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Tag der Barbaren

An einem wunderschönen Julimorgen ging ich die Uplandstraße Stockholms hinauf und klopfte an der Tür des Holländisch-Skandinavischen Komitees an. Es wurde mir aufgetan. In der Fensternische der Diele klapperte der lebhafte junge Sekretär von Camille Huysmans auf der Schreibmaschine das neueste Bulletin an die Presse herunter. Er warf die Hände in die Luft, als er meiner ansichtig wurde, rief munter: »Oh, guten Morgen! Heute geht's hoch her bei uns, es ist der Tag der Barbaren.«

»Der Tag der Barbaren?« fragte ich. Aber da wurde auch schon zwischen den Flügeltüren des Verhandlungszimmers der feine, melancholische Raubtiervogelkopf Huysmans' sichtbar, hinter zwei dunkel geschnittenen, orientalischen Köpfen, die sich feierlich verneigten. Es waren die Ägypter, die von der Zweiten Internationale Abschied nahmen. Ein Blick aus den verschleierten Augen des Belgiers flog zu mir herüber. Dann trat Huysmans auf mich zu und ich brachte mein Anliegen vor. Heute sollten ja die Delegierten des neuen russischen Arbeiter- und Soldatenrats hier vorsprechen, ich wollte ihnen einen Wunsch, eine Bitte vortragen. Ich teilte Huysmans mit, welcher Art diese Bitte wäre. Er versprach, mich vorzustellen.

»Aber Sie müssen Geduld haben. Es geht heute bei uns hoch her, viel Arbeit, es mag 1 Uhr werden, vielleicht ½2!«

Die Ägypter hatten sich empfohlen. Sie hatten soeben dem Komitee ihre nationalen Wünsche und Beschwerden vorgetragen. Drin im Saale verhandelte die Internationale jetzt mit der Delegation der demokratischen Partei Persiens, die mit ihren nationalen Wünschen und Beschwerden nach Stockholm gereist war. Nach den Persern sollten die revolutionären Inder an die Reihe kommen. Man schrieb 1917. –

Die Flügeltüren schlossen sich und ich saß in der kleinen, mit bunten Tellern und Spiegeln geschmückten Diele und wartete. Es klopfte und herein kamen: ein noch junger Mann mit prächtig wallendem Fächerbart, in herrlich weitem, bequemem Anzug, und ein schmaler bartloser Jüngling, grauen Gesichtes, mit asketisch verkniffenen Lippen und stahlscharfem Blick, wie ein proletarischer Student anzusehen. Es war die flämische Delegation, die Abgeordneten der flaminganten Flamanden.

»Bon jour!« rief ihnen der kleine muntere holländische Sekretär entgegen. »Vous arrivez bien! C'est le jour des barbares, aujourd'hui!«

Ich glaubte ein wenig Ironie in seinen Worten mitschwingen zu hören. Er war überarbeitet.

Die Flamen setzten sich mir gegenüber und betrachteten die Umgebung mit aufmerksamen Blicken. In einer Ecke stand auf blauem Postament eine schwarze Gipsbüste. Der Asket sagte nach einer Weile: »Lassalle!« Der Fächerbart nickte bedächtig und sah die Büste mit großen blauen Augen an. Die Büste aber stellte nicht Lassalle vor, sondern es war der Kopf Karls des Zwölften. Immerhin eine erstaunliche Ähnlichkeit: derselbe Mund, dieselbe ausladende Stirn, dasselbe Kraushaar. Der Kopf eines Genies, Welteroberers, eines Abenteurers und Menschenführers. Karl XII.: Lassalle.

Abermals öffneten sich die Flügeltüren und Hjalmar Branting trat heraus, »Genosse Branting«, mit ihm die Inder. Drin saßen nun die Delegierten der türkischen Arbeiterorganisation vor dem Komitee.

Genosse Branting grüßte die Anwesenden mit gemessener Verbeugung und einem raschen durchdringenden Blick seiner magnetischen Augen. Er trägt den Kopf immer ein wenig gesenkt, wie ein pflügender Stier. Alles an diesem Menschen spricht von Macht. Unter dem gewaltigen Schnauzbart verbirgt sich der Mund mit starken Zähnen zwischen fest geschlossenen Lippen.

Eine Viertelstunde verging; dann verschwanden die Flamen im gleichen Augenblick hinter den Flügeltüren im Sitzungszimmer, in dem die Abgesandten des Arbeiter- und Soldatenrats durch die Eingangstür hereinkamen. Sie gingen, vom Sekretär geleitet, ohne weiteres in das innere Bureau, und ich blieb allein in der Diele. Aber es dauerte nicht lange, da kamen die beiden Russen, der Genosse E. und der Genosse G. heraus zu mir. Camille Huysmans war mit ihnen. Ich wurde vorgestellt und nach meinem Begehr gefragt. Die Russen sprachen vortrefflich Deutsch. Sie hatten das wohlgepflegte und würdige Aussehen von selbstbewußten Dozenten. Ich trat in die Nische, stützte die Hand auf die Schreibmaschine und sprach:

»Ich möchte Ihnen einen Wunsch vortragen, eine wilde Idee, eine naive Phantasie. Aus Ihrem Land tönt die Parole herüber: Brüder! Wir alle sind Brüder! – nicht wahr? Die Kerenski-Regierung, die Sie hierhergesandt hat, war es, die den Ruf über die Welt hat hallen lassen. Vielleicht ist mein Wunsch gar nicht so wild; vielleicht muß ich mich der Naivität meines Begehrs gar nicht schämen. Vielleicht werden Sie's sogar ganz natürlich finden, was ich von Ihnen erbitte. Ich bin ein Feind. Ich wurde in einem Lande geboren, mit dem Sie noch Krieg führen. Aber das Wort: Bruder! war auch an mich gerichtet und ich führe es im Schilde. Ich will von Ihnen die Erlaubnis erbitten, die Grenze bei Haparanda überschreiten zu dürfen. Ich möchte einen Paß von Ihnen haben, um nach Rußland zu reisen. Jetzt mitten im Kriege und als Feind. Ich möchte ins Gouvernement Tula, nach Jaßnaja Poljana, zum großen Schatten Tolstois. Ich bitte Sie, gewähren Sie mir dies. Wenn Sie befürchten, ich könnte Sie belügen, ich hätte vor, zu spionieren, oder ich wollte gar aus dieser Reise nichts weiter herausschlagen als ein Produkt literarischen Ehrgeizes, dann sagen Sie mir bitte rund heraus: Nein. Ich kann es nicht ganz klar sagen, was ich will und beabsichtige. Ich glaube nur, es sei jetzt an der Zeit, zu Tolstois Grab zu wallfahrten. Für Freund und Feind. Ich denke mir, es wäre wunderbar, jetzt mitten im Kriege durch das große feindliche Reich zu Tolstoi zu wallfahrten. Es hätte wohl einen Sinn. Ich möchte es unternehmen. Ich bitte Sie, seien Sie mir dabei behilflich.«

Die Russen verneigten sich leicht, traten dann beiseite und sprachen einige Worte miteinander. Dann kam Genosse E. wieder zu mir, sah mir kurz in die Augen und senkte sofort den Blick.

»Ihre Idee ist sehr schön«, sagte er, »Ihre Absicht ist sehr schön. Wir möchten Ihnen den Gefallen gern erweisen und die Reise ermöglichen. Aber –« Er suchte nach einem Wort; ich merkte gleich, es war ein Wort, das er nicht leicht finden konnte. Es war wohl ein Wort, das im täglichen Sprachgebrauch nicht oft vorkam; ich vermutete gleich, ich würde ein selten gebrauchtes Wort zu hören bekommen, ein diplomatisches Wort. Ich sah den Mann an. Er sah in diesem Augenblick, mit seinem Gefährten, gar nicht mehr wie ein Dozent aus, sondern ganz offiziell. »– aber wir können Ihnen den Paß nicht versprechen. Es wäre nicht delikat gegen unsere Verbündeten.«

Verbeugung.

Aus dem Sitzungssaal kamen die Türken, die Perser, die Flämen. Huysmans trat zwischen den Flügeltüren vor; er neigte seinen melancholischen Vogelkopf auf dem langen Halse, lächelte ein wenig, als ich ihm das Ergebnis meiner Unterhaltung berichtete. Ich konstatierte in diesem Augenblick: dieser Mann ist im Grunde seiner Seele Künstler, Musiker, Mystiker, ein Mann der Harmonie, der reinen Weltordnung.

Verbeugungen nach allen Seiten. Die Schreibmaschine klapperte weiter an den Communiqués. »Au revoir!«

Einige Augenblicke später schritten ein paar kleine Gruppen, in größeren Abständen voneinander, die Uplandstraße im Mittagssonnenschein hinunter. Die Türken, die Perser, die Flämen, der Arbeiter- und Soldatenrat. Drüben auf der Schattenseite, in gemessenem Abstand von allen, ein einsamer Spaziergänger, ich.

Dies war der Tag der Barbaren: Juli 1917.


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