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Der Leser schlägt das Buch auf, liest eine Seite, errötet, erbleicht: mea res!
Immer mehr wird der Tod der Inhalt von den Büchern der Dichter. Und das ist gut; was soll das Leben in ihren Büchern? Was wissen sie vom Leben? Was Leben ist, muß man schon suchen, anderswo in Erfahrung zu bringen. Und wenn es über ihnen zusammenschlägt und sie ertrinken darin – nicht einen Hauch von seinem Geschmack werden sie dir auf die Lippen streichen. Um die meisten aber steht es so, daß sie ganz und gar auf dem Trockenen sterben, auf einem Stück trocknen Stein stehn sie, und um sie herum ist die tiefe Ebbe. Stehts nicht um die meisten Menschen so, und sie wissen es nur nicht? Wüßten sie's, es möchten mehr von ihnen die Bücher der Dichter lesen.
Wie kommt einer zu seinem Tod? Woher des Weges schleppt er seinen Tod herbei, bis sein Tod so unmenschlich schwer geworden ist in ihm, daß er sich hinsetzen muß und ihn aus sich herausschälen, ihn von dem eigenen, sterblichen Unflat säubern und hinstellen in das Unabgegrenzte? Dieser hier ist den guten Weg gegangen, den geraden und sicheren, das heißt den Weg der Armut, Krankheit, Einsamkeit; dreimal Einsamkeit hingeschrieben nach den ersten. Sein Buch ist ganz voll vom Tod. Und als wäre es nicht genug, daß jede Zeile Licht von seinem Licht hat und phosphoresziert, preßt er da und dort in ein Wort den Tod noch so tief hinein, daß er gar nicht mehr herauskann und daß das Wort zu wimmern anfängt vor Schmerz. Ein Mensch wächst in seinen Tod hinein wie in ein zu weites Hemd, das dann bald paßt. Einer überbrüllt im Sterben die Glocken. Fliegen im Herbst »besterben« ein durchwärmtes Zimmer! Solche Worte erfindet man nicht, sondern kriegt sie vom Tod selbst. Der Leser läuft den Weg zurück, über den dieser da seinen Tod bis zu ihm hergeschleppt hat, um zu sehn, wann sein Tod denn in ihm geboren worden ist? Der Leser weiß gut oder hat es aus glaubwürdiger Quelle erfahren, daß der Dichter sich zeit seines Lebens von seiner Kindheit nährt, echtes Brustkind seiner Mutter, kein Ammenkind. Der Leser läuft so weit zurück, bis er die schaurigen Brüste entdeckt hat, aus denen der Tod hineingeflossen ist in die begnadeten Lippen. Malte Brigge macht es dem Leser nicht schwer, denn wo er nicht von seinem Jetzt erzählt, erzählt er von seiner Kindheit. Da steht der Leser vor ihr und möchte sie erkennen. Und weil ihm das nicht gleich gelingt, so stutzt er. – –
Malte Brigge sitzt in seiner elenden Hotelstube in Paris und schreibt Seiten in sein Buch über sein Damals und Jetzt, er ist ein noch junger Mann. Die Scheiben, hinter denen die Welt Paris liegt, sind trüb und schmutzig, und die Augen, die auf dem Papier mit den Buchstaben gehen, sind blaß und übermüdet. Das Papier wird bedeckt mit reinlichen, runden Buchstaben; hier und dort zeigt ein Zeichen zwischen den Linien an, daß ein Bild oder ein Mensch oder ein Tag den Schreibenden verlassen hat. Das Jetzt, das draußen scharf und unerbittlich ums Haus pfeift, fliegt herein und setzt sich auf dem Papier fest, und das Damals, zart und verschleiert, als wärs vor Hunderten von Jahren geschehn, gleitet von der anderen Seite herbei und breitet sich auf dem Rest der Seite aus: woher kommt es denn, daß der Leser so empfindet: Hunderte von Jahren sind zwischen dem Einst und dem Jetzt dieses Menschen vergangen? Weil die Aktualität seiner Qualen den Leser näher angeht als die Vision von seinem Vergangenen? Oder vielleicht weil der Leser die Bürde seines Jetzt auf allen Straßen und am eigenen Leib erlebt hat, die Wehen seines Einst aber nur in den Büchern? In denen, die von den Nachkommen der Blides handeln und von Marie Grubbe und auch in jenen näheren des teuren Bang? ... Dies hier ist kein Vorwurf. Der Unterschied in der Überzeugungskraft, die von Malte Brigges Gegenwart und Vergangenheit ausgeht, der Unterschied der Zeugungskraft, die seiner Gegenwart und Vergangenheit Leben gegeben hat, dieser Unterschied, der sein Werk scheinbar entzweibricht, verschwindet, wenn das Sausen, das auf dem Grunde des Buches ist, dem Ohr wieder vernehmlich geworden ist, durch das Gegenständliche hindurch, das Ablenkende. Dann ist Stück und Stück sogleich zusammengehalten von dem Großen, vor dem War und Ist wie Ein Rauch aufgehn, so wie im Geist des Dichters Geträumtes und Erfahrenes nicht wie Öl und Essig beieinander sind, sondern wie Wein und Wasser.
Der alte Zeitungsverkäufer vom Gitter des Luxembourg (ach, wir alle haben Zeitungen von ihm gekauft, die wir nicht gelesen haben!) und der Veitstänzer auf der Brücke und der Blinde, der seinen Gemüsekarren rufend vorwärts stößt, und der Jägermeister im alten Schloß und Brahes und Maman und die Frauen mit den unwirklichen Namen, und die Legendenkönige aus grauen Chroniken und die bis in die Seele hinein verschlissenen Fabelwesen auf dem Gobelin im Louvre, alle sind Genossen derselben Qual und gehen gleich gekleidet wie die italienischen Gugelmänner von der Bruderschaft des Todes. Alle sind gleich eingehüllt in eine Sprache von weither, sie kann oft so schmerzhaft süß und fast schon unirdisch werden, daß der Leser sich irr umschaut in seiner leeren Stube und inne wird: niemand ist da, dem er einen Satz vorlesen könnte! Und der Leser fühlt es so treu mit, daß diese Sätze bei Nacht, kniend und unter Tränen auf ein mattbeleuchtetes Stück Papier geschrieben worden sind. Und der Leser erkennt auch zwischen dem Wort und dem Wort die bittere Gebärde wieder, die dem Gequälten gegeben worden ist, damit er, wenn seine Einsamkeit zu groß über ihm ist, die Pforte seines Kerkers öffnen könne für eine kurze Frist. Und auch das Schauen in solcher Frist erkennt er wieder, das zu intensive Hinschauen, dem die Welt nicht mehr standhalten kann, sondern hinschmelzen muß wie eine Handvoll Schaum.
Es gibt einen Triumph der Dichter, und der heißt: das erste Lesen. Und dann gibt es einen andern Triumph, und der heißt: das zweite und das hundertste Lesen. Und der gute Leser ist der, der sich nicht gleich das erste Mal zur Wehr setzt. Das ist der gute Leser, und er ist allen Dichtern von Herzen zu wünschen. Ihm kann es geschehen, daß er unversehens eintritt in die Gemeinschaft der Fabelwesen eines Dichterbuches, einer wird von den Gezeichneten, den Kranken, den ins Leere Gestoßenen, den vor Unglück fast schon Lächerlichen, daß er für die Dauer einer Zeit, in der nur das Blätterumwenden lebendig ist, ein Phantom geworden ist: wie jenes Kind im Maskenkostüm, es erschrickt, weiß auf einmal nicht mehr, ist es längst vergangen, ist es da, ist es nie gewesen, oder: wie jenes alte, verschrumpelte Weib, das im Garten die Sperlinge füttert, mit Brotkrumen, die sie früher im Mund gehabt hat – die kleinen Tiere sollen von ihrem Speichel ein wenig in die Welt auseinandertragen, das wird ihre Einsamkeit lindern! Es mag dann dem Leser geschehen, daß er eine Zeitlang noch verzaubert unter den Menschen herumgeht, viele Faden tief unter seine eigene Existenz hinuntergerissen, ehe er sich auf sein In-die-Höhe-Kommen besinnt und rasch schon im Abschiednehmen von der Verzauberung sich nach dem Schatz umsieht, den es doch da unten geben muß, damit er weiß, wonach er das zweite und das hundertste Mal tauchen soll! Und da wird es sich erweisen, ob er mit nur einem Aufstampfen des Fußes an die Oberfläche zurückkommt oder, schwer von der Last, die er mit sich bringt von unten, langsam und mit Mühe ans Licht zurück? –
Es ist wahr: mit dem Tod als Tiefstem zuunterst kann ein Kunstwerk nicht leben. So wie der Leser unter der Figur des Dichters im Werk nach der Ursache seiner Zugehörigkeit zu den Figuren seiner Einbildung geforscht hat, so forscht und schürft der Leser unter dem großen Gleichnis des Todes nach dem Einen, das Schönheit und Kraft besitzt, das Gleichnis aufzuheben, die Gleichung auf Eins zu bringen, nach Gott also. Und da erweist es sich, der Leser schlägt sich an die Brust, wirklich und wahrhaftig, es erweist sich, in dem Buch ist zu viel Geduld und an einem Punkt hört es auf. Wie sieht denn der Gott aus, den ich als das Erhabene in der Lächerlichkeit der Lächerlichen, als das Erstgeburtsrecht der Enterbten, als die Unvergänglichkeit der von der Verwesung Gezeichneten erkennen soll? Ich dürfte wohl verlangen, daß er aussehe wie der Gott des größten Heiligen, aber ich will mich schon zufriedengeben, wenn es mein privater, menschenähnlicher und ein bißchen vergrämter Gott ist, der Auflehnung heißt, Revolte.
Zu viele unter den Guten leiden heute, zu viele Bücher werden über den Tod geschrieben: wäre es nicht an der Zeit, daß das Leid der Dichter anfinge, die Mühlen zu treiben? Malte Brigge, er hat es gut herausgefühlt, was die Menschen untereinander bindet, er hat auch Jene herausgefunden unter den Menschen, die die Seinen sind. Er hat Gedichte geschrieben, in denen viel über Gott steht, aber Gedichteschreiben ist ein höfliches Gewerbe, und sowenig die Verszeile an den Rand des Blattes kommt, so wenig kommt die Seele ganz an den Rand ... In Prosa sich auszutoben geht eher an, das Vaterunser ist doch auch in Prosa geschrieben. In den Gedichten, die diesen »Aufzeichnungen« zeitlich vorangehen, hat es der Leser zuweilen als köstlich empfunden, den Dichter vor Gott in Demut ministrieren zu sehen. In dem Buch Brigge, hat der Leser gehofft, wird der Dichter Gott näher an den Leib rücken. Seine Stimme singt, betörend wie je, hier klingt sie auf einmal nicht mehr sonor genug, will es scheinen. Er kommt dem Tod sehr nah, er überholt ihn nicht; er weiß, was das heißt: einsam, einsam, aber wäre die Einsamkeit sein Gott, so würde er nicht an ihr vergehen, sondern sich auf eine Säule hinaufziehen lassen oder in die Wüste wandern und seinen Gott dort anbeten und begatten. Aber da er nun doch vergeht, warum geht es ihm denn nicht auf: wenn man in den Kirchen gesellig ist, um zu beten, so ist die Einsamkeit dazu geschaffen, damit in ihr die Fäuste geballt werden. Im Leid ist jeder für sich, fühlt man aber Brüder im Leid, so ist es die Empörung und die Notwendigkeit der Rache, die die Fäuste aufmacht – und die Hände ineinander treibt.
»Was wußten sie, wer er war? Er war jetzt furchtbar schwer zu lieben und er fühlte, daß nur Einer dazu imstande sei. Der aber wollte noch nicht.« (Ende der Aufzeichnungen.)
Als der Leser diese Sätze gelesen hatte, da verstand er sie gut: die Mühe und den qualenreichen Lehrlingsweg Dessen, der so gut lieben und so gut geliebt werden möchte wie der jüngere Bruder der Sonne und der ältere der Pflanzen aus Assisi. Er aber liebt nur erst, was Seinesgleichen ist, noch nicht alles, weil es ist. Er ist vorläufig noch der Einsame, und sein Lieben heißt noch zu sehr Leiden. Aber er will und will den Einen. Und weil er ihn in Seinesgleichen nicht ganz zu erkennen vermag, so muß er es erleben, daß Seinesgleichen ihm seine Liebe nicht ganz erwidert. –