Arthur Holitscher
Drei Monate in Sowjet-Rußland
Arthur Holitscher

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Bourgeois

Es versteht sich von selbst, daß mit der Machtergreifung durch das Proletariat die Auflösung der Klassen nur angefangen hat, nicht vollzogen ist. Das Proletariat, das das Selbstbewußtsein der herrschenden Klasse erlangt hat, ist Proletariat geblieben, das entrechtete Bürgertum, das seinem Machttrieb nicht wie ehemals Genüge schaffen kann, ist Bürgertum geblieben – sein ihm innewohnender Wesenszug ist aber nicht geschwunden, sondern hat sich unter dem Druck sogar in verhängnisvoller Weise entwickelt, wie ich das bei der Erörterung des überraschenden Gebildes der sogenannten »Sowjet-Bourgeoisie« darzustellen versucht habe. Die obersten Schichten der alten Gesellschaftsform: Dynastie und Adel sind, soweit sie nicht landesflüchtig geworden, auf den Standard der entrechteten Bourgeoisie hinabgedrückt, teilen das Los der ihnen ehemals unterworfenen Klasse, sind aber im allgemeinen noch schlechter daran als diese, nämlich zum Vegetieren und zur Agonie verurteilt.

Was ich in Rußland erfahren habe, kann ich dahin formulieren: die Mächtigen von ehemals, 181 die Herren über große Güter, Wald, Gruben, Fabriken, Häuser, sind expropriiert; die Mittleren leben in Angst und Gefahr von dem, was sie beiseite geschafft, verborgen haben und nun auf Schleichwegen verkaufen; das dem Proletariat benachbarte Kleinbürgertum ist vernichtet und schlimmer dran als welche leidende Klasse immer, wenn es bei den Voraussetzungen seiner ehemaligen Lebensführung beharrt. Der Arbeiter, der Soldat aber kämpft hart und aufopfernd um den Sieg des Systems.

Wie lebt die Bourgeoisie, wie bringt sie es zuwege, ihre Existenz unter den ihr auferlegten Bedingungen weiterzufristen? Man kann, wenn man sich über diese Frage von Leuten aus der ehemaligen Bourgeoisie belehren läßt, das Wort »Koschmar« mindestens so oft hören, wie man sonst das Wort »Remont« zu hören bekommt. Koschmar ist ein russisches Wort; es bedeutet so viel wie das französische »Cauchemar«, d. h. Alp. Die Bourgeoisie bezeichnet ihren gegenwärtigen Zustand mit diesem Wort und jeder Tag, der vergeht und das System des Kommunismus befestigen hilft, stößt sie tiefer in ihren schauerlichen Traum hinunter, denn sie sieht die Zeit nahen oder hat sie bereits erreicht, in der nichts mehr in den Kellern vergraben, in den Schränken eingesperrt sein wird oder ist.

Ich habe, zumeist bei Nacht und Nebel, Briefe und Pakete aus Deutschland, Österreich und Estland an Petersburger und Moskauer Bürger abgegeben, die mir von Verwandten dieser Leute anvertraut worden sind. Dabei habe ich die ehemalige Bourgeoisie in ihren Behausungen, Lebensgewohnheiten und ihrer Gesinnungsart 182 kennengelernt. Zufälle kamen hinzu, die mich mit Menschen aus den höchsten Schichten des ehemaligen Bürgertums zusammenführten. Außerdem habe ich bei hellem Tageslicht Leimruten ausgelegt.

Diese Leimruten waren die in meinen Baedeker eingehefteten Stadtpläne. Ich legte sie an schönen Septembermorgen auf dem Platze vor dem Moskauer Großen Theater aus, und bald fingen sich auf meiner Bank beschäftigungslose Bürgerliche, aber auch schwänzende Beamte und papyrosrauchende, »pausierende« Arbeiter. Eine Begegnung unter freiem Himmel ist gefährlicher als eine zwischen vier Wänden; man darf dem ehrlichen Gesicht nicht ohne weiteres Vertrauen schenken; es kann einem passieren, daß, wenn man den Hut lüftet und sich in die Anonymität zurückbegeben will, aus der man einen Augenblick lang aufgetaucht ist, der »Fremdling« mit dem Baedekerplan sich als Geheimagent zu erkennen gibt und die Beichte dem Beichtenden schlecht bekommt. Aber der Wunsch, mit jemand zu sprechen, der von »draußen« kommt, schlägt, wie ich mich überzeugen konnte, sogar die mahnende Stimme der Vorsicht nieder, die ja besonders in Moskau laut genug ertönt . . .

Der erste, der sich auf dem Theaterplatz zu mir setzte, war ein Kleinbürger. Er hatte vor dem Krieg die gutbezahlte Stellung eines Bleichmeisters in Glogau inne gehabt, war dann als Spezialist in seinem Fach nach Rußland zurückgekehrt und hat in einer Leinwandweberei bis zur Revolution 1000 Rubel monatlich verdient. Gegenwärtig gehört er der Transportarbeitergewerkschaft an, verdient monatlich 7000 Rubel, 183 d. h. um 1000 Rubel weniger, als ein Pfund Butter auf der »Sucharewka« kostet, hat Weib und Kind und muß aus seinem kargen Besitz dies und das verkaufen, Leinwand, Pelzwerk, kleinen bescheidenen Hausrat einer kargen Bequemlichkeit; auch eine Postkartensammlung, die er sich in Deutschland angelegt hat, gilt als Notpfennig. Ich fragte den Bleichmeister, wieso er, der ehemalige organisierte Sozialdemokrat der Partei Deutschlands, sich dem Kommunismus gegenüber so ablehnend verhalten könne? Er antwortete mir: »Seit ich verheiratet bin, gehe ich mit meiner Frau in die Kirche.« Von ihm erfuhr ich die Methoden, die einer beobachten muß, um am Leben zu bleiben, wenn der »Pajok« nicht ausreicht. Von ihm hörte ich auch zuerst das Wort »Sucharewka«, das mir noch unbekannt war, und das ich in den nächsten Monaten häufiger zu hören bekommen sollte als die Worte Remont und Koschmar zusammen genommen.

Sucharewka heißt der Markt, auf den ich bisher des öfteren in geheimnisvoller Weise hingewiesen habe. Es ist ein ehemaliger Sonntagströdelmarkt und befindet sich auf dem äußeren Boulevardgürtel Moskaus in der Nähe des Roten Tores. Hier kann man von früh bis spät eine dicht gedrängte Menge, Tausende tauschen, feilschen, kaufen, verkaufen, sich gegenseitig bewuchern und bestehlen sehen. Es ist der geduldete Markt der großen Stadt, der, da ja alle Läden zugesperrt sind, die Verteilung von Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen aber bei weitem nicht den Bedarf des verarmten Städters decken kann, unter den Augen der Sowjets besteht und blüht – wenn auch zuweilen grimmige 184 Razzien und Verhaftungen von Käufern und Verkäufern vorgenommen werden und die Außerordentliche Kommission Gefängnisse, Klöster und Konzentrationslager mit Spekulanten neu auffüllen kann.

Bauern kommen aus der Umgebung hierher und halten Lebensmittel aller Art feil; Buden mit Gebrauchsgegenständen reihen sich einige Werst lang aneinander; Schleichhändler stopfen sich die Taschen mit Gegenständen voll, die die Bourgeoisie, an einem geschützten Teil der Sucharewka in Doppelreihen aufgestellt, an den Mann zu bringen sucht. Als ich zum ersten Male dieses klägliche Spalier betrat, waren die ersten, die ich erblickte: eine junge, verhärmte Frau in guter Kleidung, die, über den Arm gelegt, ein altes Ballkleid aus Tüll und auf der Spitze ihres emporgereckten Zeigefingers einen dünnen Ring mit einem kleinen Stein den Passanten zum Verkauf hinhielt. Neben ihr stand ihr hübscher blondlockiger Knabe, der in seinen wie eine Schale ausgestreckten Händchen einen Gummiball den Passanten zum Verkauf hinhielt. Für diesen ersten Tag hatte ich damit eigentlich genug.

Aber da die Sucharewka kaum zehn Minuten von meiner Wohnung in der Maly Charitonjewsky Pereulok entfernt war, besuchte ich den Markt noch des öfteren. Ich ging, gegen Eindrücke schon ziemlich abgestumpft, durch die Spaliere der Bourgeois hin und wieder, kaufte aber nichts, sondern sah zu, wie andere das besorgten. Es waren zumeist Bauern, die ihre Lebensmittel vorteilhaft losgeworden waren und nun mit handdicken Tausendrubelbündeln, die sie aus ihren Stiefeln zogen, von einem zum andern gingen, 185 Standuhren, Parfümfläschchen, Ringe, Seidenschals, Operngläser, Samoware und emaillierte Löffel, kurzum alles, was zu einer erhöhten Lebensführung unerläßlich ist, erstanden. Zu beiden Seiten dieser bürgerlichen Doppelreihe standen und saßen Verkäufer von Eiern, Obst, Speck, Weißbrot (von dessen Beschaffenheit sich Tausende im Vorübergehen durch einen Fingerabdruck zu überzeugen suchten), Zucker, Hefe, Käse, Fleisch; Buden mit Wurststücken, geschmorten Gurken, prasselten und zischten in der Wintersonne; da gab's Grammophone, Stiefel, Kinderwagen, Mandolinen, Lehrbücher der Chemie, Gounods »Faust«, Bandzeug, Bleistifte, altes Papier, Fahrräder, Küchengerät, Heiligenbilder; auch konnte man bemalte Schüsseln und Schöpfkellen, Siebe, Spielzeug und Bürsten erstehen, Zeugen einer heute fast vollständig verschwundenen Hausindustrie, deren Überbleibsel abnorm teuer bezahlt werden. Ich selber besitze als Andenken an die Sucharewka einen primitiven hölzernen Hampelmann, der ehemals, wie der Verkäufer mich versicherte, drei Kopeken gekostet hat, und den ich mit 1000 Rubeln nicht übermäßig teuer bezahlt habe.

Panik auf der Sucharewka!! Mit einem Schlage, geheimnisvoll aufflackernd, verbreitet sich das Gerücht irgendwoher: die Roten seien im Anmarsch! In wilder Hast beginnen die Verkäufer, ihre Waren zusammenzuraffen, die Käufer ihre Taschen zuzuhalten; alles duckt sich, um in der Menge möglichst unbemerkt zu verschwinden, schiebt sich, stolpert übereinander hinweg. Ich stehe neben einem Burschen, der drei eiserne Bettstellen in einer Reihe aufgestellt hat und auf 186 Käufer wartet. Der Bursche hat einen Strick als Gürtel um die Hüften geschlungen: rasch wie der Blitz windet er sich diesen Strick vom Leibe, zieht ihn wie eine Schlange durch die Gitterstäbe am Kopfende aller drei Betten, spannt sich dann als Pferd vor dieses sonderbare Gefährt und beginnt, in wilder Hast einer Seitenstraße zuzugaloppieren. Hinter ihm hüpfen die drei Bettstellen über das Eis. Einige Minuten später stellt es sich heraus, daß die Furcht, die die Sucharewka im Handumdrehen gesäubert und entvölkert hatte, unbegründet war, und bald darauf steht alles wieder auf seinem Platz, feilscht, handelt, bewuchert und bestiehlt sich gegenseitig . . .

Die blinde Angst vor den Roten, d. h. der Kommission! Der Bleichmeister sagte mir so: »Nun ja – er hat das Hündchen, ich aber habe keines. Darum darf er mich verhaften und darum darf ich nicht spekulieren. Er hat einen besseren Pajok als sogar der Soldat an der Front. Ich aber habe kein Recht zu leben. Wenn ich meinen letzten Löffel verkauft habe, dann wird mein Koschmar zu Ende sein, dann werde ich mich niederlegen und nicht mehr auf die Sucharewka gehen müssen, auch meine Frau nicht. Er hat das Hündchen und wird weiterleben.« Ich fragte nach einer Weile, was denn das »Hündchen« sei? Darauf wies er an seiner Hüfte die Stelle, wo die Leute von der Wetscheka ihren Revolver am Gurt tragen. Für den Bleichmeister bestand die Menschheit aus solchen, denen das Hündchen verliehen worden war, diese hatten alle Rechte, und aus solchen, die kein Hündchen haben durften und darum im Koschmar 187 unterzugehen verdammt waren. Ich habe diesem Bleichgesicht als Gegenleistung eine Stunde Unterricht im Kommunismus erteilt; aber außer verzweifeltem Kopfschütteln bemerkte ich keine Wirkung und gab's auf.

Von ihm erfuhr ich dann noch, daß es für Arbeitswillige nach den Amtsstunden gutbezahlte Privatarbeit gibt; über die Art dieser Arbeit aber konnte ich weder von ihm noch von anderen, die auch in der Hauptsache von solchem Extraverdienst lebten, Aufschluß erlangen. Männer und Frauen, gebildete und sprachenkundige Leute aus der ehemaligen Bürgerklasse arbeiteten in fremdländischen Missionen oder übernahmen literarische Arbeiten für Ausländer; wie aber lebten die Abertausenden, auf welche Weise fristeten sie ihr Leben? Vielen verschloß Scham und Angst den Mund. Ich stellte schließlich keine Fragen mehr, sondern gab mich mit dem zufrieden, was ich sah, ahnte und erriet.

Mit einem Arzneipäckchen betrat ich einmal ein Bürgerhaus, in dem eine größere Teegesellschaft gerade mit Kuchen und Zuckerwerk bewirtet wurde. Der Flügel stand im Salon, die Bilder hingen an den Wänden, die »Herrschaft« hielt Dienstmägde, die den Herrn des Hauses mit »Barin« anriefen; ein Kindchen in spitzenbesetztem Kleidchen tummelte sich auf dem persischen Teppich und lächelte den Besucher freundlich und mit rosigen Bäckchen an. Ein paar Häuser weiter kam ich eines Abends in ein Haus, in dem ehemals wohlhabende Leute, ein Ingenieur mit Frau und Tochter wohnten; der Herd stand leer und kalt, die Frauen sahen verhärmt und verhungert drein. Die bare Not schrie von Tisch 188 und Wand, und wenn Mutter oder Tochter den kranken Vater in der Klinik besuchen wollten, konnte es immer nur eine tun, weil die andere derweil, ohne Schuhe, daheim bleiben mußte. Woher kommt es denn, daß solche Vermögensunterschiede, denn anders kann man es ja nicht nennen, zwischen Individuen der, wie man annehmen muß, gleichmäßig entrechteten Bourgeoisie klaffen? Ich gebe zu, daß diese Frage einigermaßen naiv klingt und vielleicht auch manchem ein Lächeln entlocken wird. Es ist aber eine Frage an die Apostel des Systems. Wenn die letzten noch vorhandenen Habseligkeiten der niederen Bourgeoisie nämlich gegen Lebensmittel an die Bauern abgegeben sein werden, wird ein Teil, vielleicht gerade der wertvollste der ehemaligen Bourgeoisie wol »proletarisiert« sein – aber die Spekulanten, die Kapitalkräftigeren der ehemaligen Bourgeoisie werden immer noch obenauf schwimmen und ihre alten Lebensgewohnheiten wie auch die Formen ihrer äußeren Existenz keineswegs aufgegeben haben. Wann wird diese Schicht der Bourgeoisie und mit welchen Mitteln zur Kapitulation gezwungen werden?

Ein utopischer Gedanke besagt, daß, wenn erst die Habseligkeiten der ehemaligen Bourgeoisie, die sich gegenwärtig bereits zum größeren Teil in den Händen der Bauernschaft befinden, verbraucht und verfallen sein werden und falls bis dahin die Arbeit in den Fabriken und die Bebauung des Bodens nicht nach dem Prinzip der einander in der großen Gemeinschaft stützenden Menschen durchgeführt sein wird – die Herstellung des Notwendigsten im Hause selbst und durch die Bewohner des Hauses wird 189 durchgeführt werden müssen – Rückkehr zu dem Wesen mittelalterlicher Hausindustrie, wie man sieht! – – –

Einmal hatte ich Gelegenheit, einen aus der ehemals mächtigsten Oberschicht der Bourgeoisie stammenden Patrizier in seinem Heim und bei seinen Beschäftigungen zu sehen und zu beobachten. Da steht vor meiner Erinnerung ein alter Mann auf, ein Mordskerl, ein durch Ererbung, Lebensumstände und den bestimmenden Zug der Zeit auf die Höhen der Macht gehobener, jetzt mit einem Hieb in die Tiefe geschleuderter Herrenmensch, der auf seine Weise im Kampf mit dem Schicksal sich zu behaupten sucht und es auch zuwege bringt.

Er empfing uns auf dem Gut, das ehemals ihm gehört hat, und als dessen Verwalter er belassen wurde: ein hochgewachsener, kerzengerader Greis von etwa siebzig Jahren, so stand er auf der Veranda seines Landhauses, aus dessen Fenstern fremde, dort einquartierte Proletarierfamilien blickten, und um das das herrliche Herbstland des Moskauer Gebietes sich farbig und warm erstreckte. Der Alte stand in seinem abgeschabten, von Erde und Baumharz fleckigen Kittel, in Bastschuhen über derben Socken vor uns. Er sah mit rasierter Oberlippe aus wie ein Amerikaner. Er erzählte uns auch sogleich, wie er dazu gekommen war, seine Oberlippe zu rasieren: er war nämlich erst vor kurzem aus dem Gefängnis entlassen worden, in das man ihn – wohl wegen irgendwelcher Verabredungen und Zusammenkünfte mit ehemaligen Millionärsgenossen und sonstigen Gegenrevolutionären derselben Gesellschaftsschicht – für vier Monate eingesperrt hatte. Im Gefängnis 190 gab's nur Machorka zu rauchen, davon färbte sich sein Schnurrbart grün, was seiner Frau im höchsten Grade unerwünscht zu sein schien. Er hatte sich darum »kurz entschlossen« die Oberlippe rasiert und lief jetzt, wie er sagte, als ein vollendeter Pavian herum. Der Alte, ehemals Besitzer der größten Textilfabrik im Moskauer Gouvernement, hat eine Woche nach seiner Haftentlassung im Zentrotextil einen Vortrag über sein eigenes Fach, die Fabrikation von Männerkleidungsstoffen gehalten – eben vor jenen Kommissaren, die ihn enteignet und mittelbar ins Gefängnis gesetzt hatten. (Das mache ihm in Westeuropa einer nach!)

Samowar und Gläser, aus denen wir Apfelschalentee zu trinken bekamen, waren verbeult und gesprungen. Ingrimmig lächelnd entschuldigte sich der Alte: ein herrliches Teeservice, das ihm einst vom japanischen Botschafter und seinem Stab verehrt worden war – er hatte die Herren seinerzeit eine Woche lang auf seiner Datsche bewirtet – war vor kurzem um ein paar Pfund Mehl, Graupen und Kartoffeln den Weg alles Irdischen gegangen; er hatte es einfach aufgegessen; der Alte klappte seine gelben Zähne aufeinander, um zu zeigen, wie man Porzellan kaut. Nach der Teestunde führte er uns in den Park, um uns den letzten Trost seines Daseins vorzuführen: den Überrest seiner ehemals weitberühmten Viehzucht.

Wir traten in den verödeten Viehstall ein, in dem eine bejahrte Kuh und ein elendes Kalb sich an die Krippen rieben. Der Alte ging an diesen vorüber, ohne sie eines Blickes zu würdigen, einem besonderen Verschlage zu, aus dem 191 Prusten und Geschnaube zu hören waren. »Der Stolz meiner alten Tage!« sagte der Alte und wies mit dem Finger auf einen jungen Zuchtstier, ein ganz junges Tier von edler Rasse, das bei unserem Anblick mit einem Satz aufsprang. Der Alte zog die widerstrebende Bestie beim Schnauzenstrick ins Freie, hielt sie kurz und scharf, Auge in Auge, und nun begann ein Messen der Kräfte dieser beiden Rassetiere, des alten, ungebrochenen Mannes und des jungen gefangenen: Stiers. Es war etwas Wunderbares in seiner Grimmigkeit und zugleich in dem versteckten Sinn dieses Kampfes von Natur und Natur, Urkraft gegen Urkraft. Kurze zärtliche Flüche warf der Alte zum ungebärdigen, bockenden Tier hinüber. Dazwischen, nach unserer Seite, fortwährend wild hingeschriene Brocken der Anklage und Empörung über das ihm widerfahrene Schicksal. Wir sollten es uns merken, daß wir im Hause eines Mannes standen, dem Unrecht geschehen war! Auf dem Rückweg über die Veranda des Hauses bemerkte ich auf einem Lesepult im offenen Fenster des Schlafzimmers des Alten Chamberlains »Grundlagen« und die »Geschichte der französischen Revolution« von Louis Blanc.

Auch in Iwanowo-Wosnessensk begegneten wir solch' einem Verwalter seines eigenen Gutes. Diesmal war das Gut ein Museum, und sein Verwalter hatte es im Laufe seines Lebens aus allen fünf Weltteilen an diesen Ort und in seinen Palast zusammengeschleppt. Obzwar dieses Museum eine der reichhaltigsten Sammlungen von Freimaurerparamenten, -geheimbüchern, -emblemen und derartigem mehr enthielt, war es wertlos, weil es ein von einem geschmackunsicheren 192 Menschen, der offenbar mit Millionen um sich werfen konnte, zusammengestoppeltes Sammelsurium von Kunstwerken, aber auch von Kitsch, ethnographisch interessanten, aber auch für Reisende fabrikmäßig hergestellten »Andenken« vorstellte. Der Alte, »ein Närrchen«, wie ihn die Wosnessensker mitleidig-liebevoll nannten, legte uns sein Fremdenbuch vor – das war sein Zuchtstier! Im übrigen war er nicht übel gelaunt, zeigte keine Wut gegen das Schicksal und lobte sogar die Behörde, die es ihm gestattete, in seinem Palast zu verbleiben und darüber zu wachen, daß seine Sammlungen nicht verfielen oder weggeschleppt wurden.

 

Den Bourgeois, die an ihren Wohnorten und in ihren Behausungen verblieben, d. h. die sich im Laufe der Zeiten mit der Arbeiterschaft und dem Volk überhaupt gut zu stellen gewußt haben, keinen Dreck am Stecken hatten und daher auch nicht zur Flucht gezwungen waren, ist im großen ganzen kein Unheil widerfahren. Wenn man aber die jetzt in Kindergärten, Kliniken, Altersheime, Proletkult-Klubs und Kommissariate umgewandelten Villen und Paläste der Geflohenen besucht oder auch nur von außen betrachtet, lernt man bald die Ursachen des traurigen, aber keineswegs unverdienten Schicksals der Bourgeoisie, zumal dieser östlichsten, verstehen. Iwanowo, ein Riesenort von Holzhütten und halb zerfallenen Baracken, mit entsetzlich ungepflegten, bodenlosen Straßen, besitzt, seinem Fabrikviertel benachbart, eine Villenstadt mit Millionärsheimen, die, aus kostbarstem Material errichtet, mit fabelhaften Räumen und luxuriösen Einrichtungen dem 193 Besucher den Übermut der Besitzenden und die Entrechtung des Arbeitssklavenvolkes so recht greifbar vor Augen führen. Dieser in Rußland besonders zynisch demonstrierte Kontrast von tiefstem Elend und verbrecherischem Überfluß beschwichtigt den berüchtigten »Gerechtigkeitssinn der Intellektuellen« einigermaßen – denn man kann sich füglich fragen, wo denn dieser Gerechtigkeitssinn sich verkrochen hatte, als das alte Regime seine Schandtaten auf solche Art verüben durfte. Auch wo keine barbarische Überladenheit, kein sinnloser Prunk von Marmor, Malachit, vergoldeter Bronze und Rosenholz den Besucher ärgert, sondern ein scheinbar an den besten Mustern geschulter Geschmack besticht, kann man bei näherem Hinschauen seine entscheidenden Beobachtungen anstellen. In Moskau wohnte ich in dem Hause eines ehemaligen Fabrikanten. Es war mit erlesenem Geschmack erbaut und eingerichtet; da war nichts, was das Auge oder den Kunstsinn stören konnte. Aber im Wohnzimmer des Besitzers hing ein Bild, das einen betrunkenen Fettwanst im Frack darstellte, wie er sich mit blöden Augen im Salon eines Bordells unter dem anwesenden Damenflor umsieht. Man kann das Sprichwort vom Russen, der, leise geschabt, den Tartaren durchschimmern läßt, füglich auf den Bourgeois anwenden, um dem Plebejer auf den Grund zu kommen und inne zu werden, welche Schuld gegen das Proletariat die russische Bourgeoisie jetzt sühnen muß . . .

 

Eines der wichtigsten Probleme des neuen Gesellschaftsaufbaues in Rußland – wie überhaupt jeder kommunistischen Diktatur – ist dieses: 194 auf welche Weise sollen die nur unvollkommen unterdrückten, vielmehr bis zum Bersten zusammengepreßten Energien und Instinkte der besiegten Bourgeoisie im Schach gehalten, benutzt und gelenkt werden? Der Bourgeoisie und gerade ihrer klassenbewußten Schicht wurde mit einem Schlage genommen, was Machttrieb und Machtentfaltung ihr ungezählte Generationen hindurch geschafft hat. Aber dieser Verlust hat ihren Machttrieb vervielfältigt, nicht gebrochen. Vermutlich lebt ein revolutionärer (d. h. gegenrevolutionärer) Wille von wesentlich größerer Sprengkraft in der Bourgeoisie, die alles verloren hat, als sie dem positiv gerichteten revolutionären Trieb des Proletariats, das zur Macht gelangt ist und alles gewonnen hat, innewohnt! Ein Ventil hat sich der Machthunger der Bourgeoisie bereits durch das Eindringen der Spezialisten in den Sowjet-Körper gebohrt. Mögen die Führer des Bolschewismus zusehen, wie sie die Auflösung der Bourgeoisie restlos vollenden, und auf welche Weise sie die Entrechteten für den Gedanken gefügig machen, der den Massen, durch die sie entrechtet worden sind, wesentlich ist!

 


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