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Während Ewald von Rüdenhausen und Max Eisenhut auf der Forsthalde behaglich frühstückten und einander lustige Geschichten erzählten, ließ sich Frau Eleonore in die Nähe der Wallfahrtskirche rollen. Neben ihrem Wägelchen gingen die beiden schönen Töchter langsamen Schrittes hin. Sie sahen alle Drei nicht besonders heiter aus. Die Mutter schlug nach der Frommen Art Haupt und Wimpern nieder und seufzte zuweilen. Und zuweilen seufzten auch die Töchter, obwohl sie die Aeuglein ziemlich hurtig unter der gaffenden Menge um sich gehen ließen. Die großen, emsigen Augen schienen Jemand zu suchen und Niemand zu finden, und darum eben seufzten die Lippen.
Frau von Rüdenhausen war seit Eisenhut's Besuch noch schwermüthiger geworden, als sie vordem gewesen war. Sie hatte sich so gut mit dem sinnreichen Mann unterhalten. Mit wem sollte sie nun über die täglich neu in ihrem Geist auftauchenden Altarblätter, über die unerhörten Projekte für das ewige Licht oder über die passendste Toilette einer 248 Madonnenstatue reden und was sonst ihre graziöse Phantasie beschäftigte? Mit ihren Töchtern doch nicht! Hatte dieß Fleisch und Blut des allzu weltlichen Ewald vielleicht Sinn und Andacht für so ideale Pläne? Und nicht nur das nicht, wer anders als diese schnippischen, naseweisen Dinger konnte Schuld daran tragen, daß sich der Mann, den sie so freundlich empfangen hatte, nicht wieder in Distelfeld sehen ließ?
Sie selbst konnte sich zwar nicht erinnern, Max Eisenhut zu ferneren und baldigen Besuchen ausdrücklich aufgefordert zu haben. Aber sie war ja, als er sich empfahl, einer Ohnmacht nahe gewesen. Das mußte sie vollkommen entschuldigen. Um so mehr wäre es dann Sache ihrer Fräulein Töchter gewesen, den Wunsch der Mutter zu errathen, statt den einzigen Menschen, mit dem sie in dieser Wildniß ein vernünftiges Wort reden konnte, durch Steifheit, Fürnehmthun und Ziererei abzuschrecken.
Wie ungerecht oft die Gedanken der Menschen sind!
Aber es war nun einmal erprobte Gewohnheit der Frau von Rüdenhausen, für Alles, was sie selber that und nicht that, Anderen, womöglich den lieben Ihrigen, die Schuld zuzuschieben. Sie dachte sich nichts Böses dabei und meinte es ehrlich mit ihren stillen Vorwürfen, die sich, wie alle unausgesprochenen Vorwürfe, von den damit Betroffenen nicht widerlegen ließen und also fortwucherten, bis der erfinderische Sinn der Dame auf andere Gedanken kam.
Wie nun sollte sie hier auf andere Gedanken kommen? 249 Wer brachte ihr denn welche zu? Mademoiselle Bourgignon vielleicht? Dieser Bedientenseele langweiliger Pietismus, dem kein seraphischer Flügelschlag gegeben war, sich und Andere aus dem Staube zu heben, der hatte gerade für ein paar Tage vorgehalten. Nun konnte sie nichts weiter damit anfangen und verbat sich die aufdringlichen Belehrungen der alten Betschwester, die, durch ein paar schwache Stunden kühn gemacht, nicht übel Lust bezeigte, statt der entwachsenen Töchter die stillhaltende Mama in die Lehre zu nehmen.
Mit der hartherzigen Moosrainerin war auch kein Trost zu pflücken.
So blieb ihr als einziger Zeitvertreib ihr leidendes Gemüth und der Gedanke an den baldigen Tod und wie dann den verblendeten Ihrigen erst die Augen über den Werth der zu früh Verlorenen aufgehen würden.
Kein Wunder, daß Einem bei solchem Zeitvertreib das Seufzen ankommt!
Manchmal schlug die betrübte Frau denn doch die Augen auf, wenn sie den Schaaren der Pilger nahe kamen und das Zungengeräusch der nach Erfrischung lechzenden, von Staub und Sonnenbrand ausgedörrten Bauern gar zu realistisch an ihre Ohren drang.
Da würdigte sie wohl eine und andere besonders charakteristische Gestalt ihrer Aufmerksamkeit. Nickte bald jenem steinalten Mütterchen gnädig zu oder winkte bald dieses halbgewachsene Jüngferchen heran, um seinem frommen Eifer mit einem Silberling gerecht zu werden.
250 An solcher Fülle der Erscheinungen immer mehr Gefallen findend, gestaltete sich ihre heutige Rollfahrt nach und nach zu einer Art Revue, die sie, in ihrem Sessel hingegossen, die beiden schlanken Zwillinge als Adjutanten zur Seite, über die langen Reihen der Pilger und Pilgerinnen abnahm.
Vom Marsch ermüdet, des Beginns des Hochamtes gewärtig, lagerten diese unter den Tannen und Eichen im Schatten. Die Standarten waren an die Baumstämme gelehnt. Ihre Bilder blickten durch das Grün der Zweige auf die erschöpften Fahnenträger herab. Eleonore ließ vor manchem dieser Gemälde halten und betrachtete es mit sichtlichem Interesse. Gaben diese Gemälde doch ihren Entwürfen für das bewußte Altarblatt neue Gedanken ein!
Manch' ein altes Bäuerlein, manche mumienhafte Greisin, stolz auf den Schatz ihrer heimischen Kirche, der sogar eine so vornehme Frau zu bewunderndem Verweilen zwang, kam frommdreist heran und erklärte in mehr oder weniger verständlichem Dialekt der fremden Dame das auf dem Fahnenbilde dargestellte Martyrium – oder es erzählte, wie und von wem und bei welcher Gelegenheit die Standarte der Gemeinde oder Bruderschaft war geschenkt worden – oder was man unterwegs mit dem schweren Stück für Last, Mühsal und Abenteuer erfahren habe.
Das Ende von der erbaulichen Konversation war dann immer ein theilnehmendes Erkundigen nach dem Befinden 251 der Frau, die sich im Rollstuhl schieben ließ und demgemäß derben Leuten, welche in Sonnenglut und Staub mit der Last schwerer Fahnen schon heute weite Meilen zurückgelegt und gestern und vorgestern vielleicht mühsame Tagreisen gemacht hatten, ganz außerordentlich krank erscheinen mußte.
»Sind S' woltern elend, gnädige Frau?«
»Recht elend, Mutterl!«
»G'wiß kontrakt oder gichtbrüchig?«
»Die Aerzte wissen nicht, was mir fehlt!«
»Aber gelähmt sind S' auf jeden Fall?«
»So gut wie gelähmt. Ich kann nicht stehen, nicht gehen.«
»Nit stehn und nit gehn?! Jesses, Maria und Joseph! So eine junge, schöne gnädige Frau, nit stehn und nit gehn! Dös grausame Unglück! . . . Ja, und wie lang sind S' denn schon a so?«
»Jahrelang, guter Freund!«
»O kreuzschwere Noth!«
»Und koa' Hülf' ninderscht nit? Nit stehn und nit gehn! Daß Gott derbarm'! . . .«
In der Regel folgte hier irgend eine Erzählung von einem »Ahn'l« (Großvater) oder »Urahn'l« oder »einem meinigen Verwandten« oder sonst einem »Dingsda«, der auch lahm gewesen und durch irgend ein Mittel, das ihm eine alte Frau, ein alter Jäger oder ein junger Mönch gerathen hatte, geheilt oder auch nicht geheilt worden war. Die 252 meisten dieser erbaulichen Geschichten hörte Frau von Rüdenhausen nicht zu Ende. Es waren ihrer zu viele und zu lange Thränen in den Augen – sah sie doch in jeder dieser Geschichten ihre eigene – nickte sie theilnahmsvoll den Redseligen Ade und drückte ein Stückchen Geld in manche braune, schwielige Hand.
Dann drängten sich wohl ihrer Mehrere hinzu, ihr den Handschuh in aller Rührung zu küssen, und mit vielem Danke gaben ihr die Leute den Trost auf den Weg: »Gott wird schon helfen!«
Diese Szenen wiederholten sich mehrere Mal. Nach anderthalb Stunden hatte die Frau Staatsräthin ein recht artiges Taschengeld in den verschiedensten Portionen ausgegeben und ein großes Kapital von Popularität eingenommen. Ihre empfindlichen Handschuhe hatten unter den vielen Küssen und Liebkosungen der ungewaschenen Pilger ziemlich gelitten, aber ihr Herz war von so viel Theilnahme sehr erfrischt und mit dem rührenden Eindruck, den sie bei Alt und Jung in dieser Menge hinterlassen, außerordentlich, zufrieden.
An dem Lager der Pilger vorüber tiefer in den Wald kommend, fand die Frau Staatsräthin auch einige Bekannte. Da war vor Allen in einer über Nacht aufgeschlagenen Bretterbude der treuherzige Damian Bartel, der nicht wenige Ballen und Packen aus seinem Kramladen herübergeschleppt hatte und nun vor den Pilgern allerhand heilige und profane, überflüssige und unentbehrliche, feine und grobe Sachen feil hielt.
253 Als früherer Besitzer des Grundes und Bodens, auf dem die Moosrainerin ihre Ansiedelung aufgeschlagen hatte, ward er ein gewisses warmes Interesse an dem Gedeihen der bäuerischen Heilanstalt nicht los und kam mit seinem guten Herzen und seiner bösen Zunge recht oft nach Mariatannerl herüber, theils um zu sehen, wie mit Gottes Segen das fromme Werk gedieh, theils um sich zu erkundigen, ob nicht der eine und andere hohe oder niedere Patient etwas von seinen Waaren bedürfe, und theils, um gelegentlich dieser Händel auch einige Klagen an Mann zu bringen, wie er doch eigentlich bei dem Grundverkauf den Kürzern gezogen und die Moosrainerin – »übrigens eine vortreffliche Frau!« – denn doch weitaus das bessere Geschäft gemacht, man könnte fast sagen, ihn über den Löffel barbirt habe.
Der Wunderdokterin durften nun freilich solche Stoßseufzer nicht zu Ohren kommen. Aber unter einer Anzahl ungeduldiger Patienten gibt es immer eine Mehrheit, die mit einer gewissen Genugthuung zuhört, wenn über ihren Arzt, zu dem sie nichtsdestoweniger das allergrößte Zutrauen hat, ein Bischen indiskret gescholten wird.
Aus diesen Gründen war der Krämer Bartel bei vielen Bewohnern der Moosrainerischen Anstalt ein ab und zu nicht ungern gesehener Besucher. Er zog aus alledem seinen Vortheil und ward plaudernd manchen Ladenhüter los.
Auch Frau von Rüdenhausen gehörte zu seinen Kunden. Als er sie kaum mit ihren weithin kenntlichen Töchtern im Gewühl der Pilger herannahen sah, sprang er trotz seines 254 Alters und trotz der Elle, die er just in der Hand hielt, aus der Bude heraus und eilte unter mehrfachen Kratzfüßen den Damen entgegen.
»Ja, die Freud'! Die Frau Staatsräthin im Wald heroben! Grüß Gott! Grüß Gott! Ergebenster Diener! . . . Und die Fräulein auch! Allerseits ergebenster Diener! Diener! . . . Befehlen die Gnädige vielleicht irgend etwas! Aber nein, das ist kaum z'hoffen. Meine Waar' ist für Euer Gnaden ja viel z'viel z' g'ring. Aber vielleicht die Fräulein! So ein kleines Andenken an Mariatannerl oder eine Photographie von der wunderthätigen Madonna . . .«
»Da sieht man ja gar nichts!« sagte Violette, die mit ihrer Schwester an den improvisirten Ladentisch getreten war und nun die dargereichte Photographie betrachtete. »Da ist ja Alles ganz schwarz darauf!«
»O bitte, Euer Gnaden! Die Madonna muß ja schwarz sein wie in Natur! Ich mein', wie's d'rin in der Kirchen ist! Das wunderthätige Gnadenbild der gebenedeiten Gottesmutter ist ganz genau getroffen. Wenn Sie nur etwas andächtiger, ich wollt' gütigst vermerken: etwas angestrengter das Bildl betrachten möchten, meine gnädigen Fräulein, dann werden sie's gewiß auch finden. Nur gegen die Sonn' halten! So, nein so! . . . So!«
Die Mädchen sahen schief und gerade auf die Photographie, die ihnen darum nicht besser gefiel, vielleicht weil Eine der Andern das Bild aus der Hand nahm und ihnen so die nöthige Sammlung immer mehr abhanden kam.
255 »Laß doch mich sehen, Florence!«
»So warte doch ein Bischen, Violette!«
Der leidenden Mama trat die Ungeduld über solches Gebahren hörbar auf die Lippen. Ein leiser Seufzer schwebte gen Himmel. Mit einem frischen Blick und einer matt ausgestreckten Hand bedeutete sie den Krämer, ihr die Photographie des Gnadenbildes vorzulegen.
Mit welchem Eifer gehorchte nicht der ebenso fromme als gefällige Bartel! Das Haupt geneigt, die Hände gefaltet, stand er wie ein im Innersten Ergriffener vor der Frau, welche das Lichtbildchen in ihrer Hand ziemlich gleichgültig betrachtete und dabei nichts weiter dachte, als wie sich wohl ihr neues Altarblatt über oder gegenüber dem barbarischen Original dieses ungeschickten Abklatsches ausnehmen würde.
Nachdem sie's genug hatte, seufzte sie abermals und Bartel erkundigte sich auf's Einschmeichelndste nach ihrem Befinden.
»Ja, sagen S' mir nur, gnädigste Frau, mit der lieben G'sundheit geht's denn da no' allerweil kein Bisserl besser?«
Frau von Rüdenhausen war des Kokettirens mit ihrer »hoffnungslosen« Gesundheit noch lange nicht müde. Hatte sie doch heute und hier durch ihr Gehaben schon so viel Theilnahme und Bewunderung erregt. Und der alte Damian Bartel gehörte zu ihrem dankbarsten Publikum. Der durchtriebene Bauer war ihrer Meinung nach einer von den Wenigen, die sie verstanden und ihren Zustand würdigten. Ihm verhehlte sie denn auch nicht, wie schwach sie sich fühlte.
256 »Und die Moosrainerin – da siecht man's, was 's halt werth ist, wenn so ein Medizinbroz das Maul sich z'rreißt! – hat sie sich nit berühmt, in etliche Wochen müßten S' springen und tanzen können!« rief mit aufrichtiger Gehässigkeit der Krämer und schlenkerte dabei seine klapperdürren Finger so heftig in die Luft, daß die Knochen knackten.
»Tanzen und springen!« wiederholte Eleonore von Rüdenhausen. Ihre zarte Stimme bebte vor Entrüstung; im Auge jedoch, das sie dabei gen Himmel aufschlug, sprach frömmste Ergebung in's Unabänderliche. Sie beschäftigte sich jetzt in Gedanken so viel mit heiligen Situationen und verklärten Gestalten, daß sie unwillkürlich meist eine Haltung des Körpers und solchen Ausdruck des Gesichts annahm, als säße sie zu einem Altarblatt Modell. »Tanzen und springen! Ach Gott! . . . Ich glaube, daß ich im Leben nicht einmal wieder werde aufrecht stehen und zehn Schritte weit gehen können. Ich fühl's! Und die thörichten Menschen schwatzen von Springen und Tanzen!«
Sie brach in Thränen aus und der theilnahmsvolle Bartel schickte sich an, sie zu trösten.
Seine Rede wäre gewiß des Aufschreibens werth gewesen, allein Niemand verstand sie. Auch Frau von Rüdenhausen nicht. Denn dicht neben ihr, zur Rechten und zur Linken, und durch das ganze Lager der Pilger und Pilgerinnen ging jetzt ein so gewaltsamer Aufbruch, ein Aufschreien und Zurufen, ein Ordnen und Schieben, ein Handanlegen und Vorwärtsdrängen, daß Keiner des Andern Wort verstand und 257 Jeder die größte Mühe hatte, nur auf seinen Füßen zu bleiben.
Dazu läutete man mit allen Glocken und präludirte man auf der Orgel und ließ die Fahnen im Winde fliegen. Und der Wind selber schien, auf einmal munterer geworden, in die allgemeine Bewegung mit einzustimmen; er schüttelte die Bäume und rauschte mit den Zweigen und bauschte die Fahnentücher und hob selbst die schweren Goldquasten, daß sie anzusehen waren wie Weihrauchfässer im Schwung.
Aber auch an wirklichen Weihrauchfässern fehlte es nicht und sie wurden so stark geschwungen, daß im Innern der Kirche eine Wolke zu wohnen schien. Und mitten in dieser qualmenden Wolke, welche mit den getrübten Flämmchen der Wachskerzen durchwirkt war, zwischen rothgekleideten Chorknaben und weißen Diakonen stand im Mantel von Goldbrokat ein alter Priester und waltete betend und segnend seines hohen Amtes.
Wie leicht zu begreifen, war in der kleinen Wallfahrtskirche kaum für den hundertsten Theil der Pilgrime Platz, die inbrünstig hier zusammengeströmt waren. Sobald die Glocke den Beginn der Messe ankündigte, war dieß auch das Zeichen zum allgemeinen Aufbruch der Lagernden, von denen ein Jeder dem Eingang zum Heiligthum so nah als möglich knieen wollte.
Aus diesem Grunde entstand nun ein Vorwärtsschieben und Drängen, ein Stoßen und Drücken, ein Gewühl und 258 theilweis auch Geraufe, in dem frommer Eifer weder Fäuste noch Ellenbogen schonte. Den gottseligsten Fahnenschleppern kam da mitunter ein herzhafter Fluch aus. Weiber kreischten, Kinder schrieen, Hunde heulten, daß man für einige Sekunden das sonore Pfeifen der Kirchenorgel überhörte. Jeder war nur für sich bedacht und darauf erpicht, dem Andern zuvor und dem Wunderbild so nahe wie möglich zu kommen.
Obwohl nun Frau Eleonore sich bereits auf dem äußersten rechten Flügel des Pilgerlagers befand, so war doch der konzentrische Druck des Aufbruches so allgemein, so gleichzeitig und so heftig, daß auch sie in's Gedränge kam. Und von Minute zu Minute ärger.
Sie rief ängstlich den Sesselschieber herbei, der an Bartels Ladentisch sich bereits das dritte Gläschen Enzian eingießen ließ – die gnädige Frau zahlte ja Alles. Er sah betroffen drein und erkannte die Gefahr, in der seine Dame und noch mehr sein Gefährt schwebte. Mit zwei Schritten war er hinter dem Wägelchen und schob die Geängstigte durch's Gewühl zur Seite in den Wald hinan.
Dabei wurde Florence durch die herbeiströmenden Bauern von dem Wägelchen der Mutter abgedrängt und Violette flüchtete, bis der Augenblick des höchsten Getümmels vorübergegangen sein würde, in Bartels Bude, der sie zunächst stand.
Bartel selber hatte es sich nicht verwehren lassen, mit Hand anzulegen, um die von ihm so sehr verehrte Kundschaft 259 aus dem rohen Gedränge seiner Landsleute herauszurollen. Obwohl der Karrenschieber von Profession sich durch die unberufene Mithülfe des eigensinnigen Alten mehr behindert als gefördert fand und demgemäß ihn abzulassen bat, hielt Bartel doch an der Handhabe fest, und dem erhitzten Fuhrmann blieb nichts übrig, als alle Kraft anzustrengen, um dem ungeschickten Beistand entgegenzuwirken und zugleich das Wägelchen aus dem Getümmel zu schaffen.
Das Alles geschah schneller, als es geschildert werden kann. Da waren sie glücklich auf mäßiger Höhe angelangt, wo die dichteren Bäume eine Art Freistatt boten. Seitwärts wälzte sich der Strom der Menge. Nur einzelne Saumselige, die sich schlafend oder scherzend im tieferen Walde verspätet hatten, liefen hier vorüber. Aufathmend warf der Wagenschieber den Kopf in's Genick. Da glaubte Bartel in seinem Eifer noch ein Uebriges thun zu müssen und gab dem Karren einen Stoß aus doppelter Armskraft nach vorwärts. Der Andere, damit nicht einverstanden, beeilte sich durch einen Druck nach rechts dem Eingriff in sein Amt zuvorzukommen. Aber er war nicht flink genug. Sein Handgriff prellte das Wägelchen nur ein wenig aus der geraden Richtung. So fuhr es denn mit vereinten Kräften gegen eine aus dem Erdreich vorgekrümmte Baumwurzel so gewaltsam und ungefüge, daß die Räder seitlings aufprallten, eins aus der Achse fiel und der Sessel mit seinem Insassen in's Farnkraut kollerte, wo es am dichtesten stand.
Knecht und Krämer rissen entsetzt die Augen auf über 260 solchen Erfolg ihres Bemühens. Rufend kamen die beiden Töchter herzugelaufen. Eleonore selbst wußte nicht, wie ihr geschehen war. Sie lag da in Gras und Moos, ein Gewühl von Spitzen, Flor und Bändern, und athmete hastiger.
Mit der einen Hand strich sie sich die Röcke über die Knöchel. In der andern hatte sie noch immer die Photographie des schwarzen Madonnenbildes, die sie beim plötzlichen Weiterfahren unbewußt in der Hand behalten.
Etwas verdutzt sah sie um sich und erwartete, daß die beiden Töchter und die beiden Bauern Hand anlegen würden, sie aufzuheben, sobald nur erst das Wägelchen wieder sicher in Stand gesetzt sein würde.
Sie hatte sich nicht besonders weh gethan und versicherte gnädig lächelnd dem trostlosen Bartel, daß sie mit dem bloßen Schrecken davongekommen sei.
»Ich bitt' nur um ein' Augenblick Geduld. Gleich wird's Wagerl wieder in Ordnung sein!« sagte der Karrenschieber mit flehender Stimme, während er die Nabe des losgegangenen Rades nothdürftig, aber geschickt wieder zu festigen suchte. Der arme Mann, der sich die bittersten Vorwürfe machte und sein einträgliches Geschäft gefährdet sah durch Bartel's Ungeschick und eigene Unvorsichtigkeit, sah aus wie ein Verurtheilter.
Frau Eleonore beruhigte auch ihn und schaute halb liegend, halb sitzend seiner hastigen Arbeit zu.
Dabei war ihr denn doch ein wenig beklommen zu Muth. Das Herz schlug noch immer rascher und der Athem hob 261 ihre Brust. Um sich bequem zu stützen, legte sie die eine Hand flach in's Gras.
Das Farnkraut neben ihr erzitterte.
In demselben Augenblick blickte sie nach ihrer Hand und sah, wie unter ihren Fingern hindurch zwischen Moos und Gras sich eine kleine grünliche Schlange wand und das Köpfchen züngelnd nach rechts und links reckte.
Ob sie die Hand zurückzog? Nur die Hand?
Mit einem gellenden Schrei, kreidebleich, sprang sie auf ihre Beine, faßte die Röcke mit den Händen flink, und ob ihr auch die Kniee knackten und die Sehnen schmerzten, lief sie, was sie laufen konnte, als wären alle die bösen Kupfernattern des Moors hinter ihr her, giftspeiend und zähneschleudernd. Wie vom Wind verweht flog sie unter den rauschenden Bäumen, hinter den verwundert und entrüstet umblickenden Betern hin und hielt nicht eher stille, bis sie vor dem Gartenzaun der Villa Distelfeld schweißtriefend und athemlos zusammenbrach.
Das unschuldige Gewürm, welches von Natur eine zahme Blindschleiche war, hatte nichts von einer Kupfernatter an sich. Aber vor Eleonorens Phantasie schwebte die gräßliche Erscheinung des gebissenen Torfarbeiters, den sie unlängst zur Moosrainerin hatte tragen sehen. Zwar empfand sie nirgends am ganzen Leib etwas wie einen Biß oder Stich, dennoch hielt sie's nicht aus, hier vor der Schwelle zu liegen, bis Jemand auf ihr Rufen kam oder die nacheilenden Töchter sich einfanden. Sie mußte sich noch einmal 262 aus eigener Kraft aufraffen und ohne Hülfe ging sie in's Haus.
Dort war das Erste, daß sie ihre Kammerjungfer die Thür abschließen und sich vom Scheitel bis zur Sohle untersuchen ließ, ob sie auch wirklich von keiner Natter wäre geritzt worden.
Ihre Haut war nirgends, auch nicht im Mindesten, verletzt. Da stand sie nun vor ihrem Spiegel und sah sich selbst in's betroffene Gesicht. Sie begriff die Welt, sie begriff ihr eigenes Fühlen und Thun nicht mehr, sie wollte nicht verstehen, was ihr alle Gedanken in dieser Minute zuraunten, aber die Schamröthe stieg ihr flammend in die Wangen und Thränen überströmten ihr Antlitz, heiße Thränen bitterster Selbsterkenntniß. –
Im Walde draußen nahm die Sache derweilen ihren Verlauf. Die Blindschleiche war ungehindert unter dem hohen Farnkraut ihre weiche Moosbahn weitergeschlängelt. Von ihrer nahen Anwesenheit hatte außer Eleonoren kein Mensch eine Ahnung gehabt. Wie nun Florence und Violette so unerwartet und von freien Stücken die Mutter laufen sahen, die eine Minute vorher vor ihren Ohren gejammert hatte, daß sie nie wieder werde ihre Beine gebrauchen können, da war ihnen, als blieben alle Gedanken stehen. Eine starrte die Andere an. Sowie sie den Versuch machten, der Mutter nachzueilen, umringten sie schon die Bauern, und also Schritt vor Schritt im Gedränge suchten sie zu ihrer Villa den Weg.
263 Das war nicht leicht. Denn Damian Bartels Geschrei drohte allen Anwesenden die Köpfe zu verdrehen.
Die kranke Dame laufen sehen und in ein furchtbares Gebrüll ausbrechen war Eins. Hoch die Hände über dem Kopf schwingend und die Stimme bis zur Heiserkeit anstrengend schrie er:
»Ein Wunder! Durch Gottes und der heiligen Jungfrau Gnaden ein Wunder, ein Wunder!! Hosiannah! Hallelujah! ein Wunder! ein Wunder!«
Die erste Wirkung dieses Gezeters war, daß ihm von verschiedenen der herzueilenden Pilger die schönsten Prügel angeboten wurden.
Der Alte ließ sich aber durchaus nicht einschüchtern, sondern geberdete sich mit der Entschlossenheit eines Wahnsinnigen. Er nannte jeden Zweifelnden einen Ketzer und Kreuziger des Heilands, schwor alle Heiligen vom Himmel herunter und berief sich auf das Zeugniß des Karrenschiebers, der selbst gehört haben müsse, wie die Frau sich als kontrakt und lahm und Gehens wie Stehens unfähig erklärt habe.
Der Karrenschieber, der, so grob und klotzig er geartet war, jetzt nicht wußte, ob es ihm vor Staunen kalt oder warm den Buckel hinablief, der hatte die angeführte Versicherung heute nicht zum ersten Mal und heute nicht einmal, sondern mehrere dutzendmal gehört. Er berief sich auf die Moosrainerin, die ihm selbst vor acht Tagen gesagt, daß er schleunigst über den Wald zum Notar gehen sollte, 264 weil die Frau Staatsräthin ihr Testament machen mußte. Er berief sich auf jenen alten Krüppel, auf jenes gebrechliche Mütterchen, auf Diesen und Den unter den Pilgern, die ihn zunächst umstanden oder die er von den Anderen mit Namen kannte, welche sämmtlich aus dem eigenen Mund jener Dame vernommen hatten, wie krank und unfähig und unbeweglich sie seit manchem Jahre wäre.
Da fanden sich denn auch nicht Wenige, die dieß mit gutem Gewissen beschwören konnten und die sich mit erhobener Hand und schreiendem Halse drängten, all' das und noch mehr zu bestätigen. Andere, die den Lärmen annoch als Aergerniß betrachteten und sich davon in ihrer Andacht nicht stören lassen wollten, wurden herbeigerufen, und wenn sie nicht gutwillig kommen wollten, gewaltsam herbeigebracht, um Zeugniß abzulegen, wie die Frau kurz vorher noch gewesen sei und geredet habe.
Das ging natürlich nicht jedesmal glatt ab. Es gab Widerspruch, es gab Fußtritte und Stöße mitten in aller Gottseligkeit. Aber hier, der heiligen Messe gegenüber, mußte doch Alles gleich niedergehalten und im Nu gedämpft werden. Sonst hatte Niemand ein Interesse daran, zu verheimlichen, daß die Dame viel Almosen gegeben, dabei sich über ihre Lahmheit beklagt und dann wie ein Wiesel über Stock und Stein gelaufen sei.
Die Theilnahme wuchs, die Aufregung wuchs, die Schaar der unerschütterlichen Beter wurde immer kleiner, der Tumult um Damian Bartel immer größer; selbst bis in die Kirche 265 drang der geflüsterte Bericht und der opfernde Priester am Altar hörte zwischen seinen und der Ministranten Worten, zwischen Orgelton und Glockenklang wüste Rufe, die gedämpft vom Wald in die heilige Stille drangen und nicht anders verstanden werden konnten wie: Wunder! ein Wunder!
In die Menge war eine wilde Begeisterung gefahren, die mit rapider Ansteckung um sich griff und selbst die Besonneneren nicht verschonte. Jeder, dem die Frau vor ihrer plötzlichen Heilung ein Wort oder einen Groschen gegönnt hatte, wurde der Mittelpunkt eines wachsenden Haufens und dieser säumte nicht, ihm tausend Fragen vorzulegen, auf die manche Antwort aus der Luft gegriffen werden mußte.
Mancher gelangte bei dieser Gelegenheit zu einer Hand voll Geld, Mancher zu einem Buckel voll Schläge, Keiner wußte wie.
Am schlimmsten kam vorderhand der Karrenschieber weg, denn ehe noch eine Viertelstunde über dem Ereigniß dahingegangen war, hatte die rasende Menge sein Wägelchen in tausend Trümmer zerschmettert. Man balgte sich, man feilschte, man bettelte kniefällig um die einzelnen Bruchstücke und theilte sie immer wieder, als wären es versicherte Partikeln des heiligen Kreuzes. Mancher Span, der also von einer Hand in die andere, und von der reicheren in die reichste ging, erzielte höheren Preis, als der ganze Rollwagen funkelnagelneu gekostet hatte. Aber Keiner wollte doch dazu verhalten sein, weil er einen so kostbaren Holzsplitter besaß, den ganzen Wagen zu bezahlen. Und schließlich konnte sich 266 der immer ungestümer Fordernde noch glücklich preisen, daß man ihm nur den Wagen, nicht auch noch seines Leibes Knochen zerschlagen hatte.
Den nächsten und größten Vortheil genoß hingegen, wie Niemand wundern wird, der alte Krämer Bartel. Nicht nur, daß er als der erste Augen- und Ohrenzeuge der gesuchteste Mann im Walde war, er wußte auch die Ehre mit dem Vortheil zu verbinden.
»Habt ihr's nicht gesehen,« rief er, »wie sie noch im Laufen meine Photographie der wunderthätigen Jungfrau in der Hand gehalten hat?! Nun ist's erwiesen, nicht nur das altehrwürdige Gnadenbild in der Kirche drin, auch schon die photographische Nachbildung desselben wirkt Wunder. Welch' ein Glück, welch' ein Fortschritt! Man kann nun das Gnadenbild überallhin mit sich tragen, man kann es für jede Gefahr in seiner Tasche führen, man kann es Freunden in der Noth senden, man kann's auf dem Sterbebett in Händen halten und es mit sich in's Grab nehmen. Gott erbarmt sich deiner, armselige Menschheit! Sein Name sei gepriesen in Ewigkeit! . . . Wenn ich nur mehr von den Abdrücken hätte!«
»Habt Ihr denn überhaupt noch etliche? – Wo sind sie? – Her damit! Heraus damit!« schrie es von allen Seiten aus der anstürmenden Menge.
»Wollt ihr mir Gewalt anthun? Glaubt ihr, ein gestohlenes Gnadenbild wird euch Segen bringen? Ist so ein Einbruch viel was Besseres als Kirchenraub?! . . .«
267 »Nix da! bezahlen! bezahlen!« antwortete es aus dem Haufen und »Was verlangst?!«
»Verlang' was Du willst, aber mir gibst eins, Bartel, für mei' krank's Weib und mei' krank's Viech. Geld hab' i gnua, aber Glück hab' i koan's. Drum her mit Dei'm Segen, i kann ihn brauchen!« sprach ein dicker Bauer mit angegrauten Haaren, indem er, ohne sich umzusehen, erst ein paar Rippenstöße nach rechts und links austheilte und dann eine Hand voll harter Thaler auf den Ladentisch legte.
Der biedere Bartel säumte nicht, den Mann zu befriedigen. Der schob das Kärtchen in die Brusttasche, knöpfte sich darüber Weste und Wamms bedächtig vom Bauch bis an den Hals zu und ging unangefochten durch die Menge. Ohne sich umzusehen, machte er sich auf den Heimweg.
Seinem Beispiel folgten Alle, die es konnten. Nicht jedes Bildchen wurde so hoch bezahlt, aber die Summe, welche das halbe Hundert dieser Abzüge in einer halben Stunde eintrug, war selbst für den nimmersatten Bartel erstaunlich. Mancher Spargroschen, der jahrelang für den Opferstock in der Kirche bestimmt worden, floß also in des Krämers krummgebogene Hand. Und manch' ein waghalsiger Bursch, der morgen nicht wußte, wie weiter, gab heute sein Alles aus den Taschen, um mit dem kleinen Bilde seinen Schatz zu beschenken – vielleicht auch, um einen gefährlichen Nebenbuhler ein für allemal mit so kostbarer, so wundergewaltiger Gabe auszustechen.
Der Bartel hatte das erste freie Athemholen benutzt, um 268 seinen Ladenjungen nach der Eisenbahnstation zu schicken, damit dieser mit dem nächsten Zuge zur Stadt fahre und trotz des Feiertags bei dem armseligen Photographen, der das Bild aufgenommen, sowohl alle vorhandenen Abzüge aufkaufe, als auch zu einem genau festgesetzten – selbstverständlich niedrigen – Preise eine erhebliche Anzahl neuer für die nächsten Tage nachbestelle.
Allein wenn auch dieser Sendling den verbummelten Lichtbildner trotz des Feiertags und der durstweckenden Sommerhitze zu Hause traf und sogar einen der nächsten Züge benützte, vor einbrechendem Abend konnte er mit seiner Beute doch nicht wieder in die Bude zu Mariatannerl zurückkehren.
Bartel wußte, daß das Glück flüchtig, die Polizei rasch bei der Hand und ein verlorener Augenblick nicht wieder einzubringen sei. Er nahm sich vor, das Eisen zu schmieden, so lang es warm war. Drum da die Bildchen bald vergriffen waren und er den frommen Eifer doch noch so hoch und begehrlich lodern sah, langte er, um einen Unzufriedenen zu beruhigen, mit rascher Hand nach dem ersten besten Gegenstand in seinem Laden und sprach:
»Das ist zwar kein Abdruck von dem wunderthätigen Bild in unserer Wallfahrtskirch', aber die durch dasselbe begnadigte Frau hat, kurz eh' ihr die Gnad' widerfahren ist, diesen Stoff in der Hand gehalten. Wer glaubt, daß ein solches Tuch des Kaufens werth, der mag's haben.«
Die Einen zuckten die Achseln und gingen, die Anderen 269 sagten: »Nu mei', wenn's D' g'rad' kani Bildeln mehr haben thust . . . was kost' a Stückel? so lang?«
Bartel war klug genug, jetzt keinen unverschämten Preis zu fordern, und so gingen die vierzig Ellen in kurzer Zeit zu kleinen Fetzen ab und trugen dem Verkäufer immerhin einen Gewinn ein, von dem er sich am Morgen nichts hatte träumen lassen.
Mittlerweile war das Hochamt zu Ende. Diejenigen, welche sich bislang auch durch ein angebliches Wunder in der gelobten Andacht nicht hatten stören lassen, wollten nun auch ihr Theil haben und bestürmten mit ungeschwächten Kräften Bartel's Bude, um den Lieben daheim von dem Mirakel, das hinter ihrem Rücken sich ereignet hatte, doch auch etwas Handgreifliches mitzubringen. Dem alten Damian rann der helle Schweiß von beiden Schläfen nieder; er fühlte seine Arme nicht mehr und seine hageren Beine knickten an die Bretter seiner Bude, aber er hielt unter dem Hagel des Glücks wie ein ergrauter Soldat im Kugelregen. Ohne auf eine Frage mehr zu antworten, gab er mit der einen Hand, was er in seinem Laden fand, und strich mit der andern das Geld ein, das man ihm ordentlich aufnöthigte.
Die Geistlichen, welche das Hochamt celebrirt hatten, ließen sich vom Meßner berichten, was es denn mittlerweile für erstaunlichen Rumor gegeben habe. Nachdem sie die goldenen Levitenmäntel abgelegt und ihre gewöhnliche Kleidung angethan hatten, traten sie nicht ohne Verlegenheit in eine Fensternische der Sakristei und flüsterten mit einander 270 berathend. Der Aelteste von ihnen wünschte sich tausend Meilen weit von der heillosen Geschichte hinweg. Der Jüngste dagegen hielt sich für befugt, den Tag seiner Geburt fast ebenso wie den heutigen zu loben, weil ihm vergönnt worden, solch' benedeite Stunde zu erleben. Ja Großes war geschehen hier, während sie dem Herrn geopfert hatten! Durch diesen Eiferer eingeschüchtert, entschied der Mittlere, daß man jedenfalls dem Volke Belehrung und Beruhigung und dem erzbischöflichen Ordinariate ausführlichen Bericht schuldig sei, derohalben sich nicht länger verstecken dürfe, sondern unter die Menge treten und seines Hirtenamtes walten müsse.
Als die Geistlichen in den Wald kamen, fanden sie Barteln seine ausverkaufte Bude schließen. Um so freudiger erklärte sich der Alte dazu bereit, nicht nur Alles, was er vor Kurzem erlebt, haarklein und wiederholt zu erzählen, sondern er bat es sich als besondere Gnade aus, die Hochwürdigen an den nahen Ort zu führen, wo das Erstaunliche sich vor Aller Augen begeben hatte.
Dieß Fleckchen Erde wäre nun wohl auch ohne seine Weisung leicht zu finden gewesen.
Kopf an Kopf gedrängt knieten da die Pilger barhaupt und mit gefalteten Händen. Einige lagen, wo es der Raum verstattete, lang ausgestreckten Leibes mit platter Brust an der Erde und küßten unaufhörlich betend immer wieder die kahle Erde. Einige saßen da und kauten das Gras, das sie aus dem Boden gerissen, innere Schäden also zu heilen 271 hoffend. Andere banden es, so viel sie davon erraffen konnten, in ihre Taschentücher, um auf schlimme Tage Vorrath zu haben. Manche kletterten auf die benachbarten Bäume und brachen sich die Zweige, welche über dem Geschehniß gerauscht hatten. Ja man schälte selbst die Rinde von den nächsten Stämmen, um sie nach Hause zu tragen.
Mitten in all' den gutgemeinten Forstfrevel traten nun die drei Priester und wurden nach Gebühr empfangen.
Der Aelteste hieß die Leute nach Hause gehen und der Welt verkünden, was sie gesehen hätten, aber auch nur das, nicht mehr und nicht weniger, was sie mit eigenen Augen gesehen hätten.
Der Zweite mahnte die Uebereifrigen daran, daß, wenn auch wirklich ein Wunder Gottes allhier geschehen wäre, denn doch die geweihte Kirche der beste Platz zum Beten sei.
Der Jüngste aber stieg auf einen Baumstrunk. Er fühlte sich von dem, was eben hier vorgegangen und was er noch vor sich sah, so begeistert, daß er meinte, der Hauch des Herrn sei leibhaftig über ihn gekommen. Er zögerte denn auch keinen Augenblick, seiner Begeisterung die Zügel schießen zu lassen.
Natürlicherweise bewegte sich dieselbe in den üblichen oratorischen Formen und ward eine ordentliche Predigt daraus.
Der Eindruck war darum nicht geringer.
So begierig indessen die Einen auf jedes seiner Worte lauschten, um so weniger waren Andere in so einziger Stunde zum Stillsitzen und Aufhorchen geneigt. Ihre aufgestachelten Gemüther wollten sich nicht nur durch fromme 272 Worte abspeisen lassen, es drängte sie nach gottwohlgefälligem Thun.
War's ein versprengter Funke aus der Predigt des jungen Feuereiferers, der zündend in der Seele eines Andern niederfiel, war's ein Gedanke, der selbstständig bei Einem oder bei Mehreren zugleich gereift – wer kann sagen, warum eine Menge plötzlich sich in Bewegung setzt wie auf einen empfangenen Befehl und nach einem Allen bewußten Ziel, von dem früher niemals die Rede gewesen.
Auf einmal war die Losung ausgegeben, daß man sich in Masse vor die Wohnung der durch die Gnade der Jungfrau geheilten Dame begeben und, wenn menschenmöglich, sie sehen, begrüßen und um ihren Segen bitten müsse.
Flugs ordnete sich unter den gewohnten Führern der Zug. Etliche Fahnen wurden zum löblichen Zweck aus der Kirche geholt. Fromme Lieder singend und englische Grüße sagend, setzten sich etwa dreihundert Pilgrime beiderlei Geschlechts in Bewegung auf die Moosrainerische Ansiedelung.
Bartel, der es nachgerade für's Gerathenste hielt, sich kostbar zu machen und, bis er neue Waaren bekäme, zu verschwinden, hütete sich erst recht, einer guten Kundschaft so unliebsame Belästigung zuzuführen. Auch fand sich sonst unter den Zugführern kein Ortskundiger. So geschah's, daß man nicht geradewegs vor Villa Distelfeld marschirte, sondern vor den am anderen Ende der Heilanstalt gelegenen »Fürstenhof«. Als man in Erfahrung gebracht hatte, daß hier keinerlei unmittelbar von Gott Begnadigte 273 zu Hause wären, wurde ein Umgang um die ganze weitläufige Anlage gemacht.
Man wollte sich doch auch allenthalben sehen und hören lassen. Alle Scheiben sollten klirren vom Hallelujah und Jeder, der am Wege stand, wurde ausgefragt, wo die Dame wohnte, der man die großen Ehren anzuthun beabsichtigte.
Aber die Auskunft fiel immer ungenügend aus, immer so, daß es ein Anderer besser wußte, als der Gefragte. Schon wurden Einzelne ungeduldig, und gar Ein und Anderer ließ sich flüsternd vernehmen, am Ende sei die ganze Wundergeschichte nicht wahr. Solche kamen nun freilich übel an, denn auf einen Kleinmüthigen war immer ein Dutzend, das die Dame wirklich laufen gesehen, und ein Hundert, das sie gesehen haben wollte.
Da geschah etwas, das alle Gemüther befriedigte, dem Enthusiasmus ein nächstes Ziel gab und den Suchenden den kürzesten Weg wies.
Auf der Landstraße kam nämlich eine staubige Postkutsche mit einem lichtgekleideten Reisenden daher, der über grauem Filzhut einen Sonnenschirm von ungebleichter Seide aufgespannt hielt.
Der Mann blickte halb verwundert, halb ungeduldig auf die Massen der Pilger, die seinem Fuhrwerk den Weg versperrten und es bald ganz umringten.
Wieder kann kein Mensch sagen, wieso es unter der Menge ruchbar wurde, daß der Herr im Wagen Niemand Geringerer als der Gatte der durch ein Wunder geheilten 274 Kranken sei. War Einer darunter, der den Staatsrath von Rüdenhausen irgendwo daheim, in der Sommerfrische, auf der Jagd oder im Bade gesehen hatte, oder Einer, der ihm hierorts bei einem seiner früheren Besuche mit seinen Töchtern begegnet war? – gleichviel, wie ein griechisches Feuer lief blitzschnell alle Reihen entlang die Kunde, hier habe man zwar nicht die begnadete Frau, aber deren gottesfürchtigen Herrn vor sich.
Alle Reihen lösten sich und der Kühnsten einer, ein breitschultriger Bursch mit einer centnerschweren Oriflamme in den Fäusten, trat fest an den Wagenschlag heran und fragte, feierlich die Stimme hebend:
»San Sie der Herr von Rüdenhausen oder san Sie's eppa net?«
»Ich bin der Herr von Rüdenhausen. Was wollt ihr von mir?« sprach der Staatsrath. Aber schon verschlang hundertstimmiger Jubelruf seine letzten Worte.
Die Zugführer befahlen in's Gedränge. Man warf grünes Reisig und lange Tannenzweige in die Extrapostkutsche, man bekränzte die Pferde, man hing ihnen geweihte Rosenkränze an die Scheuleder und eine Matrone brachte weiß Gott woher einen umfangreichen Asternstrauß, den man den Kutscher statt der Peitsche in die Hand zu nehmen zwang.
Der allzeit gebieterisch gelaunte Staatsrath Rüdenhausen war durchaus nicht gewillt, also mit sich verfahren zu lassen. Er stand im Wagen auf und donnerte den Nächsten seinen vollen Zorn in die verblüfften Gesichter.
Aber mochten nun auch diese sich Gedanken machen, was 275 doch die fromme Frau für einen gottlosen Mann habe! stille Gedanken theilten sich in solchem Tumulte der Menge nicht mit; diese war über die Maßen froh, einen sichtbaren Gegenstand für ihre Begeisterung gefunden zu haben, und legte durchaus keine Neigung an den Tag, so bald Vernunft anzunehmen.
Die Aufforderung, die Ewald mit zorniger Stimme an den Postillon ertheilte, auf seine Verantwortung hin die Pferde mit Peitschenhieben durch die Menge zu jagen, konnte auch nicht befolgt werden. Der arme Schwager wies ihm statt aller Antwort den abscheulichen Asternbuschen in seiner Rechten und deutete dann damit auf die handfesten Kerle, die zu beiden Seiten seine Pferde im Schritt an den Trensen führten.
Also bewegte sich der erbauliche Triumphzug langsam und feierlich gen Villa Distelfeld.
Sieben rothe, drei violette und eine weiße Kirchenfahne dicht um den Wagen gereiht, vorn ein paar hundert, hinten ein paar hundert Pilger und Pilgerinnen, die Einen eine Litanei beantwortend, die Anderen ein Wallfahrtslied singend, die nächsten um das Fuhrwerk kunterbunt, mit einem entsetzlichen Durcheinander von Vaterunsern und Ave Marias sich überbietend, so schritten sie dahin.
Rüdenhausen dachte einmal daran, aus dem Wagen zu springen. Aber was hätt' es geholfen? Die Menge hätte ihn wieder in den Wagen gehoben und zum Bleiben gezwungen. So konnte er doch noch den Anschein wahren, 276 als führ' er aus freiem Willen mit ihnen und thäte man ihm keine Gewalt an.
Einen übereifrigen Burschen, der Miene machte, dem verehrten Manne so nah' als möglich zu kommen, will sagen, zu ihm in den Wagen zu steigen, wehrte er handgreiflich ab. Die anderen Pilger fanden das ganz in der Ordnung.
So ergab sich denn der Staatsrath in sein possenhaftes Schicksal. Er zündete sich eine frische Cigarre an, ließ die Hände in den Schooß hängen und betrachtete sich die Gesichter der Narren, die nicht übel Lust bezeigten, seine Postgäule zu ersetzen und seine Kalesche zu ziehen, seine, des bei allen Eiferern so schlimm verschrieenen Gesetzmachers, Kalesche.
Aber er sah die Sache nicht bloß im komischen Lichte. Was werden Land und Fürst, was wird die öffentliche Meinung und Skandalsucht zu dieser Prozession sagen, in welcher er wider Willen die Hauptrolle spielt?
Er war in diese heilige Demonstration wie der Hund in's Kegelspiel gerathen. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen seiner weltlichen Person und der göttlichen Verehrung, die ihm die Bauern erwiesen, konnte sich ihm nicht aufklären. Nur leise dämmerte eine Ahnung in seine Seele, daß wahrscheinlich Donna Eleonora mit ihrer unglaublichen Nervosität ihm all' die Annehmlichkeit angerichtet habe.
Lächelnd ergab er sich in sein Schicksal und lächelnd sprach er: »Heiliger Rüdenhausen, bitt' für mich!«
Zum Glück währte die seltsame Auffahrt trotz des feierlich verlangsamten Schrittes nur kurze Zeit.
277 Sowie der Wagen vor dem Thore der Villa hielt, sprang Ewald in den Garten, drückte den Nächsten, der ihm diensteifrig zuvorkommen wollte, rasch und nicht eben sanft aus dem Gitter hinaus, schloß ab und nahm den Schlüssel, der innen im Schlosse steckte, mit sich in's Haus.
Eleonore war nicht sogleich sichtbar. Sie wollte nicht den ersten Groll des Gatten auf ihr Haupt nehmen. Sie wollte nicht selbst berichten, was da geschehen war, wußte sie selbst doch kaum, wie's zugegangen.
Rüdenhausen hatte nichts dawider, erst seinen Töchtern Bericht abzunehmen. Was er da hörte, erregte wohl seinen Aerger, aber auch seine Heiterkeit. Keine von beiden Empfindungen ließ er vor seinen Kindern merken.
Er nahm sie bei den Händen, streichelte ihnen die blonden Scheitel und lehnte ihre betrübten Gesichter an seine väterliche Brust.
Die armen Kinder waren so verängstigt, daß sie des Vaters Ankunft wie die eines Retters in der Noth begrüßten und ihnen die langverhaltenen Thränen reichlich von den rothblonden Wimpern tropften.
»Faßt euch, meine Puppen,« sagte Rüdenhausen, dem im Anschauen seiner Töchter aller, auch der nothwendige Aerger abhanden zu kommen drohte. »Es ist Zeit, mit Mama zu sprechen. Ihre Kur scheint ja glücklich beendet. Mama wird ihre Entschlüsse noch heute fassen müssen. Faßt auch ihr euch. Auf Eins will ich euch schon jetzt aufmerksam machen. Hier in diesem verrückten Neste bleibt 278 ihr mir nicht länger, als nöthig ist, um eure Koffer zu packen!«
Ein unwillkürliches »Ach!«, das wie ein leiser Schrei klang, überhörte Rüdenhausen, denn die Pilger und Pilgerinnen vor dem Garten sangen jetzt aus Andacht und Ungeduld so laut, als wollten sie den Hausvater überzeugen, daß er, um seinen eben ergangenen Befehl zu begründen, keines anderen Beweises bedürfte.
Es drängte ihn, seine Gattin zu sehen, die er ebenso zu ihrer Genesung beglückwünschen, wie um ihrer Beschämung willen bemitleiden mochte. Schon zum Gehen bereit, wandte er sich noch einmal zu seinen verdutzten Kindern zurück, griff aus seiner Brieftasche eine Photographie in Visitenkartengröße und sagte, diese auf den Tisch legend:
»Von einem andern Kapitel später! Dieß derweilen zur Einleitung!«
Er lächelte, während die beiden Neugierigen über das Kärtchen herfielen.
»Ach, das ist ja Lieutenant Eberstein!« rief Florence.
»Rittmeister Eberstein!« verbesserte der Vater beobachtend.
»Seit wann ist denn Der bei den Dragonern?« fragte Violette.
»Seit dem letzten Armeebefehl.«
»Hm, die Husarenuniform stand ihm viel besser zu Gesicht,« sagte Violette ziemlich leise.
Und kaum lauter versetzte Florence:
»Ich finde das Gegentheil.«
279 »Geschmacksache!« sprach Rüdenhausen und ging, nicht ganz das Lächeln aus seinem Antlitz bannend, zu seiner lieben Frau Eleonore.
Auch hier sank ein thränenüberströmtes Antlitz an seine Brust und er streichelte tröstend einen glatten Scheitel.
Während von draußen die Lieder der Wundergläubigen in sein stilles Gemach drangen, entdeckte der Freigeist, daß sich hier in der That ein Wunder zugetragen habe, zwar nicht an kranken Beinen, aber an einem kranken Herzen.
Und er schloß sein Weib in die Arme und dankte Gott – wenn auch in seiner Weise. 280