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Charles Baudelaire

Ame curieuse qui souffres
Et vas cherchant ton paradis,
Plains-moi! ... sinon, je te maudis!

Paris war seine Heimat, seine Heimat ist nicht zwischen Seine, Marne, Loire; die Zeit seines Lebens war erfüllt von den kleinen Katastrophen der Restauration, des Bürgerkönigtums, Zweiten Kaiserreichs, diese Zeit ist seiner Seele Heimat nicht. Zeitlos, heimatlos sind ja auch sie, die unbegreiflich Großen, die ihres Lebens Spanne durchschreiten mit Schritten, welche den Takt während der Ewigkeiten vor ihrer Geburt erworben zu haben scheinen, den Takt um keine Schwingung geändert haben, wenn sie, ihren Tod hinter sich lassend, neuen Ewigkeiten zuschreiten. Aber manches große Leben ist wie von einer ungeheuren, feindseligen Faust tief in den widerstrebenden Boden einer Nation, eines Zeitalters hineingetrieben, und nach Jahrzehnten, Jahrhunderten, wenn der Boden längst verebbt und das Fundament dieses Lebens sichtbar geworden ist, hält es noch schwer, in ihm lediglich den Fremdkörper zu erkennen, der es doch war, so viele feine Fasern, Wurzeln ähnlich, blieben an ihm haften. Man darf sagen: dieser Leben Heimat war so recht eigentlich der Schmerz, und ein Schleier von tiefem menschlichem Mitgefühl wird vor dem Auge stehn, das jene Leben aus der Ferne betrachtet.

Hugo, Balzac, Flaubert: es sind die Souveräne, unter denen Baudelaire gelebt hat; in ihrer Mitte mag sein Vaterland gezeichnet sein. Ihnen diente wohl die Welt, in der sie standen, keinem höheren Zwecke, als das mitgeborene Wissen um ewige Dinge an ihr zu kontrollieren. Breit und wuchtig fällt ihr Schatten vom Horizont noch in unsere Tage herein. Zwischen ihnen, die da ragen aufrecht und übergroß wie mächtige Granite – Hugo, den Seherblick über sein erbebendes Volk hinweg auf Wolkenzüge gerichtet, – Balzac, den stahlscharfen Blick, dem Irdischen grimmiger zugewandt, durch das Gewimmel der Zusammenhänge ins innerste Räderwerk der Grundleidenschaften versenkt, – Flaubert, den verschlossenen Blick, damit an dem Spiel der heimlichsten Reflexbewegungen Drang und Bedrängnis sich enthülle, grausam nach innen gekehrt – zwischen ihnen erscheint uns Baudelaire in der Gestalt des »sinnenden Mannes« von Rodin, menschenähnlicher, wiewohl aus einem Felsen losgerissen, nackt und in Krämpfen, die noch die Materie durchschüttern, den ganzen Leib vom schmerzhaften Aufruhr einer unverständlichen Verdammnis verkrümmt. Rings um ihn brausen die offenkundigen Gewalten, die die Welt erfüllen, ihren Lauf lenkend, sie sind zu einer fast greifbaren Gegenwärtigkeit geweckt durch jene großen Beschwörer, in Rhythmen gegossen, Sentenzen gepreßt, Rede und Gegenrede gezwungen, die Ewigkeit selbst scheint sie eingegeben zu haben, so überkräftig schwellen sie den Rahmen der Sprache – allein er horcht vor sich hin. Die Stimmen, die in ihm erklingen, spärlicher hineindringen von außen, einander zu verwegen schönen Akkorden ergänzen, in Dissonanzen zusammenschlagen, deren Weh schöner noch ist, die Stimmen, auf die er horcht, haben mit jenem Brausen um ihn nichts gemein. Unter ihnen vibriert heimlich und fremd ein Ton, es erfüllt ihn mit Schrecken, denn er erkennt sein tödliches Schicksal in dem Ton, mit Jubel, denn es ist der eigene Ton, den er erkannt hat. In Jahren, in denen das junge Herz und Hirn vor die harte, nicht selten zermalmende Notwendigkeit gestellt ist: sich zurechtzufinden in den verworrenen Wegen der äußeren Schicksale, die frohe Unbotmäßigkeit sich zu wahren gegenüber den mitlebenden geistigen Herrschern – in diesen Jahren erschließt sich ihm die Erkenntnis einer weit bitteren Aufgabe: sich zurechtzufinden in der eignen absonderlichen Natur. Sie ist keine von den siegreichen; unterliegen ward ihr Teil, ihre Eigenart; sie kann sich nur behaupten, indem sie unterliegt. Wohl fällt Hugos All in ihr Bereich, wie Balzacs mächtige diesseitige Welt. Aber beide sind für sie nur die gleiche Quelle des Leidens; denn mit der steten, rätselvollen Angst behaftet, auf den Pfaden der Höhe den Erdboden nicht unter den Füßen zu verlieren, auf den Pfaden der Tiefe den Sinn frei und hoch zu bewahren, fühlt sie sich auf keinem heimisch, vergeht in Sehnsucht, stirbt an Zwiespältigkeit; zudem ist ihr die verhängnisvolle Gabe der Analyse mitgegeben, und während sie Flauberts blinkende Waffe nervig und unerbittlich gegen sich selbst handhabt, legt sie vor ihrem Gewissen die Eigenschaften bloß, die sie von allem Glück, von Ruhe, Schönheit, Harmonie scheiden. Eine Welt gilts zu entbinden, der das Siegel des Duldens, der fruchtlosen Auflehnung aufgepreßt ist, es gilt, sie den Welten rings, die der Triumph über das Leben zu Tage förderte, zur Seite zu stellen. In dieser Anstrengung eines kranken Titanen werden sich die Nerven, Muskeln des Genius anspannen bis zum Zerreißen; das irdische Herz wird sich vor der Helle der Gefühle, die sich bis zur Intensität von Gesichten sublimieren, zusammenkrampfen, wie ein Auge schließen, in die künstlichen Grotten des Vergessens, tiefster Nacht flüchten – um nach teuer erkaufter Rast, in übermenschlichem Aufraffen wieder emporzufahren in die mörderische Gegenwart.

Es läßt sich ausdenken, zu welcher unverhältnismäßigen Bedeutung die äußeren Verhältnisse dem Menschen erwachsen können, müssen, der ein Schicksal so voll einsamer Tragik auszukämpfen haben wird. Und was kommt dem Schmerz gleich, der darin liegt: Schöpfer einer fremden, befremdlichen Welt sein zu müssen in einer Gegenwart, die den notwendigsten äußeren Bedingungen einer gesteigerten Existenz ihr höhnisches Nein entgegenstellt? Die Geschichte der Literatur ist ja eine lange Reihe von Exempeln, wie die Menschen jene zu foltern wußten, die sich selbst gefoltert haben, doch gingen wohl selten die Entwicklungslinien eines Zeitlaufs und der Besten, deren Dasein sich in ihm abspielte, so scharf auseinander wie zu Baudelaires Lebzeiten. Noch bedeutete der Name Napoleons mehr als eine Legende bloß, auf den Straßen, in den Gärten von Paris konnte man zerschossene Krüppel mit irrer Liebe von dem Manne reden hören, für dessen Ehrgeiz die Brüder und Kameraden ihr Leben lassen durften – aber es war, als seien in jenem kaum erloschenen Brande alle edlen Säfte der Nation verraucht.

In den Geschichtsbüchern jener Epoche steht zu lesen, daß eine schale, furchtsame und vernünftlerische Reaktion das öffentliche Leben jeder Größe entkleidete, daß der überstürzte Wechsel der Regime doch nur Namen zu Tage förderte, die alsbald Synonyme für Freiheit, Beschränktheit, niedre Kriecherei wurden. In diesem Frankreich, in dem stets nur der Adel und der Pöbel sich wahrhaft erhaben gezeigt, hatte die wirtschaftliche Erschütterung der Revolution einen Kleinbürgerstand jählings hochgebracht, dessen langunterdrückte Herrschsucht, Geldgier, trübe Instinkte mit explosiver Kraft, einer Flut von Gold und Kot alles überschwemmten.

Hierro! Eisen – die Parole, die Hugo seinen Leuten in die »Ernani«-Schlacht mitgab, blieb für die junge Romantische Schule die Losung, sich von der herrschenden Klasse (der sie zum größeren Teil entstammte) abzuwenden, zusammenzuschließen. Das Schlagwort »Fortschritt«, das im politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen Leben allmählich identisch wurde mit Industrialismus, brutaler Nivellierung, Unterdrückung der Gegensätze mit Ausnahme jener des Besitzes, dieses Wort wurde den Künstlern ein Antrieb zur freiesten, ja ungezügelten Betonung, Unterstreichung des Andersgeartetseins. Die Menschenalter, die darüber vergangen sind, haben diese Divergenz, scheints, immer schärfer herausgearbeitet. Einer Dichtergeneration, die von den Romantikern herkommt, wurde der Name des Verfalls, der Dekadenz angeheftet, nicht etwa, weil sie gleich den ähnlich gekennzeichneten Schriftstellern der antiken Literaturen getreuer Spiegel ihrer hochentwickelten Zeit war, sondern offenbar: weil sie durch ihre Werke ihre tiefwurzelnde persönliche Kultur in schroffen Gegensatz stellte zur prahlerischen Civilisation ihrer eigentlich der Barbarei näherstehenden Zeit. Ihre Sonderstellung ist vielleicht nicht mehr allein durch ihr Anderssein bedingt, sondern durch eine der Notwehr entsprungene Erhitzung, Übertreibung dieses Andersseins, ein dem Selbsterhaltungstrieb gemäßes eindringliches Verweilen bei den Gegensätzen, die sie isolieren.

So wird die laute Anbetung der Sünde, das unbeschönigte sich zu einem Laster Bekennen, das unbedingte Kapitulieren vor scharfen, ätzenden, von der Natürlichkeit wegdrängenden Trieben, das Abweisen jener ausgleichenden Hypocrisie »Moral«, die Erhebung des Pessimismus zum Lebensregenten – als Revolte einsamer, von Überdruß und Verachtung erfüllter Seelen anzusehen sein, die vor dem Leben die Waffen strecken, weil sie den Kampf mit der Übermacht verschmähen.


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