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Wer in sich den Probierstein für künstlerische Echtheit trägt, der muß es den Gedichten Max Dauthendeys anmerken, wie elementar sie ihm vom Herzen kamen ohne den Umweg über den Verstand, wie jeder Zweckbewußtheit fern, wie ungewollt selbst die Originalität seines Frühwerkes «Ultraviolett» ist, das anfangs den Zeitgenossen als Muster ausgeklügelter «Verrücktheit» galt. Fühlen wird das jeder hellhörige Leser – wer Dauthendey persönlich kannte, weiß es auch. Denn mit der gleichen wundervoll naiven Phantasie, die in seinen Gedichten blüht, sah er die Wirklichkeit, stand er auf Schritt und Tritt den wundersamsten Abenteuern gegenüber, wo nüchternere Augen nichts Auffälliges erblicken konnten, genoß er voller jeden Sonnenstrahl und litt er tiefer unter jedem rauhen Wind als andre, denen die Natur derbere Nerven und eine solidere Haut verliehen hat. So sehr ihn auch die Not des Daseins zauste, abhärten und verhärten konnte sie ihn nicht, er blieb an Aufgeschlossenheit für alles Schöne wie an Schmerzempfindlichkeit sein Leben lang ein Kind. Auch so hinreißend liebenswürdig war er wie ein Kind von guter Art; ich habe keinen zweiten Mann gekannt, der solchen Scharm wie er besessen hätte.
Zum erstenmal begegnet bin ich ihm im Frühjahr 1901. Wir waren uns sympathisch auf den ersten Blick, und da auch unsere Frauen sich verstanden, wob sich bald ein Freundschaftsband, das später manchen tüchtigen Zerreißproben erfolgreich widerstanden und bis an seinen Tod gehalten hat. Schon daß wir überhaupt einander nahekamen, ist ja fast als Wunder zu bezeichnen bei unserer Verschiedenheit: er immer sanft und fein, voll beinah ängstlicher Rücksicht und Manierlichkeit, ich gern in meiner Rede etwas derb und geradezu; er allezeit der in Gefühlen schwelgende Enthusiast, ich – jedenfalls von außen angeschaut – der Skeptiker, der als ein richtiger Balte seine Ironie und Necklust schwer bezähmen konnte. Zwar spürte ich gar bald, wie leicht verletzlich seine Seele war, und mühte mich, ihm ja nicht weh zu tun, er aber konnte schon darunter leiden, wenn man «Lyriker» zu ihm sagte und dies Attribut auch nur der Tonnuance nach gewissermaßen zwischen Gänsefüßchen setzte. Weil mir das manchmal unterlief, widmete er ein Exemplar seiner in Mexiko gedruckten Miniaturausgabe des Gedichtbuches «Reliquien» ausdrücklich: «Frau Holm (nicht Herrn Holm)».
Doch Abbruch tat das unserem Einvernehmen nicht. Obgleich es mir nicht lag, meinem Empfinden Ausdruck zu verleihen, spürte er, wie gut ich es ihm meinte, und wie nah er meinem Herzen stand. Und mußte man ihn denn nicht lieben, wenn man ihn genauer kannte, ja, fast auf den ersten Blick? Seine Erscheinung schon zog jeden unwillkürlich an – er sah so nett, wenn mir das Wort gestattet ist, so «lecker» aus in seiner gepflegten Sauberkeit, daß man schon dadurch gleich gewonnen wurde. Sohn eines Norddeutschen und einer Deutschrussin, hatte ihn der Zufall seiner Geburt in Würzburg und der dort verbrachten jungen Jahre nach seiner Wesensart zum richtigen Unterfranken werden lassen, aber dem Typus nach hätte ihn wohl, wer es nicht besser wußte, eher für einen Inder als für einen Deutschen angesprochen. Sein sanft gerundetes Gesicht unter dem dunkeln Lockenwald war tief brünett, die Stirne hoch und klar, die Nase kurz und fein geformt, der etwas üppige Mund zeigte in einem Lächeln, das bezaubern konnte, gern die hübschen weißen Zähne, wobei lustige Grübchen in den Backen spielten. Das Schönste aber waren seine braunen Augen mit dem kindlich reinen Blick, der mehr als der Herr Jedermann erschauen konnte, und der so viel zu sagen wußte, was der Mund verschwieg: von Freude an den Menschen und der Welt und Scheu vor ihrer klobigen Körperhaftigkeit. Doch zeugte sein wohlausgebildetes und festes Kinn für Selbstbewußtsein und wenigstens passive Energie, die sich nicht leicht vom einmal eingeschlagenen Wege drängen ließ. Er war kaum mittelgroß und zierlich von Gestalt; und seine übrigens durchaus proportionierte Körperkleinheit hat ihn heimlich irgendwie bedrückt. Das geht daraus hervor, daß er es wohltuend empfand, wenn ihm, zum Beispiel in Max Reinhardt, ein Mann entgegentrat, der auch etwas bedeutete und – kleiner war als er. Und seine Frau, eine sehr hochgewachsene rotblonde Schwedin, wußte das: wenn sie zusammen gingen, trat sie gern vom Bordstein auf den Straßendamm und suchte sich im Rinnstein ihren Weg, ja, machte noch dazu die Kniee krumm, damit er neben ihrer Länge nicht zu winzig wirke.
Ich stand Max Dauthendey seit Jahren nah, bevor ich ihn für den Langenschen Verlag gewann. Daß ich so spät erst Schritte dazu tat, mag ihm als Unterschätzung seines dichterischen Werts erschienen sein, aber es hatte einen andern Grund. «Mir ist Max Dauthendey als Mensch so lieb», erklärte ich dies Zaudern meiner Frau, «daß ich dieses Verhältnis ungern durch Geschäftsbeziehungen gefährde.»
Und meine Ahnung trog mich nicht: es hat, seit ich dann sein Verleger wurde, zwischen ihm und mir des öftern einen Strauß gegeben, der unsere Freundschaft manchmal zu bedrohen schien; und schuld daran trug immer nur das leidige Geld. Daß dieses seit seiner Erfindung wenig Glück und sehr viel Leid auf diese Erde brachte, weiß man ja. Doch schwerere Stunden als dem armen Dauthendey hat es wohl wenigen beschert. Geld ist nur ein Symbol und doch ein Wesen von dämonischer Natur, rachsüchtig ist es und verzeiht es einem nie, wenn man es nicht gebührend ehrt: den Groschen ehrt, wie es im Sprichwort heißt. Und daran ließ Max Dauthendey es zu sehr fehlen, als daß sich diese Nonchalance nicht durch beständige Sorgen, durch Lebensangst bis zur Verzweiflung hätte strafen sollen. Er mußte sich recht viel von anderen helfen lassen, und mancher, der sich vorsichtig nach seiner Decke streckt, fühlt sich darum berechtigt, ihn mit Pharisäerstolz als eine Art Schmarotzer zu bezeichnen. Er war das Gegenteil: er war ein Grandseigneur, der aber leider nicht als Erbe des dazu gehörenden Vermögens dieses Dasein angetreten hatte. Nach seiner Überzeugung bedeutete die Hilfe, die ihm andere gewährten, keine Erniedrigung für ihn, sondern vielmehr für jene andern eine Auszeichnung und angenehme Pflicht. Er fühlte sich mit vollster Sicherheit als Dichter; und von einem solchen zu verlangen, daß er sich, was er zum Leben brauche, selbst verdiene, sei törichte Philisterei. Von Rechts wegen hätte eigentlich der Staat dafür zu sorgen, und wenn der in unserer kunstverlassenen Zeit noch nicht begriffe, was er seinen Künstlern schulde, nun, so müßten halt die reichen Leute mittlerweile in die Bresche treten. Ich weiß, daß inan über die Pflicht des Vaterlandes gegen seine Dichter, und umgekehrt, auch anders denken kann als er. Doch jedenfalls war dies bei ihm ehrlicher Glaube an sich und eine höhere Gerechtigkeit; und wer nach seinem Glauben handelt, sündigt nicht – er setzt sich höchstens recht viel Unannehmlichkeiten aus.
Nun legte ihm die Schwere dieses Daseins freilich immer wieder den Gedanken nah, er müsse, wie die Welt jetzt einmal sei, aus eigner Kraft sein Leben so gestalten, daß er als Dichter völlig frei von Rücksicht auf Erfolg und wie der Vogel in den Zweigen singen könne. An Plänen, dieses zu erreichen, fehlte es ihm nicht, nur hatte diese nie der praktisch rechnende Verstand gezeugt, sondern die Phantasie, die zwar mit Schwung den Himmel stürmte, sich aber an den Kanten dieser Erdenwelt gar bald die Flügel blutig stieß. Daß er wie andre einen der üblichen bürgerlichen Berufe wählen könnte, um sich durchzuschlagen, leuchtete ihm nicht ein. Und seine Frau war darin völlig gleichen Sinns mit ihm. Als eine Freundin ihn einmal durch Ratschläge von solcher Art belästigte, wehrte er mürrisch und verlegen ab: er wäre dafür zu verträumt und zu zerstreut, das läge ihm ganz einfach nicht. Sie aber ließ nicht nach und suchte es ihm klar zu machen, daß ein Mann, der durch die Ehe die Verpflichtung übernommen habe, auch für seine Frau zu sorgen, sich zu so manchem zwingen müsse, was ihm kein Vergnügen sei. Da fuhr Frau Dauthendey empor und rief erregt: «Mein Mann ist doch kein Mann – er ist ein Dichter!»
Er aber sagte später an dem Abend ärgerlich zu mir: «Was gibt denn der Person ein Recht, mir Predigten zu halten, instinktlos, dumm und grob! Ich kenn sie zwar von dieser Seite schon: sie ist mir einmal auf den Fuß getreten, daß ich drei Wochen krank im Bette lag!»
«Doch nicht mit Absicht!» wendete ich lächelnd ein.
«Jedenfalls so brutal, daß mir sofort das ganze Bein bis an die Hüfte schwoll und einfach schwarz geworden ist!» Ihn schüttelte ein Schauder beim Zurückdenken daran.
Ich habe mich persönlich von dem Krankheitszustand dieses Beins nicht überzeugt und weiß nicht, wie es mir erschienen wäre, zweifle aber keinen Augenblick daran, daß er es selber in der Tat kohlschwarz gesehen hat.
Obgleich am häufigsten wohl München der Schauplatz unserer Begegnungen gewesen ist, steht mir Max Dauthendey in der Erinnerung doch stets von unterfränkischer Luft umflimmert vor den Augen. Denn diese weiche, sonnentrunkene Luft, darin der Steinwein reift, gibt seinem Bild erst die lebendige Kontur. Es war durch Jahre eine liebe Gewohnheit der Familie Holm, die Pfingsttage mit der Familie Dauthendey in Würzburg zu verleben – seit diese dort wieder seßhaft geworden war und eine Wohnung hatte, selbstverständlich bei ihr zu Gast. Aber schon als wir noch in dem Hotel zum «Schwanen» Einkehr hielten, fühlte sich Max hier auf dem Heimatboden ganz als unser Wirt. Und was für ein besorgter, liebenswürdiger, nobler Wirt er war, malt, wer es nicht erlebte, sich schwer aus. Es fing schon damit an, daß er uns vierzehn Tage vor der kleinen Reise liebreich eingehend schrieb, mit welchem Zug wir fahren sollten, und wann der sein Ziel erreiche, beinah, als glaube er, wir hätten früher nie ein Kursbuch noch auch eine Eisenbahn gesehn. Genau wurde desgleichen festgestellt, an welcher Stelle des Würzburger Bahnhofes er uns erwarten würde, und wo wir jedenfalls doch seiner Frau begegnen müßten, falls wir den von ihm angeratenen Ausgang und damit ihn selbst verfehlten. Er lohnte unseren Kofferträger ab, wenn es mir nicht gelang, ihm durch Gewalt und List zuvorzukommen; und als mir das bei unserm ersten Besuch auch mit der Droschke zum Hotel geglückt war, stand künftig immer ein von ihm bestellter Wagen da und hatte die Bezahlung für die Fahrt vor unserer Ankunft schon empfangen. Es kostete mir stets die größte Anstrengung, in seiner Gegenwart dort überhaupt das Portemonnaie zu ziehen; und sogar wenn Dauthendeys im «Schwanen» bei uns aßen, mußte ich rechtzeitig dem Kellner sagen, daß er von dem andern Herrn nichts nehmen dürfe und das ganze Mahl für meine Rechnung gehe. War er etwa zu Mittag so auf meine Kosten satt geworden, suchte sich Max gleich ausgiebig zu revanchieren. Vor Augen steht mir noch, welche phantastische Menge Spargeln er uns so einmal zum Abendbrot auftischen ließ. Er hatte sie mit eigner Hand vom Markte heimgetragen, und sein Sinn für gutes Essen und Getränk war nicht gering. Sie sahen nach nichts aus, wie sie sich da auf der gewaltigen Schüssel türmten, klein und dünn und krumm, aber sie hatten es in sich, ich schmecke ihre seine Erdenfrische bis zum heutigen Tag. Dauthendeys waren damals nur für die Sommerzeit in Würzburg eingekehrt und wohnten bei Bekannten auf der «Neuen Welt», einem Gutshofe am Leutfresserweg, der zwischen Käppele und Festung bergwärts führt. Dort oben war des Dichters Mutter an der Auszehrung hingesiecht und jung gestorben, dort oben hatte er als Knabe schöne Ferientage zugebracht, dort oben saßen wir unter blühenden Bäumen, von Fliederduft umweht, das mächtige Gemäuer des Marienbergs vor Augen, und legten tapfer Bresche in den Spargelberg, aßen köstlichen fränkischen Schinken und tranken edeln Frankenwein dazu. Und als der Berg bezwungen war, da fragte unser freundlicher Wirt, und es klang ängstlich und besorgt: «Seid ihr denn nun auch wirklich satt?» Mein Gott, nein, essen konnten wir nicht einen Bissen mehr, aber der Wein, der mundete uns noch, noch stundenlang. Das Abendrot verdämmerte, still zog der Mond herauf und machte alles weich und groß. Wir ließen unsere Gläser aneinanderklingen, und Max hob zu erzählen an, von seiner Jugend und von seinen Fahrten durch die Welt. Und wie mitreißend er erzählen konnte! Das war eine von den Nächten, die man nicht vergißt.
Auch in den späteren Jahren, wenn wir als Logierbesuch in seiner Mansardenwohnung am Sanderring einkehrten, konnte sich Max Dauthendey mit unserer Bewirtung kaum Genüge tun und fürchtete dabei noch stets, daß es nicht fein genug und viel zu wenig sei. Uns wiederum schien dieses Auftafeln bedrücklich, waren wir doch um seinetwillen und nicht um hier zu schwelgen da, auch wußte ich, besonders seit uns engere geschäftliche Beziehungen verknüpften, wie wenig glänzend es ihm ging, und konnte es fast auf den Tag berechnen, wann mich nach meiner Heimkehr wieder ein Brief an den Verlag mit anschaulichen Schilderungen seiner Not erreichen und um Vorschuß bitten würde. So wiesen wir denn wenigstens nach Möglichkeit den uns von ihm stets dringend angebotenen Wein und Sekt zurück und baten ihn um ein Glas Bier. Natürlich wurde unser Wunsch sofort erfüllt, ich nahm den ersten Schluck und fragte ihn:
«Warum trinkt ihr nur immer dieses schwere Kulmbacher?»
«Ist es nicht gut?» rief er entsetzt. «Ich finde, daß es doch so ölig sanft und gütig schmeckt?»
«Das schon!» beruhigte ich ihn. «Nur bei der Hitze für den Durst, da täte es ein weniger dickes, leichteres ebenso. Auch kostet es doch sicherlich viel mehr?»
«Oh, ganz im Gegenteil!» fuhr's ihm heraus, und als ich ihn ungläubig ansah, wurde er zunächst verlegen, ließ dann aber gleich ein Lächeln sehen, das bezaubernd war, und löste mir das Rätsel so: «Das heißt ... in dem Delikatessengeschäft, dem ersten hier am Ort, wo wir auf Rechnung holen lassen können, gibt es kein andres Bier.»
Nun wußte ich Bescheid um seinen Kassenstand, sowie darüber, weshalb, ganz abgesehen von dem Streben, uns was Gutes anzutun, in diesem Dichterhaushalt so feinschmeckerisch gegessen wurde. Max fühlte sich verpflichtet, seinem freundwillig borgenden Hoflieferanten, wenn er schon lange bei ihm schuldig bleiben mußte, wenigstens was den Umsatz anbetraf als schätzenswerter Kunde zu erscheinen.
Auch noch direktere Beweise dafür, in was für Sorgen er fast immer stak, erlebten wir bei unsern Würzburger Besuchen oft. So bleibt mir unvergeßlich seine Todesangst vor einem «Mann von Cook», die ihn zu Pfingsten 1907 kaum zur Ruhe kommen ließ. Max Dauthendey war es das Jahr vorher durch Unterstützung seiner Schwiegermutter ermöglicht worden, den seit langer Zeit gehegten Traum von einer Reise um die Erde wahrzumachen. Er hatte sich zu diesem Zwecke einer Cookgesellschaft angeschlossen. Der Grandseigneur in ihm litt es natürlich nicht, unter dem reichen Volk, das mit ihm fuhr, als armer Teufel dazustehn. Er schloß sich also von nichts aus, was extra zu bezahlen war, er hielt wohlhabendere Leute frei, er kaufte fremdartige Dinge ein – denn alle andern taten es ja auch –, und so geschah's, daß er sich bald am Ende seiner Mittel sah. Was seine Frau von ihrer Mutter noch erlangen konnte und ihm telegraphisch schickte, reichte auch nicht weit; kurzum, er kam in San Franzisko mit einem Haufen Schulden an den Manager der Fahrt und ohne einen roten Heller an. Was war zu tun! Der unglückliche Cook-Beamte brachte unsern Dichter in die dortige Niederlassung seiner Firma, hieß ihn im Vorraum warten und ging selbst hinein und meldete den Fall. «Und stell dir diese Unverschämtheit vor», erzählte mir Max Dauthendey, «wie ich dann zu dem Cook-Vertreter eingelassen wurde, grinst dieser Mensch ganz frech mit seinem amerikanischen Geschäftsgesicht und sagt: ‹Sie also sind der Mann, der ohne Geld rund um die Erde fährt?› So einen deutschen Dichter zu behandeln! Sag, ist das nicht stark!»
Und, was noch schlimmer war, er durfte dem Banausen seine ehrliche Entrüstung gar nicht zeigen, sondern mußte ihn vielmehr schön bitten, ihm doch noch das Geld für den Besuch der schönsten Punkte von Amerika, ohne den es ja gar keine richtige Weltreise geworden wäre, und für die Heimfahrt vorzustrecken. Dies hatte der Agent dann gegen die Zusicherung, daß der Gesamtbetrag ihm von Europa aus gleich nach der Ankunft dort zurückerstattet würde, schließlich auch getan – woraus wohl klar hervorgeht, wie schwer sogar ein Yankeeherz Max Dauthendeys scharmantem Wesen widerstand.
Nun wurde es mit der versprochnen schnellen Tilgung dieser Schuld aus durchsichtigen Gründen nichts. Auf seine Mahnungen erhielt der Amerikaner bloß flehentliche, dann mit der Zeit schon etwas ungehaltne Bitten um Geduld. Im Frühjahr 1907 schrieb er endlich an Dauthendey, er mache jetzt einen «Europatrip» und wolle bei den Gelegenheit den längst schon überfälligen Betrag in Würzburg selber einkassieren. Von Stund an sah der arme Max Gespenster, hielt auf der Straße jeden dritten Mann, der um die Ecke bog, zunächst für seinen Gläubiger aus «Frisco», rief jedesmal, wenn es an seiner Flurtür schellte, schreckensbleich:
«Das ist der Mann von Cook!» und warnte dann im Flüstertone seine Frau und mich: «Sei leise, Mulde, und schau erst durchs Guckloch; und wenn er es ist, dann mach nicht auf! – Korfiz, verzeih, aber lach, bitte, nicht so laut, damit er uns nicht hört!» Ja, er hat mich in allem Ernst gefragt, ob er denn seine Weltfahrt-Dichtung «Die geflügelte Erde», an der er damals schrieb, nicht lieber «Cook-Passagier rund um die Welt» betiteln solle. Er hoffte wohl, durch diese «unsterbliche» Reklame für sein Reisebüro den unbarmherzigen Kalifornier mild zu stimmen.
Stellte sich dann heraus, daß nur der Briefträger oder sonst jemand Harmloses an der Tür geklingelt hatte, dann packte den stets rücksichtsvollen Max etwas wie Reue, weil wir als seine lieben Gäste Zeugen seiner Lebensangst geworden waren. Er suchte dies dann durch besondre Heiterkeit, die ihm in der Erleichterung seines Herzens ja nicht schwer fiel, wieder gut zu machen. Denn seine Wirtespflicht, die er so rührend ernst nahm, schloß seiner Meinung nach die Sorge dafür in sich, daß wir nur freundliche Eindrücke zurück nach München brächten – nicht nur von seinem Heim, nein, auch von Würzburg und der näheren und weiteren Umgebung seiner Vaterstadt. Wenn wir den Blick auf deren Turmwald hoch vom Käppele herab genossen oder die winkeligen Gassen unten nach verborgnen Schönheiten durchforschten, wenn wir im Parke von Veitshöchheim Sonne kneipten oder ein verträumtes Frankennest besichtigten, dann ging Max Dauthendey, der anregendste Führer, den sich einer denken kann, neben uns her, als wäre alles dies sein Werk und er verantwortlich dafür. Und seine Augen forschten aufmerksam, ob ich denn auch zufrieden sei und nicht ironisch meinen Mund verziehe. Und tat ich dieses nicht, so fühlte er sich geehrt und still beglückt, obgleich das ja im Grund nicht mehr als selbstverständlich war. Daß man die Menschen manchmal spöttisch von der heiteren Seite nimmt, hilft einem doch, nicht an der Menschheit zu verzweifeln – wer die Natur und gute alte Kunst ironisierte, müßte schon ein öder Bursche sein.
Mit ganz besonderer Begeisterung erzählte uns Max Dauthendey einmal zu Pfingsten, es sei an der Neumünsterkirche kürzlich ein lang vergessener, wundervoller Kreuzgang aufgefunden worden, der in seinem Hof das Grab des Minnesängers Walter von der Vogelweide berge. Der Eindruck, den das auf ihn machte, war so groß, weil er als fränkischer Liebesdichter in Walter seinen geistigen Ahnherrn sah. Sein Frühlingsliederbuch aus Franken nannte er ja auch das «Lusamgärtlein», weil dieser Kreuzgang so im Volksmund hieß. Dies Lusamgärtlein nun hatten die Würzburger im Hofe ihres Luitpoldmuseums wieder aufgebaut. Herr Walter liegt da nicht, aber ein sarkophagähnlicher Gedenkstein symbolisiert sein Grab. Der erste Weg, den Dauthendey uns dieses Mal in Würzburg führte, ging dorthin. Mir klingt es noch im Ohr, mit welcher Schwärmerei er uns den Kreuzgang zeigte und erklärte. Für sein Gefühl lag Walter unter jenem Stein, und er, so innig er am Leben hing, beneidete ihn fast darum. Dies Grab sei wahrhaft eines Dichters würdig und das schönste Grab der Welt. Wer auch so ruhen könnte, hätte nicht umsonst gelebt.
Und heute ist ihm dieser Traum erfüllt, vielleicht als einziger seines Lebens, der sich ihm ohne Rest verwirklicht hat. Erfüllung bringt uns allen nur der Tod. Die Erde Javas, die den Leib Max Dauthendeys zwölf Jahre deckte, hielt ihn nicht. An einem regengrauen Maientag des Jahres 1930 stand ich vor seinem offenen Grab im Lusamgärtlein, und die Erinnerung daran stieg auf, was er vor mehr denn zwanzig Jahren hier zu mir gesprochen hatte. Auch diesmal blieb er mir nicht stumm. Als manche Rede ihm zu Ehre und Gedächtnis, die schönste aus dem Munde seiner Frau, verklungen war und nun die Menschen einen Augenblick gesenkten Hauptes schwiegen, brach die Sonne durch, und es erhob in dieser Stille eine Amsel ihren flötenden Gesang. Wie oft hat Max gesagt, daß er nach seinem Tode als Singvogel weiterleben werde. Und so hörte ich mit einemmal ihn selbst und war ihm nah wie einst.