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Die Vlamen haben es gut, ihr Nationalheld trägt eine Schellenkappe, keinen Glorienschein auf dem Kopf, sie haben es besser als die Spanier, denn ihr Tyll gehört ihnen, Don Quijote aber aller Welt. Den edlen Junker haben die Bücher zum Narren gemacht, der Schelm Tyll aber ist ein Held geworden aus guten Gründen, die man im »Abfall der Niederlande« lesen kann. Von Gnaden der Inquisition brennt ihm Klasens, seines Vaters, Asche in einem Beutelchen auf der Brust, so zieht er nicht gegen Windmühlen aus, sondern gegen sehr wirkliche Unholde und Widersacher, die Schellen klingeln schließlich nur noch ganz schüchtern in das Eisengerassel drein. Es ist schade, daß de Coster, in dem schon das Zeug zu einem Cervantes steckte, seinen Tyll von der Geburt an nur bis ins Mannesalter begleitet hat; so fängt das Buch etwa mit Straußens Klarinettenpurzelbaum an und hört mit dem A-cappella-Chor von: »Wilhelmus von Nassauen« auf, aus den beiden Themen wäre eine schöne, weltüberwindende Orchesterfuge zu flechten gewesen, die den Greis Ulenspiegel ins Große Allgemeine gesteigert hätte. Dann wären wir statt um eine »nationale Bibel« um ein Menschheitsbuch reicher, noch dazu um eines, geschrieben von einem Heutigen, aus dem der heilige Unwillen in einer wilden, hiebsicheren und zeitgenössischen Sprache herausfährt wie nur aus den Größten des Zeitalters.
Aber de Coster lebte in den Jahrzehnten zwischen der Romantik und den Eisenbahnen und beschied sich im Historischen. Nur daß er, der Sohn eines kleinen Landes mit einer großen Kunst, seine Begeisterung im Stil der Meister seines Geblüts ans Licht bringt. Dem gewaltigen Aloysius Bertrand, an dessen »Gaspard de la Nuit« man sich manchmal erinnert, wenn man den Ulenspiegel liest, hatte es die Gotik Frankreichs angetan, in den kleinen, schroffen, mit der Faust konturierten Abschnitten, die Schlag auf Schlag das Buch de Costers aufbauen, tritt die Kraft all der drei Breughels zu Tage. Mit groben Schritten und gutklapperndem Mundwerk bewegen sich die treuherzigen und ungeschlachten Wesen in der gläsernen Luft des Verdronkenen Landes; einer Schänkenszene folgt eine im Escorial, und düsteres bengalisches Feuer leuchtet blau und rot um die Teufelsbraten Philipp, Carlos, Alba und Eboli; die Zartheit und heimliche Sinnlichkeit des Blumen- und Sammetbreughels ist gut zu spüren in einem und dem anderen ruhigen Bildchen zwischen Tollheit und Kriegslärm und Aberwitz, schweigsames Beieinandersitzen schildernd, Trauer, Genuß der Erinnerung, Stille; und übrigens ist jeder wundervolle Sommernachmittag darin, in dem Riedgras verlegen, in den Dünen zwischen Knocke und Gadzant, das Buch von Ruysbroeck liegt aufgeschlagen, draußen auf der See zerfließt die Vision eines weißen Segelschiffes mit gespannten Tüchern im Blau, dann die Abende beim Genever auf dem weiten ausgestorbenen Marktplatz, über den hoch oben das trocken abgehackte Geklingel des Glockenspiels wegzieht, es kommt aus dem alten Kirchturm, der wie ein umgestülpter Lederbecher braun und plump dasteht (unter ihm sind wahrscheinlich die Würfel dieses Landes gefallen), aus den bunt angestrichenen Puppenhäuschen blinkt Kupfergeschirr durch rauchiges Halbdunkel auf die Straße heraus, im Dunkeln wohnen Menschen mit uralten Gehirnen, in denen Himmel und Hölle durcheinander ist, die Menschen schweigen –.
Wohin soll man dieses Buch stellen? zum Shakespeare und Dante oder zu Dostojewsky und Hamsun? Sicherlich zu den zehn Bänden, die man bei sich haben will, wenn man nicht die ganze Bücherkiste mit sich schleppen mag. In diese gehören vielleicht die »légendes flamandes« und die »contes brabançons« hinein. Aber wie konnte das zugehen, daß man den »Ulenspiegel« erst jetzt, 40 Jahre nach seinem Erscheinen, in Deutschland (bei Diederichs) kennenlernt? Wie, daß der Dichter dieses ewigen Buches im Elend verderben mußte? Die Antwort gehört nicht her. Es wird einem heiß um die Augen, wenn man daran denkt, womit die Welt den Schenkenden belohnt. Ein armes Weib, das Gesicht vom Lupus zerfressen, war das einzige menschliche Wesen am Totenbett Charles de Costers.