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VI.

Mein Mann, wird gleich kommen, ich bitte, nehmen Sie Platz.« Bei diesen Worten ließ sie sich selber nieder. Rechtsanwalt Gent verbeugte sich stumm und setzte sich ihr gegenüber.

»Ich komme,« sagte er, »wie ein Unhold in Ihr Haus gestürmt, so gegen jeden Brauch – aber nur dem gütigen Zureden Ihres Herrn Gemahls ...«

Er brach mitten im Satze ab.

Sie hatte die Augen, groß auf ihn gerichtet, und es schien ihm, als ob ihre Stirn sich leicht gekräuselt hätte.

Bei seinem plötzlichen Verstummen, senkte sie den Blick und sah eine kleine Weile stumm vor sich nieder, indem sie die Hände kreuzweise in den Schoß legte.

Da beobachtete er sie verstohlen. Dieser jäh verhaltene Schmerz in ihren bleichen Zügen, dieser verschlossene, bange Ausdruck, der mit dem Bilde aus der Mädchenzeit so sehr im Widerspruch stand, quälte ihn.

»Wir sind ja beide recht redselig, Herr Doktor!« Sie lachte etwas gezwungen auf.

»Wenn man sich überhaupt etwas zu sagen hat,« entgegnete er, »so läßt sichs warten.«

»Und wenn man sich nichts zu sagen hat?«

Bei diesen Worten trat ein beinah harter Zug in ihr Gesicht. Sie erhob sich, schob die Lampe, die sie zu blenden schien, beiseite und sah ihn fragend an.

»Dann wird man geschwätzig, gnädige Frau,« antwortete er knapp.

»Und woraus schließen Sie, daß wir uns etwas mitzuteilen haben?«

Bei dieser brüsken Frage geriet er für ein paar Sekunden in drückende Verlegenheit. Aber gleich darauf sah er ihr voll in das Gesicht und sagte leise: »Ich schließe das nicht – nein, ich empfinde es.« Und nach einer Pause fügte er hinzu: »Ich empfinde es aus dem Ton Ihrer Sprache – aus vielen, kleinen Zeichen, die ich nicht einmal andeuten könnte. Ich bin mir darüber,« fuhr er ernsthaft fort, »vielleicht selbst nicht ganz klar. Übrigens,« schloß er hastig, »am Ende ist es etwas Hartes und Feindseliges, was zwischen uns gesagt werden wird.«

Sie hatte ihm verwundert zugehört. Er hatte mehr für sich gesprochen, schlicht und ruhig, ohne die Absicht, geistreich zu sein oder mit hellen Worten zu blenden.

»Ich glaube,« sagte sie langsam und mit fast unhörbarem Spott, »Sie sind ein Phantast.«

Er entgegnete ernst: »Ich hoffe, daß ein Rest von Phantasie noch in mir ist, das Leben wäre sonst zu dürftig. Oder zweifeln Sie etwa daran,« fuhr er fort, »daß so ein armer Mensch ohne sein bißchen Phantasie überhaupt leben könnte?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich bin der Ansicht, daß es Menschen gibt, die mit allem Hoffen, abgeschlossen haben. Denn nicht wahr, hoffen und Phantast sein, deckt sich bei Ihnen. Es gibt Menschen,« sagte sie langsam, »die das Leben nur aus einem eisigen Pflichtbewußtsein heraus schleppen.«

»Diese Menschen belügen sich,« erwiderte er schnelle »Ihr Pflichtbewußtsein ist ihre Hoffnung.«

Frau Heller errötete leicht.

»Ich meine, das ist denn doch nicht so. Man kann sich ja auch aus Furcht und Feigheit ans Leben klammern.«

Gent wehrte ab: »Vor dem Tode sich fürchten, heißt, von dem Leben hoffen,« entgegnete er und sah sie beinah lustig an.

Sie lachte traurig auf. »Nicht vor dem Totsein fürchtet man sich,« sagte sie mit gesenkter Stimme, »sondern vor dem Augenblick, wo man sich aus dem Fenster stürzt ... wo man zwischen Himmel und Erde schwebt, um bald nicht mehr zu sein. Das habe ich einmal bei einem russischen Schriftsteller gelesen, der den letzten Augenblick eines Verbrechers schildert, den Augenblick, wo dieser arme Bursche das Schaffot besteigt, und wie in diesen letzten Sekunden mit einer furchtbaren, geheimnisvollen Schnelligkeit die unbedeutendsten und bedeutsamsten Ereignisse seines Lebens ihm wirr durch das Hirn fliegen. Und nun denken Sie sich, was das heißt, wenn ein Mensch, den kein irdischer Richter abgeurteilt, freiwillig und nach reifem Überlegen, nicht etwa durch die Gemeinheit eines Augenblickes gedrängt, aus dem Leben scheidet. Solch einer fürchtet gewiß nicht das Totsein. Und doch graut ihm vor diesem letzten, schwerstem Augenblick. Vielleicht läßt er eine große Sorge zurück, vielleicht bangt er für ein Wesen, das er ...«

Sie hielt inne und schüttelte sich wie in Schauern.

»Darf man dann fortgehn?« fragte Advokat Gent.

»In manchen Fällen ja,« erwiderte sie fest. »Man ist so mit sich fertig, so völlig mit sich fertig, daß man, wie soll ich mich nur klar ausdrücken, durch seine Existenz dem armen Wesen nur die Lebensfreude beeinträchtigt.«

Gent blickte fassungslos empor. Das klang so trostlos, so letzter Verzweiflung voll, daß es ihn fröstelte. »Und doch dokumentiert sich damit,« sagte er zögernd, »eine schwächliche Seele.«

Da lachte sie erschütternd. »Das sind für mich erbärmliche Phrasen. Stellen Sie sich vor, man schaufelt eine Pflanze auf, reißt ihr die Wurzeln aus und läßt sie verwesen. Was kann die Pflanze dafür, daß man ihr die Erde genommen. Herr Rechtsanwalt, man geht nicht freiwillig in den Tod. Man geht, weil einem die Erde, in der man wurzelt, abgetragen ist. Ich glaube, das alles regelt sich nach einem Gesetz der Kausalität. Immer habe ich es so gut begreifen können, wenn solch ein Mensch der Natur die Arbeit erleichtert.«

Der Advokat stand plötzlich auf und trat an den Kamin, wo er schweigend ein paar Minuten verharrte. Endlich stieß er hervor: »Ich bitte um Verzeihung, Sie ... Sie haben diesen Dingen nachgespürt ... Sie sprechen aus Erlebnissen heraus. Es tut einem nur so furchtbar weh, wenn man solche Bekenntnisse hört.«

Frau Heller strich sich mit der schmalen Hand die Locken zurück. Ein mütterliches Mitleid trat für eine Spanne Zeit auf ihr erregtes Gesicht. Aber sie raffte sich im Nu zusammen.

»Sie meinen,« sagte sie hart, »daß, wer solches spricht, seinen Auflösungsprozeß verrät. Und Sie fühlen ein menschliches Rühren in dem Sinne etwa, wie wenn man einen Bekannten zu Grabe trägt. Sie irren, Herr Rechtsanwalt, das alles hat mit mir nicht das Mindeste zu tun.

Advokat Gent senkte die Augen und entgegnete nichts.

»Übrigens,« fuhr sie leicht fort, »ist das eine nette Art, Besuche zu empfangen. Sie kommen das erste Mal zu uns, und ich schneide, man sagt doch so, die Frage über Leben und Tod an.«

»Ich bin Ihnen in jedem Falle für diese Anregung dankbar.«

Sie lächelte trübe.

»Ich wollte Sie nicht anregen, ich wollte mich nur wehren. Ich wehre mich,« wiederholte sie noch einmal, »gegen solche generellen Urteile, hinter denen Denkträgheit und nicht selten sogar eine gewisse Rohheit sich verbirgt.«

Der Advokat trat dicht auf sie zu. Seine dicken Lippen bewegten sich unaufhaltsam, auf seinen Zügen lag jene Scheu, die einen inneren Kampf verrät. Nach einer geraumen Weile entgegnete er endlich in mühsam gewonnener Fassung: »Das alles klingt so streng, so abstoßend, ja fast boshaft. Ich hatte den Eindruck, verzeihen Sie das harte Wort, als ob Ihre ganze Persönlichkeit von Verbitterung durchsetzt wäre.« Und nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Halten Sie es denn allen, Ernstes für gut und möglich, daß ein jeder in jedem Ding zu eigenen Ansichten kommt?«

Sie sah ihn fest und durchdringend an. »Ja, das halte ich für gut und möglich. Ich habe eine Verachtung gegen die satte Gedankenlosigkeit, die beständig von altem Konfekte nascht. Nur wer selbständig denkt, zählt für mich; denn nur so,« und bei diesen Worten wurden ihre Züge hell und heiter, »kommt man zu Verständnis und Mitleid.«

»Das mag wohl so sein,« entgegnete er ernsthaft. »Aber die wenigsten kommen zum Mitleid. Die meisten gehen an ihrer kleinen Verbitterung, ihren erbärmlichen Verhältnissen zu Grunde. Nur wer allem Schicksal zum Trotz mitleidsfähig sich erhält, findet Erlösung.«

Advokat Gent atmete erleichtert auf. Seine kleinen Augen leuchteten. »Und was suchen wir anderes, als Erlösung, Frau Heller?« fragte er gedämpften Tones.

Sie antwortete nicht unmittelbar, sondern wandte sich ein wenig zur Seite.

»Ein Nazarener sind Sie,« sagte sie alsdann statt jeder Erwiderung und blickte, während sie die Augen halb schloß, in die kleine Flamme der hohen Lampe.

»Wenn Sie wollen, so bin ich das!« entgegnete er warm, »und glauben Sie mir,« fügte er hinzu, »keine Wissenschaft hat so tiefe Formeln wie dieses Nazarenertum hervorgebracht. In ihm liegt so viel Güte und Selbstüberwindung, ich möchte beinah sagen, etwas Antifleischliches.«

Frau Heller zuckte empor. Es fröstelte sie. Und als wollte sie sich wärmen, verschränkte sie die Arme.

»Etwas Antifleischliches?« wiederholte sie flüsternd und starrte vor sich nieder. »Ich will mir das Wort merken, ich will dem Worte nachgehen. Sie Priester der Askese.«

Eigentümlich lächelte sie. Der Ton ihrer Stimme aber klang verschleiert und rätselhaft, so seltsam, daß er ihn lange, lange noch im Ohre hatte. Er wollte ihr sagen, was er bisher nur sich selbst gestanden, daß er die Idee der Askese für eine sehr tiefe halte und in bedingtem Sinne ihr in der Tat anhänge, als plötzlich von draußen mit so ungestümer Gewalt an der Glocke gerissen wurde, daß die junge Frau zusammenfuhr und in verhaltener Angst nach der Tür blickte.

Gleich darauf erschien das Dienstmädchen und meldete mit etwas ratlosem Gesichtsausdruck, daß Frau Doktor Berger die gnädige Frau zu sprechen wünsche.

Mit einem jähen Ruck schnellte Frau Heller von ihrem Sitze empor: »Bitte, entschuldigen Sie mich auf eine Minute,« sagte sie, indem sie sich gewaltsam beherrschte, und wie es dem Advokaten schien, die Farbe wechselte. Ehe er noch ein Wort antworten konnte, hatte sie die Tür hinter sich geschlossen. Gent blieb in einer beklommenen, eigentümlichen Stimmung zurück.

Er glaubte ein abgerissenes Schluchzen und dazwischen leise Trostworte zu hören. Wie ein Alp lag es ihm auf der Brust, als wenn er in einen eisernen Panzer geschnallt und ihm die Möglichkeit zu atmen genommen wäre; dazu die Erinnerung an das soeben geführte Gespräch, tausende von wirren Vermutungen, eine hilflose Verwunderung über sich selbst, daß er dieser Frau seine Ansichten aus einem inneren Zwang heraus hatte entwickeln müssen, er, der doch gewiß nicht gesprächig war; dann wiederum ein ehrliches Erstaunen über die junge Frau, die in ihrer ganzen Art und Entwickelung ihm ein ungekanntes und eigenes Phänomen war; und zu alledem der unerwartete und plötzliche Besuch von Frau Doktor Berger.

Advokat Gent trat an das Fenster, aber wie vom Schlage getroffen, wich er zurück. Sein Blick war gerade dem Gesicht im Monde begegnet, und der Mann da oben hatte aus seiner blaßgrünen Hülle ihn mit einem Ausdrucke angestarrt, daß es ihn eisig überlief. Gent erlebte einen jener Momente, wo man plötzlich glaubt, man stände vor einem grausigen Ereignis, wo man ohne eine äußere Veranlassung überzeugt ist, es müsse sich etwas Jähes und Entsetzliches abspielen.

Er sah unverwandt zur Tür und horchte angespannt. Er horchte in jener intensiven Art, in der man sich Geräusche einbildet, vor seinen eigenen Bewegungen zusammenfährt. Jetzt hörte er Schritte und gleich darauf vernahm er des Kollegen Stimme, und jetzt ging die Tür, und Heller stand vor ihm und schüttelte ihm kräftig die Hand.

»Hören Sie, ich bitte vor allem um Entschuldigung, Kollege, konnte beim besten Willen nicht eher da sein, ging absolut nicht, ich habe bis jetzt mit meinem Schwager Felix Konferenzen gehalten, handelt sich um allerhand Kontrakte, Sie wissen doch, mein Schwager hat ein Ostseebad gekauft und baut dort ein Kurhaus, wird großartig, sag ich Ihnen. Mir brennt noch jetzt der Kopf von all den Besprechungen.«

Das alles sprudelte er mit einer Wichtigtuerei und Behaglichkeit hervor, ohne zu merken, daß Gent auch nicht das mindeste begriff.

»Hören Sie, Herr Kollege,« sagte dieser, »ich habe das Gefühl, als wenn ich heute überflüssig wäre.« Er deutete mit dem Finger nach der Tür.

»Im Gegenteil,« entgegnete Heller, »im Gegenteil, meine Frau läßt Sie dringend bitten, sich noch etwas zu gedulden,« und die Stimme senkend: »das ist eine eigentümliche Geschichte. Die Frau da drinnen befindet sich in einer verzweifelten Situation, in der Ehe passieren nämlich die merkwürdigsten Dinge. Dieser Berger ist übrigens ein weitläufiger Verwandter von mir, ich sage Ihnen, das ist ein Schubjack, ein ganz schofler Kerl, und die Frau da drinnen hat der Bursche auf dem Gewissen. Was man sich da für Geschichten erzählt, schauderhaft, einfach schauderhaft. Er hat sie vor einer Stunde wieder in einer Weise mißhandelt, die, weiß Gott, nicht mehr schön ist. Aber was ist da zu machen! Die Frau ist ja aufgeschmissen, wenn sie von ihm geht. Wissen Sie was dann aus ihr wird? Soll ich's Ihnen sagen?«

Er beugte sich zu Gent hinüber und raunte ihm zu: »Sie wird die offizielle Maitresse von Kommerzienrat Bär.«

»Bestehen da nicht schon jetzt Beziehungen?« warf Gent ein.

»Lieber Gott, ja. Aber wen geniert das weiter. Die Frau ist charmant und schön wie kaum eine zweite! Solange es zu keinem Skandal kommt ... bon! Tritt aber der Fall ein, ja meinen Sie, daß ich beispielsweise dann noch meiner Frau gestatten könnte, sie zu empfangen? Na, sehen Sie, Kollege, da haben Sie den Unterschied. Die Frau zerrt an einer Kette, und doch kann und darf sie sich nicht freimachen, ihret- und ihrer Kinder wegen nicht. Man muß eben mit der Welt leben, man muß ...«

Advokat Heller hätte seine Rede nicht sobald unterbrochen, wenn nicht die beiden Frauen eingetreten wären.

»Ah,« sagte Frau Doktor Berger mit der Miene einer vollendeten Weltdame, zu Gent gewandt, »das ist nett, Sie auch einmal zu treffen. Man sieht Sie ja gar nicht mehr.«

»Rechtsanwalt Gent ist gegen Familienverkehr,« antwortete statt seiner Frau Heller.

»Aber bei Arthur Lerch wird man Sie doch nächstens sehen?« fragte Frau Berger von neuem. Gent verbeugte sich schweigend; er war ganz außer Fassung.

»Wie ich mich darauf freue, Regine,« plauderte sie weiter. »Das hat immer Chic bei Lerchs, auch wenn man ganz blasiert ist, gibts dort Überraschungen, ich liebe solche Gesellschaften sehr, wo möglichst viel Pracht und Glanz ist. Du nicht auch, Regine?«

Rechtsanwalt Gent berührte diese Vertraulichkeit peinlich.

»Du weißt, ich mache mir nicht viel daraus,« erwiderte Frau Heller.

»Ja Du, Du bist eben so ganz anders. Haben Sie meinem Manne telefoniert, lieber Heller,« wandte sie sich an diesen.

»Will ich sofort besorgen.«

Heller ging an das Telephon, während die anderen in eine Nische traten.

Als die Verbindung hergestellt war, rief Heller hinein: »Hör mal, Deine Frau ist zum Abendbrot bei uns, willst Du nicht auch ein bißchen kommen, oder hast Du was vor?«

»Nein«, rief Berger nach einigem Zögern, »wenn Du erlaubst, bin ich so frei. Einen Gruß für Deine Frau und auch für die meinige. Auf Wiedersehen! Schluß.«

»Schluß!« rief auch Heller und drückte ab.

Wie ist es nur möglich, dachte Gent, um der dummen Form willen so zu lügen! Vor einer Stunde noch mißhandelt, simuliert sie jetzt Interesse für Arthur Lerchs Gesellschaft. Er betrachtete sie mit einem ängstlichen Befremden. Sie stand in der Blüte der Schönheit, eine orientalische Beauté, üppig, mit herrlichen Schultern und schlanker Mitte – im Auge den Ausdruck eines unschuldigen Kindes. Auffallend an ihr war der etwas volle Hals, der in seinen weichen Linien etwas rührend Verlangendes und Verführerisches hatte. Die Last ihrer schillernden, glänzenden Haare trug sie wie eine Fürstenkrone. Sie mußte unmittelbar, nachdem sie geprügelt worden war, Toilette gemacht haben.

Heller zog den Kollegen in eine Ecke. »Sie ist doch ein Prachtweib, was?« sagte er und spitzte den Mund. »Inwiefern hat sie ihr Mann auf dem Gewissen?« fragte Gent statt aller Antwort.

»Will ich Ihnen sagen! Sie war siebzehn, als er sie geheiratet, vom Leben keine Ahnung. Der Mann wollte eine Rolle spielen – und da man ihm nicht so recht traute, hat er sie als Köder benutzt. In dem Hause fast täglich jeu fin! Sie muß ganz raffiniert die Honneurs machen – heute mit den jungen Herren den Tee trinken und morgen mit den Roués, wie es sich gerade trifft. Er läßt die Gesellschaft stundenlang allein. Der Bursche weiß, was er tut: Sie mag sich zuerst gesträubt, ja, mag zuerst auch an ihn geglaubt haben, bis sie dahinter kam, auf wie infame Weise er sie betrog. Nachdem sie ihn abgelauert und in flagranti erwischt hatte – wissen Sie, was er da getan hat, als sie ihm Vorwürfe machte: er hat sie auf die roheste Manier ausgelacht. Na und inzwischen mag sie auch Blut geleckt haben und schwach geworden sein. Wer weiß, was sich noch alles hinter den Kulissen abgespielt hat, um sie dahin zu bringen. Für Toilette und Schmuck schwärmt sie auch – ist es da ein Wunder? – Nein, was Sie für ein Gesicht schneiden,« unterbrach er sich selbst. »Sie kommen eben aus der Provinz, Kollege. Bei uns gibt es tausende von solchen Verhältnissen. Nun sehen Sie bloß mal, wie bildschön die Person jetzt aussieht. Ja ... der Kommerzienrat Bär, der Mann hat ...«

»Die Herren ziehen sich ja ganz zurück,« rief Frau Doktor Berger mit schelmischer Koketterie in das Zimmer.

Heller führte seinen Gast wieder in den Salon. Gent schien es, als ob die Frau des Kollegen in seinen Mienen forschte. Er wich aber instinktiv ihren Blicken aus. Zu viel Zwiespalt war in ihm, zu viel Widerstreben, diesen zweideutigen Verhältnissen sich zu nähern.

Es läutete. »Aha, da kommt Berger,« rief Heller. Nun merkte Gent doch, wie Frau Doktor Bergers Kindergesicht sich ängstlich zusammenzog, und sie hinter einem gramvollen Lächeln ihre Scheu und Angst verbarg.

Den rechten Daumen in der Tasche, die übrigen Finger der Hand von sich gestreckt, betrat Berger in salopper Haltung, eine gewisse Unverfrorenheit bewußt zur Schau tragend, das Zimmer. »Ist aber nett!« sagte er, nachdem er in übertriebener Höflichkeit die Dame des Hauses begrüßt hatte. Dann rieb er sich die Hände, ging auf seine Frau zu und küßte sie auf die Stirn, indem er sie so hart und fest ansah, daß sie sich vor diesen Augen entsetzte und leise erzitterte.

Man ging zur Tafel. Heller und Berger waren von ausgesuchter Liebenswürdigkeit, zumal Berger schien sich nicht Genüge tun zu können. Er streichelte seiner Frau beständig die Hand. Er trank ihr fortwährend zu und wurde immer fideler und ausgelassener.

Gent beobachtete Hellers. An allem wurde er irre. Sie schienen sich in der Tat eines ruhigen Eheglückes zu erfreuen. Wie milde und heiter Frau Heller an diesem Abend war. Das ganze vorangegangene Gespräch schien Advokat Gent wie ein zufälliges Intermezzo. Heller wiederum, suchte er nicht seiner jungen Frau jeden Wunsch aus den Augen zu lesen?

Gent empfahl sich etwas früher. Im Entree fragte ihn Heller, indem er ihm verschmitzt zuzwinkerte: »Sagen Sie mal, Kollege, wie gefällt Ihnen meine Frau?« Ohne dessen Antwort abzuwarten: »Was, wundervoll? Unter uns – ganz unter uns, so ein Wesen gibts nicht zum zweiten Mal! Na, kommen Sie nur gut nach Hause, Herr Kollege. Und nicht gebummelt! Bekommt schlecht! Vor allem – besuchen Sie uns jetzt öfter!«

»Ich bitte, mich Ihrer Frau Gemahlin zu empfehlen,« bat Gent und faßte die Klinke. Heller nickte fröhlich.

»Wißt Ihr, das ist wirklich ein angenehmer Mensch,« meinte er, als er wieder in das Eßzimmer trat, »ein bißchen Provinz, aber doch sehr angenehm – wirklich.«

»Mir zu fett,« entgegnete Berger.

»Ne Schönheit ist er nicht, das geb ich zu. Aber ich bin doch mehr mit den Dicken. Vor den Mageren furcht ich mich wie Cäsar.« Und zu seiner Frau: »Was sagst Du zu ihm?«

»Nichts!« erwiderte einsilbig Frau Heller und hob die Tafel auf.

Die beiden Herren gingen in das Rauchzimmer, wo Heller eine besonders feine Sorte für Kenner, wie er sich ausdrückte, offerierte, während das Dienstmädchen den Kognak hinstellte.

Eine Spanne Zeit saß Frau Berger still neben der Dame des Hauses.

»Was soll ich denn nur tun?« sagte sie endlich fassungslos. »Ich fürchte mich ja vor ihm. Der ist imstande mich tot zu schlagen ... der ist zu allem fähig,« setzte sie schaudernd hinzu.

Sie streifte plötzlich ihren Ärmel in die Höhe und zeigte ihn stumm. Frau Heller erschrak. Der volle, schöne Arm war in einer empörenden Art zugerichtet. Auf einem bläulichen Untergrund hoben sich Farben und Schattierungen ab.

»Der reine Regenbogen, nicht?« sagte sie und blickte mit einer furchtsamen Miene nach der Tür. »Ein famoses Modell, für so nen modernen Koloristen, für Munch etwa oder Ury, was?«

Frau Heller sah sie bekümmert an.

»Du kennst ja meine Meinung. Was nützt da alles Reden. Ich versteh's nicht. Wie kannst Du auch nur noch eine Nacht bei so einem Tiere bleiben – nein, der ist noch schlimmer als ein Tier.«

Ein verzerrtes Lächeln trat auf das Gesicht der Angeredeten.

»Ja ... Du ... Du! Wenn ich Du wäre ... nein, wenn ich nur noch Ich wäre ... noch so wie damals, als er mich zu sich schleppte.« Sie lachte wild in sich hinein. »Aber das ist ja alles vorbei. Wenn ich noch einmal in meinen Putzladen zurück könnte und Hüte garnieren. Aber mein Gott,« schluchzte sie, »ich habe drei Mädel ... und dann meine Mutter und meine Geschwister, die auf mich angewiesen sind. Was ist das für ein Elend, für ein jammervolles Elend. Meiner Mutter hat er das Haus verboten und mir mit Prügel gedroht, wenn ich zu ihr ginge. Ich bin ja die reine Sklavin,« stöhnte sie. Aber mitten in ihrem Weinen lachte sie auf einmal hell auf.

»Weißt Du, was er mir neulich aus dem Gesetzbuch vorgelesen hat?«

»Nun?« versetzte Frau Heller.

»Daß jeder Mann seine Frau züchtigen darf. O,« fuhr sie fort, »der kennt das Gesetz. Das ist ein Heiliger! Ein Rechtsmensch! Der tut nichts gegen das Gesetz.«

Aus dem Nebenzimmer drang ein helles Lachen. Berger hatte soeben einen gepfefferten Witz zum besten gegeben.

Frau Hellers Züge waren düster geworden, wie in Nacht getaucht.

»Warum kannst Du nicht fort?« fragte sie mit gepreßter Stimme.

Die andere sah sie zitternd an. Ihr Busen bewegte sich schneller. Sie mochte fühlen, wie bei der Frage alles sich in ihr zusammenkrampfte.

»Ich kann nicht!« brachte sie heiser hervor. »So und so bin ich fertig.«

Da wandte sich Frau Heller für eine Sekunde ab. Es war ein Augenblick tiefster Seelenqual, den sie durchlebte. Als sie auf Frau Berger wieder ihren Blick richtete, lag ein schimmernder Glanz in ihren Augen. »Sie Ärmste,« sagte sie und küßte sie auf die Stirn.


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