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Ein paar Monate später kehrten Hellers von der Hochzeitsreise heim.
Die junge Frau sieht müde und abgespannt aus. Aber jedem der neugierigen Frager – jedem, der es hören will, sagt sie mit ihrem feinen, müden Stimmchen, die Augen ein wenig niedergeschlagen, daß sie sich gut und glücklich fühle.
Rechtsanwalt Heller tut sehr verliebt. Er schließt sich auffallend der Schwiegermutter an, die ihn über allerlei Intimitäten auszuforschen sucht – und in diesen Gesprächen kommen die beiden sich nahe, ohne daß Regine dem Einhalt zu tun imstande wäre.
So treibt ein Jahr dahin, ohne daß geräuschvolle Ereignisse in Hellers Ehe sich drängen. Der Tod des Herrn Lerch reißt keine allzu tiefe Lücke. Der alte Herr ist in den letzten Monaten fast schon ein wenig wirr gewesen.
Aber wenn nach außen keine Veränderungen sich kundgeben, so ist in Frau Reginens Innenleben doch so manches ganz anders geworden. Aus dem stillen Mädchen wird eine stille Frau, die der Advokat zu leiten glaubt, über deren Absonderlichkeiten er sich hinwegsetzt, weil sie ihm in allem zu Willen ist – und für deren Entwicklung er kein Auge hat. Niemanden läßt sie einen Blick in ihr Inneres tun, niemandem klagt sie, was in ihr vorgeht, aber ihr Gemüt zieht sich zusammen, und ihre tiefliegenden Augen scheinen sich immer mehr nach innen zu senken. Ihr Wesen nimmt eine Abgeschlossenheit an, die nach außen auffällt, überall, wo sie sich nur immer zeigt.
In der Gesellschaft gilt sie als schöne Frau, obwohl sie sich sehr einfach und nicht gerade vorteilhaft zu kleiden pflegt. In der Tat gibt ihre äußere Persönlichkeit eine Eigenart von besonderen Reizen, wieder. Ihr ovales Gesicht zeigt eine durchsichtige Blässe, die zwischen Marmor und Elfenbeinton ihre Färbung hat. In diesem Gesicht schrecken einen fast die mandelförmigen, grauen Augen, die bald furchtsam, bald strenge über Menschen und Dinge hinwegzugleiten scheinen. Über den Augen kaum hingepinselt, nur ganz behutsam geschwungen, diese feinen Brauen, die den schmalen, herb aufeinander gepreßten Lippen geradlinig gegenüberstehen. Ihr dünnes, allzu fein geratenes Näschen, weist auf verschwiegene Rätsel, während ihr weiches Kinn mit dem leisen Grübchen den traurigen Zügen einen beinahe rührenden Abschluß gibt. Ihre Gestalt ist noch immer die eines jungen Mädchens, mittelgroß, von überschlanker Geschmeidigkeit und noch unfertigen Konturen.
Sie weiß es nicht, welch Zauber von ihr ausströmt – und sagt ihrs einer, so lächelt sie müde; beim nie ist ihre Fraueneitelkeit geweckt worden.
Heller liebt Regine in seiner Art, ohne zu ahnen, daß sie sich dadurch verletzt und erniedrigt fühlt.
Er ist in die Ehe gekommen als ein unentwickelter Mensch, den das Leben nach keiner Richtung hin geknetet hatte. Von Hause aus gutmütig und oberflächlich, sinnlich erregt, ohne jedes tiefere Interesse, das außerhalb seines Berufes läge, gehörte er zur Kategorie jener Anwälte und Ärzte des jungen Berlin, denen als letztes Ziel die reiche Heirat vorschwebt. Ihn hatte keine jener Sorgen gepackt, die den Menschen rütteln und nachdenklich für den Ernst des Lebens stimmen. Er war im Grunde seines Wesens zu seicht, zu bequem, um auch nur auf den Gedanken zu kommen, daß er diesem siebzehnjährigen Kinde gegenüber Aufgaben und Pflichten hätte.
Sie war ihm ein beschränktes, kleines Mädchen mit allerlei Schrullen, die man nicht ernst nehmen durfte. Daß sie jede Geselligkeit scheu mied und in den Ton ihrer Kreise nicht einstimmte, verdroß und erbitterte ihn. An diesem Punkte allein setzte seine Erziehung ein – und hier vergeblich.
Anfangs, wie kameradschaftlich war er da zu ihr gewesen. Aber wie unglaublich hatte sie es aufgenommen, wenn er seine Junggesellenabenteuer ausplaudern wollte! Mit welch jäher, ängstlicher Miene sie ihn dann angesehen, und wie lächerlich verschämt sie sich geberdet hatte, sobald er diese gepfefferten, kleinen Geschichten zu erzählen sich anschickte, die so gewagt und belustigend sind, und von denen die anderen jungen Frauen nie genug bekommen können.
Schließlich hatte er natürlich davon aufgehört, aber geärgert hatte es ihn doch! Eine verheiratete Frau – und dies Benehmen eines Kindes, wie reimte sich das zusammen? Und auch in ihrer ganzen Lebensart diese Scheu und Zurückhaltung, dieses zitternde Widerstreben, diese ausfallende Genügsamkeit.
Daß ein junges, keusches Wesen anders sein mußte, als die meisten der Frauen, mit denen er zu tun gehabt, fiel ihm nicht bei; ebensowenig wie er davon eine Vorstellung in sich trug, daß Regine vor seiner stürmischen Art zusammenzuckte, daß ihr seines Empfinden litt, wenn er sie je nach dem Wechsel seiner Launen an sich preßte, um sie dann wieder kaum zu beachten.
Er lebte mit ihr in jenem Mannesegoismus, dessen Naivität etwas Brutales hat, weil sie in den Kreis ihres Willens und ihrer Schlüsse stets nur sich zu ziehen vermag, nie mit dem Begehren oder dem Ruhebedürfnis einer Frau zu rechnen weiß.
Regine, die alles so anders sich erträumt, ging wie eine Nachtwandlerin einher, gedemütigt in ihrem Frauenempfinden und gedemütigt vor sich selbst. Sie, sie konnte sich einem Manne ergeben haben, für den nur ihr blühender Körper in Betracht kam; der sich auch nicht die armseligste Mühe nahm, ihrem Innenleben näherzutreten! Dabei sah sie, wie er sich immer enger an ihre Mutter schloß, wie die beiden sich verstanden in Worten und Handlungen.
Immer bewegter und unruhiger wurde es in ihr. Wie oft suchte sie ihrer Scheu Herr zu werden und offen mit ihm zu reden, daß es so nicht bleiben dürfe, sollte sie nicht an diesem Leben zugrunde gehen. Aber so oft sie zaghaft-gedämpften Tones begann, sah er verständnislos zu ihr empor und lächelte verlegen; nannte sie auch wohl ein kleines Schäfchen, das über all das dumme Zeug sich selber noch einmal gründlich lustig machen würde. Versuchte sie es dann noch einmal ganz leise, ganz schüchtern und doch mit jener instinktiven Beharrlichkeit einer Frau, die für ihr Bestes kämpft, so konnte es geschehen, daß er ganz außer sich geriet und mit wilden Worten sie anfuhr, schließlich sie stehen ließ und zur Schwiegermutter lief, um dort in seinen Ehenöten Trost und Rat zu suchen.
Dann sah sie ihm wohl angstvoll und mit gequälten Blicken nach, sie wollte ihn rufen. Aber die Kehle wehrte sich gegen ihren Willen – und sie fühlte, wie alle Kraft sie verließ. Sie drückte in stiller Verzweiflung die Spitzen ihrer Finger in den Tisch, als könnte sie nur so Halt gewinnen, als müßte sie durch körperliches Weh den Schmerz da innen betäuben. Doch deutlich erkannte sie, wie jedesmal nach solchen Erlebnissen in ihr sich etwas loslöste, wodurch sie ärmer und leidvoller noch wurde, als zuvor. Und dann überfiel sie jenes Fürchten, die Stunde möchte kommen, wo sie ihm nichts mehr zu geben hätte und sie fröstelnd seine Nähe meiden müßte. Gab es doch schon jetzt Augenblicke, wo sein Wesen sie zurückstieß, und sie das Differenzierte ihrer Natur im Gegensatz zu der seinigen dunkel empfand.
Mitleidig konnte sie lächeln, wenn er ihr ungestüme Szenen machte, sobald eine seiner Leibspeisen auf der Tafel fehlte Er wollte es gut haben. Er wollte es bis in die letzte Kleinigkeit gut haben, und nichts sollten seine Lüste entbehren. Das verstand er unter satter Behaglichkeit. Auch wünschte er, daß, wenn er heimkehrte, ein festlicher Empfang seiner wartete, daß er als Herr des Hauses gewissermaßen wie ein kleiner König von ihr eingeholt wurde. Sie sollte sich eben erinnern und treu im Gedächtnis es bewahren, daß sie es gewesen, die die Fangarme nach ihm ausgestreckt und ihn um jeden Preis zu gewinnen gesucht hatte. So wollte er es; denn solches Gedächtnis war sie seiner Manneswürde schuldig.
Aber vor allem wollte er Staat mit ihr machen, um ihrer glänzenden Schönheit willen beneidet werden. Was sollte ihm ihre Schönheit, wenn er sie allein genoß, wenn er nicht allsonntäglich auf der Promenade in der Tiergartenstraße die Komplimente schlürfen konnte. Wie feierlich er einherschritt voll Ernst und strenger Haltung, indem er sich den Anschein gab, als hörte er nicht die bewundernden Worte, die vor und hinter ihm getuschelt wurden: Nein diese kleine Frau Heller ... wie entzückend sie heute wieder aussieht ... dieser Charme ... diese Anmut ... oder: Was dieser Heller doch für ein Glück gemacht hat ... neben all dem andern noch so ein Engelsbild. Solche Worte schwellten ihm die Brust. Da fühlte er sich. Da wußte er, wer er war, und was er galt. In solchen Momenten liebte er sie wirklich und zog sie enger an sich. So einen Sonntagvormittag, wo man die ganze Bekanntschaft aus der Voß- und Regenten-, der Viktoria- und Bellevuestraße an sich vorüberdefilieren ließ, hätte er nicht missen mögen.
Daß sie sich auch dagegen immer und immer wieder sträubte, brachte ihn schier zur Raserei. Gewiß, dann konnte er brutal werden, dann vergaß er jede Rücksicht. Aber dann trug sie selbst die Schuld, sie hatte ihn gereizt, sie hatte ihn dazu gebracht. Er wurde vor Wut ganz bleich, als sie in verhaltenem Schluchzen einmal hervorstieß, weshalb er nicht eine Schaubude eröffnete und gegen freies Entree Vorstellungen mit ihr arrangierte. Das hatte er ihr nicht vergessen. Und von dem Tage an begann er sie schlecht zu behandeln.
Er wollte sie erziehen. Er wollte sie mürbe machen. O, er verstand sich darauf – sie sollte ihre Wunder erleben. Aber dann, sobald sie unter seinem Drucke klein und weich geworden, dann wollte er den Großmütigen spielen und sie versöhnt in seine Arme schließen, alles sollte vergessen und vergeben sein! Das dachte er sich schön und erhebend. Bis zu diesem großen Moment hielt er es mehr denn je mit der Schwiegermutter, die ihn meinen gar klugen Mann hieß und seine Methode lobte.
Er fand überhaupt immer mehr Gefallen an Frau Lerch. Das war eine Frau nach seinem Herzen, so raffiniert und so gescheit, so gar nicht prüde und so gütig gegen ihn, den Advokaten. Ja vertraulich und kameradschaftlich war sie ... und ganz gewiß – Heller lächelte versteckt – ja ganz gewiß ein wenig schwiegermütterlich verliebt war sie auch in ihn. Das merkte er aus allem, und auch das tat ihm wohl.
Nur vor Regine mußte er sich hüten. Das war ihm denn doch klar: bei Regine, die alles gleich so ernst nahm, mußte es ihm entsetzlich schaden. So oft er aber allein mit der Schwiegermutter war, dann konnte jenes seine, kokette Spiel beginnen. Man durfte ungeniert ein wenig zärtlich mit einander tun und sich die Berechtigung dazu aus dem verwandtschaftlichen Verhältnis herleiten.
Das war freilich eine häßliche Überraschung gewesen, als Regine plötzlich dazwischen fuhr, und sie, ehe mans verhindern konnte, bei einem dieser Rendezvous, wo man sich so harmlos aussprach, übertölpelte.
Die Schwiegermutter hatte mit einem leichten Scherz sich schleunigst ihrer Sachen bemächtigt und war mit einer Geschwindigkeit, die an Hexerei streifte, auf und davon gewesen. Aber er, Rechtsanwalt Heller, er hatte das Nachsehen, saß in der Tinte und wußte sich nicht zu rühren.
Sie wollte etwas hervorstoßen, wollte ihn stellen. Aber da, da tauchte auf seinem Gesichte ein so fatales Lächeln auf, das sie auf der Stelle verstummen machte. Sie sprach kein Wort. Lautlos verließ sie das Zimmer. Von der Stunde an jedoch wußte sie, daß sie mit ihm fertig war.
Nur wer sie ganz scharf beobachtete, merkte die Veränderung, die mit ihr vorgegangen, merkte diese nachdenklichen, winzigen Falten zwischen ihren Augenbrauen, sah, daß ihre Lippen sich noch herber geschlossen, als wollten sie in einer einzigen, feinen Linie aufgehen, nur kenntlich durch den leuchtenden Glanz ihres durchsättigten Rots. Sie wich scheu vor ihm zurück, ohne doch den Mut zu haben, sich ihm völlig zu entziehen.
Da im zweiten Jahre ihrer Ehe trat ein Ereignis ein, das ihrer Stimmung ganz neue Färbung gab: Frau Regine fühlte sich Mutter. Sie wurde bei dieser Entdeckung fahl wie das Laub des sterbenden Herbstes; und während neues Leben in ihrem Körper zu keimen begann, klammerte sie sich selbst an den Gedanken fest, daß ihr eigenes verfehltes Dasein damit zu Ende gehen müsse. Mit fieberglänzenden Augen und düsterer Spannung sah sie ihrer Niederkunft entgegen.
Als der Wintersturm schneeweiße Flocken trieb, gab sie einem Knaben das Leben. Advokat Heller schluchzte wie ein Kind, während er das kleine Wurm in seinen Armen hielt und zärtlich und gerührt blickte er in ihre wachsbleichen Züge. Allmählich wurde er ruhiger, schwatzte mit der Schwiegermutter und Amme, ließ sich von den Besuchern Komplimente machen, etwas redselig in seiner Vaterrolle aufgehend.
Eine Zeit lang schienen Frau Reginens Ahnungen sich wirklich erfüllen zu wollen. Und als sie nach schwerem Wochenbette endlich aufstand, war sie für Monate gelähmt. Frau Lerch jedoch war hinübergezogen und leitete den Haushalt. Rechtsanwalt Heller wollte es so.
Regine aber lag auf der Chaiselongue hilflos, ohne sich rühren zu können und sah, wie die beiden immer und immer zusammenhockten und vertraulich flüsterten. Mit ihr sprachen sie wenig; denn sie antwortete stets nur mit einem Nicken und richtete nur selten an einen von ihnen das Wort.
In dieser Zeit, wo jeder intime Verkehr zwischen ihnen aufzuhören begann, wo sie durch ihren Schwächezustand jeder Tätigkeit entzogen war – suchte sie sich über ihr Eheleben klar zu werden.
Sie begann sich und ihren Mann von allen Seiten kritisch zu betrachten. Sie grübelte darüber nach, was sie so über alles nüchterne Empfinden hinaus zu dem weiland Referendar Heller hingezogen hatte. Dann dachte sie allen Äußerungen seines Wesens nach vom ersten Tage an, wie er täppisch und gutmütig zwischen lächerlichem Selbstbewußtsein und bornierter Flachheit ohne Gleichgewicht und Maß sich hin- und herbewegt hatte. So oft sie in solchen Gedanken zu ihm hinüberschielte, trat ein verhärmter Zug in ihr von der Krankheit abgemagertes Gesicht.
Sie wollte nicht gesund werden. Sie wollte nicht von neuem dies Leben beginnen, das sie herabzog und um ihr Bestes betrog. Sie wollte nicht mit diesem Manne weiterleben, dem sie nichts mehr geben konnte, und von dem sie nie etwas empfangen zu haben glaubte. Dann hörte sie das Schreien ihres Kindes und empfand die Kette, die sie aneinander schmiedete und dachte in dumpfer Bitternis an die Zukunft, die für sie nichts, so gar nichts Helles bringen konnte.
Als die Luft wärmer wurde, durfte sie ins Freie. Aber der jungen Frühlingssonne zum Trotz blieb sie schwach und elend, so matt und siech, als warte sie in bangen Wünschen, daß der letzte Schnee entwiche und die dunkle Erde Halme und Gräser triebe, damit das Sterben leichter würde.
Wieder legte man sie in die weißen Linnen und schlich auf den Fußspitzen leise durch die Zimmer. Still und stumm saß die barmherzige Schwester an ihrem Krankenbett und warf nur zuweilen scheue Blicke auf dies zerfallene Gesicht mit dem sehnsüchtigen Todeslächeln. Über dem ganzen Hause düstere Stimmung, ein schreckhaftes Wispern und Flüstern wie zur Nachtzeit, wenn der einsame Wanderer über Baumwurzeln stolpert und den Waldschlaf aufstört. Ein Typhus wars, der sie heimgesucht, mit dem ihr junger Körper rang, während ihre bleich gewordenen Lippen wirre Laute stammelten.
Advokat Heller war auf das Schlimmste gefaßt. Ernst und würdevoll ging er einher. Gewiß er litt in seinem Innern, aber er sah nichtsdestoweniger deutlich, wie die Verwandten ihn beobachteten. Deshalb hielt er es für angebracht, seine Stimmung feierlich zur Schau zu tragen und den gebrochenen Gatten zu markieren – etwa in der Art wie die großen Sänger auf den Proben kaum hörbar mit halber Stimme ihre Rollen andeuten.
Aber was Frau Regine sehnsüchtig gehofft, was Heller und die anderen gefürchtet – traf nicht ein. Langsam erholte sie sich, um zwei volle Jahre zu kränkeln und wie ein Schattenbild im Hause einherzuschleichen.
Dennoch fällt in diese Zeit der körperlichen Schwäche für die junge Frau ein innerlicher Prozeß, eine Vertiefung ihrer ganzen Persönlichkeit. Sie lebt ihrem Kinde und lebt ihrer eigenen Erziehung. Nachdenklich geworden durch die grausamen Erfahrungen ihrer jungen Ehe sinnt sie weiter dem Probleme nach, dem sie so hilflos und unvorbereitet gegenübergestanden. Sie geht mit sich hart zu Gericht und versucht in nüchternen Erwägungen die Wurzel ihres Empfindens zu ziehen. Sie beginnt eifrig zu lesen und allerlei Dinge zu treiben, die den Frauen im allgemeinen ferner liegen. Sie will und muß um jeden Preis Bewußtsein über sich selbst gewinnen, Klarheit über ihr Wesen haben. Sie möchte nach Gesetzen handeln, zu denen sie sich unter zuckenden Schmerzen durchgerungen; denn sie glaubt, mit jenen unklaren Gefühlen fertig zu sein, die einen verhängnisvoll in die Irre treiben.
Von alledem weiß und ahnt Heller nichts, vor ihm verbirgt sie ängstlich ihren Entwicklungsgang. Denn je fortgeschrittener sie sich glaubt, je mehr sie ihr Empfindungsleben abtötet, desto verächtlicher wird er ihr in seiner Hohlheit. Eine müde Gleichgültigkeit kommt über sie und ein verschärfter Widerwille gegen den Mann, dem sie sich ausgeliefert, eine gesteigerte Nervosität, weil die bitteren Erkenntnisse, zu denen sie gelangt, ihrem hungernden Gemüte keine Nahrung geben. Zuweilen meint sie zusammenzubrechen. Dann beugt sie sich über ihr Kind und netzt es mit ihren Tränen. Sie meidet jeden Verkehr, die Frauen sind ihr verächtlich wie die Männer; sie hat die einen in ihrer Mutter, die andern in ihrem Manne kennen gelernt.
Schließlich zwingt man sie von allen Seiten, wieder Menschen aufzusuchen; und weil ihr vor der Narrenjacke graut, gibt sie nach. Aber ein Gedanke hat sich in ihr festgesetzt, den sie hartnäckig verfolgt, während Rechtsanwalt Heller ihn als eine Laune nimmt, als vorübergehende Manie und letzten Rest ihrer langen Krankheit: Sie will von ihm fort, sie will ihre Freiheit. Sie wiederholt es, immer in demselben Tone, mit demselben ruhigen Ausdruck ihrer Miene, als eine unabweisliche Forderung, der er sich fügen müsse. Sie ist zu allem bereit, nur das Kind soll er ihr lassen.
Heller lacht; gewiß er nimmt es nicht ernst, aber es ärgert ihn und verdirbt seine Laune, wenn sie mit diesen Albernheiten immer wieder von neuem beginnt. Sie entzieht sich ihm so viel sie kann und wird ihm rätselhafter von Tag zu Tag in ihrem verschlossenen, unzugänglichen Wesen, in ihrer spröden Kälte, in ihrer Scheu vor jeder seiner Berührungen.