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Wie in all diesen letzten Tagen schon, weckt mich heute tüchtiges Ohrensausen auf. Einmal klingt's wie ein Wasserfall, dann wie Regen auf einem Dach, dann wie das Rauschen eines Bächleins. Heute sitzt der kleine unruhige Reisemarschall im Kopf drin und trommelt die Reveille. Das bedeutet: unten vor dem Haus steht schon der Wagen mit dem Koffer hinten drauf geschnallt.
Wir haben's grau in grau getroffen. Aus dem Morgennebel streckt Sils seine dünne schwarze Landzunge lang durch den Silser See gegen Maloja aus. Es ist Chasté, die Halbinsel, Nietzsches Halbinsel mit dem Felsen an ihrem Ende, in den die Granittafel eingelassen ist … »O Mensch, gib Acht …« bis hinunter … »tiefe, tiefe Ewigkeit!« aus dem Zarathustra. Regen und Gewitter haben die Schrift verwischt, keinem Menschen fällt es ein, sie aufzufrischen. Bloß ein Wort ist deutlich zu lesen, das Wort »Mensch«. Halb leserlich: »gib Acht«. Absolut nichts zu sehen ist dagegen von »Ewigkeit«.
Hinten zwischen Corvatsch und Margna, den beiden Riesen, verhüllen sich die Gletscherbrüder Fex und Fedoz im Morgennebel, Dunstgewölk. Aber wie wir die Chaussee entlang fahren, blitzt es wie ein Lächeln über Fex auf: das ist die Sonne, sieh, sieh hin … irgendwoher, spielend, klettert sie den Eishang hinauf, verschwindet im Norden.
Auf der Chaussee ist schon Leben – aber es wäre übertrieben zu sagen, daß es von Touristen nur so wimmelt. Fünf frische Kerle in Kniehosen, ohne Hut und mit von der Bergsonne geschundenen Gesichtern marschieren schwerbepackt in unserer Richtung nach Maloja zu. Mäntel, Rucksäcke, Kochtöpfe, aber was das netteste ist: wir zählen beim Vorüberfahren drei Gitarren – das ist genug für eine Gesellschaft von fünf! Sogar unserem Kutscher ist es aufgefallen.
Unser Kutscher ist nicht froh heut morgen. Er läßt die Nase aufs Stoppelkinn herabhängen, streichelt schläfrig über den Rücken seines Gauls hin, der den wohlbekannten Weg entlang trabt. Er hat einen Arbeitstag und eine Arbeitsnacht hinter sich. Gestern spät mußte er noch die Hebamme aus St. Moritz holen, und kaum war das Mägdlein im Hause des Meisters angekommen, da war's nötig, noch einmal anzuspannen und diesmal den Arzt aus dem Dorfe zu holen: zum todkranken Knaben, der plötzlich zu sterben kam! Der Meister hat geweint wie ein Kind.
»Mir wär' so was einerlei,« sagt der Kutscher, »ich geb' mein Leben für einen Batzen hin!«
Tod und Leben in dem geringsten Schicksal nicht weit ab vom Weg. Unwillkürlich sieht man das Triptychon Segantinis vor sich stehen, das jetzt in St. Moritz ausgestellt ist, vom Werden, Sein, Vergehen. Aber noch anderes ruft es in die Erinnerung. Auf einem Wiesenhang weiden Kühe. Da ist die große, schwarze, blind in die Berge hinausbrüllende Kuh zwischen zarten Ziegen, die graziös, alle vier Füßchen enge beieinander, auf vorspringenden Felsenzacken stehen und uns nachschauen.
Wir sagen dem Kutscher: in Chiavenna wirst du dich ausschlafen. Er dreht seinen grauen spitzigen Kopf nach uns um und erwidert:
»Ja, damit die Welschen daweil dem Pferd den Hafer vom Maul wegstehlen!«
Da ist Maloja mit seinem riesigen, von Golfhügeln umgebenen Hotel. Die Hügel ziehen sich ganz nahe und hoch im Halbkreis um das Hotel herum. Eifrige Damen und Herren in bunten Jacken schwingen ihre Stöcke und bemühen sich mit den Golfbällen nicht die Hotelfenster einzuschlagen. Lange noch behalten wir einzelne kleine schwarze Punkte im Auge: Heinzelmännchen in spitzen, schwarzen Kapuzen, Schweizerbüeblis, die den Engländern ihre Golfstöcke tragen.
Neuschnee auf allen Bergen; drunten im Bergell aber ist's hell, wie Sonne kommt's schräg von dort unten herauf. Sonne, Wärme, Italien weht uns entgegen über die Zickzackwege, die uns vom Engadin hinabgleiten lassen in das Land des Hochsommers. Immer steiler, höher stehen die Berge auf um unseren Wagen, der den abschüssigen Weg hinunterrollt. Noch eine Brust voll, rasch, von der herrlichen Luft der Silser Höhe, noch einmal den Wind von Maloja sich zwischen Hemd und Haut durchfahren lassen! Wundervolle Kühle! Leichte, göttlich tanzende Luft des Hochgebirges! Dreihundert Meter tiefer unten im Bergell hat man schon das Gefühl, daß man sein ganzes übriges Leben lang nur mehr Watte schlucken wird.
Das Land ist köstlich. Die altmodische gelbe Postkutsche knarrt und holpert fünfspännig an uns vorüber, die Zickzackstraße hinauf … aber was ist das? An einer Wegwendung steht eine verhängnisvolle Gestalt, ein dicker Graubart in schwarzem Paletot vor einem kurzen Fernrohr auf dreibeinigem Gestell. Hundert Schritte weiter hält ein Knabe eine weiß und schwarz gewürfelte Latte auf einem Stein, vor sich hingestellt. Lebt wohl, alte schöne Postkutsche, schönes, entlegenes Bergell, bedeutet der schwarze Paletot etwa: daß hier die Bahn, der Rauch, die fremden Schwärme das herrliche Silsertal bis nach Maloja, den herrlichen Abhang bis an die italienischen Seen in ein einziges Hoteldorf verwandeln werden? Ein Blick trifft den Paletot, er schreibt mit seinem Ärmel ruhig eine Ziffer auf ein Papier auf – vorbei!
In den Lawinenrinnen hier unten nistet noch immer so etwas wie Schnee. Aber das ist nicht mehr Graubünden, Gott sei's geklagt. Die Häuser an der Straße zeigen schon italienischen Einschlag. »Chesa comunela« wie weiter oben noch das Gemeindehaus auf Engadinisch hieß, hat sich hier plötzlich in eine regelrechte »Casa communale« verwandelt, und statt des biederen, tüchtigen Bergvolkes kommen einem Schwärme von schwarzen, kleinen, kurzbeinigen Jünglingen auf Fahrrädern entgegen, schnalzen in unseren Wagen herein, in dem eine Dame sitzt, und rattern und schnattern dann durcheinander in der wärmer gewordenen Atmosphäre.
Seit wann haben wir keine Laubbäume mehr gesehen? Hier sind sie auf einmal wieder, und an den Sträuchern voller Vogelbeeren, den enormen Kastanien mit fingerlangen Stacheln um die Frucht, an dem braunroten, gelbroten Weinlaub über dem Weg merken wir auf einmal, daß es ja eigentlich schon auf den Herbst zugeht! An der Grenze von Italien, zwischen Vignen und flach von Zweigen zugedeckten Osterien sehen wir den ersten richtigen bunten Herbstbaum stehen. Ist's eine Platane, ist es Ahorn? Jedenfalls ist's der Herbst.
Jenseits der Zollgrenze, an einer scharfen Krümmung der Straße überfährt unser Kutscher hohnlächelnd den ersten italienischen Motorradfahrer. Der Kanton Graubünden duldet keine Motoren, weder auf Rädern noch auf Wagen innerhalb seiner Grenzen. Aber hier sind wir in Italien, und unser Kutscher lacht vom Bock in unsere erschrockenen Gesichter in den Wagen herab: »Verfluchter Italiener! Jetzt kann er sich seine Reifen flicken!« (Im übrigen ist er gar kein Italienerfresser, dieser schwyzer Bauernknecht. Er hätte nichts dagegen, in Tripolis mitzufechten. Am liebsten wäre es ihm ja, mit einer scharfen Flinte in Afrika auf wilde Tiere zu jagen!) Wir sehen uns dieses spitzige gelbgraue Gesicht mit den funkelnden Äuglein und den herausstehenden Schneidezähnen an: ein richtiges Schakalsgesicht.
Jetzt aber ist's heiß geworden. So oft wie Stunden zuvor Gletscher, stehen jetzt gipserne Madonnen an unserem Wege! Noch eine Viertelstunde, dann haben wir die Bahn erreicht. Leb wohl, braves Schweizerpferdchen, leb wohl Bergell, lebt wohl, ihr braven, biederen Bauern von Sils. Hier ist Chiavenna. Auf dem Perron streitet sich der Lokomotivführer von seiner Maschine herab mit dem Stationschef im Fenster seines Bureaus: von welchem Gleise er mit unserem Zug abfahren soll?! Unendlicher Sonnenschein liegt über den Comersee ausgebreitet. Bald ist Bellagio erreicht, der Ort, den um diese Zeit des Jahres nur die wenigen gescheiten Leute aufsuchen, Bellagio mit den 1000 zugeriegelten Fensterläden, Bellagio, über dessen blühenden Abhängen die herrlich bunten Schneeballen der Hortensien im Rollen innehalten, im Dunkel verschweben, Bellagio, in der Provinz der Oliven und der Sommerkühle, der nächtlichen Carusos unter den Hotelbalkonen und der ewigen Blechmusik.
Wenn man einen Genueser fragt, was in seiner Stadt sehenswert ist, so wird er nicht mit einem aus den Dramen Schillers bekannten Namen mittelalterlicher Bauwerke antworten. Das hat seine guten Gründe. Palazzi, Trutz und Wohnburgen der Durazzo, Fieschi, Doria und all der anderen sind heute, wie die ganze Weltgeschichte, durch Handel und Geldherrschaft profaniert worden; man kann unter einer Kuppelwölbung von Bartolomeo Bianco seinen letzten Hundertmarkschein in schmutziges italienisches Papiergeld umwechseln lassen. Fresken von Domenichino blicken auf einen herab, wenn man das Schiffsbillet löst und man muß über eine feudale Treppe des Tagliafichi in die Höhe klettern, wenn man die Notwendigkeit verspürt, seinen Paß revidieren zu lassen. Die Bankiers und Schiffahrtsagenten sind die Herren Genuas geworden und der Genueser wird dir, nach den Sehenswürdigkeiten seiner Stadt befragt, in unbewußter Symbolik mit dem Wort: »Staglieno« antworten. Staglieno aber ist der Friedhof, der berühmte, wenn man will, berüchtigte Friedhof Genuas, das Wunder unserer Eltern und der Abscheu unserer eigenen Generation.
Man weiß, was es mit dem Friedhof von Genua auf sich hat. Ich erinnere mich deutlich an ein großes rotes Album mit verschwenderischer Goldpressung, in dem ich als Kind daheim, die großen, damals schon vergilbten Photographien umgeblättert habe. Alle stellten Skulpturen dar, figurenreiche Gruppen, Menschen und Engel von gleich trauriger Gestalt, in allen möglichen Stellungen, die Schmerz, Entrückung, irdisches Niedergedrücktsein und jenseitigen Aufschwung versinnbildlichen sollten. All diesen Gestalten war eine übertriebene Realistik zu eigen und gerade diese war es, die die Bewunderung der vorigen Generation und dann den Abscheu unserer eigenen im gleichen Maße hervorgerufen hat. Es ist schon mißlich, wenn die vornehmste Sehenswürdigkeit der Stadt ein Kuriosum ist, gar erst, wenn man nach einem Friedhof im vorhinein mit Spottlust angefüllt hinausfährt.
Das ist wahr: wenn man heute, nachdem man 20 Jahre lang und darüber Kunstausstellungen besichtigt, Kunstentwickelungen durchgemacht, Kunstgeschrei angehört hat, den Friedhof von Genua aufsucht – da wird man nach einem halbstündigen Spaziergang einen Schlag auf den Kopf bekommen haben, und zwar nicht von der Memento mori-Seite her. Wer schildert die Christusse, deren Bart in tausend Härchen und Löckchen aus Marmor von der Wurzel bis zur gekräuselten Spitze verläuft? Trauernde Marmorfrauen stehen in Brüsseler Kanten- und Seidenmantillen mit Chenillefransen von Kopf bis Fuß bekleidet vor geschlossenen Grabtüren, und Kanten und Fransen sind aus dem Marmor ebenso minutiös herausgearbeitet wie die Holzmaserung des Tores aus demselben Material. Offene Bücher, auf deren aufgeschlagenen Seiten jeder Buchstabe erhaben aus dem Marmor herausgemeißelt ist, gebügelte Röcke, geplättete Hemdbrüste, abgewetzte Schuhsohlen, Kränze mit unzähligen kleinen Blüten, dünne Kettchen um Hals- und Armgelenke, alles wahr und bis ins letzte Detail aus Marmor! Die Leidtragenden, die sich, bei Lebzeiten, zu Ehren ihres Toten haben verewigen lassen, sind in abgezirkelter Lebensgröße dargestellt – natürlich bedingt dies entsprechende Proportionen der an ihnen hängenden, sich um sie bauschenden, auf ihnen aufgehäuften Gewänder und Schmuckgegenstände. Wer möchte vom Andenken seines Toten ein Krümchen preisgeben? Aus demselben Grunde war hier keiner der Leidtragenden gesonnen, von seinem eigenen Marmorkonterfei eine Warze zu missen. Wie die Erinnerung an den Verschiedenen lebendig bleiben soll, so auch der Augenblick des Verlustes. Beides erzielt man durch haarscharfe Wiedergabe des Wesentlichen und Nebensächlichen, aus welchen beiden Elementen die Wirklichkeit sich zusammensetzt. All diese ehrbaren Witwen, Witwer und Waisen, die da, wie eine Siegesallee des kleinbürgerlichen Todes, der Nachwelt zur Erbauung im Camposanto stehen, sind wirklich sie selbst, und werden Kinder und Kindeskinder, so lange Familie und Marmor hält, an die Außenseite lebender Menschen in einem erhabenen Lebensaugenblick erinnern. Das ist schon sehr viel, will ich meinen. Ich bin, ich will's gestehen, länger im Staglieno geblieben, als man sich sonst in einer Schreckenskammer aufzuhalten pflegt. Ich bin zwischen den Statuenreihen nicht in dem gestreckten Galopp durchgelaufen, den ich unwillkürlich in der Siegesallee anzuschlagen versucht bin. Im Gegenteil, ich bin langsam gegangen, lange geblieben und habe mir alles genau angesehen.
Es tut einem wohl nach all dem Impressionismus, Neoimpressionismus, Post-, Ex-, Ultraimpressionismus und wie all die Pressionen heißen, einmal eine mühsame, tüchtige, brave und durch und durch sympathische Arbeit zu besehen und auf sich wirken zu lassen. Was man im Genueser Kirchhof vor sich sieht, kann in Wahrheit der Paroxismus handwerklicher Anständigkeit genannt werden. All diese Künstler haben ihre Modelle bis in die letzte Möglichkeit des plastischen Ausdrucks studiert, ebenso wie sie ihr Material, den Marmor, in seiner letzten Heimlichkeit und Tücke erfaßt und entsprechend durchgebildet haben. So sind Werke der Ehrfurcht entstanden, der Ehrfurcht vor dem Modell und Material, das heißt vor der Natur. Darf heute der Auftraggeber so unbescheiden sein, das Material so anspruchsvoll? Der Auftraggeber muß todfroh sein, wenn er keine ausgesprochene Karikatur seiner leiblichen Erscheinung geliefert erhält, und wie die heutige Kunst gar mit dem Material, den Techniken umspringt, darüber weiß, wer Kunstausstellungen der letzten Jahre verfolgt hat, ein Lied zu singen! Es wäre manchem Kunstjünger von heute wohler, man schickte ihn mit seinem Stipendium nach Genua statt nach Paris. Ein bißchen handwerkliche, kleinbürgerliche Wohlanständigkeit bekäme ihm gar gut, und ginge darüber die billige, in drei Lektionen erlernbare Genialität zum Teufel.
Allein es ist in Genua nichts von der Invasion zu merken, die sonst in italienischen Städten von der deutschen Kunst her stattfindet. Ich weiß nicht: liegt's an der hochsommerlichen Temperatur, liegt's an der Profanierung der Paläste, oder daran, daß die deutsche Kunst instinktiv einen Bogen um den Camposanto herum beschreibt – kurz, ich durfte zum erstenmal eine italienische Stadt genießen, von der sich außer den deutschen Künstlern auch die deutschen Kunsthistoriker korporativ absentiert hatten.
Man darf seiner eigenen Wege gehen und sich über alle Dinge freuen, als ein gesinnungstüchtiger und zielbewußter Banause, der viele dicke Bände Kunstgelehrsamkeit hingäbe für ein wiedergefundenes Gemälde des Leonardo – es brauchte gar nicht die Mona Lisa zu sein – oder aber für das einfache Schiffsbillet Genua – Gibraltar – Hamburg.
Gleich am Landungsplatz werden wir Wißbegierigen in aller Eile aus dem »Prinz Eitel Friedrich« gefrachtet und einer Horde von Fremdenführern, Kutschern, algerischem Gelichter ausgeliefert, das uns in Wagen stopft und mit uns im Hui um die afrikanische Stadt herumjagt, über der die Sonne vom Ende des August brütet.
Man tut bei solcher Gelegenheit gut, seinen eigenen, an Beschaulichkeit gewöhnten Hals abzuschrauben und sich dafür einen aus Kautschuk zwischen die Schultern und das Kinn zu pflanzen. Dann ist man geworden, was der Amerikaner »Rubberneck« zu nennen pflegt, das heißt ein Kautschukhals – ein Individuum, das, um in kürzester Zeit möglichst viele Eindrücke von allen Seiten in sich aufzunehmen, seinen Hals nach allen Richtungen der Windrose, hinauf, hinunter und im Kreise drehen muß, sonst könnte ihm beim Vorüberfahren irgendeine von den Herrlichkeiten am Wegrand auf ewig entgehen. Indes, die erste Stunde unserer kostbaren Zeit vergeht mit langweiligem Herumfahren um die Peripherie der französischen Stadt, eine falsche Rue de Rivoli entlang, die sich wie Talmi imposant den Hafen Algiers entlangzieht, nach den Vororten Belcourt, Hammna, die den Pariser Bezirken La Villette oder Pantin plus einigen hineingepflanzten Palmentöpfen zum Verwechseln ähnlich sehen; hinauf nach Mustapha supérieur und hinunter nach Mustapha inférieur, mit gänzlich europäisierten Häuserblöcken, von denen die Führer verzückt erzählen: daß in ihnen alle Wunder des Abendlandes verborgen sind, Lift, Gas und Wasserklosette! Die Führer haben es von der Obrigkeit eingebläut bekommen, all den Komfort und die Hygiene, die sich die europäisierte Stadt seit Abd-el-Kader zu eigen gemacht hat, dem Fremden eindringlich als Lockspeise vorzuzählen, und man nimmt mißmutig zur Kenntnis, daß dieser eine Morgen, den man in Afrika verlebt, ebenso langweilig verlaufen will, wie all die Morgen in Europa zwischen Lift und Wasserleitung verlaufen. Die spärlichen, weiß beburnußten Kabylen, herrlichen bronzegegossenen Biskris in total zerfetzten, frottierhandtuchähnlichen Stoffgewändern, sogar die hier und dort auftauchende, weiß verhüllte Muselmännin, von deren ganzem Körper man nur den Fleck um Augen und Stirne sieht – den im europäischen Fasching gerade die Maske zu bedecken pflegt – all dies ist, genau besehen, nichts weiter als ein mit wenigen orientalischen Tupfen besprenkeltes Paris.
Aber auf einmal heißt es: »Aussteigen!« und man ist vor der Kasbah angelangt. Vor Kasbah, der »Burg«, dem Kern der Stadt, dem Herd des Islam und tausender Seuchen, mitten drin im katholischen und hygienischen Algier gelegen, wie ein düsteres Herz voll geiler Wildheit tief im Innern eines scheinbar zivilisierten Naturmenschen.
Auch über der Kasbah brennt die Augustsonne, aber wie wir die breiten Stufen der enger und enger sich zusammenziehenden Straßen aufwärtssteigen, verschwindet allmählich das Licht zu unseren Häupten. Die Häuser, hoch und nahe beieinander, bauen ihre Stockwerke schmal und wie gotisch spitz zum Gebet sich zusammenschließende Finger in die Höhe hinauf – oben berühren sich die Fenster der gegenüberliegenden Häuser, schlingen sich und wachsen Giebel ineinander, durch alle Windungen der engen Straßen der »Roten-Meer-Straße«, der Kléber-, Ben Ali-, der Lohgerberstraße; Schulen, Basare, Moscheen, reiche und arme Wohnhäuser, Häuser mit Brunnengärtchen und schimmlige Massenquartierhäuser sind so enge zusammengerückt, ineinander verzwickt und durcheinandergeschoben, daß man sich mit einem scharfen Gefühl der Beklommenheit durch das drohende Gewinkel windet – angeführt von einem Fremdenführer, gefolgt von einem Fremdenführer – beide halten ihren Trupp eng und aufmerksam beisammen, die Verantwortung ist nicht gering!
Denn in den winzigen offenen Höfen der maurischen Gebäude, vor den kleinen schmutzigen Stufen der Verkaufsläden, hinter dem Schnitzwerk der Fenster im Obergeschoß, in den beschatteten Ecken der Sackgassen hält sich eine Menge von fremdartig unbegreiflichen, tierähnlichen Geschöpfen tückisch verborgen. Der Europäer, der durch dieses Gewinkel getrieben wird, blickt in lachende Gesichter von lässig hingelagerten, bärtigen, arabischen Lehrern, die sich im Schulraum fauler als ihre faulsten Schüler, wie Schildkröten träg auf dem Boden räkeln, unverständliche Begrüßungsworte in die nahe Straße zu uns hinausgurgeln, mit lachend geöffnetem Munde über Raubtierzähnen. Fette Neger mit aufgedunsenen Lippen, die obere bis in die Nasenlöcher hinein, die untere bis zum Kinn herunter gewölbt, zwinkern den Frauen in unserem Trupp eindeutig in die blassen Gesichter. Ein alter Kabyle im Barbierladen ruft den neugierigen Fremdlingen noch unter dem Messer seinen Willkomm nach, so laut, daß die ganze Gasse ihn vernimmt und mit schallendem Gelächter belohnt. Zwischen Abfällen von Früchten, auf das Pflaster geschüttetem Unflat, im beizenden Gestank unter der Sommersonne steht der Hammelschlächter auf der Gasse vor uns, den Rücken an das Haus gegenüber von seinem Laden gelehnt – drüben hängt an einem Eisenhaken das aufgespaltene Tier – die bläulichen Gedärme, in denen der Schlächter mit seinem blutigen Messer herumseziert, versperren uns den Weg, ein künstlich aus Blau, Rot und Grau gewebter Vorhang. Zehn Schritte weiter hält uns eine Vision atemlos still gefangen. Vom oberen fernen Ende eines dunklen, hohen Gäßchens steigt langsam und gemessen ein weiß-silbernes Gebilde die Stufen herab, auf uns zu: schlanke Araberfrau, in weiße Tücher gekleidet, das weiße Tuch quer über die Nase, unter den Augen, der hellen Stirn, dem unprofanierbaren Dreieck aufgespannt; ihre Arme hängen zwischen den Tüchern, auf ihrem Kopf balanciert eine Pyramide von schimmerndem, weißen Seidengarn. So kommt sie langsam und schlank, weiß und voll Hoheit aus dem dunklen Spitzbogen des Gäßchens zu uns herabgestiegen, geht, fast ohne uns mit einem Blick zu streifen, an uns vorüber …
Wo wir hindurchgeschritten sind, da scheint sich hinter uns die Stadt, die Burg, die Kasbah zuzuschließen. Wehe dem, der sich in ihr verirrt, – sie saugt ihn auf, verarbeitet ihn in dunklen Gängen, Fallen und Verließen, wie eine fleischfressende Pflanze ein Insekt, das ihrem Munde zu nahe gekommen ist.
Nur Minuten lang dauerte unser Gang durch das Herz der Stadt Algier. Schon sah man wieder die moderne Franzosenstadt, diesmal das Handelsviertel, dem Faubourg Poissonnière zum Verwechseln ähnlich, am untersten Ende der dunklen Kasbahstraße hell mit seinem quer durchlaufenden europäischen Gewimmel auftauchen. Aber wie ein zu großer Bissen war in dem unbeweglich erstarrten Kautschukhals der befremdliche Eindruck steckengeblieben: von einem Stück Wahrheit in einer dicken Hülse von Lüge und Verstellung, von etwas Unausrottbarem inmitten einer allgemeinen, ringsherum gebauten, zerbrechlichen Beschönigung – ein paar verzerrte Fratzen, geringschätzig und grausam feindlich zugleich, ein lauerndes Schauobjekt, dem wir Schaulustigen eher vorgetrieben worden waren, als daß wir es, die interessanten Barbarenvölker, von unserem sicheren Platze aus angesehen hätten.
Von der Mole brüllt unser Lloydschiff seine erste Warnung zu den Fremdenführern und ihrem Trupp in die Stadt hinein. An der Grenze der Kasbah, im Handelsviertel warten die Wagen. Alles ist zur Abfahrt bereit, einer fehlt bloß. Verzweifelt rennen die Führer herum, suchen den einen – ich bin der eine.
Drin in der Synagoge habe ich mich eine Minute lang, den Hut auf dem Kopf, zwischen mein eigenes Volk hingestellt, das meine eigene Sprache laut vor sich hin spricht, meine eigenen Gebärden ausführt, das mir hier in diesem fremden Weltteil ebenso verwandt und vertraut ist, wie drüben in Europa, wie weit im Westen, in Amerika, in den tausend verstreuten, verborgenen, verschwisterten Heimen des alten Glaubens, dessen Feiertag an diesem Morgen angebrochen ist.
Wenn man im Mittelmeer, auf der Fahrt von Algier nach Gibraltar, an einem Augustnachmittag den heißen Wind von der marokkanischen Küste her über sich wegziehen fühlt – oben auf dem Promenadendeck im Liegestuhl hingestreckt – dann gibt es zweierlei Gründe dafür, zu den Heizern hinunterzusteigen. (Falls es dafür überhaupt einen Grund gibt!) Man kann versuchen, ob man seinen eigenen Rekord im Ertragen der Hitze schlagen könnte, man kann aber auch nachsehen wollen, wie es menschlichen Wesen geht, die bei solcher Temperatur etliche Meter tief unter dem Meeresspiegel, tief im Bauche des Schiffes ihre Arbeit verrichten, ihr Leben fristen, ihre Pflicht tun, die darin besteht: uns behaglich vom Wind bespülte Promenadendeckbewohner durch die Breitengrade zu befördern. Ohne daß wir von ihrer bescheidenen und unsichtbaren Existenz Kenntnis zu erlangen brauchten.
Der freundliche Schiffsoffizier geht voraus. Hinter ihm steige ich die Stockwerke des Maschinenraumes hinunter. Wir haben uns dicke Ballen von Putzwolle um die Finger gewickelt, das Eisengeländer der Treppe glüht nämlich ganz oben schon derart, daß die Haut Blasen zieht bei geringster Berührung, die schwielenlose Haut, versteht sich.
An den schwingenden Kolben der gleißend blanken Maschinen, den endlos sich dahin ziehenden weißglänzenden Längsachsen geht's vorbei, unter den schweren hochgezogenen Falltüren der Schotten durch, hinter denen der finstere Hohlraum zu den Kesseln führt, wo die Heizer arbeiten. Unterwegs gibt's eine Überraschung: da ist ein Fleck mitten auf einer Eisenestrade, mitten in der Glut des Schiffsbauches, nicht größer, als daß ein Mensch sich aufrecht auf ihm aufpflanzen könnte, über diesem geht ein Luftschacht fünf Stockwerke hoch schnurstracks bis zum Himmel hinauf, das heißt bis zur Höhe der Kommandobrücke. Ein eiskalter Wasserfall von Luft stürzt auf mich herab durch den Schacht, klatscht mir Haar und Hemd eisig an Stirn und Glieder – es ist dieselbe Luft, der afrikanische Wind, unter dem die Einwohner des Promenadendecks droben in diesem Augenblick zu verschmachten glauben. Hinter dem finsteren Raum, bei den Bunkern, vor den Kesseln, pendeln ein paar groteske Skelette hin und her. Eigentlich sind es »Negative« von Skeletten, denn das ganze Knochengerüst ist mit schwarzer Farbe auf den gelben Grund der nackten Leiber klobig draufgemalt. Diese schwarzen Skelette bücken sich, winden, drehen sich, schnellen auf, hantieren mit unsichtbaren Geräten, deren eisernes Geräusch sie als Schaufeln erkennen läßt.
Plötzlich wird ein weißglühendes Loch mitten in der Finsternis sichtbar, ein langes Teleskoprohr mit runden Rillen darin, endlos vorwärts, die untere Hälfte angefüllt mit einer flackernden, hüpfenden, weißen Wabe, aus der mir Rekordtemperatur entgegenschlägt – Haar, Wimpern, Brauen und Haut versengend, die Augen vertrocknen in den Höhlen, die Schleimhäute, die Zunge wird wie gegerbtes Leder, der ganze Leib im Nu unempfindlich, erstarrt, weg, nur die Nerven leben noch, in Kopfeshöhe, konstatieren, nehmen wahr, empfinden, leiden. In dem blendenden Licht aus dem weißen Loch heraus sehe ich acht Chinesengesichter, eckig und rußgeschwärzt unter rund herumgesteckten Zöpfen und kurzgeschorenen schwarzen Borsten, neugierig mich anstarren. Außer uns beiden ist noch ein Europäer da, der deutsche Kesselmeister, der die Schicht beaufsichtigt. Es sind Honkongleute, diese Heizer auf dem Schiff. Vier Stunden lang arbeiten sie hier unten zäh und angestrengt, aber methodisch und nicht allzu rasch, obzwar es meinen aufgeregten Sinnen vorkommt, als hantierten hier unten acht wilde Teufel mit den schwarzen polternden Seelen verdammter Erdenkinder vor dem ewigen Feuer.
Vier Stunden Arbeit bei den Feuern, acht Stunden Ruhe oben in den Schlafräumen; vier Stunden Arbeit bei Tage, vier bei Nacht; so vergehen diese Leben. Es gibt Temperaturen von 50 Grad Celsius (im Roten Meer), heute dürften es vierzig und einige darüber sein. Der deutsche Meister, der hier zwischen den Kulis steht, gibt uns matt und höflich Auskunft über die Qualitäten seiner Untergebenen. Er hat acht Stunden Arbeit hier unten gleich ihnen. Wie die Tür des weißen Feuers zuklappt, sehe ich noch eine Sekunde lang sein breites blondes erloschenes Gesicht inmitten der grinsenden Totenschädelnegative mit den flackernden Feueraugen, im gespenstischen Rund der kreisförmigen Eisentür vor mir herumtanzen … Dann ein »Good bye, boys!« worauf ein achtstimmiges scharfes: »Dud baai …« im unverfälschten ostasiatischen Pidginenglisch durch den Donner der Kohlenkatarakte zurückschallt.
Oben, in den Wohnräumen der Heizer, im Zwischendeck stürzt der Offizier plötzlich in eine Ecke, wo vier Kulis, ziegelförmige Porzellankissen unterm Kopf, in ihren Kojen liegen. Ein leises Wispern tönt aus den Kojen und ein ekliger süßlich beizender Geruch schwebt wie eine dünne Wolke über dem ganzen Raum. Triumphierend zeigt mir der Offizier seine Beute. Es ist eine dicke Flöte aus Bambus, mit einem kupfernen Kreisel an einem Ende; der Kreisel ist mit der Spitze auf die Flöte geschraubt. Das ist das Laster der Asiaten, das alle Laster der europäischen Mannschaften, Sauflust, Rauflust, Hurerei aufwiegt: die Flöte mit dem Kreisel ist eine Opiumpfeife und der Heizer, dem es gelungen ist, sie unbemerkt zwischen seinen Siebensachen aus Hongkong aufs Schiff zu schmuggeln, verwandelt sich schon während der ersten Hälfte der Reise in ein schlaffes, ausgemergeltes Schlottergebilde.
Oben auf Deck liegen immer noch seufzende, den Wüstenwind kraftlos verfluchende erste Kajütsmitmenschen in ihren Liegestühlen. Sachte, um die Leidenden nicht zu irritieren, gehen Stewards mit Limonade und Tee auf und nieder. Hie und da schlurft, einen Wassereimer in der Hand, ein Sohn des Reiches der Mitte die Reling entlang, an uns vorüber, weiße, geflochtene Sandalen an den gelben Füßen, hellblaue Chinesenjacke, glänzendschwarze kurze Seidenpantalons schlotternd um die dünnen gelenkigen Glieder; die Gebärden bescheiden, höflich, die Augen stechend, hurtig und angefüllt von traumhaften Unzüchtigkeiten.
Sonntag nachmittag biegen wir um die scharfe Ecke von Europa Point und lavieren dem Hafen von Gibraltar zu. Die Ecke ist scharf, schon mehr schartig, schießschartig, der große, schroff abfallende Steinkegel liegt wie ein gestürzter Pudding da, mit Kanonen an Stelle der Rosinen. Große mattblaue, hellgelbe, rosafarbene Häuser, Kasematten sind auf das Gestein geklebt. Hier und dort verstreut in Büscheln: Pflanzen, Kaktusgruppen, Palmen, vermutlich sämtlich von irgendwelcher strategischen Bedeutung.
Bis hier heraus aufs Wasser spürt man die Langeweile des englischen Sonntagnachmittags strömen. Dicht hinter diesem Fleck englischer Erde liegt das sonderbare, fremde Spanien hingebreitet – aber wir halten ja nur einen Nachmittag lang! An der Landungsstelle setzen wir uns resigniert in eine Ponykutsche, um in die öde Stadt hineinzufahren, wo heute protestantischer Tee getrunken wird, nicht, wie weiter im Lande drin, katholischer Xeres – da schwingt sich plötzlich Manuel Gomez aufs Trittbrett herauf, ein Retter und Wohltäter, mit flacher Apachenmütze und rotem Halstuch angetan, zwinkert mit den Augen:
Im nächsten Augenblick haben wir Manuel Gomez mit offenen Armen in unsere Kutsche hereingezogen, unser Pony ändert seine Richtung und trabt statt geradeaus nach England hinein, an seiner Längsseite herum, hinüber nach Spanien.
Bald sind wir aus dem englischen Gebiet und die neutrale Zone, ein halbkilometerbreiter Sandstrich, wirbelt uns schmutzige Staubwolken um die Köpfe. An der spanischen Grenze stehen Soldaten mit aufgepflanzten Gewehren, einen lächerlichen Stacheldrahtzaun bewachend, an dem sich zwei räudige Köter ihre Krätze aus dem Fell reiben.
Dies hier ist: La Linea, ein spanisches Dorf, eigentlich schon mehr ein Städtchen, von, wenn man Baedekern Glauben schenken darf, 30 000 Einwohnern. Schaut man näher hin, so ist das Städtchen eine einzige lange Straße aus ebenerdigen und stockhohen Häusern, die vom Stachelzaun schnurstracks zu einer Arena führt, der Plaza de Toros, einem riesigen, kahlen, kreisrunden Bau, dem man's schon von ferne ansieht, daß in ihn die ganze Bevölkerung, ohne sich zu drängeln, hineinginge – und mehr noch als sie allein.
Es sind tatsächlich mehr da. Auf allen Rängen des riesigen Raumes sitzen englische Soldaten, Offiziere und Mannschaften khakifarbig zwischen die dunkel-gekleideten Spanier und die hellgekleideten Spanierinnen gesprenkelt. Einzelne von diesen Soldaten haben Tropenhelme an und scharlachrote Feldbinden über die Brust gebunden.
Es ist, als wir – von unserem Gomez geführt – uns auf unsere Plätze setzen, eine gewaltige Aufregung rings zu spüren. Unten in der Mitte des Sandes steht, ohne sich vom Fleck zu rühren, ein armseliges, vierbeiniges Geschöpf, verdutzt und zitternd, wahrscheinlich in angestrengtem Nachdenken befangen: was es denn eigentlich mit den Menschen da auf sich habe? Es trägt auch eine Feldbinde, scharlachrot vom Rücken über die Flanken hinab, zwei breite Streifen von Blut, die von einer Anzahl scharfer, eiserner Piken herrühren; diese Piken stecken oben im Rückgrat, fest beisammen, im Fleisch.
Ein kleiner Junge, Westentaschentorero, springt mit langem, dünnen Degen vor dem Tier herum. Unser Gomez bemerkt geringschätzig: es ist noch nicht viel los um diese Zeit des Tages, der Stier ist ein junger Stier und das Bürschlein ohne Namen. Erst nach Sonnenuntergang wachsen beide, wird der Kampf interessanter. (Aber da schwimmen wir ja schon an Tanger vorüber.)
Kerle mit roten Mänteln in den Händen flunkern vor dem apathischen Tier herum, das der verhaßten Farbe gar keine Beachtung mehr schenkt und in seinen Reflexionen wahrscheinlich schon bei den Dingen des Jenseits angelangt ist. Da – husch! – hat es zum Überfluß noch ein paar Piken mehr im Nacken sitzen!
Der kleine Torero wird übermütig, kniet einen Schritt vor dem Stier auf den Boden hin, zeigt ihm den roten Griff seines Degens, kitzelt ihn zwischen den Nüstern damit – da kommt endlich Leben in das schwer verwundete Wesen. Es bäumt sich, springt mit einem Satz auf seinen Peiniger los, der kleine Torero aber hat den Angriff schon mit blitzscharfer Wendung abgewehrt, die Stierhörner reißen eine Handbreit neben dem Kopf des Bürschchens die Luft auseinander.
Mit einemmal ist auch die Spannung in dem riesigen Amphitheater zerrissen. Alles brüllt, überbrüllt den Stier; die Hidalgos brüllen, die Duennas brüllen, die Kinder brüllen, die Lameros mit ihren Limonadeflaschen brüllen, die ganze englische Garnison ist auf den Beinen, brüllt, und man beruhigt sich erst, als der Stier wieder in sein schmerzliches Phlegma zurückfällt und Tier und Torero sich aufs neue erwartungsvoll gegenüberstehen: was nun?
In diesem Augenblick wird ein paar Reihen unter uns lebhaftes Händeklatschen laut. Das Amphitheater, das sich eben erst beruhigt hatte, gerät wieder in Aufregung, Hidalgos und Gentlemen, Kinder und Frauen springen von ihren Sitzen auf und klatschen wie besessen in die Hände. Ein alter Mann von kleinbürgerlichem Aussehen, Gevatter Schneider oder Handschuhmacher, ist auf seinen Sitz gestiegen und nimmt ernst und würdevoll mit gemessenem Hutschwenken die Huldigung der Menge entgegen.
»It's the father!« erklärt Manuel Gomez. Es ist der stolze Vater des jungen Stierkämpfers da unten, der seinen ersten Erfolg in der Arena erlebt, und was sich hier abspielt, ist vorerst noch eine Familienangelegenheit, aber schon auf dem Wege, sich zu einer Angelegenheit von La Linea, wenn nicht des ganzen Landes Spanien auszuwachsen. Indessen geht der »Kampf« unten weiter. Alle die Beteiligten auf dem Sand sind überrascht von der Zähigkeit des jungen Bullen. Es erweist sich eine Steigerung in der Angriffstaktik als notwendig, und jetzt wird es sich herausstellen, ob der kleine Torero das Zeug in sich hat, neue Nuancen zu ersinnen, und ob nächsten Sonntag sein Name, den heute noch niemand kannte, schon in fetten Lettern auf den Plakaten zu lesen sein wird.
Der Stier hat einstweilen kehrt gemacht und versucht, davonzutraben. Wenn dieser Entschluß das Resultat seines Nachgrübelns über die Beschaffenheit der Menschenseele ist, dann bedaure ich die seine. Picadores (zu Fuß) und ein paar weißbespenzerte Lümmel mit violetten und roten Tüchern traben dem unglücklichen Tier im Kreis durch die Arena nach. Der kleine Torero bleibt ruhig auf seinem Platz stehen. Er sieht zu, wie die Lümmel aus dem sterbenden Tier noch ein paar Lebensfunken herauszuschlagen versuchen, wie sie es im Zickzack vor sich hin treiben, an ihm vorüberhuschen mit wehendem Violett und Rot, darein sich seine blutige Schnauze verfängt, wie sie alle Grausamkeiten des In-Frieden-Lassens und plötzlichen Wiederangriffs an der total irre gewordenen Bestie erproben. Mit einemmal ist der Stier wieder lebendig. In der Stille des riesigen Rundes ist sein Gebrüll aus Zorn und Schmerzüberwindung dröhnend laut geworden. Mit einem resoluten Satz ist er auf den kleinen kaltblütigen Torero losgesprungen – da bricht er auch schon zusammen, den langen, dünnen Degen genau in der Mitte seines Rückgrats, vorn vor den im Fleisch schwingenden Piken, so daß der rote Degengriff zwischen beiden Hörnern steckt, fest und sicher, ohne einen Fingerbreit von dem Stahl der Klinge zu zeigen.
Während jetzt aus dem geöffneten Tor ein Mauleselgespann hervorstürzt, sich vor das erlegte Tier spannen läßt und einen breiten, bald verebbenden Blutstreifen auf dem Sande nachschleift, macht der kleine Torero, seinen goldstrotzenden Dreispitz in der Hand, ernst und würdevoll, ein kleines knabenhaftes Lächeln auf seinem Kindergesicht, die Ehrenrunde an den Tribünen vorbei. Hüte, Mützen, Fächer, Tropenhelme fliegen ihm zu, auf den Sand vor seinen Füßen, wo er geht. Die weißbespenzerten Burschen hinter ihm haben Mühe, alle diese Huldigungsbeweise wieder ihren begeisterten Besitzern in die Ränge hinauf- und zurückzuwerfen. Ein paar Plätze weit vor uns macht der Kleine halt und verneigt sich stumm und ehrerbietig vor dem Erzeuger seiner Tage. Vater und Sohn begrüßen sich mit gezogenem Dreispitz und Filzhut, ernst und stolz angesichts des wütend jauchzenden Volkes. Dann betritt ein neuer Stier den Sand. Es ist ein junges, hellbraunes Tier mittlerer Qualität. Ein neuer Torero steht ihm gegenüber, ein kurzbeiniger, breitschultriger Kerl diesmal, und der Kampf geht los, der Kampf, der den spanischen Sonntag von La Linea hinauf bis Santander ausfüllt, in dem hunderttausend Tiere geopfert werden.
Langsam spazieren wir mit unserem Gomez die endlose Straße von La Linea wieder zur »neutralen Zone« zurück. Es sind noch ein paar Händevoll Frauen und Kinder im Städtchen zurückgeblieben. Dicke Frauen, unmenschlich geschminkt und gepudert, quellen über die Brüstungen ihrer Fenster im Erdgeschoß und aus den Stockwerken auf die Straße heraus. Kleine Mädchen in weißen Spitzenkleidchen stehen in Gruppen beisammen, fächeln hartnäckig ihre bläulich weißen, wie verdorbene Milch anzusehenden Gesichtchen und schauen uns fremdartigen Gespenstern mit großen Augen nach. Im Vorübergehen streicheln wir mit zwei Fingerspitzen über eins und das andere von diesen niedlichen Gesichtern – Schminke und Puder bleibt auf den Fingerspitzen kleben nach dieser Exkursion.
Drüben, jenseits der neutralen Sandwüste, in der englischen Stadt tönt Vespergesang aus anglikanischen Kapellen. Tore tun sich auf, Orgelklang verhallt, durch Church Street schiebt sich das bunte Gemisch von steifleinenen Misses, weiß-beburnußten Marokkanern, breiten Spanierinnen in Spitzenmantillen, korrekten britischen Verwaltungsbeamten, gelbgekleideten, mit Stöckchen paradierenden spindeldürren Tommys, schmierigen, hurtigen Mischlingen, und dazwischen das Publikum unseres Schiffes, das neidisch auf unsere Trophäe blickt – eine blutbesprenkelte gelbe Pike mit stählernem Widerhaken, die wir uns zum Andenken an den armen toten Stier und den siegreichen jungen Torero aus Spanien mitgebracht haben. Wahrhaftig, zum Andenken …
Dies ist ein neues Erlebnis.
Ein Schrecken mehr, den man zu Lebzeiten erfährt, und der einen an den Tod erinnert: nachts, im Schiff, in der Kajüte, im engen Bette bewegungslos zu liegen und den Schlaf zu erwarten. Vor dem Kajütfenster knirscht der Stein des Piers. Unter der Kajüte tief strömt ein dicker Strahl aus den Kesseln gegen den Stein. Weit vorn im Schiff rasselt die Kette, befördert schwere Säcke voll Zinn aus China, Ballen voll Tee aus Ceylon, duftende Balken von rotem Holz aus Penang, aus dem Schiffsinnern in die Waggons hinein, in die rollenden aneinander klirrenden Waggons, den Hafen entlang, in der heißen Nacht des belgischen Frühherbstes.
Aus den kleinen, versteckten Straßen der Petersiliengracht, der Fleeschhauwerstraat tönt hier und da der verruchte Klang eines verspäteten Orchestrions herüber. Das Johlen und Gegröle betrunken heimkehrender Matrosen dringt aus guten deutschen Bierkehlen, aus den kaffeebraunen Mäulern der Laskars, aus schwarzen Negergurgeln und schmutziggelben Malayenbrustkasten durch den Spalt des Kajütfensters zu uns herein. Vorbei das Meeresrauschen, das Festland hat uns wieder. Noch eine Nacht Nordsee und wir ziehen hoch, langsam und vorsichtig die Elbe hinauf in den Hamburger Hafen ein.
Wundervolle Brandung des offenen Meeres an der Schiffswand knapp unter der Kajütluke! Wundervolles Wiegen, Gewiegtwerden von atmenden Wellen im beginnenden Morgengrauen. Ihr seid in Wahrheit – Leben! In engem Bett, im Hafen zu liegen, schwer und tot, bedrängt und gequält von tausend Geräuschen, elenden Gerüchen, betrunkener Leidenschaft und tierischer Bewußtlosigkeit von der Landseite her, wie ist dies zu nennen? –
Bald versinken die Nerven in tiefe Ruhe, stößt die Seele vom Lande ab, gleitet hinaus in die wiegende, rauschende Unendlichkeit. Da rollt es wieder wie Meer, zieht es wie Passat, streicht der Hauch von fremden Küsten, zittert Aroma von Wunderblumen aus nie betretenen Waldungen, von Bergen herab, zu denen das Auge nie hinaufgeblickt hat, tausend rätselhaften Gegenden, die alle existieren, draußen im endlosen Meer, in die einen das gütige Leben noch einmal auf treuem schwimmenden Schiff hinausbringen wird – so Gott es erlaubt.