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(Sommer und Winter 1921.)
Dieser Auftrag – nach Palästina zu reisen – einer der großen Glücksfälle des Lebens, kam zu ungünstiger Zeit.
Um nach Karlsbad zum XII. Zionistenkongreß fahren zu können, muß ich meinen Paß vielfach vidieren lassen. An einer Stelle – ich habe mit dem Paß, um die Gebühr zu bezahlen, einen Hundertmarkschein über die Schalterbrüstung gereicht – passiert dies: der Funktionär ruft seine Kollegen zusammen – eine Reichsbanknote, vor dem Kriege gedruckt, mit rotem Stempel! Der Schein wird liebevoll aus nächster Nähe besehen. Ein roter Stempel!! Das erinnert mich bedenklich an die Ehrfurcht, mit der in Moskau auf der Sucharewka Romanow-Rubel behandelt wurden. Es ist immerhin ein Zeichen, ein Anzeichen.
In Bodenbach jenseits der Grenze weigert sich das Büffetfräulein, deutsche Reichsmark in Zahlung zu nehmen. Denn die Mark sinkt, gestern war sie 80 wert, morgen wird man sie vielleicht um 50 nicht loswerden können! Die Börse tobt, die Mark schwindet dahin, ein Blick auf die Kurse …
Will man ins Heilige Land reisen, muß man die Börsenkurse respektieren. Denn in Palästina gilt der Sterling. Und wenn es dem Sterling paßt, wird man nicht nach Palästina reisen können. Sehr einfache Rechnung. Elende Politik und ihre richtige Schwester, elende Spekulation, haben sich der zerschlagenen Welt bemächtigt und spielen Fangball mit Energien, Hoffnungen, Menschenleben, mit Zukunft und Utopie. Höher und höher fliegt der Sterling.
Das wäre nicht halb so schlimm, handelte es sich hier um den privaten Fall, das Schicksal des Einzelnen, Entbehrlichen, um persönliches Erleben oder Nichterleben. Der Schatten fällt auf die Not, die drängende Not des heiligen Landes der Verheißung zurück – denn nicht wahr: die Pioniere, die Einwanderer, die Zionsehnsüchtigen sollen aus den sogenannten »valutaschwachen« Ländern kommen, aus Polen, der Ukraine, aus dem Osten dieses verelendeten Kontinents. Dorther kommen auch die Gelder zum Aufbau Zions. Und wieviel Entbehrung, Entäußerung des Notwendigsten, letztes Zusammenscharren verwandelt der elende Börsenzettel in weniger als nichts, lächerlichste Geringfügigkeit, minimalste Zusteuer, unzulänglichste Sicherheit für das Leben im alten Lande. Um den festen Sterling schwimmen zerschellte Hoffnungen herum. –
Aber ich werde euch trotzdem sehen, Leute von Kinereth, Merchawia! Und ich werde das Tal von Josaphat erreichen, hinausgehend aus dem Tal Hinnom, meinem Aufenthalt: dem Gehinnom! Hinüber zu Kidron, Genezareth und Bethlehem werde ich pilgern, und sei es barfuß. Ich werde es erleben, das alte Land des Glaubens der Millionen Verstreuten über den Erdball, und Tausende, ärmer als ich, werden es erreichen und erleben mit blutender Energie, zerrissenen Sohlen, mit Beulen und Wunden, die sie sich an den Widerständen des eklen, gemeinen Tags schlagen müssen.
Wie ich in Karlsbad ankomme, ist die Generaldebatte mit den programmatischen, die Situation wie mit Scheinwerfern von verschiedenen Seiten beleuchtenden Reden und Ansprachen der Führer beendet. Aber ich komme gerade recht, um die Palästina-Debatte mitzuerleben, die mich von allen Arbeiten, die der Kongreß zu bewältigen hat, am nächsten angeht. Im Plenum und in den Kommissionen bin ich Zeuge der Kämpfe, deren Hall nur zum Teil in die Welt hinaus, zum Teil aber nicht einmal bis hinunter in den Saal dringt, wo die Delegierten sitzen. Ich erlebe einen kurzen Augenblick aus diesem ganzen gewaltigen und heroischen Kampf um das utopische Gebilde Erez Israel, das Land der Juden, diese unwahrscheinliche Fata morgana der achtzehn Jahrhunderte lang verstreut wandelnden Heimatlosen, die plötzlich greifbare Wirklichkeit geworden ist – an einem Kalenderdatum, dem 2. November 1917. In dem Augenblick, in dem es dem britischen Imperialismus erwünscht und opportun schien, den Traum der Juden auf dem Landweg nach Indien zu erfüllen. Der Messias hieß Arthur Balfour und seine Botschaft – die berühmte »Deklaration«, die die Juden zum Volk machte, indem sie ihnen die »nationale Heimat« zu sichern versprach – ist fünf Tage vor jenem anderen, die Welt erschütternden Datum erfolgt, dem 7. November 1917, dem Geburtstage der Russischen Sozialistischen Föderativen Arbeiter- und Bauernrepublik. Welch eine Woche, diese erste Novemberwoche des vorletzten Kriegsjahres!
Palästina ist ein werdender Staat, und der gegenwärtige Kongreß, der zwölfte, von dem elften durch acht Jahre getrennt, ist als Vorstufe zu einem jüdischen Parlament anzusehen. Der Karlsbader Kongreß ist auf Kampf gestellt. Es wird um Organisationsfragen, Kompetenz- und Persönlichkeitsfragen ebenso wie um Fragen gekämpft, die auf einem Konzil aufgeworfen sein und erledigt werden könnten.
Alle Probleme, Strömungen ethischer, sozialer, politischer, ökonomischer, verwaltungstechnischer Art, die die heutige aufgescheuchte und erwachende Menschheit bewegen und erschüttern, finden sich hier wie in einem Mikrokosmos beisammen, verlangen Gehör und Entscheidung, begegnen sich, schwirren auf und durchkreuzen einander. Es scheint auf diesem Kongreß um alles Wesentliche zu gehen, was den Aufbau eines Staatengebildes wie einer Menschengemeinschaft, eines sozialen wie eines religiösen Gemeinwesens bestimmt. Und die Grenzen zwischen Religion und Ritus, sozialem Willen und praktischer Notwendigkeit sind nicht durchweg klar zu erkennen. Alles scheint vielmehr zu einem einzigen magischen Mittelpunkt zu streben, als ob es nur um des Einen willen da wäre, dessen Platz gar nicht innerhalb der Zeit zu bestimmen ist.
Dieser Kongreß ist kein Parteitag; denn die Zionisten bilden keine Partei innerhalb der Judenschaft. Auf irgendeine mystische Weise ist in ihnen nur etwas heller und kraftvoller gegenwärtig, was in allen Rassen- und Glaubensgenossen in der Diaspora unbewußt vorhanden ist, leise sich regt, sicherlich nicht gänzlich überwunden durch irgendwelche Faktoren weltlicher Entwicklung.
Die Parteien und Fraktionen innerhalb der Körperschaft dieser zum Kongreß Delegierten des Welt-Zionismus unterscheiden sich denn auch von parlamentarischen Parteien herkömmlicher Art durch eben diesen Einschlag von utopischem Wollen und einer sozusagen metaphysischen Energieentfaltung nach dem gemeinsamen Ziel, dem Land der Verheißung, und sind regiert durch die magnetische Kristallisationskraft Jerusalem, Zion.
Die Juden stehen bereits auf Leben und Tod in ihrem Kampf um den Aufbau einer jüdischen Nationalheimat mitten inne. »Erez Israel« wird vielleicht, und das ist die Stärke des Gedankens, der von ihm ausgeht, ewig und immerdar als Land der Verheißung ein Traum und unrealisierbares Idealbild bleiben – und doch lebt es bereits, hat Form und Kontur und Inhalt der Wirklichkeit. Das lehrte die unerhörte Arbeit, die dieser Kongreß zu leisten hatte, und die er nur in unvollkommener Weise bewältigt hat.
Eben die Distanz zwischen der Vision der Erfüllung und der mangelhaften Wirklichkeit und Durchführbarkeit war es, was die Energien der in Karlsbad Versammelten, ihr Gefühl der höchsten Verantwortung bis zur Siedehitze wärmte, so daß man oft die Vibration einer unerklärlichen Kraft durch das erregte Haus zu spüren vermeinte, ein Wirbel Herzen und Hirne der Anwesenden zu erfassen und mitzureißen schien.
Ein Wort zu diesem Gebild: Erez Israel. Der Militarismus, der Krieg war der Erfüller der »jüdischen Nationalheimat«, so gut wie die Wiege Moskaus in Tannenberg stand. Das Böse öffnete das Tor dem Wunder, und eine solch grausamnüchterne Wissenschaft wie die Strategie bereitete den Utopien den Weg …
Das Gefährliche dieses Schicksals ist leicht zu erkennen. Mir sagte einer der Führer der Zionisten in einer Unterredung unter vier Augen: »Wir sind Kriegsgewinnler. Wir haben unsere Heimat im Krieg und durch das Kriegsglück gewonnen. Der Krieg geht weiter, er ist in der Welt noch lange nicht zur Ruhe gekommen, und wir bleiben weiter abhängig vom Krieg. Er bestimmt unser Schicksal. Einmal sieht es sich heiter an, dann wieder düster.«
Das ist lautere Wahrheit. Ich erinnere mich sehr genau der Beratungen, die genau vor einem Jahr in Baku stattgefunden haben! – –
Indes, der Karlsbader Kongreß verhandelte und beschloß so konsequent und umsichtig, als ob er für die Ewigkeit baute. Als ob nur die äußerlichen zufälligen Zusammenhänge sich verschieben, das Gleichgewicht gefährden könnten, der Boden aber sicher stände, ohne Schwanken. Daß die Menschheit, daß alle Formen der menschlichen Gemeinschaft in diesem Augenblick, den die Welt durchlebt, an einer ungeheuren, unerhörten Zeitwende angelangt sind – das konnte man aus den Verhandlungen fast gar nicht entnehmen. Mit Ausnahme der radikal sozialistischen Fraktionen – die sich indes im allgemeinen ebenfalls nur auf Protestaktionen beschränkten – führten Exekutivorgane, Delegierte, Referenten und Debatter ihre Anschauungen und Vorschläge mit solcher auf den gegebenen, teilweise sogar schon überholten Formen der Wirtschaftspolitik fußender Argumentierung durch, als ob zum Beispiel Moskau gar nicht die Realität wäre, die es in der heutigen und künftigen Weltkonstellation vorstellt und zu sein berufen ist.
Die Menschen, die hier den Aufbau des verheißenen Landes vorbereiteten und schon besorgten, zum größten Teil Menschen aus praktischen Berufen, bewährte, erfolgreiche Organisatoren, Persönlichkeiten von anerkannter Macht und Einfluß, nahmen eben das Gegebene und Gewohnte als Ausgangspunkt und lehnten es ab, sich von Zukünftigem ablenken und beeinflussen zu lassen, mit dem zu operieren sie in ihrem Berufskreis nicht gewohnt waren.
Die Mannigfaltigkeit der Probleme schien, wie erwähnt, verwirrend. Die Reihenfolge, in der ich etliche wenige hier herausgreifen will, soll gerade in ihrer vom Zufall, nicht von der Logik, eingegebenen Buntheit ein Bild von der schier unübersehbaren, auseinanderquellenden Fülle des Materials geben, das zu klären und zusammenzustimmen war und das der Kongreß – auch dies wurde bereits angedeutet – nicht restlos zu klären und zusammenzustimmen vermocht hat. (Vielleicht gerade darum, weil ihm der Wille fehlte, jenes Zukünftige mit in den Bereich seiner Erörterungen zu ziehen. Wohl auch aus dem Bewußtsein der Abhängigkeit Palästinas von der schwankenden Orientpolitik des britischen Imperiums.)
Da ist die Frage der Immigration – des begüterten westlichen Einwanderers und des Pioniers, des Chaluz aus dem Osten des verelendeten Europas – eine im tiefsten Wesen religiöse Frage, diese Frage des ostjüdischen Einwanderers! Wie sollte der Einwanderer, der sich selbst zu erhalten vermag, der von der Valuta Gesegnete, dem Armen, Elenden gegenüber bevorrechtet sein, den man vor allem ins Land bringen, beschäftigen, aus dunklen Winkelberufen, Versteck und Verlies unter die alte Sonne des Orients führen muß! – Das ausgesprochen nationalistische Streben, das in der neugewonnenen Heimat einen Kampfplatz vorfindet, auf dem es sich mit dem sozialistischen Experiment bis zur kommunistischen Gruppensiedlung zu messen hat. – Die Rückwirkung Palästinas auf die Diaspora, die Wirkung des erstarkten religiös-nationalen Bewußtseins der gesamten Judenheit auf die verstreuten Glaubensbrüder in den Ländern des Galuth, des Exils. – Das überaus wichtige Problem der zweiten Generation, der Söhne der frühen, aus religiösem Antrieb Eingewanderten, die sich bereits zu emanzipieren begonnen haben, in Paris studieren, in denen sich die religiöse Inbrunst der Pioniere nicht erhalten hat, gesammelte Energie in weltlich-westliche Bahnen abschweift. – Das Problem des Sichbehauptens inmitten der arabischen Umwelt. Das Problem der Wehr gegen die feindliche Übermacht und das Problem der diplomatischen, freundnachbarlichen Verträglichkeit mit dem eingeborenen Volksstamm. – Damit im engsten Zusammenhang das Problem, auf welche Art die Einwanderung verstärkt werden könnte? Wie man die ersten hunderttausend, die erste Million Einwanderer nach Palästina bringen soll, um damit das jüdische Palästina gegenüber dem mohammedanischen zu stärken. – Dann die Versöhnung der Gegensätze, die sich in den aus dem sozial erweckten Osteuropa kommenden Einwanderern gegenüber den an alten Riten und der Tradition fanatisch festhaltenden Orthodoxen bemerkbar macht. – Soll privatkapitalistischer Initiative Spielraum geschaffen werden? Wie können die Tendenzen des amerikanischen Wirtschaftsimperialismus paralysiert werden? Wird die Not des wirtschaftlichen Aufbaus das Geistige nicht überschatten, das doch den Grund des Problems Erez Israel bildet? – Das sind nur einige Exempel; aber es ist aus ihnen schon zu ersehen, welches Wirrsal einander widerstrebender Motive den Kongreß belastet. Zuweilen konnte man sich aus dem Gestrüpp nur durch die Berufung auf Theodor Herzl heraushauen, genau wie man das in Moskau mit Marx macht, wenn man von der vorgeschriebenen Linie allzuweit abgeirrt ist. Wie Marx ist Herzl durch die Entwicklung überholt. Doch ist Herzl, auch was seine Autorität und Kraft als Nothelfer betrifft, ungefähr der Marx des Zionismus geblieben.
Palästina muß unter den gegebenen Verhältnissen, man könnte sagen, von der Hand in den Mund leben. Die Gemüter der Parteien, die ja in der Erkenntnis einig sind: daß dem armen Ortsjuden, dem kleinen elenden Handwerker, Arbeiter, Proletarier der Weg ins Land der Verheißung geebnet werden soll, erhitzen sich bei der Erörterung der finanziellen Nöte, mit denen der werdende Staat heute noch bedenklich zu kämpfen hat. Zwei große Fonds sollen die Palästinaarbeit stützen: der Keren Kajemeth, Nationalfond, der zum Ankauf von Land bestimmt ist, und der Keren Hajessod, der Kolonisations- und Immigrations-, das heißt Aufbaufond, aus dem ebenfalls ein wesentlicher Bruchteil dem Nationalfond zufällt. Der Keren Hajessod soll nun durch eine freiwillige Selbstbesteuerung, die die Zionisten sich auferlegen, ins Ungeheure anschwellen und das Land Palästina den Juden wirtschaftlich erobern helfen. Der Kongreß nahm mit Begeisterung den Antrag an, daß Grundlage dieser Selbstbesteuerung der alttestamentarische Maaßer bilden soll – der Zehnte, von Vermögen und Einkommen, den jeder Zionist in der ganzen Welt zum Keren Hajessod beizusteuern hat.
In dem verfallenden Gebilde dieser heutigen Welt, die so gar nicht verenden will, kann man solche Entschlüsse nur mit Rührung vernehmen. Der Zehnte! Wie viele arme polnische, österreichische, deutsche, ukrainische Vermögensfragmente wird die Börse, der Kurszettel zerreiben und in den Wind blasen. Die Hoffnung Palästinas bleibt der Dollar, der Sterling; der valutastarke westliche Zionist muß – ein Wort, das des öfteren in der Debatte gebraucht wurde – der hoch zu bewertenden Seelen-Valuta des Ost Juden zu ihrem Rechte verhelfen!
Das Problem der Bebauung, Bewässerung, Aufforstung Palästinas, die Erörterung der Kolonisationssysteme, die zum Teil sich bereits bewährt haben, zum Teil noch im Stadium des Experimentes sich befinden, zum Teil schon fallen gelassen wurden, die Erörterung aller Probleme städtischer und landwirtschaftlicher Kolonisation, rief manche schwere Kontroverse im Plenum und in den Kommissionen hervor. Intensivierung des bebauten Bodens, die von den noch zu schaffenden Irrigationsanlagen bedingt ist; diese, die den Bau von Straßen zur Voraussetzung haben; der Straßenbau, der wiederum das Herüberschaffen von Arbeiterpionieren voraussetzt – all dies belastete und beängstigte die Kommissionen, nicht zuletzt die Budgetkommission. Die Pioniere müssen in Zelten leben, bis sie sich ihre Häuser selber gebaut haben. Diese Häuser aber können erst gebaut werden, wenn der Boden gekauft ist; Gartenstädte, Musterfarmen, Obstplantagen, Wälder müssen erstehen …
Ein ukrainischer Delegierter sagte: man ebne unserem Chaluz, unserem Pionier bloß den Weg nach Erez Israel – einerlei, wie er das Land und die Verhältnisse dort vorfindet. Er wird sich schon halten, er hat sieben Jahre in der ukrainischen Hölle gelebt, er hat keine Angst, man ebne ihm bloß den Weg. – Sätze von solch biblischer Wucht und Glaubenskraft konnte man auf dem Kongreß oft vernehmen …
Unter den Chaluzim, zumal den jüngeren Ansiedlern, sollen heute schon Gruppen aller Richtungen zu finden sein; von jenen, die nach hergebrachter Art und unter den hergebrachten Formen der Wirtschaft beisammen leben und ihr Land bebauen, bis zu den aus den Quellen der neuesten Erkenntnis gespeisten Gruppen, die sich in Experimenten utopischer Zukunftsgemeinschaft zusammengefunden haben, mit dem Land zugleich ein Ideal aufbauen, es vor die Welt hinstellen, weithin sichtbar auf dem uralten Boden der Legende.
Da der Nationalfond das aufgekaufte Land unter die Pioniere verteilt, kann ein Landproletariat nicht entstehen. Die besten und fruchtbarsten Gebiete sind Besitz einiger erbeingesessener arabischer Familien; die Konjunktur treibt die Preise des Bodens in die Höhe. Aber die kleinen jüdischen Inseln in dem großen arabischen Meer müssen sich um jeden Preis vergrößern, um standzuhalten – die Masseneinwanderung und die Ansiedlung der Massen ist Notwendigkeit.
Um diese wichtige und verhängnisvolle Frage: wie sich die geringe Zahl der Juden in Palästina inmitten der großen Übermacht der sich gegen jüdische Einwanderung sträubenden Araber zu verhalten habe, wurde (hinter den Kulissen) ein harter Kampf ausgefochten.
Im Plenum berichtete ein polnischer Delegierter in einem knappen Satz: er habe seine Söhne nach Palästina geschickt, jetzt schrieben sie ihm, wie sie sich nachts mit Messern und Stöcken gegen Araberbanden zur Wehr setzen müßten, die es auf die einsamen Farmen jüdischer Siedler abgesehen hätten.
Der Kampf ging erbittert und hartnäckig hin und her – zwischen den Befürwortern eines jüdischen Heeres, einer regulären jüdischen Wehrmacht und denen, die eine solche Wehrmacht für politischen und moralischen Nonsens erklärten – den Arabern wie den Engländern gegenüber.
Sicherlich ist die große Gandhi-Bewegung in Indien, die Hindus und Mohammedaner zu einer gewaltigen englandfeindlichen Einheit zusammenzuschmieden sucht, für die Haltung Englands in bezug auf die arabische Stammbevölkerung und die jüdische Einwanderung in Palästina bestimmend. Die Schwankungen der englischen Orientpolitik haben sich auf dem Kongreß in mancher Phase der Verhandlungen bemerkbar gemacht – oft schillerte Erez Israel wie eine Seifenblase – erregter Hauch trieb das luftige Gebilde im Saale herum – dann aber lösten gleich die nüchtern praktischen Erörterungen der Aufbauer dieses Landes diese Sorgen ab, die sich der Versammelten bemächtigt hatten, und alles bekam wieder das Aussehen der Selbstverständlichkeit und gewährleisteten Dauer. Auch das staatsmännische Geschick und die diplomatische Schlauheit der beiden obersten Männer der Exekutive lenkten behutsam an mancher gefährlichen Klippe vorbei, wo es nottat.
Wie um diese Frage: Armee oder Miliz? wurde um die Frage: orthodoxe Bräuche der Tradition oder freiere Formen heutiger Gemeinschaft in Palästina? heftig gestritten. Die orthodoxe Partei der Misrachi brachte eine wilde Bewegung in die Massen, als sie die Forderung aufstellte, daß in den öffentlichen Institutionen, besonders in denen der Arbeiter, die rituellen Speisegesetze, Einhaltung der Feiertage und eine Kontrolle über religiöse Pflichterfüllung durchgeführt werden möge. Die sozialistischen Parteien, Poale Zion, Hapoel Hazair, die sozialistischen jungen Arbeiter Palästinas schnellten in die Höhe, und es gab harte Worte hinüber und herüber, besonders nach der Drohung der Misrachisten: daß sie im Falle der Ablehnung ihres Antrags zum Keren Hajessod nichts beitragen würden. Ähnlichen Sturm erregte ein Antrag: die Mitglieder der Exekutive (und des Aktionsausschusses?), die des Hebräischen etwa noch nicht mächtig wären, sollten innerhalb eines Jahres das Versäumte nachholen – worauf die erwähnten sozialistischen Parteien die Aufforderung an das Präsidium richteten: die Verhandlungen des Kongresses sollten nicht hochdeutsch noch hebräisch, sondern im Jiddisch geführt werden, dem Jargon, in dem ja die meisten nationalzionistischen und sozialistischen Zeitungen der Judenheit geschrieben sind. So stießen fast in allen Fragen zwei Welten aufeinander, die konservativ orthodoxe, die noch von Mizraim her datierte und vom Recht des Steuerzahlers sprach, und die neue sozialistische, die das Recht des Menschen aus der Zukunft religiös-ethischer Utopie schöpft und erkennt.
Betrüblich blieb dabei die Behandlung der Kulturprobleme, der Budgetposten für die Bibliothek in Jerusalem, die Universität, die Schulen und die Pensionsansprüche der Lehrerschaft in Palästina. Man darf wohl sagen, daß die Art und Weise, wie Rechte und Linke diese wichtige Angelegenheit erledigte, die schwerste Enttäuschung an der gesamten Arbeit des Kongresses bedeutete. Die verhältnismäßig geringe Beachtung, die die Kulturinstitutionen des palästinensischen Zionismus erfuhren – die doch enger mit dem Gedanken der alten Verheißung zusammenhängen als die meisten der breit und umständlich erörterten wirtschaftlichen Fragen, für die die weitestgehenden Ansprüche an die Finanzkommission gestellt und durchgesetzt wurden, mußte befremden.
Ein hochkultiviertes Volk sieht sich plötzlich in ein Land versetzt, dessen Kultur erst geschaffen werden soll. Wie müssen die Männer geartet sein, denen dieses ungeheure Wagnis obliegt, die den Aufbau einer ganz neuen Gemeinschaft zu vollbringen haben, auf dem schwankenden Boden der Verheißung?
Wem das Glück zuteil worden war, das elementare Erlebnis: Sowjet-Rußland mit Herzen und Hirn aufzunehmen, dem mußte in Karlsbad die überraschende Parallele Moskau-Zion zwingend zum Bewußtsein kommen.
Unsere im Entstehen begriffene, im tiefsten Wesen utopische Kultur wurde von deutschen Seher-Philosophen vorbereitet, wird von deutschen Praktikern, Organisatoren gefestigt. An der Spitze der Bewegungen aber sehen wir die genialen befreiten Ostjuden ungestüm vorwärtsdrängen. Der Führer des heutigen Weltzionismus ist der Russe Professor Weizmann, die obersten Männer der Exekutive sind die Russen Sokolow und Ussischkin. Sie bilden mit den Organisatoren und Aufbauern Palästinas Ruppin, Lichtheim, den Deutschen, eine Einheit, die von der Internationale der Welt Judenschaft anerkannt ist. Denn es gibt außer der Internationale Rom, der Internationale Moskau heute nur noch diese dritte, die Internationale Zion, die weltliche Macht aus den Wurzeln der Religion entfaltet.
In den großen religiösen Zentren Moskau, Jerusalem ringen sich Zukunftsgebilde neuer Glaubensgemeinschaften ans Licht. Der fünfzackige Stern der Sowjets, der sechszackige des Davidsschildes vereinigen ihr Licht mit dem Schein des Sterns, der über Bethlehem stand. Alle drei leuchteten und leuchten den Ärmsten, den Verfolgten und Entrechteten zu Häupten. Daher stammt die Helle, die in die Zukunft weist.
Darum auch die mehr noch geahnte als ausgesprochene Sicherheit: daß das Problem Palästina, so sehr es von aktueller Machtpolitik, Wirtschaftsverkettungen bestimmt zu sein scheint, doch letzten Endes nur im Rahmen der großen allgemeinen, der weit- und menschheitsbefreienden Bewegung dieser Zeit definitiv gelöst wird, nicht vereinzelt und isoliert. Seine Bedingungen wurzeln zu sehr im gemeinsamen Motiv des Glaubens an das Recht der unterdrückten Völker, Klassen, Rassen und Individuen, an die Gerechtigkeit, die sich heute unter Krämpfen und Erschütterungen Bahn zu brechen beginnt.
Wie Lenin hatte Weizmann nur wenige Menschen hinter sich, als er, sozusagen auf eigene Faust, unbekannt und glaubensstark das Gebilde Zion aus seinem Hirn neu emporhob. Als er aus dem Dunkel hervortrat, gewahrte man plötzlich den von seinem Land ausgestoßenen genialen Menschen, der sich der Zukunft mit entschiedenem Griff bemächtigt hatte und dadurch die Faktoren der Gegenwart mit souveränem Willen für seine Idee dienstbar zu machen vermochte …
Daneben Sokoloff, kühl, klug, Diplomat, in Wesen und Wirkung an Tschitscherin gemahnend.
Eine pittoreske und widerspruchsvolle Gestalt, ein junger, von den Ideen des Militarismus besessener Jude, mit höchstem Ausmaß von Intelligenz und Fähigkeiten begabt: Wladimir Jabotinski, den die einen den Trotzki, andere den Garibaldi, den Cortez, d'Annunzio, den Bramarbas des Zionismus nennen – er unterliegt in seinem Löwenkampf um die Errichtung einer jüdischen Armee der vergeistigten Kraft Martin Bubers.
Buber selbst tritt in den Handlungen des Kongresses nur wenig hervor. Seine Macht über die jüngere Generation ist eine außerordentliche; er ist einer von den wichtigsten Führern, die sich aus lähmender Ideologie zur praktischen Politik durchgearbeitet haben.
Eine wunderbare Figur: Dr. Schmarja Lewin, jüdischer Abgeordneter der ersten Duma, von Wilna gewählt, heißer Redner von hinreißender Gewalt, Jesaja auf der Wanderschaft durch die Welt, um für den Zionismus, den Keren Hajessod zu werben, setzte sich auf dem Kongreß für den Plan einer mächtigen Propaganda ein, die von Jerusalem ausgehend, sich der Judenheit in allen Ländern des Exils geistig bemächtigen sollte. Ahasvergleich, ohne Heim, ohne Anhang, wandern Männer wie dieser von Leidenschaft, Glauben und dem Bewußtsein der unmittelbar zündenden Wirkung der Utopie auf die leichterregbaren Massen durchströmte Ostjude durch die Länder der Diaspora, arbeiten für den Aufbau des Landes, das sie höchstens flüchtig streifen auf ihrer Wanderung, in dem sie selbst nie Fuß fassen werden!
Und daneben die seßhafte, eingebürgerte und umsichtige Kraft Arthur Ruppins, der den Aufbau Palästinas an Ort und Stelle, in Jerusalem leitet – ein Prophet nicht minder wie der andere, eruptive Gewalt, gebändigt durch den steten, an der Wirklichkeit gestählten Willen. –
So arbeiten nebeneinander alle Spielarten des heutigen, seiner Fesseln ledigen Weltjuden: der Führer-Diplomat, der Großindustrielle, Großbankier, dessen Referat an Auf Sichtsratssitzungen in weltbestimmenden Konzernen gemahnt, der prophetische Eiferer und Jeschiwah-Gelehrte, von Nachtwachen über den geheiligten Büchern des Talmud gebleicht, der aus dem Dunkel dumpfen bessarabischen Ghettos emporgetauchte proletarische Revolutionär, sozialistischer Soldat der Friedensarbeit.
Überwältigend ein ganz neuer, noch nie geschauter Typus: der Freiluft-Jude, der aus dem Galuth nach dem Land Israel heimgekehrte Chaluz, ostjüdischer Kleinhandwerker, Kleinkrämer – jetzt Arbeiter im Feld, den Wäldern und in der Wüstenei, die zur Siedlung werden soll, ein scharfäugiger, gebräunter alttestamentarischer Krieger und Lehrer, Hirte und Schomer – der Wächter, der die Nachtrunde hält um den Rand der Niederlassung, nach Gefahren auslugt unter dem arabischen Himmel, die Herden und die Menschen hütet … die Ben Zwi, Elieser Joffe, Jabneeli, neue palästinensische Juden.
Junge Frauen saßen im Kongreß, Lehrerinnen aus Siedlungsschulen Palästinas, feine, geistige Stirnen, gebräunt von der Sonne des Orients, stillen Jubel in den gestählten Formen ihrer Glieder, nicht mehr die verweichlichten schweren Haremstypen des Ghettos, sondern Töchter Jephtas, mit Zymbeln gegen Sonnenaufgang tanzend, mänadenhaft die Locken schüttelnd.
Jiddisch – neben Hebräisch, Hochdeutsch und Englisch die Kongreßsprache, ist ein vertracktes Mischzeug aus halbverdorbenen Brocken nicht zusammengehöriger Elemente – schlechtem Hebräisch, schlechtem Deutsch, schlechtem Polnisch, schlechtem Russisch. Und doch – welche Prägnanz, draufgängerische Aktivität in der Verkürzung und Knappheit der Begriffsformulierungen! Als hätten alle Sprachen, aus denen dieser Jargon zusammengebraut ist, wie eine Olla Potrida im Kübel aus dem Hause der Reichen geschoben, für die Armen, die vor der Schwelle an Abfällen ihren Hunger stillen sollen – als hätten alle Sprachen ihre Quintessenz dieser Mißgeburt vererbt – so schlagkräftig hört sich zumal das Wilna-Kownoer-Jiddisch an. Jesaja und Jeremias möchte ich in jiddischer Übertragung lesen!
Man muß immerhin eine Neigung zur Heiterkeit unterdrücken, wenn sich plötzlich akademisch gebildete Leute, mit denen man sich eben noch im besten Hochdeutsch unterhalten hat, auf der Tribüne des Jargons bedienen, – und wenn nach ganz besonders überzeugenden Ausführungen eines Redners das überfüllte Haus in stürmische »Emeß«-Rufe ausbricht!
Auch dann kann Spott sich leicht regen, wenn die Anwesenden, denen die unleugbare und eminente Komik des Jargons gar nicht zum Bewußtsein kommt, in Gelächter ausbrechen – weil ein italienischer Delegierter irgendein hebräisches Wort mit dem singenden Akzent Neapels ausruft: »il masere« zum Beispiel, der Maaßer!
Jiddisch als Weltsprache hat seine unstreitige Gegenwartsberechtigung; Millionen lesen dieses Esperanto des internationalen Judentums; Zeitungen, Zeitschriften erscheinen in allen Ländern in diesem gemeinsamen Jargonidiom, die Stücke von Hirschbein, Pinski, Gordon, Asch spielt man in Minsk, Montreal, Kapstadt und Melbourne – aber es macht sich bereits eine an Macht täglich gewinnende Bewegung zugunsten des klassischen Hebräisch als Alltagssprache der Juden geltend. In Palästina soll es bereits große Siedlungen geben, in denen es ausschließlich gesprochen wird; Zellen der Bewegung sind in Amerika, in Lettland, der Ukraine, in vielen Ländern des Galuth vorhanden. Die Forderung, daß diese Sprache nach Jahrtausenden wieder die Sprache der Nationaljuden werden solle, schaffte sich auf dem Kongreß wiederholt Gehör und Geltung – trotz dem eifrigen Protest der sozialistischen Linken.
Die Arbeiten des Kongresses hielten die tausend Menschen oft bis in die späten Nachtstunden beisammen. In den Pausen der Verhandlungen konnte man sich dann das Kurpublikum der Mühlbrunn-Kolonaden und auf der Alten Wiese ansehen. Und die bestimmende Wahrnehmung verzeichnen und sich aufschreiben: daß man, erfüllt vom Erleben des auf stärkste geistige Werte gerichteten Kongresses, diese von der Sorge um das werte Befinden nach Karlsbad getriebene Kurbourgeoisie kaum mehr ertragen konnte. Pupp und Schützenhaus – zwei Welten. Karlsbad ist ja, wie ein Genosse sagte, ein Ort, aus dem ein Sprudel für alle Welt in die Höhe schießt; aber die Menschen haben solange Häuser, Hallen, Kurtaxen um ihn herum gebaut, bis sich nur der auf den Höhen der Menschheit wandelnde Schieber den Genuß dieser Heilquelle gestatten konnte.
Merkwürdigerweise überwog das Publikum aus den sogenannten valutaschwachen Ländern, aus denselben, die die Chaluzim nach Palästina senden müßten. Man hörte gerade genug Ungarisch und Polnisch reden, um sich seine Gedanken darüber machen zu können: wie gut sich aus den verelendeten Ländern noch Profite für Kurtaxen und überquellende Doppelkinne herausschlagen lassen.
(Willkommen kleiner, neben dem Sprudel in die Bergwand eingegrabener Laden mit versteinerten Rosensträußen, buntsteinigen Briefbeschwerern und Zuckerdosen im Schaufenster – – Erinnerungsklang aus der fernen Kindheit: Tschammerhöll!!)
Der Kongreß dauerte lange, und schließlich glitt er im Eilzugstempo, wie über einen Abhang, über die abschüssigsten Fragen und Probleme dem Ende zu.
Am zwölften Tag, um drei Uhr nachts, nach den Ansprachen der Führer Sokoloff und Weizmann, standen die Delegierten da und sangen die jüdische Nationalhymne. Dann ging der Kongreß auseinander; 41 Nationen kehrten heim in die Länder des Galuth, des Exils, aus dem sie gekommen waren.
Aus einem Nebenraum des großen Theatersaals des Schützenhauses, einer Art Bar, scholl indes noch weiter Gesang.
Die Menge hielt inne vor den Ausgängen, strömte dort hinüber, sammelte sich um eine Gestalt, die unter der niederen Decke, von den grellen Glühbirnen hell beschienen, mit emporgeworfenem Kopf, geschlossenen Augen dastand und sang. Ein Chaluz, einer von diesen wunderbaren Pionieren Palästinas, breitschulteriger gebräunter Hirt oder Ackerbauer von orientalischem Typus, in khakifarbigem Hemd, war es, der sang. Sein Gesang, langgedehnter Lockruf, tönte über die Köpfe der herumstehenden, lächelnd und andächtig Zuhörenden hinweg, wie über die Wüste hinaus unter dem arabischen Sommerhimmel, weite, unbewohnte Strecken lang, ein psalmodierender Singsang, aus ältesten Zeiten der Stammväter, Herden lockend, die Wächter am Rand der Siedlungen grüßend. Zauberhafte Gewalt strömte über die Herzen weg, Verschüttetes, Halbvergessenes erwachte, schlug Augen auf …
Noch während er sang, ertönte aus einem Winkel des weiten Raumes ein anderer Gesang, stampfender Rhythmus, erstarkend, erbrausend:
»… Jachallille Jammaleh
Jachallille Jammaleh …«
Dort tanzten junge Menschen, Jünglinge, Mädchen, halbe Kinder noch einige, aber auch Alte, Weißhaarige unter ihnen, ganz frei, heiter, mit gelösten Bewegungen, der Rhythmen ihrer befreiten Muskeln sich freuend, einen seltsamen orientalischen Reigen. Sie faßten sich an den Schultern, wiegten sich, drehten sich, schlangen den Reigen immer rascher, immer rascher im Kreise …
Dann befiel diesen und jenen Tollheit, Verzückung. Der Kreis löste sich. Plötzlich war es nicht mehr der Orient, nun war es Podolien, Wolhynien, Wilna, Kischinew, Odessa. Jetzt waren es russische Weisen, russisch-jüdische Gesänge, Tanzrhythmen, ein Tanz wie die Kamarinskaja, ein Kosatschok, aber mit dem Text:
»hej, hej – Megillah!«
und
Arme verschränkt, stampfende Stöße gegen die Erde, in den Knien sich werfende Schritte, verzückte Gesichter, Stirnen, zugepreßte Lider zur Decke, zum Licht hinaufgebogen. Und einen Augenblick später der ganze weite Raum, all diese Menschen wie besessen tanzend, singend, sich umarmend und mitreißend – nach den harten und ernsten Kämpfen des Kongresses, im Angesicht ihrer werdenden Welt, die schon Formen und Umrisse der Wirklichkeit angenommen hatte – einer werdenden Welt der Zukunft, die noch zu schaffen war und die schon in ihnen ruhte, wie in uns allen – diese verzückten tanzenden Menschen …
Einer jungen Frau, die neben mir steht, sage ich: »Das nenne ich mir einen fröhlichen Galuth!« Die Frau, die mich für einen Amerikaner hält, antwortet mir auf Englisch: »They are all coming from Erez Israel!« … darum sind sie froh – es sind die Jungen, die Heimgekehrten; sie alle sind von drüben, aus dem Land der Verheißung!
Bald werde auch ich euch sehen, ihr Leute vom Kidron, von Kinereth, Rechoboth, Rischon le Zion!
Kleines Land, glühend unter der Tropensonne, ich habe dich gesehen.
Kahl und arm ragt deine Küste aus dem blauen Meere auf. Wo einst Kanaan, Saron, die Gärten, die Haine, die Wälder, wo wogende Wiesen dufteten, tritt der Fuß auf Steingeröll, versinkt er in schwerem Morast. Mühsam ringt der Siedler, der Fellahknecht, der junge starke Erbauer des Landes um jeden Fußbreit Ertrag, um Notdurft des Lebens, kärgliche Frucht. Aber schon sprenkeln farbige Oasen, goldengrün die Orangen, rötlich das Getreide, silbergrau die Eukalypten und die Ölbäume das erwachende Land der Urväter.
Du kleines Land, aus deinen Tiefen stieg der große Adler Gottes auf über die Schollen. Über den Bergen Judäas, über Jerusalems Feste, über den Krippen, den Zelten, den Palästen und den Tempeln schwebte er, an den ungezählten Höhlengrotten rauschte sein Flügel, wo im Berginnern blindgewordene Einsiedler sich vor der Welt verborgen hielten – blindgeworden für die Welt, sehend und offenäugig für die Wunder des dunkel verborgenen Willens in den Tiefen.
Mit wilden Fittichen kreist Gottes großer Adler über den Bergen, den zerklüfteten, über den zerstörten Feldern. In breitem, schweifendem Flug braust er vom blauen Meer zum bleiernen Toten, vom Sinai zum Libanon, wild weht der Fittich des Unendlichen durch die sonnezitternde Luft, unter der die Quellen lieblich singen.
Mein Stock aus Olivenholz stützt die Last meiner schweren Schritte, wenn ich auf der Ebene, in den Bergen haltmache, den Blick empor zum ungeheuren Vogel gewandt, um seinem geheimnisvollen Flug von Orient zu Okzident zu folgen, von Süd nach Norden, seinen Kreisen höher, höher, bis er eingegangen ist in den glühenden Strahlenkreis der Sonne mir zu Häupten – Gottes Sonne, Mutter der Mythen.
Wo bin ich dir nicht begegnet, Adler des Heiligen Landes, wilder Gast der Ewigkeit! Über Zions Burg und Davids Turm sah ich dich fliegen; im Sturm um die Höhen des mystischen Karmel, von Genezareths Flut aufsteigend, nahmst du deinen Weg nordwärts gegen Galiläa, südwärts zur Talsenke des Jordans.
Wo hast du dein Nest, in Mizraims Pyramidenstadt, in Damaskus' Torweg? Gileads und Moabs Bewohner, Schrecken der Jäger Samarias, hoher Geist des Abendpurpurs über dem Ölberg vor dem Erlöschen in Nacht und Wesenlosigkeit! Adler des Menschengeschicks, wo nistet deine Brut? Unwandelbarer Flügel über der Folge versinkender Weltäonen, Taten und Träume, Aufgang und Niedergang von Königen, Propheten, Aufrichtern und Zertrümmerern der Tempel!
Lieblich sind deine Frauen, o Bethlehem und herrischer Stolz ist über die Brauen des bärtigen Scheichs gelagert, der auf Pilgerwegen der Karawane gegen Bershebas Wüstenhügel zieht.
Schöner als alle aber bist du, Sohn der ukrainischen Steppe, Chaluz, weit Hergekommener. In dein Land Israel bist du gezogen, gehorsam dem unauslöschlichen Befehl deines alten Blutes, das erneut in Hoffnung und Zeugungskraft durch deine zukunftsträchtigen Adern braust. Schön bist du, Mädchen Judas, Tochter der fränkischen Stadt, der alten, kleinen, die du verlassen hast, um deinem fernen unbekannten Gefährten in den Zelten Israels Geliebte, Mutter, Gefährtin zu sein.
Starke Faust führt den Pflug, zarte Hand pflanzt den Schößling; wenn am Abend nach dem Arbeitstag starke Hand die zarte berührt, wiegt die alte Erde Urväterlandes in ihrem fruchtbaren Schoß den neuen Erlöser des ewig sehnsüchtigen, ewig hoffenden Volkes.
Hermons Kuppe leuchtet von fern her über die schlangengleichen Wege Galiläas. Der schneeige Wipfel des hohen Hermon weht dem schweratmenden See Galiläas Kühle zu, sternigen Trost in der brütenden Dämmerung.
Tabor, runder Rücken, über den die liebkosende Hand des Ewigen strich – Tabors Welle erhebt sich sanft wie ein Seufzer über die Einöde der grenzenlosen Ebenen. In Tabors Ebenmaß drückt sich die harmonische Lust des vollendeten Schöpfungswerkes aus.
Karmel, o Karmel! Deine Reben, der Wald um deine Hütten! Wie bärtiger Mund stößt dein grottendurchfurchter Hang dumpfe Wehklage aus über das schweigende Bereich der tief zurückweichenden Küste Syriens zum Libanon. Das Getier der Urzeit verbirgt sich in den Falten von Karmels wehendem Kleid. Karmels Steine lehren den Betrübten die Weisheit uranfänglich verwirrten Sehersinnes. Weither rollen die Wogen an Karmels Hang heran. An Karmels feuchte Hänge klammern sich Muscheln – sie tragen geheimnisvolle Zeichen, von wenigen erst ergründet. Moabs Gletscher aus Sand! Wann trug Moab die traubenförmigen Büschel blauer Moränen? Von weitem nur durfte ich die Sandberge Moabs erblicken, Grenzen meines Landes, Schutzwälle vor dem drohend Unbekannten. Mit seinen tiefen Furchen wie Runzeln eines erloschenen Gesichtes, nachdenklich zum Land der Menschengläubigkeit geneigt, blickte Moab schon auf die Wanderung der Stämme, die sich vor den Ufern des Toten Meeres zerstreuten.
Du Berg Gilboa! Presse deine Felsen zusammen! Geist Josuas! Schleudre den Fels gegen den schleichenden Widersacher, wenn er auf krummem Pfad durch die Ebene kreucht zur nächtlichen Stunde, die stillen Hütten der Arbeiter meines Volkes zu überfallen. Presse die Flanke des Gebirges, daß Steingeröll niedersause, den Pfad verschütte, erschlage den schleichenden Widersacher meines Volkes! Traubenhügel um Hebron – alle Farben des zauberhaften Orients glitzern auf in dem Geschmeide des seligen Ortes. Im Brunnen perlt der Schaum des tiefen Wassers. Kristallen rauscht die Quelle aus den Gebeinen der Stammväter. Saras, Rebekkas, Leas Lieblichkeit strömt in dem klaren Brunnen des Hügels der Schönen, el Chalil! Schönheitsmal ist die Stadt unter dem Busen Mamres; treuer Wächter auf dem Wege zum Schoß der Menschheit, Hebron, bist du, Schönste in Israel!
Ölberg, o Berg der Berge – wie oft schritt ich über den Weg, der empor zu deinem Grat sich windet. Aus Achat und Onyxgestein sind deine Wege, steingebettete harte Wege; unter den heiligen Gedanken des Wanderers wandelt sich niederer Kies zu herrlich glänzendem Gestein. Zwischen Mauern von Edelsteinen führen Wege empor zum Grat, hinter Mauern verbirgt sich unvergängliche Erinnerung. Hart sind deine Pfade, o Ölberg, deine Bäume hell. Rote süße Frucht schillert und schwillt auf deinen schweren Kaktusstauden, süß und leuchtend heißes Fleisch der Frucht und läßt guten Geschmack auf der Zunge zurück. Trauern und nachdenklich sein lehrst du, Ölberg ob der Stadt. Die süßen Tropfen deiner reifen Früchte fallen wie Blut mit der salzigen Träne nieder auf den opalen schimmernden Pfad, nieder auf die geheiligten Edelsteine der göttlichen Spur. Vom Grat des Berges überfliegt der Blick die geneigten Dächer, die ragenden Türme, Dome, Minarette der weißen Stadt, die aus Felsenklüften, Strombetten aufsteigende. Hinüber fliegt der irre Blick suchend, trunken, zum armen Hügel, dem zerbrochenen, gering geachteten und mißbrauchten. O jahrtausendelang verachteter und verkannter armer Hügel Golgatha! Kaum darf der Blick auf dir ruhen, kaum vermag er dich zu finden, zu erkennen, mäßig nur hebt sich dein zerrissener Hang, deine zerbrochene Flanke über die Mauerscharten des Tores, das nach Damaskus sieht.
Tief starren Löcher im gelblichen Steinbauch des zertrümmerten Hügels. Abergläubische meinen, das seien die Augenhöhlen der Schädelstätte. Sie ziehen den Blick an, die starrenden Höhlen. Über Berghang, Kidronschlucht, hellen Plan vor der Omarmoschee, über das geneigte Gewirr all der Dächer, den Wald glockenbehängter Türme sendet die sehnsüchtig weit vorgereckte Hand aus zitternden Fingerspitzen Strahlen der Liebe und des liebenden Verlangens, zart, doch sicher zu dir, winziger Hügel, winzig und zerbrochen, den Tränenflor der Jahrhunderte sichtbar umkreist. Zu dir, Hügelstätte der Toten, deinem zitternden schwachen Gestein strömt Sehnsucht unaufhörlich. Dein schwacher bröckelnder Stein schmilzt unter Regentau und zerrinnt wie schwaches wehes Fleisch des gemarterten Gerechten aller Ewigkeit.
In der Stunde meines Sterbens werde ich deiner gedenken, Jeruschalajim, Heilige Stadt. Wie ich einst in der Stunde meines ohnmächtigen Schmerzes durch deine teuren Mauern schritt, deine dunklen, schwermütigen, überdachten Straßen. Ich war ein betrübter Gast in deinen Gassen, Jeruschalajim, und nie bin ich zum Gebet eingekehrt in deine Stätten des Trostes und der Erhebung. Wohl rührte meine Stirn an die Quadern des Tempels, den mein Volk erbaut hat. Doch sie waren nur kalt und rührten mein Blut nicht zu stürmischer Schwingung auf.
Ein Eslein sah ich stehen an einen Ring gebunden, an kurzem Strick. Nahe bei der Mauer eines verfallenen Hauses stand es, silbergrau, mit zarten Füßen, gestoßen im Gewühl. Schwerbeladen mit schweren Säcken wartete es auf seinen Herrn. Schläge und Stöße der Vorüberhastenden brachten es für Augenblicke aus dem Gleichgewicht, doch es wankte nur, rührte sich aber nicht von der Stelle. So lieblich war sein Haupt, silbern und durchsichtig zart sein junger Hals, so mild sein Auge, das auf den schmutzigen, grünlich vermoderten Stein niederblickte. Ergeben und hold neigte sich sein silbernes Haupt nieder zur Pflicht, zum Schicksal, zum Verhängnis alles Lebenden auf dieser verdüsterten Erde. Meine Lippen berührten das zarte Haupt des Tieres, des Lieblings der beladenen Seelen, des seligen Gefährten des gemarterten Menschen. Mit einem Kuß besiegelte ein Beladener, Beschwerter den göttlichen Bund aller leidenden Kreatur auf Erden, in vielerlei Gestalt.
Tauben fliegen über den lichten Plan um die Omarmoschee. Die blauen Mauern streifen sie mit ihren Federn, ihre Flügel sind eins mit dem Himmelslicht ob Morias Felsendom. Sie waren Zeugen, die hellen Tiere – auch ihr, sanfte gelbliche Kamele, melodisch Schreitende – der alten Sagen, der unsterblichen Legende der Schrift. Der Tiere Leben währt ewig, weil sie sich nicht erinnern können. Sie sind von Anbeginn, weil Niemand, weil nichts ihre Geburt, ihren Tod vermeldet. Tausend Geschlechter rollen ab um die unzerrüttbare Mauer des Tempels. Tausende wilder Menschenwellen, verzweifelter Menschenangesichte Brandung zerschellt an der unverrückbaren Unendlichkeit der Legende Moses, der Legende Jesus, der Legende Tamerlan, der Legende Chaluz. Sie aber, die Tiere des Orients, sanfte, bedrückte, stumme, leben ihren Tag und überdauern den wandelbaren Menschen.
Gegrüßt du rote Wolke in der Zauberstunde vor dem Dunkelwerden über der Heiligen Stadt. Auch du, Himmel, grüßtest mit kaum gewandelter Gnade auf die erkorene Stadt, die Himmelsstadt meines alten, ewig lebenden Stammes. Kommen und gehen sah ich die Röte ob Zions Feste. Mein Herz pochte wild und in schrankenlosem Jubel der blutgetränkten Dämmerung entgegen. Ahnend die Nacht, erquickte sich mein Auge an dem Horizont um die begnadete Himmelsstadt.
Blinde Jeruschalajims! Lebt ihr im Dunkel? O nein. Wir leben im Licht. Hell wallt der überirdische Glanz der Erzengel, unserer Brüder ohne Sinne in unsere körperlose Finsternis herüber. Mit tastendem Stab, eine Sure des Korans auf unseren Lippen, so schreiten wir den glitschrigen Weg durch die Basare zum Plan um die Omarmoschee hinunter. Im Niederknien auf den Stein reiben wir unsere Schläfen mit unseren empfindlichen Fingerspitzen, bis sie in allen Poren vernehmen das leise Flüstern der nahenden Gnade. Dann erst werfen wir uns nieder zum Gebet. Alle Sprüche des blau genannten Felsendoms tragen wir in unser Herz eingezeichnet, wir sind die Hüter vor dem Tor der geweihten Glaubensstätte. Herrlich verziert ist der Plan unseres inneren Tempelplatzes mit all den unvergeßlichen Reimen der heiligen Bücher unseres Propheten. Nicht Klage tönt der Bettlerruf des Blinden, der Schrei des in der Nische verborgenen, kauernden Aussätzigen durch die überwölbte Gasse der Heiligen Stadt. Wie Gebet des geweihten Imam, des gesalbten Priesters, ist der Ruf nach Brot des Blinden und des Aussätzigen, des heilig wallenden Armen durch die Gassen der Pilgerstadt.
Rufe erheben sich über Jeruschalajim, Klang, zitternd singender Ton, Verzückungsschrei und Schmerzgestöhn. Der Muezzin auf dünnem Minarett, der Glöckner auf hohem Belfried, das Spiel der ineinander schwingenden, durcheinander schwirrenden schweren und zarten Glockenklänge breitet über die Stadt ein Gewebe aus, unter dem die weißen nach Osten sich neigenden Dächer versinken. In Harmonien engelreiner Art entsühnen sie die tierischen Dünste des Menschengewimmels, trennen es ab von der seligen Wolke klaren Blaues in der durchsichtigen Mittagsstunde. Wie ein zarter Schleierhauch aus Millionen zitternder Tönefasern ist die magnetische Welle steter Andacht über Jerusalem gebreitet. Sie schwebt, linde gefächelt von der Strömung, die sie nie verläßt, und ist doch tief und sicher gebunden an das Erdreich, durch dämonischen Zauber an die spärlichen, von weinenden Stirnen blank gescheuerten Quadern der alten Mauern ewiger Klagen gekettet, tief in die Erde, den Felsengrund Jeruschalajims hinunterreichend, die Mauer des letzten Tempels, den Salomo erbaute und der unvergänglich und stumm in den Herzen des verstreuten Volkes verweilt ist durch die Jahrtausende und Jahrtausende in Ewigkeit.
Ich sah die Zelte und die Häuser des Friedens in den Ebenen und den Bergen. Bauen, Pflügen, Säen, Frucht vom jungen Baum sah ich pflücken überall in Israels neu erobertem Land. Frieden senkte sich mit jedem neuen Saatkorn in die Erde hinunter, Frieden war die Hand, die die Sichel führte über das neu bestellte Feld. Der Fluch des verlorenen Paradieses lastete nicht auf der Arbeit im glühenden Schweiß der geneigten Stirn, hell stieg Segen wie willkommener Rauch des Opfers aus Ackerkrume, sumpfentrungenem Boden, befreiter, heiterer Seele im neugewonnenen Land. Friede strahlte um jede Stunde des Tages, den Arbeit, jede Stunde der Nacht, die Lust und Schlaf füllten, um die Zelte und Wohnstätten der jungen Erbauer des Landes. Eingefriedet in dem Glück erfüllter Sehnsucht hegt das unruhvolle Herz die Sorge immer treueren Dienstes für das Land der Väter, der Kindeskinder Land. Wie Liebesgruß schallt der Friedensruf der Begrüßung von Mund zu Mund, wenn auf weiter Einöde, auf zerklüftetem Bergpfad Sohn und Sohn sich begegnet des alten Stammes. O strahlte doch Frieden wie Vogelruf, wie Zittern der dampfend gebärenden Scholle über diesem kleinen, armen, unendlichen Reichtum bergenden Land Palästina!
Doch ich sah auch Armageddon ausgebreitet, das Tal der Schlacht … Armageddon in Jesreels Wüstenei, Feld zwischen Meer und Gilboagebirg, eine weite Strecke, unkrautüberwuchert, von Sümpfen durchrieselt, spärlich nur bevölkert. Unaufhörlich braust durch die Lüfte ob Armageddon der Sturm der Geschichte. Alle Kämpferscharen um das Reich Gottes fahren unablässig durch den von keinem Widerstand abgelenkten Windhauch über das Tal Armageddons dahin, in dem ich stehe, lauschend zwischen Meer und Jordan, Sunem und Sile, Sichem und Nazareth. Denkend meines Stammes, meines Geschlechts, der Menschheit unendlichen, ununterbrochenen Dahinbrausens über die Erde gedenkend, wird es mir offenbar – – nie, nie wird der Sturm aufhören, verstummen ob Armageddon. Ewig fragend wird das Auge aufblicken zum Dom. Vergeblich das Auge Gottes suchen in der Höhe. Ewiges Armageddon! Roß und gepanzerte Schar, hinter wilder Feldmusik stürmende junge Leiber im Anprall, brünstig Tod suchend wie Begattung. Ewiges Armageddon … Volk sinkt um Volk in die Erde nieder, in das Erdreich des Tales, das sich höher und höher türmt. Des raschen kurzen Friedens Jahres Pflug stößt untief und tief, immer tiefer wieder auf Gebein, vermodertes Erdreich, fruchtbaren Humus aus Mensch, Tier, Erz und darunter abertausendmal Mensch und Mensch.
Klaget, ihr Mädchen auf den Ebenen des Ackerlandes Israel – Blut und immer aufs neue wird Blut die blauen Disteln der Felder färben, die ihr jätet, die ihr liebend bestellt im alten Land eures Kindheitstraumes, daß es Nahrung gebe für alle, die seines Friedens bedürfen in unruhigen Pulsen. Klaget, denn in eurem Schoß nährt vielleicht schon Armageddon seine Saat, die Brutstätte kommender Geschicke.
Jubelt, ihr Töchter Israels, eure Wimpern noch feucht von sibyllischem Tau – jubelt trunken im gliederlösenden Reigen des Sabbatabends.
Aufjauchzend mit Zimbelschlag über den Donner aus starken Männerstimmen im Chor, Arbeit, Freude an der Feierstunde, so bebt die Ebene, heute noch des Friedens, zu Häupten den Wolkenflug der Geschichte Armageddons, nicht in Israel allein, auf dem weiten Erdenrund! In die wilde Wolkenschlacht der prophetischen Atmosphäre braust, ewig wie der tragende Boden selber, der Tanzrhythmus des arbeitenden, hoffensgewaltigen Volkes Israel. Der Horizont ist zerrissen von rotem Blut aus zärtlichen Adern, die fruchtbarer Welttaumel durchpulst und wiegt. Rot ist der Horizont allüberall – über Judäas steinigen Bergen, Galiläas noch kahlen, hier und dort mit Oasen gesprenkelten Ebenen, über den uralte Zinnen tragenden Städten des Urväterlandes.
Wann reitest du, Reiter auf weißem Roß, golden umgürtet, von hohem Adler in den Lüften umkreist, durch das versiegelte Tor in die erlöste Welt ein! Wild und herrlich, ein junger, siegreicher Paladin des Ewigen!