm mehr werth, als die Gelehrsamkeit der Aerzte. Wem hat nicht schon sein Glaube geholfen!
Nur die Trennung von den Töchtern empfand er schwer. Denn ein Mann von seiner Art liebte nichts in der Welt so abgöttisch wie seine ebenso schönen als guten Kinder. Doch war er dieß Opfer zeitwilliger Trennung seiner armen Frau und seiner eigenen Hoffnung schuldig.
Er suchte selbst die Wohnung aus und führte seine Familie in das elegant ausgerüstete Häuschen ein, das einer Grille der Erbauerin zuliebe den Namen »Villa Distelfeld« erhalten hatte.
Die Moosrainerin, derb von Natur und hart geführt durch's Schicksal, hatte für Kranke von der Art der Frau von Rüdenhausen wenig Sinn. Mag sein, daß sie vor Zeiten schon manchen solchen Fall gesehen, bei ihr stand gleich am ersten Tage die Vermuthung und nach der ersten Woche aufmerksamer Beobachtung die Gewißheit fest, daß die reiche, verwöhnte, hartnäckige Frau nur am Willen, nicht an den Beinen krank sei, ob sie auch selbst darüber ehrlich 169 anders dachte und in den zur Unthätigkeit verurtheilten und durch allerhand Kuren mißhandelten Beinen wirkliche Schmerzen empfand, so oft sie mit halbem Ernst, angstvoll und ungeschickt, den Versuch wagte, sich ihrer zu bedienen.
Hätte die Moosrainerin eine Bauersfrau vor sich gehabt, sie hätte ihr mit Grobheit, vielleicht mit dem Stock in der Hand die Leistungsfähigkeit ihrer Gliedmaßen demonstrirt. Solche Mittel verfingen hier nicht. Und hier lag ein besonderer Fall vor. Ein Fall, der schon seine Berühmtheit hatte, besonders in den Schichten der Gesellschaft, welche der Moosrainerin die wichtigsten sein mußten. Ein Fall, der von namhaften Aerzten aufgegeben war, dessen Heilung ihr, wenn sie gelang, einen Ruf ohnegleichen eintragen mußte.
Und daß die Heilung möglich wäre, darüber war die barsche Doktorin sehr beruhigt, sobald sie sich überzeugt hatte, daß Patientin bei ganz regelmäßig ausgebildetem Verstand und nicht mehr monomanisch besessen war, als man es von jedem verhätschelten Eigensinn annehmen darf.
Zeit, Geduld und Geschicklichkeit, die vonnöthen, waren nach der Meinung der Moosrainerin ja vorhanden. Eine Ueberstürzung der Sache war von keiner Seite zu befürchten. Kurz angebunden, wie sie ihrer ganzen Klientel gegenüber ohne Ansehen des Standes und Vermögens war, hörte sie wenig auf Klagen und ließ der leidenden Dame noch manche Laune hingehen. Nur Lebensweise, Stundenordnung und Speiszettel waren unwidersprechlichen Vorschriften unterworfen. All' diese Regelmäßigkeit hatte auf den Körper der 170 Leidenden, ohne daß sie's noch merkte, die beste Wirkung. Das vorgeschriebene Verweilen in freier Luft ermüdete die Kranke so sehr, daß ihr Eigensinn alle Widerstandskraft verlor und sich von ihrem Vertrauen auf die Moosrainerin gängeln ließ, wie von der Zuversicht zu einem höheren Wesen. Diese verordnete nach einiger Zeit Bäder, Knetungen, Einreibungen. Endlich, nachdem zwei Monate lang von Stehen und Gehen kein Sterbenswörtchen verlautet hatte, kam der Machtspruch: Erhebe dich und wandle!
Einen dieser ersten Versuche hatte Eisenhut von ungefähr, an seinen Waldbaum gelehnt, mit angesehen.
Der Rückschlag blieb nicht aus. Noch einmal kam der widerspenstige Geist zu vollem Durchbruch. Frau von Rüdenhausen lag so aller Kräfte bar darnieder, als wäre sie vom Dach auf den Hof gefallen. Die verschiedenen Versuche, nach Vorschrift der Wunderdoktorin ihre Füße zu gebrauchen, hatten sie, wie sie sagte, im innersten Kern des Lebens angegriffen. Noch so ein Versuch und der Tod wäre ihr gewiß. Sei sie doch so erschöpft, daß sie glauben möchte, schon die bisherigen Versuche – zu denen sie sich nie hätte verleiten lassen sollen – gingen ihr an's Leben.
Die Moosrainerin sprang ungeduldig von ihrem Sessel auf. Schon war sie im Begriff, der verwöhnten Stadtdame einmal auf gut Bayerisch die Wahrheit vorzugeigen, daß es ihr Zeitlebens in den kleinen Ohren gellen sollte. Aber sie wäre nicht die Moosrainerin gewesen, wenn sie sich von ihrer Aufwallung zu einem unbedachten Worte hätte 171 hinreißen lassen. Ehe eine Sylbe den kochenden Unmuth verrathen konnte, beherrschte sie schon wieder ihre Zunge, ihre Geberde, ihren Blick so vollständig, daß die ungestüm Klagende nicht anders meinen konnte, als die herbe Bäuerin wäre von ihren Vorstellungen und Thränen ebenso überzeugt wie gerührt.
Frau Afra hatte sich wieder in ihren Stuhl gesetzt. Die gekrümmte Hand am Munde sah sie immer nachdenklicher, immer ernsthafter, immer besorgter aus, je länger die Dame von Rüdenhausen ihre Beredsamkeit ausübte. Diese ward von dem unerwarteten Eindruck ihrer Vorstellungen nur zu weiteren Auseinandersetzungen und salzigeren Thränen begeistert. Daß auch die harte Moosrainerin vor ihrer Nervosität den Kürzern ziehen sollte, daß sie auch auf diese geprüfte Menschenkennerin solchen Einfluß haben könnte, das hatte sie nie geglaubt.
Derweilen dachte die Bauerndoktorin: Warte, Du verwöhnte Prinzeß, für solche Faxen ist doch noch Medizin in meiner Apotheke. Du willst mir weismachen, daß meine Versuche Dich zum Sterben angegriffen haben? Redest vom Sterben, als käm's von ungefähr, so etwa wie ein Kinderspiel? Ich will Dir!
Sie griff plötzlich nach dem Handgelenk der Dame, fühlte ihr den Puls, kratzte sich hinter den Ohren, schüttelte den Kopf und sah – unglaublich, aber wahr – noch verdrießlicher aus als bislang.
Der Dame ward Angst. Thränen und Worte versiegten 172 für einen Moment, dann flehte sie mit trockener Stimme die Moosrainerin an, ihr zu sagen, was sie dächte.
Frau Afra sagte jedoch nichts, sondern biß in ihre Unterlippe, was sehr bedenklich anzusehen war, und als die Geängstigte ihre Bitten wiederholte, stieß sie nur einen leisen Brummton aus, der Keinem, der ihn hörte, zu großer Aufheiterung dienen konnte.
Die beiden Zwillinge, Florence und Violette, die in den letzten Tagen von ihrer nervösen Mama nicht eben wenig auszustehen gehabt hatten und blasser und zarter als je drein sahen, falteten die Hände und vereinigten ihre Bitten mit denen der Mutter. Dieser jagten tausend Gedanken wie ein wildes Heer durch den Kopf.
Die Bauerndoktorin schien sich anfangs auch daran nicht zu kehren. Sie maß mit ihren unweiblichen, großen Schritten den kleinen Salon dreimal auf und ab, die Hände auf dem Rücken, die Blicke zu Boden. Es war wohl Augentäuschung, daß es Violette einmal so vorkam, als säße etwas wie ein boshaftes Lächeln in dem linken Mundwinkel des schweigenden Orakels. Die nächste Minute schon ließ dem guten Kinde diese falsche Wahrnehmung wie ein Verbrechen erscheinen.
»Wenn die Fräulein mich ein wenig mit der Frau Mama allein lassen wollten!« sagte die Moosrainerin leise.
Was konnte das anders als einen entsetzlichen Aufschluß bedeuten, den die Furchtbare nicht vor den Ohren der Kinder verlautbaren wollte! Immerhin mußten diese sich auf 173 einen Wink der Mutter fügen. Sie schlichen tiefbetrübt vor die Thüre, lehnten sich aneinander und schluchzten Eine auf der Andern Schulter.
Frau von Rüdenhausen hatte eine verklärte Duldermiene angenommen. Sie kam sich selber großartig vor, wie sie jetzt zur Moosrainerin sagte:.
»Sprechen Sie! Sprechen Sie rückhaltslos! Ich bin gefaßt, Alles zu hören.«
Diese dagegen sah aus, als wollte sie sich in ein Mauseloch verkriechen. Niemand hat sie so kleinlaut gehört, wie jetzt, da sie anhub:
»Hochverehrte Frau Staatsräthin, ich glaube . . . Sie haben Recht. Gott verzeih' mir's, aber ich glaube, wir sind ein wenig zu jach mit Ihnen vorgegangen. Ihre Natur ist noch zu sehr geschwächt, um so anstrengenden Versuch sich zumuthen zu dürfen. Ich bin nie betrübter und zerknirschter gewesen, als in dieser Stunde. Ich gebe noch immer die Hoffnung nicht auf . . . Nein, wahrlich nicht! Ich sage das nicht, um Ihnen zur Beruhigung etwas vorzulügen. Das ist nicht unsere Art! . . . Ich habe noch Hoffnung. Ja! Aber ehrlich wie immer sage ich: weniger Hoffnung als gestern. Ein neuer Versuch zu stehen und zu gehen könnte wahrlich von schlimmen Folgen für Sie sein. Thun wir Alles, die Folgen der bisherigen Versuche zum Guten zu wenden. Und . . . seien wir als Christen auf Alles gefaßt!«
»Jesus, Maria und Joseph!« rief Frau von 174 Rüdenhausen halblaut und draußen im abgeschlossenen Zimmer hörte man Florence und Violette aufschluchzen.
»Verlieren Sie den Muth nicht, gnädige Frau!« versetzte die Moosrainerin. »Aber wenn die Schwäche zunehmen sollte . . . Haben Sie schon einmal Ihr Testament gemacht?«
Der Dame von Rüdenhausen war's, als ob ihr für einen Augenblick das Bewußtsein versagt hätte. Dann kam ihr der Gedanke kurz und gut: das ist ja Uebertreibung! In der nächsten Minute jedoch hatte die rasch um sich greifende Furcht diesen Gedanken verschlungen. Die Bestürzte hatte Mühe, sich so weit zu bemeistern, daß sie die Worte hervorbringen konnte:
»Ich will mein Testament machen . . . heute noch!«
Diese Bereitwilligkeit schien der Aerztin Freude zu bereiten. Heiterer als vorhin sagte sie:
»Es ist nur der Vorsicht halber. Auch ist noch Niemand am Testamentmachen, so wenig wie an der letzten Oelung verstorben. Im Gegentheil ist Mancher darauf zusehends wieder besser geworden. Also gut's Muths sein, die Gedanken zusammennehmen und die Hoffnung nicht verlieren . . . Gott behüt' Sie, Frau Staatsräthin.«
Es ist doch eine rohe Natur, diese Wunderdoktorin! dachte Frau von Rüdenhausen, konnte aber nichts hervorbringen, so reichlich flossen ihre leisen Thränen. Nur die blaugeäderte, wohlgepflegte Dulderhand streckte sie gnädig nach der Rücksichtslosen aus. Diese schüttelte sie herzhaft 175 und ging. Die Dame zuckte zusammen, als sie die Scheidende sagen hörte:
»Ich werde schon Alles, was nöthig wird, besorgen!« –
Derweilen im Vorzimmer Florence und Violette die Wunderdoktorin mit so vielen Fragen bestürmten, daß diese Mühe hatte, nur eine und die andere zu beantworten und die besorgten Mädchen so gut als thunlich abzuschütteln, faltete Frau von Rüdenhausen die Hände, und mitten in ihrer Angst und Betrübniß schien es, als fände die Stimme der Wahrheit plötzlich den Weg zu ihrem Herzen.
Es war ihr auf einmal, als umgäbe sie eine besondere Klarheit, in der alle Verlogenheit und Selbsttäuschung wie Zunder vor ihr aufbrennte und nur das Wirkliche und Vernünftige, dieß aber wie von elektrischem Lichte beleuchtet, klar vor ihr stünde. Was ist denn all' diese Krankheit anders als dein eigenes Werk! so schien sich ihr eine innere Stimme mitzutheilen. Sterben sollst du, weil du das Menschenrecht ausübst, aufrecht zu gehen? Mußt du darum sterben, thu's gleich, denn dann bist du des Lebens nicht werth oder das Leben nichts werth für dich!
Da stand sie. Sie besah ihre Füße. Sie griff mit den Armen in die Luft, als ob sie dadurch Stütze oder Gleichgewicht gewänne, und setzte dann schwankend einen Schritt vor den andern.
Wohl empfand sie etwas Unbehagen und etwas Schmerz. Aber es hob doch wie Freude sie empor. Es war ihr gar nicht Sterbens zu Muth. Und so kam sie lächelnd und in 176 höchster Aufregung, als wäre dort der Preis des Lebens zu gewinnen, bis an die ihrem Bett entgegengesetzte Wand des Zimmers.
Hätte die Moosrainerin diesen Erfolg ihrer Kur gesehen, sie hätte sich vergnügt die Hände gerieben.
Frau von Rüdenhausen athmete auf, lehnte sich an die Wand und maß mit den Augen die Entfernung bis zum Bette zurück. Es waren kaum zehn Schritte, aber seltsam! diese geringe Entfernung fiel ihr jetzt mit einem Male schwer auf's Herz. Wird sie ohne Anfechtung wieder hinüberkommen? Wie mit einem Schlage war die Erleuchtung ausgelöscht. Die Furcht zog rasch einen Nebel nach dem andern über ihre Seele, daß es so finster darin wurde wie Todesangst. Die zitternde Frau krümmte sich an die Erde und, ihrer Besinnung kaum mehr mächtig, kroch sie auf allen Vieren zu ihrem Bette zurück, während sie mit heißen Thränen den Teppich beträufelte, über den sie sich so mühselig hinschleppte.
Dann sank sie auf's Bett, schloß die Augen und wartete, ob nun der Tod käme. Es kamen aber nur zwei schöne blühende Gestalten, ihre Töchter, die sich mit gefalteten Händen und besorgten Blicken zu Füßen und Häupten ihres Lagers niedersetzten, sie behüteten und bewachten und es an Küssen und guten Worten nicht fehlen ließen.
Aller Aufregung zum Trotz schlief Frau von Rüdenhausen die Nacht wunderbar gut. Sie ärgerte sich fast, als sie am andern Morgen über dieser unleugbaren Wahrnehmung aufwachte.
177 Bald darauf kam die Moosrainerin und meinte, nun ging' es ja wieder besser. Darüber freuten sich die Kinder.
Die Mama jedoch fand, daß die Aerzte mitsammt der Moosrainerin ein leichtfertiges, herzloses Volk seien. Es wäre doch unsinnig, weil unmöglich, daß sie, gestern so nahe dem Tode, heute keine Bedenken mehr einflößen sollte. Wußte denn Niemand, wie furchtbar ihr zu Muthe war, nun – so mußte sie's merken lassen.
»Ich möchte,« sprach sie leise, »noch einmal in meinem Leben . . . ich möchte, wenn es geht, eine Kirche besuchen.«
Die Frau des Staatsraths Rüdenhausen gehörte keineswegs zu den Frommen im Lande. Sie hatte ihr Lebenlang die Ausübung geistlicher Pflichten sich auf philosophischem Wege vereinfacht. Modischer Lippendienst war ihr zuwider. Und im jahrzehntelangen Verkehr mit dem freidenkerischen Gatten hatte sie so ziemlich seine Ansichten über Gott und Welt und die fünf letzten Dinge sich angeeignet. Wie tief mußte ihr Seelenleben erschüttert sein, wie trübe mußte sie in die Zukunft sehen, wenn sie auf einmal Sehnsucht nach einer dogmatisch geweihten Kirche empfand und diese Sehnsucht mit verklärter Ergebenheit aussprach! Das sollten die ihr Bett Umstehenden nur recht deutlich fühlen und recht nachdrücklich sich zu Herzen nehmen.
Seltsamerweise war der Erfolg dieser unerwarteten Worte gar nicht so niederschmetternd. Die bigotte Non-non freute sich offenbar über diese Hoffnung auf eine spätere Bekehrung. Florence und Violette sahen sich betroffen an und ihre Augen 178 schienen einander zuzuwinken: Was wird Papa zu der Wandlung sagen! Die Bäuerin fand schon gar nichts Besonderes dabei, daß Jemand, dem der Arzt die Hölle heiß gemacht, nach dem lieben Herrgott verlangte.
»Lassen Sie sich einen Rollstuhl kommen und nach der Wallfahrtskirche Mariatannerl fahren. Es ist ja kaum einen Büchsenschuß weit und fast ebener Weg dahin. Die frische, würzige Luft im Walde wird Ihnen auf alle Fälle gut thun. Morgen schaue ich wieder nach. Wenn's noth thut, heut' Abend. Gott zum Gruß!«
Damit nahm Afra die Thürklinke in die Hand. Und dieses rauhe Wesen hatte sie als wunderwirkendes Weib vergöttert! Frau von Rüdenhausen konnte sich's kaum verzeihen. Und doch war etwas in der derben Bäuerin, was ihre Achtung noch immer unterjochte. Aber zeigen wollte sie ihr doch einmal . . . Ja, was wollte sie ihr zeigen? Zunächst, daß es ihr mit dem Kirchenbesuch Ernst wäre. Ihr und den Anderen wollte sie das zeigen.
Sie schickte Florence und Violette in den Garten hinaus und blieb mit Mademoiselle Bourgignon zwei Stunden allein in erbaulichem Gespräch über den Geist und die Segnungen des Christenthums im Allgemeinen und den trostreichen Gehalt der katholischen Dogmen insbesondere.
Mademoiselle Bourgignon, die Schülerin des Sacré-coeur, ließ ihrer Beredsamkeit die Zügel schießen. Frau von Rüdenhausen wollte nicht den Kürzeren ziehen. So glänzte die Eine mehr durch korrekte Scholastik, die Andere mehr durch 179 die mystischen Arabesken, mit denen sie die einfachsten Dinge von der Welt umschnörkelte.
Die gelangweilte Dame zierte sich mit ihrer überraschenden Frömmigkeit wie mit einem neuen Kopfputz oder sonst einer eleganten Spielerei, von der sie dachte, daß sie der Jahreszeit entspräche und Mode wäre. Und als um Mittagszeit die neuen Glocken von Mariatannerl so melancholisch durch den Wald herüberklangen, da kam eine Sehnsucht über sie, die nicht länger zu bemeistern war. Sie schickte sofort nach einem Rollstuhl und, nachdem sie endlich mit vieler Müh' und Angst in das kleine Gefährt gebettet war, faltete sie die Hände, warf noch einen flüchtigen Blick auf die neuen schwedischen Handschuhe, die den Arm so anmuthig bis fast an den Ellenbogen umspannten, und schlug dann die Augen zum Himmel auf.
Jeder Bademagd, jedem Bauernlümmel, der ihr unterwegs vorüberging, warf sie einen langen, melancholisch-freundlichen Blick zu, als wollte sie sagen: Armer Mensch, wer weiß, ob wir uns hienieden noch einmal begegnen! Aber auch dafür wächst ein Trost im Paradiese!
Fräulein Bourgignon ging mit einem recht sichtbaren Gebetbuche, aus dem ein Dutzend kleiner geweihter Medaillen an himmelblauen Bändchen als Lesezeichen niederhingen, neben dem Rollwagen her. Ihre Miene war ernst und in sich gekehrt.
Die beiden Zwillinge dagegen zogen, nur allzu weltlich gelaunt, hinter den älteren Damen her. Sie waren heute 180 schon in aller Gottesfrühe bei der Wunderbäuerin gewesen und hatten diese auf's Gewissen ausgefragt, was sie von Mama's Gesundheit zu hoffen und zu fürchten hätten.
Da die Moosrainerin keinen Grund einsah, auch mit diesen unschuldigen Kindern ihr grausames Spiel zu treiben, so beruhigte sie die Liebenswürdigen mit nachdrücklichen Worten, ohne dabei freilich die Karten gerade auf den Tisch zu legen.
So waren Florence und Violette nicht nur guter Dinge voll, der Uebermuth setzte ihnen so heftig zu, daß sie Mühe hatten, sich nicht im Walde zu jagen, und daß sie ein über's andere Mal sich etwas Schalkhaftes in die Ohren wisperten und dann kaum das Gekicher verhielten.
»Wie lieblos!« hauchte die Dame von Rüdenhausen vor sich hin, so oft ihr ein Ton dieses unverzeihlichen Frohsinns zu Ohren drang. »Sie können schäkern und witzeln, während ich hier vor ihnen sterbe! Und das nennt man sein eigen Fleisch und Blut! Das hat man unter liebendem Herzen getragen und mit Schmerzen geboren! Das trägt vielleicht die Schuld, daß alle Kräfte aufgezehrt sind vor der Zeit, daß das Leben abreißt, ehe der Faden über die Hälfte gesponnen . . . O Undank! Undank!«
Auch dafür gibt's eine Strafe! dachte die Gekränkte weiter. Oder es sollte doch eine geben!
Dem Wagenschieber perlte der Schweiß über die rothe Stirne. Doch nun waren sie auch oben im Wald und hielten vor dem Kirchlein.
181 Frau von Rüdenhausen ließ das Wägelchen dicht vor die Kapelle rollen und die Thorflügel weit öffnen, daß ihre Blicke bequem und allseitig in's Innere des geweihten Raumes dringen konnten. Welch' eine Sehnsucht spiegelten die großen Augen, die jetzt von der Schwelle des Heiligthums verlangend nach dem wunderthätigen Altar blickten. Dennoch widerstand sie – so hart ihr's auch ankam – allen Zumuthungen, den Sessel in die Kirche hineinschieben zu lassen, denn wie sie sagte, fürchtete sie, daß der erhitzte Mann, der Wagenschieber, sich in dem kühlen Raume einen Rheumatismus holen möchte, und – außerdem war ihr selbst der Geruch des Weihrauchs so zuwider, daß er ihr auf die Nerven schlug.
Die gleichförmige Menge der Bilder, all' die Tausende Herzen, Hände und Beine von Silber oder Wachs, mit denen der Altar überladen war, die grell bemalten Votivtafeln, die barock gekleidete, ungeschlachte Holzfigur der Madonna mit einer goldenen Kaiserkrone auf dem Kopfe, die im Zopfstyl der Jesuiten geschnörkelten, mit Oelfarben marmorirten Säulen, die klobigen Leuchter mit armsdicken, pfundschweren Wachskerzen, auf denen uralter Staub eine fingerdicke Schmutzkruste angesetzt hatte – es war das Innere einer richtigen Bauernkirche ohne eine Spur von Kunstsinn oder Geschmack. Aber die feingebildete Frau von Rüdenhausen war heut' in der Stimmung, in all' diesen Dingen nur die herzerhebende Einfalt und beneidenswerthe Geistesarmuth der frommen Spender zu bewundern, sich von ihrem Geiste anwehen zu 182 lassen und mit zerknirschtem Herzen an ihrer Gemeinschaft theilzunehmen.
Wenn etwas an dem ganzen Bild und Eindruck sie störte, so war es nur das Zwillingspaar ihrer eigenen Kinder, das dort an den Stufen des Altars knieend, die Häupter auf bittende Hände senkte. Zwar sie flehten so fromm zu ihrem Gott und sie sahen so lieblich aus, wie zwei Lilien auf einem Stengel – aber ihre weltlichen, modischen, geschmackvollen Trachten stachen so beleidigend gegen Hintergrund und Umrahmung ab, und wenn sie beteten, beteten sie auch für ihre Mutter? – nur für ihre Mutter? oder nicht viel inbrünstiger als für diese um irgend einen Mann mit flottem Schnurrbart in Husarenuniform? Sie waren so undankbar, diese Kinder! Noch gellte es in der Mutter reizbaren Ohren, das lieblose Gekicher, das auf dem ganzen Weg durch den Wald hinter ihr drein geschlichen war wie Gezisch junger Schlangen. Diese unzerstörbare Heiterkeit hatten die Kinder von ihrem frivolen Vater. Aber sie sollten wohl bitteren Ernst lernen, wenn sie erst nicht mehr wäre.
Mit einem tiefen Seufzer über die Schlechtigkeit der Welt im Allgemeinen und die Frivolität der lieben Ihrigen insbesondere wandte Frau Leonore das Haupt ab und befahl, den Sessel wieder zurückzurollen nach Villa Distelfeld.
Als sie sich der neuen Ansiedelung schon ziemlich genähert hatten, sahen sie von der andern Seite her einen Trupp Leute kommen, der offenbar in großer Aufregung nach der Behausung der Moosrainerin strebte. Jetzt ließ 183 sich auch beim Wenden um die Ecke nicht mehr verkennen, daß ein Mensch auf einer Tragbahre gebracht und von Besorgten und Neugierigen begleitet wurde.
Da erschien auch die Moosrainerin schon auf der Schwelle des Hauses. Die Hände in die Hüften gestemmt, sah sie ernsthaften Angesichts den Kommenden entgegen und grüßte vornehm mit nickendem Haupt.
Die Zwillinge eilten zu ihr in fliegendem Laufe hin und brachten nach kurzem Wortwechsel zur Mutter den Bescheid zurück, daß ein Mann, der im Torfstich unten arbeitete, von einer Kupfernatter wäre gebissen worden. Es gäbe dort ziemlich viele Kupfernattern, und ihr Biß gälte für gefährlich. Nun brächten sie den Mann daher und sie hoffe zu Gott, daß es nicht zu spät sei.
Die Mädchen hatten kaum ausgeredet, da kamen die Leute mit der Tragbahre auch schon an ihnen vorüber. Sie traten so schwer auf, daß sich das Gras unter ihren Nagelschuhen nicht wieder aufrichtete, sie wendeten den Frauen ihre kummervollen Gesichter zu und indem sie die Hüte abnahmen, grüßten sie mit gedämpfter Stimme: »Gelobt sei Jesus Christus!«
»In Ewigkeit Amen!« hauchte Frau von Rüdenhausen und bekreuzte sich – nicht wie die Städter pflegen, auf Einmal über Haupt, Brust und Schultern, sondern nach Bauernart mit dem Daumen je ein Kreuz auf Stirn, Mund und Magengrube zeichnend.
Auch der Mann, den die Schlange gebissen, bewegte die 184 Lippen zum gottseligen Gruß. Diese Lippen waren so roth, als ob sie blutig gebissen wären, und das Gesicht dagegen todtenbleich; die kurzen Haare klebten in Schweiß gebadet an seiner gefurchten Stirne und die armen Augen drückten so mitleidswerth die peinliche Angst aus, die auch seine starken rauhen Hände zittern machte, als wären es Blätter des Pappelbaums im Sturmwinde.
Die beiden Mädchen liefen etliche Schritte der Bahre nach, um dem armen Mann alles Taschengeld zu schenken, was sie just bei sich hatten. Auch Frau von Rüdenhausen versagte dem Elenden ihr tiefgefühltes Beileid nicht. Sie dachte bei sich: So ungefähr siehst auch du aus, arme Leonore – und doch hat Niemand Mitleid mit dir! –
Wie es die Kinder so dringend erbeten hatten, kam die Moosrainerin nach dem Mittagessen in die Villa Distelfeld herüber. Das Befinden des Gebissenen gestattete noch keine Vorhersage, welchen Verlauf die Wunde nehmen werde. Vorderhand war das Fieber, durch die Gemüthsaufregung unterstützt, sehr heftig und der Kranke delirirte. Die Moosrainerin hatte ihm in ihrer eigenen Wohnung gebettet, damit sie ihn so viel als möglich unter den Augen habe.
Violette fragte, ob der Doktorin schon mehrere solche Fälle vorgekommen wären.
»Doch wohl ein Dutzend schon,« meinte die Moosrainerin, denn drunten im Moos seien die Kupfernattern häufig, und die Bauern oft so unvorsichtig oder so muthwillig, die schädlichen Thiere zu reizen, die unberührt Niemand etwas 185 zuleide thäten. Hätte erst Einer den Biß weg, dann wäre der Uebermuth in derselben Sekunde verschwunden und er lernte bitten und winseln, auch wenn er vorher ein knorriger Klotz gewesen, der das Fürchten nicht einmal vom Hörensagen gekannt hätte.
Die Damen schlugen, soweit es ihre Gesundheitsverhältnisse und ihre knappen Kleider erlaubten, die Hände über den Köpfen zusammen, worauf die Moosrainerin verschiedene merkwürdige Fälle zum Besten gab, einige sogar mit tödtlichem, andere auch mit glücklichem Ausgang.
Die Damen fanden, so gemüthlich habe die sonst so kurzangebundene, breitspurige Herrscherin von Mariatannerl noch nie mit ihnen geplaudert. Das machte die Freude, meinte diese, weil es der Frau Staatsräthin heut' um so viel besser ginge, wie gestern.
Eleonore von Rüdenhausen zuckte sanft mit den Achseln auf ihrem Sophakissen und sandte schweigend einen Blick voll schmerzlicher Ironie gegen die Zimmerdecke, als wollte sie sagen: Ist das Heuchelei oder Kurzsichtigkeit, die mich so falsch beurtheilt! Aber komme, was kommen mag! Wer in einen solchen Spiegel gesehen, wie heute sie, der war über so gröbliche Täuschungen erhaben. Die Leute schwatzten; sie fühlte sich dem Unendlichen um etliche Fuß breit näher als gewöhnlich.
»Na, mit dem Testamentmachen ist's heut' auch nix mehr,« scherzte gutmüthig Frau Afra.
»Doch, doch!« versetzte Frau von Rüdenhausen leise, 186 aber bestimmt und betrachtete mit einem ihrer vielsagenden Blicke ihre Töchter, die für einen fremden Taglöhner mehr Herz zu haben schienen als für ihre arme Mutter. »Es ist manchmal recht gut, sich klar zu machen, was allein uns Treue hält und Trost gewährt im äußersten Schmerze,« fügte sie mit sibyllinischem Hauch hinzu.
»Wie's beliebt!« antwortete die Moosrainerin, die sich niemals Mühe gab, Sentimentalitäten zu entziffern, welche sie nicht auf's erste Wort verstand. »In jedem Fall werden Sie eine angenehme Bekanntschaft machen.«
Eine solche schien besonders den über Gebühr gelangweilten Töchtern der vornehmen Frau nicht unwillkommen und sie fragten, warum denn der alte Notar eine so interessante Persönlichkeit wäre.
Und nun bedeutete ihnen die Wunderbäuerin, daß es sich durchaus um keinen alten Kanzleihocker mit grünem Augenschirm und Horndose handle; daß der wirkliche Notar ein bequemer Greis sei, der sein Geschäft einen wackern Junggesellen führen lasse, Max Eisenhut geheißen, den sie, die Menschenkennerin, für den bravsten Mann zehn Meilen in der Runde erklärte. Die Moosrainerin pflegte sich bei Lob und Anerkennung ihrer lieben Nächsten sonst nicht die Zunge zu verstauchen, aber für den alten Praktikanten, in dem sie nach wie vor das Symbol und den Bringer ihres Glückes sah, that sie mit Behagen ein Uebriges. Und so kam es, daß nach Verlauf einer halben Stunde in den drei blonden Köpfen der Damen Rüdenhausen eine mythische Figur spukte, 187 halb Rechtsgelehrter, halb wilder Jäger, eine romantische Gestalt, die in reizender Mischung die guten Eigenschaften eines irrenden Ritters, eines letzten Mohikaners und eines heirathsfähigen Staatsbürgers in sich vereinigte. Daß man vollends in diesem Hause sozusagen auf Eisenhut's Grund und Boden saß, gab der angenehmen Vorstellung eine solide Basis.
Dame Eleonore insbesondere sah dem Besuch eines Mannes entgegen, der etwa in ihren Jahren, durch seine Uneigennützigkeit, Einfachheit und nicht zum wenigsten durch seine wunderlichen Eigenschaften Sicherheit zu bieten schien, daß er für die uneigennützige, schlichte, wenn auch wunderliche Regung, die jetzt ihr Gemüth in Athem hielt, volles Verständniß besitzen werde.
Die beiden Mädchen, die im Anfang über die neue Bekanntschaft die Fragen nicht gespart hatten, wurden, je länger die Moosrainerin sprach, desto stiller. Zuletzt saßen sie stumm da, vermieden Eine der Andern Augen und blickten starr auf die Hände in ihrem Schooß.
Die Mama, schon ganz mit dem Entwurf ihres herrlichen Testaments beschäftigt, hörte gar nicht mehr auf die Wunderbäuerin hin; so fand diese bald, daß es Zeit sei, wieder nach dem verunglückten Torfarbeiter zu sehen, und sagte ›Grüß Gott!‹
Die beiden Fräulein ließen es sich nicht nehmen, die biedere Aerztin vor die Thüre zu geleiten, und nach einigem Stocken entspann sich im Garten folgendes kurze Gespräch, das nicht mit allzu lauter Stimme abgemacht wurde.
188 »Sagen Sie doch, liebe Frau Doktorin –«
»Was denn, liebes Fräulein Violette?«
»Hat Herr Eisenhut nicht einen blonden Schnurrbart?«
»Ja freilich, einen schönen, starken blonden Schnauzbart! So lang!«
»Und er trägt sich wie ein Jägersmann?«
»Ja, das thut er, Fräulein Florence.«
»Und hat einen ganz kleinen, krummbeinigen Dachshund?«
»Den Waldl! ja, versteht sich, Fräulein Violette.«
»Und er wohnt oben im Hofgarten?«
»Ganz richtig, Fräulein Florence!«
»Guten Nachmittag, Frau Doktorin!«
»Gott befohlen, meine Damen!«
Die Beiden standen im Garten und horchten, wie die mannhaften Schritte der Wunderbäuerin auf dem Kiespfad verklangen. Als sie nichts mehr hörten, fielen sie einander um den Hals und küßten sich ziemlich heftig und die Eine sagte der Andern in's Ohr:
»Freust Du Dich?«
»Warum soll ich mich auch freuen!« lispelte Jene.
»O Du Heuchlerin!«
»Laß es Mama nicht merken! Ich bitte Dich: komm' in's Haus hinein!«
»Warum nicht gar! Laß ihn uns lieber hier erwarten. Man sieht Dir's an, daß Du geweint hast.«
»Ich habe gar nicht geweint!«
189 »So? Du bist auch wohl nicht verliebt, Florence?«
»Gar nicht!«
»Du bist auch keine Heuchlerin? Gelt, nein! Denn Du machst so verliebte Augen, so unglückliche, schmachtende . . . liebe, gute Augen, daß man Dich auf die Augen küssen muß, wenn man sie sieht.«
»Laß mich, Du thust mir weh!«
»Auch wär' es gut, dem Manne ein Wort zuzuflüstern, daß Mama zur Zeit in einer so sonderbaren Laune sich befindet und daß es besser wäre, ihr Testament nicht in solcher Gemüthsverfassung zu machen.«
»Es wird Papa kränken, was sie da thut.«
»Drum wollen wir Deinem Freund Eisenhut sagen –«
»Nichts werden wir ihm sagen. Er ist mein Freund noch nicht.«
»Ach geh'!«
»Und wird es niemals werden, wenn er nicht selbst am besten weiß, was hier zu thun und zu lassen ist. Wenn er das Herz auf dem rechten Fleck und gesunde Augen im Kopf hat . . .«
»Was dann?«
»Sei still!«
»Ich mag nicht.«
»Man kommt!«
Florence sprang von der Gartenbank auf. Aber Violette haschte sie an der Falte des Kleides und ließ sie nicht entfliehen, ob auch die Falte krachte. Näher kamen die Schritte, 190 die man im Kies des Weges knirschen hörte. Nun ward die Gartenthüre aufgeklinkt und gegen die Bank kam ein Mann mit blondem Schnurrbart heran, der aber keine Jägerjoppe trug.
»Wie schade, nun kleidet er sich auch schon wie die Anderen alle!« flüsterte das Mädchen, das sich die ausgerissene Falte ihres Kleides zurechtsteckte und dann mit ihrer Schwester Hand in Hand dem Angekommenen entgegenging.
»Gott zum Gruße, Fräulein Violette! . . . Wie geht es Ihnen, Fräulein Florence?«
»Ei, ei, Sie erkennen uns heute gleich frisch weg auseinander?«
»Es muß wohl die Beleuchtung hier günstiger sein oder – Sie haben sich in der letzten Zeit ein wenig verändert.«
Violette lachte laut, Florence schlug die schönen Augen nieder und Eisenhut bat, ihn gleich zur Mutter zu führen.
Eleonore, ein Bild eleganter Hinfälligkeit und wohlfrisirter Ergebung, auf ihre Chaiselongue hingestreckt, empfing den Sendling des Notars sehr huldvoll.
Ein Bischen war sie zwar durch seine Erscheinung aus dem Konzept gerückt. Sie hatte sich den »alten Praktikanten« etwas älter und geistesverwandter gedacht. Der Mann da sah frisch, derb und unternehmend aus und war offenbar von einer so unverschämten und bewußten Gesundheit, daß er ihrem Vorhaben weniger Verständniß entgegenbringen durfte, als sie sich erwartet hatte.
Nichtsdestoweniger fing sie gleich an, ihre Wünsche 191 auseinanderzulegen und, ohne ihre Töchter vor die Thüre zu bitten, von ihrem letzten Willen zu sprechen. Den beiden Mädchen war das peinlich, aber darauf war es ja eben angelegt.
»Bleibt nur, bleibt!« lispelte sie triumphirend. »Ich habe keine Geheimnisse vor den Meinen. Widersprechen Sie mir nicht, mein Herr, ich fühle mein Ende nahen. Ich weiß, was ich mir, meiner Familie, meinem Gott schuldig bin. Mein Gatte und meine Kinder sind die natürlichen Erben meines Vermögens. Meine Hinterlassenschaft bedürfte kaum einer schriftlichen Regelung, wenn nicht in diesen letzten Tagen der Leiden und der Erleuchtung die Sehnsucht, das Bedürfniß, ja das zwingende Gefühl der Schuldigkeit über mich gekommen wäre, auch von meiner irdischen Habe ein Opfer Dem zu geben, von dem alles Gute kommt, und von dem Ueberfluß, der mir geworden, gleichsam einen Pflichttheil jenen Armen zufließen zu lassen, die im unmittelbaren Dienste des Allerbarmers sich für ihre leidenden Mitmenschen opfern!«
Während Eleonore von Rüdenhausen sich in die Kissen zurücklehnte und ein spitzenbesetztes Tüchlein vor den sanft hüstelnden Mund brachte, als hätte die kurze Rede sie auf's Aeußerste erschöpft, dachte Eisenhut, dem diese Kunstpause fast so unbehaglich war, wie den beiden Zwillingen: Die Frau spricht wie ein Buch. Sie wird doch nicht! . . .
Mit einem Seufzer, der wie ein: »Es muß sein!« klang, richtete Frau von Rüdenhausen sich nochmals auf, als gält' 192 es, ihre schwindenden Kräfte zum entscheidenden Schlage mühsam zu sammeln:
»Ich muß mich kurz fassen . . . ich will der Kirche, und zwar der Wallfahrtskirche von Mariatannerl, durch die mir in diesen Tagen vollkommener seelischer Isolirung der einzige wahre und nachhaltige Trost geworden ist, ein Legat von hunderttausend Mark vermachen. Sagen nun Sie mir als Sachverständiger, wie hab' ich es anzufangen, um diesen Entschluß als unanfechtbaren zu festigen?«
Mit einem Blick stolzer Genugthuung maß die wunderliche Testatorin ihre beiden Töchter. Sollten sie wohl recht betroffen sein? Und wie erst mußte ihre Verblüffung auf den frivolen Herrn wirken, dem diese beiden Lieblinge gewiß in nächster Nacht noch lange Briefe schreiben würden? Frau von Rüdenhausen, die seit Jahren fast ganz auf den Verkehr im häuslichen Kreise beschränkt geblieben, war es so gewohnt, alle Launen an den lieben Ihrigen auszulassen und diese jeden Schmerz, jedes Uebelbefinden, jedes Unbehagen in irgend einer Form mitfühlen zu lassen, daß sie nichts Arges an ihrem ebenso unzarten wie unsinnigen Vorgehen fand. Auch war sie weit weniger auf Eisenhut's Antwort, denn auf den Eindruck begierig, welchen ihre Töchter nun würden merken lassen.
Diese aber verzogen keine Miene und warteten still, ihre Beschämung kaum verrathend, wie diese peinliche Szene ablaufen werde.
Auch Eisenhut sah zuerst auf die beiden Zwillinge, die am 193 liebsten gleich vor ihm unter die Erde gesunken wären. Was mußte der Mann denken, daß sie ihrer Mutter gethan, um solche Beschämung zu verdienen? Aber Max sah in diesem Augenblick, auch ohne weitere Geständnisse, tief in das Seelenleben der drei Menschen, und wie sein Mitgefühl nur seiner Liebe neue Nahrung zubrachte, war er auch entschlossen, seine Hand zu keiner Thorheit zu leihen, die nur einer Laune Opfer bringen wollte.
Doch merkte er wohl, daß hier nicht so geradezu widersagt werden durfte. Frau von Rüdenhausen konnte leicht anderswo willfährigere Hände finden als die seinen.
»Das Einfachste wäre eine Schenkung bei Lebzeiten!« sagte Eisenhut. »Aber erlauben Sie mir, gnädige Frau, einige Bemerkungen laut werden zu lassen? . . . Nun denn, wozu soll die große Summe verwandt werden? wem soll sie Nutzen bringen? Die kleine Wallfahrtskirche ist ohnehin reich bedacht. Für den Vikarius, der zuweilen zum Messelesen heraufkommt, besteht auch schon eine genügende Stiftung. Oder aber wollen Sie, daß neue Pilger durch die gemeine Aussicht, hier in Mariatannerl außerordentliche Almosen zu ergattern, angelockt werden? Gewiß nicht, denn das würde das schlechteste Gesindel veranlassen, unter dem Mantel der Scheinheiligkeit die Gesellschaft frommer Landleute zu verpesten. Wollen Sie aber, daß das Geld den Kranken und Gebrechlichen unter den Pilgern zugute komme, so würden Sie das Vermögen der Moosrainerischen Anstalt 194 zuwenden müssen – das würde meines Glaubens aber Frau Afra kaum annehmen können; auch scheint mir Ihre abwehrende Bewegung anzudeuten, daß Sie daran nicht denken. Sie müßten also ein eigenes Pilgerspital sozusagen vor der Thüre der Wunderdoktorin gründen wollen. Dagegen erlauben Sie mir zu bemerken, daß diese solch' ein kleineres Konkurrenzunternehmen binnen kürzester Zeit erdrückt oder ihrer Anstalt einverleibt haben würde.
»Ich sage das Alles nicht, um Ihrem Gedanken im Wesentlichen zu widersprechen, gnädige Frau, sondern vielmehr nur, um seine praktische Ausführung zu erleichtern.«
Es war höchste Zeit, daß Eisenhut's Klugheit diesen Uebergang fand, denn die Mutter der schönen Zwillinge schien bereits dem Mißtrauen Recht zu geben, daß sie es hier mit einem herzlosen Gegner ihrer gottgefälligen Pläne zu thun habe. Ihre Augen und noch mehr ihre Augenbrauen drückten diese finsteren Vermuthungen schon recht deutlich aus. Erst allmälig heiterten sich ihre Gedanken und ihre Augen unter folgendem Zuspruch auf:
»Wenn ich Ihre Absichten recht verstehe, gnädige Frau, so sind dieselben entweder darauf gerichtet, überhaupt eine wahrhaft fromme Stiftung zu hinterlassen . . .«
»Ja, das ist's!« lispelte die Frau auf dem Sopha.
»Oder Sie haben vor Allem im Sinn, der Wallfahrtskirche von Mariatannerl, die Ihnen dankenswerthe Gefühle geweckt hat, etwas Gutes zu thun.«
»Ja ja, das auch! . . . sozusagen . . .« meinte Eleonore 195 von Rüdenhausen und schlug etwas beschämt über die fühlbare Unklarheit ihrer Gedanken die Wimpern nieder.
Die Mädchen erkannten ein flüchtiges Lächeln unter dem blonden Schnurrbart des alten Praktikanten und es war recht gut, daß dieser jetzt nicht sah, mit welcher Spannung die großen Augen Florence's auf ihn gerichtet waren, er hätte vor glückseliger Verwirrung vielleicht nicht so sicher fortfahren können, als er that.
»Im ersten Falle würden Sie leicht in Ihrer Heimat ein armes Kirchlein finden, das Ihrer Freigebigkeit würdiger und bedürftiger wäre, als diese ohnehin reiche Kapelle. Haben Sie keine Erinnerungen des Herzens, von denen Sie sich in diesem Fall berathen lassen mögen, ist die Kirche, in der zum Beispiel Sie getraut worden sind, oder jene, in der Sie oder Ihre Kinder die heilige Taufe empfangen haben, Ihren Absichten nicht entsprechend, so wird Ihr Beichtvater oder sonst ein würdiger Priester Ihrer Bekanntschaft Ihnen gewiß eine gute Wahl an die Hand geben.«
So tief Eleonore jetzt das Haupt senkte, die Röthe, die ihr bei diesen Worten nicht nur die Wangen, sondern auch die Stirn überflog, war nicht zu verbergen. Die beiden Mädchen stießen sich verstohlen an die Ellenbogen. Ihre Bewunderung für den Redner war auf's Höchste gestiegen. Kein Mensch im Hause Rüdenhausen konnte sich erinnern, wann Frau Eleonore zum letzten Mal gebeichtet hatte, und unter den Habitus ihres Salons befanden sich weder würdige noch unwürdige Priester. Dieser Meisterstreich mußte 196 das ganze Gebäude von Mama's Testament über den Haufen geworfen haben.
Eleonore selbst war innerlich froh, als ihr der Redner jetzt mit aller Grazie gleichsam eine Hand bot, an der sie, ohne gerade kapituliren zu müssen, die unangenehm gewordene Position mit kriegerischen Ehren verlassen konnte. Er sagte:
»Im Falle nun aber Ihnen Mariatannerl besonders an's Herz gewachsen ist und Sie dieser alten Kapelle eine Ehre anzuthun wünschen, würde es sich nicht empfehlen, statt einer Stiftung, eines Legats, das man nicht braucht oder leicht gegen den Sinn der Geberin verwenden möchte, ein fertiges Geschenk zu bringen, das nicht nur die Dankbarkeit, sondern auch den feinen Sinn und die hohe Bildung der Donatorin heilbringend offenbarte? Und wär' es nicht heilbringend, vor all' die Augen, die sich an grellen Farben und klotzigen Bildnissen stumpf sehen, ein Kunstwerk zu bringen, das Diejenigen in der Seele erhöbe, die es betrachteten?! Wäre es nicht Wohlthat und Ihrer würdige Frömmigkeit, diese rauhen Herzen in einem wirklichen Kunstwerk eine höhere Welt ahnen und bewundern zu lassen? Wäre es nicht ungleich verdienstlicher, ein schönes Altarblatt bei einem wahren Maler zu bestellen, oder bei einem Bildhauer eine menschenähnliche Gottesmutter, oder bei einem Silberschmied ein getriebenes Gefäß, um in würdigerer Fassung das Lämpchen mit dem ewigen Lichte vor dem Allerheiligsten schweben zu lassen?«
197 »Sie sprechen mir aus der Seele!« sagte Frau von Rüdenhausen, die ordentlich aufathmete, als sie sich aus der Sackgasse wußte. »Sie haben meine innersten Gedanken errathen!«
Eisenhut machte sich nun keine Illusionen darüber, was es mit dem Errathen ihrer innersten Gedanken dießmal auf sich hätte. In der Seele der launischen Frau war aber in der That eine Wandlung vor sich gegangen, von der sie selber freilich sich noch wenig träumen ließ.
Eisenhut gehörte zu den glücklichen Menschen, die von Mutter Natur mit ein paar recht nützlichen Gaben ausgerüstet worden sind. Er hatte Augen, die aller Welt Zutrauen erweckten, und eine Stimme, die, ohne daß er Künste anwendete, durch den ungezwungenen natürlichen Tonfall allein an jedes Herz schlug.
Je länger ihm Eleonore zuhörte, desto mehr verflüchtigte sich das Mißtrauen, das die robuste Gesundheit seiner Erscheinung in der überzarten Dame hervorgerufen hatte. Je ärger sie über den Anfang seiner Rede sich entrüsten zu müssen geglaubt hatte, desto dankbarer war sie ihm für den ebenso vernünftigen wie anmuthigen Schluß, mit dem er ihrer schlimmen Laune so guten Ausweg zeigte.
Im Innersten war sie sehr froh, der kostspieligen Konsequenzen ihres boshaften Einfalls überhoben zu sein und noch dazu einen so gefälligen Gedanken erhalten zu haben, mit dem sich tagelang, monatelang spielen ließ.
Von einem Testament war keine Rede mehr. Was sollte 198 sie noch mit einem Testamente! Die »herzlosen« Kinder hatten ja ihre Lektion weg. Und ihr war es viel angenehmer, statt trockene Paragraphen auszuhecken, mit dem vernünftigen Manne alle bildenden Künste durchzuplaudern und über mögliche und unmögliche Werke für das durch ihr Geschenk zu beglückende Mariatannerl zu phantasiren.
Eisenhut hatte sich als Student in den reichen und mit Recht berühmten Galerieen der Hauptstadt viel herumgetrieben. Er hatte einmal vier Wochen seiner Gerichtsferien in Venedig zugebracht und ein andermal, wie er noch nicht so verbauert war wie jetzt, einen kürzeren Streifzug über Verona, Padua und einige andere lombardische Städte gemacht. Da er nicht mehr von der Welt und der Kunst gesehen, so hielt er dieß Wenige – wenn es anders wenig zu nennen ist – hoch im Werth, vertiefte im Erinnern seinen Schatz von Eindrücken und Gedanken und war so wohl geeignet, ein paar Stunden über Bildwerke aller Art unterhaltend zu plaudern. Da er lange mit keiner Menschenseele über diese schönen Sachen geredet hatte, so machte ihm das Gespräch selber so viel Freude, daß er glänzte, ohne es zu merken, und eine hohe Meinung von seinem Wissen und Geschmack erregte, die ihn beschämt hätte, wäre sie anders als durch schöne Augen ausgesprochen worden.
Selbst die muthwillige Violette blickte ernsthafter als gewöhnlich und in ihrem Herzen rumorte der schwesterliche Gedanke, ob nicht Florence das bessere Theil erwählt hätte und ob sie selber es nicht ebensogut zu verwerthen wüßte.
199 Derweilen schwärmte Frau Eleonore von kolossalen Altarblättern im Geschmacke Tizian's oder Paolo Cagliari's und sah die stimmungsvoll stylisirten Gestalten ihres schönen Selbst und ihrer schönen Töchter in Lebensgröße vor heiligen Konversationen knieen, wie es Donatoren zukommt.
Ob »Er«, der Gatte, denn auf dem Bilde fehlen durfte? Er mußte wohl fehlen, denn für's Erste war er ein Heide von Gesinnung und für's Zweite hätte ein Mann in der Uniform eines geheimen Raths oder aber gar im schwarzen Frack der Leinwand alle Stimmung zerstört – von seinem goldenen Binokel und seinem frivolen Schmunzeln gar nicht zu reden.
Die Stunden flogen und Eisenhut, dem die lieben Zwillingsaugen so wohlig warm in's Herz schienen, merkte selber kaum, wie rasch sie flogen.
»Soll der Thee im Salon servirt werden, Mama?« fragte Violette, die aus Kindes-, Schwester- und Eigenliebe gern einen kleinen Handstreich führte, um die angenehme Situation zu verlängern.
Das Erste, was Frau von Rüdenhausen darauf erwiederte, war natürlich an den Gast die verbindliche Frage, die ebenso viel von der Bitte wie vom Befehl hatte:
»Sie bleiben doch zum Thee?«
»Ach ja!« riefen die Mädchen unisono – fast etwas zu vorlaut. Aber Eisenhut blieb und recht von Herzen gerne.
So waren abermals eine ganze und eine halbe Stunde glücklich verronnen. Da besann sich Frau Eleonore plötzlich, 200 daß sie ja dem Tode näher sei als andere Sterbliche, und zeigte eine Erschöpfung, die einer Ohnmacht ziemlich ähnlich sah.
Eisenhut empfahl sich, nicht ohne einen ätherischen Händedruck und kaum hörbaren Dank der Hausfrau empfangen zu haben. Sie bat, ihr eiligst die Kammerjungfer zu schicken. Die Töchter möchten dem Herrn bis an die Schwelle des Salons die Honneurs machen und dann schlafen gehen.
Aber Dame Non-non hatte gut winken und rufen. Die Sommernacht war so schön. Bis in den Garten . . . bis an die Gartenthüre durften sich die Mädchen schon wagen. Sie gingen ja immer noch ein halbes Stündchen vor Schlafengehen im Garten spazieren und Dame Non-non war über ihrer frommen Lektüre schon wieder eingenickt.
Florence und Violette sahen sich im Freien noch einmal vorsichtig um, dann lispelte die Eine:
»Mein Herr, wir sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet. Sie haben heute unserer Familie einen wirklichen Dienst erwiesen.«
Und ebenso leise sagte die Zweite:
»Ja wohl, mein Herr, wir sind mit Ihnen zufrieden und versichern Sie unserer allerhöchsten Kindergnade.«
»Wissen Sie, meine Damen, daß es kein Ding auf der Welt gibt, das mir werthvoller wäre wie Ihre Gnade?« sagte Max Eisenhut, und wie er so zwischen beiden Mädchen hinschritt, sah er bald die zur Rechten, bald die zur Linken an. Im Dämmerlicht der Sterne waren die so gleichartigen Gestalten wieder kaum auseinander zu kennen.
201 »Viel Ehre für uns!« scherzte die Eine zur Rechten.
Die Andere zur Linken schlug nur die Augen zu Boden und schwieg. Aber an seinem hämmernden Herzen merkte Max, daß es Florence war, die seinem Herzen zunächst ging.
Dieß Schweigen däucht' ihn so schön. Es machte ihn so glücklich, so übermüthig. Und städtischer Sitten lang entwöhnt, nach Bauernweise mit Denen, die ihm zusagten, rasch befreundet und noch rascher vertraulich, faßt' er im Wandeln Florencens Hand.
Sie wehrte sich wohl, die kleine Hand, und tapfer auch! Aber sie durfte doch kein Aufsehen machen, auch vor der Schwester nicht! Und so ergab sie sich in Gottes Namen.
Deßgleichen fand Eisenhut, daß man bei solchem Thun nicht auffallen dürfte, und um dieß Aergerniß zu vermeiden, nahm er auch Violette bei der Hand. Diese machte weniger Umstände und ließ es fromm geschehen, denkend, was dem Einen recht ist, gilt dem Andern billig!
So schritten sie Hand in Hand den Kiesweg entlang, leise plaudernd, manchmal kichernd, zuweilen auch ein klein Bischen seufzend.
»Wir werden es Papa schreiben, wie klug und brav Sie gewesen sind,« sagte Florence. »Er wird sich gewiß bei Ihnen bedanken. Papa ist so gut.«
»Ja wohl,« sagte Violette, »ich möchte Ihnen aber gleich was schenken, weil Sie so brav waren. Wenn ich nur wüßte, was.«
»Hier die Blume zum Andenken!« sagte Florence, die 202 sich rasch im Gehen bückend, ein schlafendes Blümlein von der Wiese brach und es Eisenhut gab.
»Das ist nicht eben viel!« sagte Violette nachdenklich.
Sie waren an's Ende des Gartens gekommen. Knapp am Gehege hielten sie still. Das Wohnhaus verbarg eine dichte Hecke, an der die Blüten jasminartig dufteten. Sie waren wie abgeschlossen von der Welt und ringsum Alles so mäuschenstill. Nur der kleine Springbrunnen plauderte noch stoßweise mit den Wasserpflanzen in seinem Bassin.
Der bäuerische Uebermuth kam immer bedenklicher in Eisenhut's Sinn.
Er war es so gar nicht mehr gewöhnt, unter guten Freunden viel Umstände zu machen. Und die lieben schmalen Hände lagen so zutraulich, so selbstverständlich wie uralte Freunde in den seinen. Die Sommernacht athmete so viel Lebenslust aus, die Blumen und die Bäume dufteten so süß, die Sterne blinkten so herrlich aus dem blauen Himmel und Eisenhut's Herz war froh von Natur und liebte raschen Entschluß.
Er ließ die schwesterlichen Hände los und legte sanft seine beiden Arme um die beiden schlanken Mädchentaillen. Mit einem leisen Aufschrei blieben die jungen Damen stehen und bäumten sich ein wenig in seinen Armen zurück.
»Ich will mir mein Geschenk selbst wählen,« sagte Eisenhut leise. »Wir sehen uns vielleicht zum letzten Mal –«
»Ach warum nicht gar!« unterbrach ihn der eine Zwilling und auch der andere konnte das Kichern nicht verhalten.
203 »Gleichviel!« fuhr Max fort. »So glücklich, so behaglich, so allein – zu Dreien unter uns – sehen wir uns vielleicht nicht wieder. Mein Geschenk für's ganze Leben sei von jeder Schwester ein Kuß!«
Ungeheure, wenn auch nur im Flüsterton ausgesprochene Entrüstung war die erste Antwort. Da aber Eisenhut sie nicht losließ, kam Violette in's Lachen. Was ist dabei? dachte sie, das Herz küßt ja nicht mit, die Neugierde höchstens. Sie zuckte mit den Schultern, spitzte das Mäulchen und gab Eisenhut ihrer Motivirung zum Trotz das »Küßchen in Ehren« mit einer gewissen Weihe und Würde.
Sollte die Schwester einen Kuß voraus haben, einen Kuß von dem Manne, den sie liebte – die Eifersucht hätte Florence umgebracht. Was der Einen nur billig, das war der Anderm ihr Recht! Mit dieser Gesinnung gab sie Eisenhut seinen Kuß zurück.
Im nächsten Augenblick klang es noch ein paarmal leise die Gebüsche entlang: »Gute Nacht, gute Nacht!« Dann verrauschten die Kleider auf dem Kiesweg und wieder war Alles still.
Auf dem einsamen Gang durch Wald und Nacht kamen Eisenhut allerhand Gedanken. Noch wußte er nicht klar, wie Alles zum guten Ende zu bringen sei. Und auch zum baldigen Ende, denn er hatte an seiner reiferen Jugend nicht mehr viel Zeit zu verlieren. Mit einigem Ingrimm dachte er seiner saumseligen Gönner in der Stadt, des undankbaren »Rackers von Staat«, und seines eigenen 204 Leichtsinns. Aber es mußte doch nun Alles zum Guten geführt werden. Ja, es mußte! Hatte er sich nicht heute Nacht mit Florence verlobt? Hätte er dieß Mädchen küssen dürfen, wenn er es nicht so gemeint . . . Zwar er hatte auch Violette geküßt . . . Ja, aber der Kuß bedeutete nichts . . . der war nur so der Formalität halber gegeben, gleichsam um nicht unhöflich zu erscheinen, da die Zwillinge doch sonst Alles so gemeinsam hatten . . . Und dabei fiel ihm angenehm auf, daß nicht nur im Motiv, auch in der Ausführung ein großer Unterschied war. Noch immer konnt' es ihm am lichten Tag widerfahren, daß er Florence mit Violetten und diese mit jener verwechselte, im Ansehen, ja! aber küssen konnt' er sie nun in der stockfinstersten Nacht mit verbundenen Augen, und sie waren nicht zu verwechseln. So ähnlich die Lippen einander waren, so ganz anders küßten sie doch. Florencens Kuß war wie der Ausdruck ihrer Augen, wenn dieser ohne Worte zu ihm sprach.
Es philosophirt sich gut im einsamen Wald in der Sommernacht über so entzückende Eigenthümlichkeit der Geliebten. 205