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Petschuga

(Hungernde Wolga, 1922)

Pfingstmontag nachmittag legte unser Schiff an dem kleinen Ort Petschuga an. Petschuga liegt 45 Werst nördlich von Zarizyn, an dem rechten, dem »Berg-Ufer« der Wolga. Unser Schiff »Streschjen« vermochte nicht, ganz nahe an das Ufer heranzukommen, ein Boot fuhr in den Strom hinaus und beförderte uns an Land. Wie wir erfuhren, war es das einzige Boot, das dem immerhin großen Dorfe gehörte – das einzige Fischerboot, das das Dorf besaß.

Oben im Ort gingen wir gleich zum Haus des lokalen Sowjets und wurden vom Vorsitzenden, einem jungen Lehrer aus Moskau, empfangen. Die Amtsstube war niedrigen Gebälks, eine rechte Bauernstube, doch stattlich und sehr sauber gehalten. Eine hölzerne Schranke trennte den größten Teil des Raumes vom breiten Amtstisch ab, an dem der Vorsitzende und seine Mitarbeiter Platz nahmen. Die Wände waren mit Bildern von Lenin, Trotzki, Liebknecht, Balabanowa und Béla Kun geschmückt; rote Papiergirlanden verbanden die Bildnisse. Wir saßen vor den Schranken, hinter uns aber drängte sich durch die offene Tür die ganze Bevölkerung des Dorfes Petschuga.

Unser Dolmetscher versuchte, dem Sowjet Zweck unseres Kommens zu erklären: wir seien die Wolga-Delegation der Arbeiterhilfe, aus vielen Ländern Europas und aus Amerika herüber gekommen, um zu helfen; zu sehen und zu helfen. Der Vorsitzende blickte uns mit aufmerksamen Augen an. Er sah, ich muß es sagen, seltsam genug aus. Um seine breite Brust spannte sich das gestickte russische Hemd des Muschik. Lange schwarze Haare fielen auf sein blasses, bläulich rasiertes Gesicht. Es war von edlem Schnitt der Züge, das Gesicht eines römischen Kriegers oder Tribunen, und man hätte es schön nennen können (denn in ihm waren Leiden und Hoffnung, Entschlossenheit und tiefe Milde ausgeprägt), wenn auf der Spitze der scharfen Nase nicht ein unwahrscheinlich winziger schwarzer Kneifer gesessen hätte. Weiß der Teufel, was dieses Instrument auf der Nasenspitze des bäuerlichen Sowjet-Vorsitzenden zu suchen hatte – die grauen Augen darüber blickten offen und ohne zu blinzeln in unsere Gesichter herüber.

Der Dolmetscher übersetzte: Petschuga hatte vor zwei Jahren noch 4500 Einwohner besessen? jetzt waren ihrer 3000 übriggeblieben. 1914 waren 32 000 Deßjatinen Landes besät gewesen, im vorigen Jahre nur 3500, in diesem aber kaum 2000 (wovon 200 mit eigenen, der Rest mit staatlichen Sämereien). Auch der Viehbestand war entsetzlich verringert – von den 4000 Stück Nutzvieh, die Petschuga noch 1919 sein eigen nannte, waren noch 200 vorhanden, von den 3000 Stück Zugvieh, Pferden, Ochsen, Kamelen aber im ganzen 560.

Ein Ortslehrer, ältlicher, still und ruhig sprechender Mann, berichtete, daß trotz dem fürchterlichen Hunger des Winters, der ersten Frühlingsmonate, trotz mangelndem Pajok und mangelnder Heizung der Unterricht in seiner Schule keine Unterbrechung erlitten hatte. Es waren nur immer weniger Kinder zur Schule gekommen. Es waren sehr viele Kinder Hungers gestorben in Petschuga …

Die Stube war jetzt ganz voll von Menschen. Draußen vor den Fenstern stauten sich die, die nicht mehr herein konnten. Neugierige Gesichter der bärtigen Männer, Frauengesichter und die gierigen Augen von Kindern starrten zu uns herein, die wir mit dem Schiff die Wolga aufwärts nach Petschuga gekommen waren. Fremde, die Hoffnung brachten, Hoffnung weckten …

Dann sprach ein anderer dort vom Tisch hinter der Schranke. Wie wird die Ernte in diesem Jahr sein? Es regnet zu viel. Hamster verwüsten die Felder, Zieselmäuse, es gibt auch eine Vogelplage …

Wir schrieben, fragten, hörten zu, was unser Dolmetscher sagte. Ich ließ das Schreiben sein und sah mich in der Stube um. Die Menschen horchten aufmerksam und gespannt. Es war außer der Stimme des Dolmetschers kein Laut zu hören im Raum. Mir zunächst standen zwei kleine flachsköpfige Mädchen. Sie hatten bleiche Gesichtlein; wenn man sie ansah, zogen sie den Finger aus dem Mund und kicherten. Hinter ihnen stand ein Bursche in einer Art Uniform, breite rote Streifen auf der blauen Tuchhose – das Abzeichen des Astrachankosaken. Noch während der Dolmetscher sprach, entstand hinten bei der Tür Bewegung. Die zusammengepferchten Menschen schoben sich enger zusammen, um einem Manne Platz zu schaffen, der das Zimmer betrat.

Der Vorsitzende sagte unserem Dolmetscher etwas. Der beugte sich zu meinem Nachbarn, flüsterte ihm ins Ohr. Ich hörte: ein ehemaliger Soldat aus dem Kubangebiet, zurückgekehrt in seinen Heimatsort, Bauer aus Petschuga, Hunger … Dieser Mensch, der über die Schwelle getreten war, war hoch und gut gewachsen; er hatte schmale Schultern, hielt sich gerade. Etwa dreißig Jahre alt mochte er sein. Er trug eine zerfetzte graue Wolljacke, Leinwandhose und einen Strick um die Hüften. Er bewegte sich vorwärts, nicht wie ein Mensch, eher wie eine nachtwandlerische Figur, ein Automat, wie ein Soldat, der im Schlaf marschieren gelernt hat, der im Traum marschiert, wie er es acht Kriegsjahre hindurch gewohnt war. Man stellte ihm einen Stuhl hin, und er setzte sich. Sein Haar, Bart, Gesicht, seine Hände, Füße waren gelbgrau wie Sand, wie der Sand unten am Wolgaufer. Seine Augäpfel standen weit hervor und waren gelb. Seine Lippen waren ein wenig offen und waren gelb. Der Vorsitzende richtete an den Menschen das Wort, und er antwortete. Es schien aber, als spreche er in die Luft hinaus, als verursache es ihm eine zu große Anstrengung, den Kopf nach der Seite zu wenden, woher die Frage kam, die er beantworten sollte. In der Totenstille, die im überfüllten Raum herrschte, war seine Antwort ein tonloses Geflüster, kaum zu vernehmen.

Wir hörten, er sagte seinen Namen, er sagte, wie lange er gebraucht hatte, um aus dem Kuban heimzukehren; wir hörten, er sagte, seit wann er nicht mehr gegessen hatte.

Einen großen dünnen Stab, gelb und grau, wie er selber, hielt er zwischen den Knien. Die Erinnerung an ein altes Bild zog mir durch den Sinn – so wie dieser hier hielt auf dem Bilde der verhöhnte Christus mit der Dornenkrone um die Schläfen den Stab, Szepter des Judenkönigs, zwischen den Knien.

Er fuhr fort zu flüstern, obzwar er nicht mehr befragt wurde. Schwach. Kaum ein Röcheln mehr zu nennen. Einer der Genossen unserer Gruppe gab ihm eine mitgebrachte Schachtel mit Cakes. Der Mensch nahm sie, versuchte die Papphülle mit seinen Fingern zu öffnen, ließ bald ab, es schien seine Kräfte zu übersteigen. Er saß da, sah vor sich hin und schwieg. –

Wir brachen bald auf. Wir brachten eine Summe Geldes zusammen, ein paar Rubelscheine, etwa fünf Millionen, der Mensch schob die Scheine in seine zerrissene Jacke und entfernte sich über die Straße, die ins Innere des Dorfes führte. Er ging, langsam und aufrecht, wie einer, der das Marschieren gelernt hatte und sonst nichts mehr wußte oder konnte in der Welt.

Unser Weg führte in entgegengesetzter Richtung. Das ganze Dorf folgte uns, Männer, Weiber, Kinder, Jung und Alt. Wir gingen zum Hause der Witwe, deren ganze Familie in diesem Winter und Frühling Hungers gestorben war. Wir traten in die Stube ein, in der die Frau allein auf der Bank beim Fenster saß. Die Dorfleute blieben draußen vor dem Haus, mit uns war nur der Vorsitzende des Dorfsowjets eingetreten. Wir verneigten uns vor der Frau, sie erhob sich von der Bank und verneigte sich zum Gruß vor uns. Die Stube war blank und weißgescheuert. Auf einem Tisch lag, neben einer zerbrochenen irdenen Schüssel, eine Puppe mit Porzellankopf, die einem der verhungerten Kinder gehört haben mochte. Der Dolmetscher sprach mit der Frau, übersetzte was sie sagte. Sie sagte nicht viel mehr, als was wir schon wußten. Ihrer sieben hatten in dieser Stube gewohnt, sechs hatten sich hingelegt und waren hinüber, müde, ohne Klage; ach, es ging ihr schlecht, sie hatte kaum zu essen. Wir sahen die Frau an, sahen uns in der Stube um, blickten in ein Kochgefäß, das auf dem Herd stand, auf ein Stück Brot, oder doch ähnliches, das auf dem Herd lag.

Grünlicher Schein verbreitete sich in der Stube. Der Schein kam vom hellen Laub der Birkenzweige. Es war Pfingsten, da mußte man die Stube mit jungem Laub festlich ausschmücken!


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