Arthur Holitscher
Drei Monate in Sowjet-Rußland
Arthur Holitscher

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Völker hört die Signale!

Am 18. Januar 1919 verbreitete sich in Rußland die Nachricht, daß Karl Liebknecht in Berlin ermordet worden sei. Um die Mittagsstunde des selben Tages begaben sich in einer kleinen Stadt eines entlegenen östlichen Gouvernements drei bewaffnete Arbeiter in das Haus eines Bürgers. Der Bürger, ein ältlicher Mann, saß mit seinen Angehörigen im Wohnzimmer beim Mittagstisch. Die Arbeiter blieben im Zimmer stehen und sagten: »Karl ist tot. Komm mit.« Der Bürger verstand nicht, was die Arbeiter mit diesen Worten meinten. »Wer ist Karl? Was meint ihr mit Karl? Wohin soll ich mitkommen?« Die Arbeiter sagten: »Karl Liebknecht ist tot. Die Bourgeois haben ihn ermordet. Komm hinaus.« Der Bürger fragte noch, was die Mordtat denn mit ihm zu schaffen habe, warum er, gerade er hinaus kommen solle? Aber er erkannte bald, daß es für ihn kein Entrinnen gab, er erhob sich inmitten seiner wehklagenden Angehörigen und folgte den Arbeitern auf den Hof seines Hauses. Bald darauf fielen drei Schüsse.

Einige Tage nach meiner Rückkehr aus Rußland wohnte ich in Berlin einer politischen Versammlung bei, in der der Redner vor einem von Bürgern und Kleinbürgern dicht besetzten Saal – es mochten zweitausend Menschen zugegen sein – den Namen Rosa Luxemburg erwähnte. Er sprach ihn zweimal aus: das erstemal in einem Zusammenhang, der Lachen auslöste, das zweitemal erwähnte er ihren Tod, worauf aus der Schar der Anwesenden lautes Bravo! ertönte.

244 Ehe ich Moskau verließ, erfuhr ich von Bekannten, die in verschiedenen Kriegsgefangenen-Austauschmissionen der ehemaligen österreichisch-ungarischen Nation beschäftigt waren, daß (größtenteils ungarische) Genossen an den Grenzstationen Rußlands aus den Transporten zurückbeförderter österreichisch-ungarischer Kriegsgefangenen die Offiziere ungarischer Nationalität herausheben und entweder an Ort und Stelle internieren oder sie nach Moskau oder Petersburg zurückschicken – während die Mannschaften ordnungsgemäß in die Heimat, die sie seit sechs Jahren nicht mehr gesehen hatten, zurückbefördert wurden. Dieser Akt der Willkür der russischen und ungarischen Genossen erschien mir unmenschlich und unbegreiflich. Ich nahm mir vor, nach Kräften Abhilfe zu schaffen.

Ich war erst einige Tage wieder in Berlin, da zirkulierte ein Aufruf, der von den besten Namen des geistigen Europa, den bewußten »besten Namen« unterfertigt werden sollte. Es handelte sich in diesem Schriftstück um einen Appell an die Menschlichkeit und Einsicht der Hortyregierung Ungarns, die soeben zehn ehemalige Volksbeauftragte der ungarischen Kommune, darunter die Mehrzahl Sozialdemokraten und nicht Kommunisten, teils zum Tode durch den Strang, teils zu lebenslänglichem Kerker verurteilt hatte. Bald darauf stand in den bürgerlichen Blättern des In- und Auslandes der Appell der besten Namen – diese waren gesperrt gedruckt – zu lesen. Zur selben Zeit aber saß in Reval eine ungarische Regierungskommission mit dem Beauftragten Sowjet-Rußlands Litwinow beisammen und unterhandelte. Litwinow hatte den 245 Ungarn eine Liste mit siebzig Namen von ungarischen kriegsgefangenen Offizieren vorgelegt, die im selben Augenblick füsiliert werden sollten, in dem von den zehn Volksbeauftragten auch nur an einem das Urteil vollstreckt würde.

In den ersten Tagen des Novembers empfing mich Tschitscherin nachts in seinem Arbeitskabinett im Auswärtigen Amt zu einer Abschiedsunterredung. Mit seinem blassen Gelehrtengesicht saß er, einen dicken Schal um den Hals und eine Tasse Tee vor sich, inmitten bis zur Decke gestapelter Zeitungen, Dossiers und Broschüren in dem ungenügend geheizten Raum. Er sah mich mit einem Auge an, das zwischen den gabelförmig gespreizten Fingern seiner Hand röntgenscharf den Besucher auf Herz und Nieren zu prüfen schien. (Diese Attitüde, eine von den unheimlichen Gepflogenheiten der führenden Bolschewiki, sie mögen sie in der Schule der amerikanischen Energieprofessoren oder bei Ignaz von Loyola gelernt haben, habe ich des öfteren bei Volkskommissaren beobachtet, denen ich gegenüber saß.) Was Tschitscherin mir sagte, klang, von dieser heiseren und gemessenen Theoretikerstimme gesprochen, doppelt wunderlich. Er sprach mit offenkundigem Nachdruck, in der Absicht, daß ich von seinen Worten in breitester Öffentlichkeit den ausgiebigsten Gebrauch machen sollte. »Es bleibt uns keine Wahl. In Europa, in Amerika mordet man unsere Freunde und Genossen zu Tausenden, sperrt man sie zu Zehntausenden ein. Wir haben gegen diese Akte unsererseits nur das Mittel, Vergeltungsmaßregeln walten zu lassen. Es ist sehr traurig und bedauerlich, daß wir außer den in Rußland befindlichen 246 Angehörigen der Bürgerklasse fremder Länder gerade noch die Ärmsten und Bemitleidenswertesten, die Kriegsgefangenen als Geiseln zurückbehalten müssen. Es ist sehr bedauerlich, daß für Schuldlose abermals Schuldlose haftbar gemacht werden und leiden sollen. Aber wir müssen zu diesem mittelalterlichen System zurückkehren. Es bleibt uns keine Wahl.«

Ich kenne einzelne unter den zehn ungarischen Volksbeauftragten, habe ihr Leben in Entbehrungen, treuestem Dienst für die größte Sache der Menschheit, in Treue und Aufopferung abrollen sehen. Litwinows Liste hat sie gerettet. Und den Siebzig in Rußland ist kein Haar gekrümmt worden. Der literarische Erguß der besten Intellektuellen hätte, bei der Mentalität der Hortyleute, sicherlich nicht den Erfolg erzielt, den das mittelalterliche System gehabt hat. Die »besten Intellektuellen« haben das tiefe, in seiner Abgründigkeit schauererregende Wesen der Blutsgemeinschaft aller heute Lebenden noch nicht erfaßt! – –

 

Was wir bis zum Kriege unter der Kultur unserer Welt verstanden haben, ist zum Untergang verurteilt. Diesen Untergang habe ich einmal, in einer Vision, blitzgleich mein Herz und Hirn durchzucken gefühlt. Wir saßen in einem Petersburger Palast beisammen, einige führende Genossen und Genossinnen und ich. Es war Nacht, und über unseren Köpfen brannte ein wundervoller venezianischer Lüster. Papiere und Druckschriften lagen auf einem kostbar intarsierten Tisch vor uns. Die Unterhaltung ging um geistige Dinge des kommenden Europas. Während 247 die anderen sprachen, blickte ich zum Lüster hinauf, auf den Tisch vor mir nieder. Leb wohl, Venezianerlüster, leb wohl, herrlich intarsierter Tisch, mit dem Verschwinden des Mehrwerts verschwindet ihr auch, Unwiederbringliche einer versinkenden Welt. In dieser Welt des Scheins seid ihr ja überhaupt nur noch Mumien der Erinnerung, trüber werdend, abbröckelnd mit jedem Tag. In dieser Welt der Verwandlung – was bin ich da, was sind diese hier mit mir, liebenswerte, reine und hohe Geister und doch fremd, wie fremd, unbegreiflich unsere Beziehungen zu einander, unbegreiflich die Zusammenhänge zwischen dir und mir, dir und dir. Wir alle, Geschöpfe einer den Zukünftigen unbegreiflichen untergegangenen prähistorischen Epoche. . . .

Die Bolschewiki haben es unternommen, diese alte, inkoherente, aus Widersprüchen, Grausamkeit und Gedankenträgheit mühsam zusammengeleimte Welt zu zertrümmern, die der Vernunft ja doch nicht standhalten kann. Sie sind noch eifrig mit Zertrümmern beschäftigt – dem guten Willen und geschärften Blick indes zeichnen sich bereits definitive Umrisse der auf Sinn und Vernunft begründeten beseelten Welt der Zukunft.

Die Bolschewiki wandeln die Gesellschaft in allen ihren Formen von unten auf gründlich um. Dem Begriff: Heiligkeit des keimenden Lebens haben sie ein Ende bereitet. Heiliger ist der Wille der Schwangeren; sie allein muß es bestimmen, ob sie Mutter werden will oder nicht. Dem Staat, der mit dem Menschen als Steuerzahler, Kanonenfutter, überzähliger Arbeitskraft bisher doch nur Schindluder getrieben hat, sind seine Befugnisse auf das richtige Maß zurückgeschraubt. In den 248 Kliniken Rußlands liegen gedruckte Bogen auf, in denen sich werdende Mütter in den ersten Wochen ihrer Schwangerschaft einverstanden erklären damit, daß der zu diesem Behuf angestellte Arzt ihre Leibesfrucht vernichte. Es soll keine Frau mehr Mutter werden müssen, die den Instinkt der Mütterlichkeit nicht in sich trägt.

Die Ehe ist im bolschewistischen Rußland zur Farce, ein Scherz geworden – ich möchte fast sagen: wie das Geld. Wer Zeit und Lust dazu hat, Männlein und Weiblein, kann sich in einer Woche viermal trauen und dreimal scheiden lassen. (Die Woche hat sieben Tage.) Die Ämter, die diese Prozedur vornehmen, verlangen an Legitimation ein Mindestmaß: das Arbeitsbuch und die Unterfertigung eines Formulars. Im rötlichen Scheine einer an der Wand befestigten Fahne der Sowjet-Republik vollzieht sich diese Handlung auf rapide und mechanische Art. Es bleibt den Beteiligten unbenommen, nachher zum Popen oder Rabbiner zu wandeln. Viele sollen dies tun, wird gesagt. Selbstverständlich hindert keine Verordnung Menschen, die sich lieb haben, in einem durch das Gefühl geheiligten Bündnis beisammen zu bleiben. Es ist nur ein Haufen von Lügen, materiellem Zwang, veralteten Vorurteilen, gesellschaftlichen Konventionen und sonstigem Kehricht aus dem Leben der Gemeinschaft hinausgefegt.

Für die Kinder sorgt der Staat, der auf solche Weise die Familie aufgelöst hat.

 

Es darf nicht vergessen werden, daß die Bolschewiki Intellektuelle sind, die mit geringen Ausnahmen aus dem Bürgertum stammen. Sie 249 kämpfen jetzt im Namen des Proletariats und für dieses Proletariat, mit dem sie ursprünglich gewiß geringere Fühlung hatten, als mit ihrer eigenen Klasse und Kaste, gegen diese Klasse und Kaste und gegen die Kultur ihrer Klasse und Kaste.

Wenn die Bolschewiki aber Proletariat sagen, so meinen sie damit: die Menschheit.

Sie sind es, die an der Spitze der zivilisierten Menschheit marschierenden kommunistischen Intellektuellen Moskaus, die die Formen der Gesellschaft, die Kultur der alten Welt zertrümmern und eine neue Gemeinschaft und Kultur erschaffen wollen – auf einer Grundlage von bisher unerhörter Breite, das kaum vorstellbare Gebilde einer geeinten Menschheit, in der sich die Klassen aneinander zerrieben haben, aufgelöst sind, in der alle Rassen, alle Farben Orients und Abendlandes, die Individuen aller Kulturschichten und Zonen gleichberechtigt sein sollen.

Intellektuelle sind es, die es unternommen haben, den Individualismus dieses Zeitalters zu zertrümmern, ein weites, unabsehbares Trümmerfeld der allgemeinen Anonymität zwischen dieses heutige und jenes ersehnte und geahnte Zeitalter zu breiten, Intellektuelle sind's, die die Menschheit auf dieses Trümmerfeld vorwärtsjagen, damit sich auf ihm die Auflösung des Einzelschicksals vollziehe und aus dem großen allgemeinen Schicksal der Massen dort drüben ein neuer Individualismus von unausdenkbarer Herrlichkeit erstehe.

Die Pole dieses Trümmerfeldes sind Egoismus und Altruismus. An seinem Eingang steht Blutsgemeinschaft von Geiseln, an seinem Ausgang Blutsgemeinschaft von Brüdern. Dazwischen liegt ein Leidensweg, wie ihn die Geschichte der 250 Zivilisation nicht keimt, Etappen der Verwüstung, Schlachtfelder mit Leichenbergen von Generationen, Krater von Besessenheiten.

In Moskau lernt man es verstehen, warum dem Schicksal des einzelnen heute so geringe Bedeutung beigemessen wird.

 

Bolschewismus ist das System zur Verwirklichung des kommunistischen Ideals. Was jetzt in Rußland wirkt, ist noch nicht Kommunismus, sondern eine Anstrengung, die erste entscheidende Stufe zum kommunistischen Gemeinwesen zu erklimmen. In Rußland reißt eine revolutionäre Partei ein Volk zu dieser Stufe in die Höhe.

Vor allem besteht die Aufgabe der Kommunisten darin: gut zu machen, was eine kapitalistische Entwicklung an der Grundidee des Christentums und den Endzielen dieser christlichen Idee gefälscht und vernichtet hat. Der Bolschewismus der Moskauer Führer stellt im Grunde eine Empörung des europäischen Gewissens gegen die ungeheure Entwürdigung und Unterdrückung des Menschengeschlechts dar – er tritt in einem Augenblick in Erscheinung, in dem diese Entwürdigung eine Phase des an Paroxysmus streifenden Verbrechens erreicht hat: im Weltkrieg.

Seine ungeheure und verhängnisvolle Aufgabe erwächst dem jungen Willen zum Kommunismus in der Bekämpfung all' jener durch den Weltkrieg maßlos verhärteten Tendenzen der Gesinnung, die latent und niedergehalten schon immer auf dem Urgrund dieser Zivilisation gelauert haben und sich in diesen letzten Jahren breit entfalten konnten. Die Bolschewiki gehen den vergifteten 251 Elementen dieser Gesinnung mit äußerster Entschlossenheit zu Leibe, um sie wegzuräumen aus dem Weg zur Utopie. Ihr Versagen bei manchem Beginnen schichtet das Trümmerfeld nur zu gewaltigerer Höhe auf. Wo die Methoden der Bolschewiki aber versagen, da wuchert die Giftgesinnung sofort maßlos in Breite und Tiefe.

Es ist unbestreitbar, daß die Kompromisse, die Lenin mit den eigentumsfanatischen Bauern zu schließen gezwungen war, und die er durch phantastische Mittel wie die Elektrifizierung Rußlands zu beheben gedenkt, aus der Verzweiflung zu erklären sind. Und die Erweckung der Massen Asiens stellt eine an Raserei grenzende Kampfmethode dar, die die Welt in den nächsten Jahrzehnten in unausdenkbares Chaos stürzen könnte.

Die Bauernschaft. Schon erwähnte ich Symptome einer beginnenden Periode der Völkerwanderung, die sich vorerst in der Wolgagegend unter den von Panik ergriffenen Mennoniten bemerkbar gemacht haben. Aber auch unter den Bauern der mit Mißernte geschlagenen Gouvernements hat sich der Wandertrieb eingestellt. Scharenweise ziehen und irren diese Unglücklichen zumeist planlos, durch die weiten Gebiete des Landes, in die Städte, kreuz und quer von Süden nach Norden, von Osten nach Westen, und die ihnen entgegengesandten Truppenkordone vermögen dieser Auflösung keinen Riegel vorzuschieben. An solchen, Elementarkatastrophen vergleichbaren Ereignissen zerschellt das von den Bolschewiki sorgfältig erwogene System des Aufbaus.

Die Ostvölker. Die Explosion von Baku reißt 252 die jungen Rassen weitester, unerforschter Gebiete mit einem Anhieb aus dem Urschlaf der Zeiten hinauf auf die höchste Spitze einer Entwicklung, die nur durch die Mühle der Weltgeschichte gegangene Völker erreichen, und auf der sich nur diese behaupten können. Zwischen dem Kommunismus eines kirgisischen Nomadenstammes und dem Kommunismus marxistischer Sozialisten liegt doch noch ein gewaltiger Weg. Alte Rassen aber, die Chinesen, Inder, deren Urgeschichte und sogar noch die der neueren Zeiten Aufkommen und Verfall des Kommunismus kennt, erleben jetzt den Anbruch der zweiten Epoche ihrer entschwundenen und durch die Mächte des Westens vollends unterdrückten Kultur. Indem die Bolschewiki bewußt gegen die Nutznießer der Lethargie dieser alten Kulturnationen Asiens: das imperialistische Großbritannien und das westliche Methoden nachahmende Japan sich wenden, beschwören sie eine Erschütterung herauf, die kaum in Jahrhunderten verebbt sein wird, und die das Werden einer neuen Kultur auf der Basis allgemeiner Völkervereinigung fraglich macht.

So wird, wer Idee und Methode der Bolschewiki zugleich betrachtet, vom Himmel zur Hölle geschleudert, ein Spielball von Verzweiflung und Begeisterung. Wiederholt habe ich es aus dem Munde der Führer Moskaus vernommen, daß der Kampf um den Kommunismus – in seiner heutigen akuten Gestalt ist es ein Kampf der Bolschewiki um ihre Existenz – die Welt in Jahrzehnte andauernde Bürgerkriege stürzen wird. Dieser Kampf um die Kultur der Zukunft wird sicherlich mit all' der Erbitterung durchgefochten werden, die der Weltkrieg über eine 253 mißbrauchte und niedergehende Menschheit beschworen hat. Es gibt Atempausen des Kampfes, in denen man wie ein unterirdisches Grollen die tiefe röchelnde Wut vernimmt, Vorboten dessen, was sich ereignen könnte, stürzten demnächst die Klassen mit erneuter Wucht und ausgeruht aufeinander los. Wenn schon die Loslösung der Kirche vom Staate durch Dekrete dem alten Glauben und Aberglauben nicht den Garaus macht, die Loslösung des Kapitalismus von der Produktion wird den Trieb der Habsucht aus den Menschen nicht exstirpieren. Die Größe der Aufgabe, die der Bolschewiki harrt, wird erst evident, wenn die Notwendigkeit der inneren, seelischen Revolutionierung der Massen in Frage steht. Und da muß aber und abermals gesagt werden, daß, was die Bolschewiki zur Bildung des Volkes, zur Behebung des Analphabetentums getan haben, bewunderungswürdig wäre, auch ohne Berücksichtigung der elementaren Hindernisse, der alles bezwingenden Not des Landes – die diese Bewunderung allerdings ins Grenzenlose steigern muß. Aber auch diese geistige Befreiung der Massen kann ungeahnte Gefahr in sich bergen, wenn mit ihr der innere Aufbau der Menschen nicht Schritt hält. Die Schwächen des ökonomischen Systems können hier Resultate der Erziehung vernichten, Entwicklung in ihr Gegenteil verkehren.

Das Ergebnis, das man aus Rußland mit nach Hause bringt, ist: aus der Politik des Bolschewismus muß die Religion des Kommunismus erstehen. Solange der Bolschewismus sich notgedrungen mit ökonomischen Problemen und Grundsätzen plagen muß, kann er an Stelle der 254 kapitalistischen Verkehrsmethode zwischen Menschen und Gütern nur eine ähnliche, wenn auch bessere Methode des Verkehrs zwischen Arbeitsleistung und Güteraustausch setzen. Erst wenn der Bolschewismus dieses erste Stadium überwunden haben wird, können die Beziehungen zwischen Menschen und Menschen aufgerichtet werden.

Vorderhand sind die Menschen aber, und das lernt man in Rußland in entscheidendster Weise verstehen, zu dem notwendigen Fortschreiten auf dem Weg des Bolschewismus nur durch ein System des eisernen Zwanges zu bewegen. Dieses System, das zu seinem Endziel den Triumph des befreiten Individuums gesetzt hat, arbeitet mit äußerster Entrechtung, mit einer zeitlich unabsehbaren Unterdrückung der Freiheit des Individuums. Eines ist aber doch zu beachten:

Ein neuer Militarismus ist in Rußland entstanden, eine Armee ohne Kadavergehorsam. Ein neuer Arbeitszwang, aber nicht vom Ausbeuter diktiert, sondern von der Staatsgemeinschaft. Eine neue innere Polizei, die aber jetzt im großen ganzen doch die Schädlinge faßt, wo sie ehemals von den Schädlingen gehandhabt worden ist. Die Erben der Despoten sind Lenin, Trotzky, Lunatscharsky. Diese Momente sind wohl zu beachten.

Sie beweisen, das sich an den Zielen der Macht doch einiges geändert hat – man sollte dies nicht außer acht lassen in Augenblicken, in denen die Erkenntnis niederdrückt: daß die Methoden der Macht die gleichen geblieben sind, ja stellenweise sich noch verschärft haben. 255

 

Es ist Schweres, was man im Rußland der Sowjets erlebt. Nicht jeder geht heil aus dieser Prüfung hervor. Schaurig tönen die Signale der Befreiung dem Gläubigen ins Ohr. Zuweilen mit dem Posaunenton des Jüngsten Gerichts. Oft wollen sie fast die Hoffnung auf die Zukunft übergellen. Oft ist es einem, als sollte man sich wünschen, rasch von einer der düsteren Epidemien, die wie Wirbelstürme über die russische Erde fegen, ergriffen und hinweggerafft zu werden. Aber dann erhebt sich vor dem schier Verzweifelnden der blutende, der mystische heilige Mensch Rußlands, Tolstoj, der vor dem Tode, eigentlich schon nach seinem irdischen Tode, von Verklärung und Unsterblichkeit beschienen sich auf dem winterlichen Weg ins Ungewisse vorwärts tastet. . . .

Es ist der Weg der Menschheit, den der russische Mensch geht, über den er die Menschheit vorwärtsführt, der Weg geht über Trümmer und Not und Alptraum zur Wiedergeburt und zur Gemeinschaft der beseelten Vernunft.

Ist es Begeisterung, ist es Verzweiflung, was in der Seele dessen überwiegt, der aus Rußland zum übertünchten Abgrund der westlichen Zivilisation zurückkehrt? Ist es die Heimat, in die er zurückkehrt? Oder ist die Heimat nicht etwa dort, wo gelitten, gekämpft wird, unter dem hungernden, frierenden, ringenden Volk?

Wo um das Menschenrecht gekämpft wird, ist die Heimat. Von dort her ertönen die Signale.

 


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