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Nach dem ersten wilden Rennen um die Freiheit mäßigte Jan seinen Lauf. Er lief nun in gleichmäßigem Schritt weiter, den er auch die ganze Nacht hindurch beibehielt. Als der Morgen graute, führte ihn sein Instinkt in das Gebüsch hinein, wo es am dichtesten war. Seine einzige Angst war, Wilhelm könnte ihn finden, und sein einziger Wunsch war, wieder nach Hause zu gelangen. Er wußte nicht, warum er eine südliche Richtung einschlug; denn er hatte nichts, wonach er sich richten konnte, nur ein eigenartiges Empfinden, daß er immer weiter laufen müsse, und daß er dann eines Tages das Gartentor des kleinen Hauses erreichen würde, wo der Kapitän und Hippity-Hop auf ihn warteten und die Straße entlang nach ihm ausschauten.
Jan war imstande, etwas Wasser aufzuschlappen, so oft er es fand, aber er hätte nicht fressen können, selbst wenn er Futter gefunden hätte, denn der Maulkorb hielt seine Kiefer zusammen. Er hatte gelernt, nicht mehr am Maulkorb zu zerren oder ihn auf der Erde hin und her zu reiben. Die zweite Nacht war er sehr hungrig, aber er trabte standhaft in derselben Richtung weiter. Am Morgen fühlte er sich schwach vor Hunger und Erschöpfung, und als es wieder dunkel wurde, wollte es nicht weitergehen. Dann aber dachte er an den Kapitän; mühsam erhob er sich und schleppte sich langsam weiter.
Am vierten Tage nach seiner Flucht war er zu schwach, um weitergehen zu können, und lag mit geschlossenen Augen erschöpft auf der Erde. Er wollte ganz still liegen, obgleich er sehr durstig war, denn an dem Tage hatte er kein Wasser gefunden. Ein Hase sprang ganz nahe an Jans Kopf aus dem Dickicht; das Rascheln der Blätter veranlaßte ihn, die Augen zu öffnen. Er sah, wie das kleine Tier in plötzlicher Angst aufrecht saß, aber Jan machte keinen Versuch, es zu fangen. Er war zu erschöpft, und außerdem wußte er, daß der Maulkorb es ihm unmöglich machte, den Hasen zu packen. Also sah er zu, wie das Tierchen bald ohne Furcht um ihn herumsprang, bis das Geräusch von herannahenden Schritten auf den dürren Blättern es in das Gebüsch zurücktrieb.
Jan hörte die Schritte auch. Er glaubte, Wilhelm habe ihn gefunden, und er wußte, daß er weder kämpfen noch sich verteidigen könne; aber er stellte sich mit großer Mühe auf die Beine und kroch zitternd einige Schritte vorwärts. Dann sank er erschöpft hin.
Die Stimmen von Kindern erschallten. Jan spitzte die Ohren, seine Augen erglänzten ein wenig und er bewegte langsam den Schwanz. Er fürchtete sich nicht vor Kindern; sie liebten und streichelten ihn ja immer. Abermals stand er auf und schob sich langsam durch die Büsche bis zu einem offenen Platz, wo zwei kleine Mädchen lachten und plauderten, während sie wilde Brombeeren pflückten und sie in einen kleinen blechernen Eimer taten. Sie trugen zum Schutz gegen die Sonne eigenartige Hüte, die ›Sunbonnets‹ genannt wurden, mit breiten, die Gesichter fast umschließenden Rändern, die beim Pflücken über dem Eimer auf- und niedertauchten. Jan kroch zu ihnen hin. Als die Kinder das Rascheln hörten, wandten sie sich um. In jäher Angst ließen sie den Eimer fallen, die Beeren kollerten auf den Boden, und die Kleinen liefen fort, indem sie aus Leibeskräften schrien: »Vater, Vater, ein großer schwarzer Bär, der uns auffressen will!«
Jan stutzte und wunderte sich, daß sie vor ihm davonliefen. Er hörte die rasch gesprochenen Worte eines Mannes, die aufgeregten Stimmen der Kinder und dann die beschwichtigenden Laute einer Frauenstimme.
»Nun wird alles gut,« dachte der arme Prinz Jan. »Frauen und Kinder tun mir nichts zuleide.«
Er ging wieder in das Gebüsch. Aber plötzlich befand er sich vor dem Lauf einer Büchse, die von ruhigen Händen ihm entgegengehalten wurde. Jan wußte, was das zu bedeuten hatte. Seine Beine zitterten. O wenn er nur dem Manne erklären könnte, daß er die kleinen Mädchen nicht ängstigen und ihnen nichts antun würde! Er wünschte ja nur, daß jemand ihm den schrecklichen Maulkorb abnehmen sollte.
Die flehenden Augen des Hundes blickten dem Manne ins Gesicht. Nicht imstande, sich länger auf den Beinen zu halten, fiel er zu Boden und kroch dann ruckweise vorwärts. Um zu zeigen, daß er nichts Böses im Sinn habe, bewegte er den Schwanz langsam hin und her. Der Mann betrachtete ihn aufmerksam und ließ dann die Büchse sinken.
»Kommt her, Kinder! Euer Bär ist nur ein verlaufener Hund,« rief er. Jan sah sich nicht um, als er nun Schritte hörte; aber er berührte den Maulkorb mit seinen Pfoten, und den Kopf legte er auf die Füße des Mannes. Seine bittenden Augen sprachen so deutlich wie Worte.
»Armer Kerl,« sagte eine sanfte Stimme, und dann löste eine Frauenhand vorsichtig den Riemen und der Maulkorb fiel zur Erde.
Jan berührte dankbar die Hand mit seiner heißen, trockenen Zunge und sah jetzt die kleinen Mädchen mit den ›Sunbonnets‹ zu ihrer Mutter eilen. Sie lachten, hatten aber doch noch etwas Angst vor dem großen Hunde. Der Mann bemerkte den zerrissenen Strick und untersuchte dann das Halsband.
»Kein Name und keine Hundemarke,« sagte er endlich, »aber jemand wird ihn wohl suchen. Wie lange mag er wohl mit diesem Maulkorb umhergewandert sein, der arme Kerl.«
»Kinder, holt Wasser und alles, was von unserer Mahlzeit übriggeblieben ist,« sagte die Mutter. »Er wird wohl Hunger haben.«
Der blecherne Eimer wurde zweimal mit Wasser gefüllt, ehe Jans Durst gelöscht war; dann blickte er mit triefendem Maul und dankerfüllten Augen auf. Während er trank, hatten die Kinder einen Korb aufgemacht, und nun legten sie ihm etwas kaltes Fleisch und einige Stückchen Butterbrot vor. Gierig verschlang er beides, machte aber dann und wann eine Pause, um mit dem Schwanz zu wedeln und dadurch seinen Dank auszudrücken.
Dann lag er eine Zeitlang ganz still und ruhte aus, während die kleinen Mädchen dicht bei ihm saßen und gern gewußt hätten, wie sein Name sei und woher er komme. Ruth, die jüngere, streckte ihre Hand zaghaft aus, um ihn zu streicheln.
»Ich fürchte mich nicht vor ihm,« sagte sie. »Er wird nicht beißen. Er ist ja kein Bär, der uns auffressen will, nicht wahr, Charlotte?«
»Ich – ich – fürchte mich auch nicht,« entgegnete Charlotte mit etwas unsicherer Stimme und streichelte dann auch den Kopf des großen Tieres. Jetzt war den Kindern alle Angst vergangen, und Jan vergaß Wilhelm und die Stunden der Qual, als die kleinen Mädchen sich dicht an ihn schmiegten. Bald darauf waren alle drei fest eingeschlafen.
Die Sonne war fast untergegangen, als der Vater und die Mutter den Korb und einige Tücher in ein Auto packten. Jan bemerkte mit verwunderten Augen, wie sie einige kleine Bretter vorsichtig unterbrachten. Er hatte gesehen, als er von seinem Schläfchen erwacht war, wie der Mann und die Frau auf niedrigen Stühlen sahen und diese Bretter vor sich aufgestellt hatten und allerlei darauf malten. Der Vater bestieg zuerst das Auto, dann kletterten die kleinen Mädchen hinein, und als die Mutter den Fuß auf den Tritt setzte, stieß Jan ein solches Geheul aus, daß sie alle erschreckt auffuhren. Er glaubte, sie wollten ihn zurücklassen, und er wußte, er würde nicht schnell genug laufen können, um ihnen zu folgen.
»Du meine Güte! Was für ein Geheul!« sagte der Mann und lachte. »Wir werden dich nicht verlassen. Spring herein, alter Kerl!«
Jan kletterte schnell in das Auto, und dieses fuhr nun rasch einen ebenen Fahrweg entlang, der durch eine wunderschöne Schlucht führte. Große Bäume standen ringsum und ein kleiner Bach hüpfte murmelnd tief unten über die Steine. Vögel sangen, und Hasen huschten mit flinken Sprüngen aus dem Gebüsch. Die Kinder lachten in einem fort, klatschten in die Hände und riefen Jan zu: »Schau mal her, schnell, schnell!« Dabei drehten sie zuweilen seinen Kopf in diese oder jene Richtung, um ihm zu zeigen, was er sehen sollte.
Jan war während der Fahrt sehr glücklich; er hoffte jetzt bestimmt, daß er nun wieder heimkehren dürfe zu Hippity-Hop und dem Kapitän.