Arthur Holitscher
Drei Monate in Sowjet-Rußland
Arthur Holitscher

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Propaganda

Der Propaganda für die Idee und die Partei des Kommunismus begegnet man in Rußland auf Schritt und Tritt. Sie ist diffus, man kann sie nirgends fassen. Es darf nicht wundernehmen, daß sie allgegenwärtig ist. Denn die Massen müssen allmählich lernen, wofür an den Grenzen gekämpft und im Lande gelitten wird; welche Ursache die gewaltigste Anstrengung, die die Geschichte kennt, hat und welches Ziel. Es darf auch niemand wundernehmen, daß in Rußland die ethisch-politische Propaganda bis zu einer an Virtuosität streifenden Vollendung getrieben ist. Die Männer, die heute die Macht in Händen halten, haben ja in den Jahrzehnten ihres Exils, in offener und illegaler Arbeit Anhänger für ihre Idee geworben, ihre Ideen mit allen Mitteln zu verbreiten und zu festigen gesucht. Mit allen Fasern ihres Seins waren sie Verkünder, Agitatoren, und somit ist ihnen der Apparat der Propaganda wohl vertraut.

Auf der ersten Station, durch die man, nach Rußland gekommen, hindurchfährt, stehen Wagen mit Aufschriften wie diese: »Wir sind stark. Keine Macht der Welt wird uns stürzen.« Darunter die Initialen der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjet-Republik. Auf einem anderen Wagen sieht man ein durch Fenster und Schiebetür unterbrochenes krasses Gemälde: einen Roten Soldaten, der einen Weißen General mit dem Bajonett einen Hügel hinabstößt. In der Bahnhofshalle – in jeder Bahnhofshalle Rußlands, auch des kleinsten Ortes – ist die Tür eines Holzverschlags offen, und über diesem Verschlag ist das Wort: 74 »Agit-Punkt« zu lesen. Im Verschlag verkauft und verteilt ein Mann Agitationsbroschüren, Flugblätter und die offiziellen Zeitungen. Die Halle ist, wie die Mauern aller Städte, mit Plakaten und Zeitungen beklebt.

Da die Privatkonkurrenz aufgehört hat, sind alle diese Plakate, sofern sie nicht Anzeigen von Meetings und Theater usw. enthalten, natürlich auf die einzige Note gestimmt, nämlich auf die Propaganda für die gegenwärtig notwendigsten Taten: die Stärkung der Fronten an den Grenzen und der Arbeitsfront im Lande.

An den Fronten platzen über den feindlichen Linien Granaten und schütten Tausende dünner Flugblätter nieder, in denen kurze Darstellungen der Ziele, für die die Rote Armee kämpft, enthalten sind, aber auch satirische Gedichte gegen den Pan Schlachzizen und gegen den baltischen Baron.

In den Straßen sieht man Schaufenster, die einzigen, hinter denen noch Leben ist, das sind die Schaufenster des Zentropetschat, der Buchverteilung und der Rosta, des offiziellen Telegraphenbureaus. In diesen letzteren kannst du große amüsant gezeichnete Karikaturen sehen, die sich mit Tagesereignissen beschäftigen, politische und militärische Feinde verhöhnen und den Schleichhändler, den Kulaken, den Großbauern, der mit den Lebensmitteln nicht herausrückt, wie auch den faulen Arbeiter, dem die Sonne auf den Bauch scheint, an den Pranger stellen.

Man könnte fast sagen, daß auch die Zeitungen der Bolschewiki, die »Prawda«, die »Iswestia« vor allem, ausschließlich der Propaganda dienen. Zuweilen habe ich mir einzelne Nummern 75 übersetzen lassen. Diese offizielle Presse verfügt über einige geniale Mitarbeiter, Sosnosky, Radek, Bucharin, Stjeklow – sie ist schon bunt und unterhaltsam, aber man erfährt aus ihr so gut wie nichts. Sie ist zu drei Vierteln mit Polemik angefüllt – einer Polemik gegen Gegner, die sich nicht verteidigen können, weil ihnen das papierne Maul gewehrt ist, das letzte Viertel aber enthält Neuigkeiten aus dem In- und Auslande, die ausschließlich auf Fortschritte der Weltrevolution Bezug haben und dem Passanten mit äußerstem Nachdruck ins Gehirn gehämmert werden, und gegen die man allmählich eine gelinde Wut und Revolte in sich aufsteigen fühlt. Denn schließlich ist ein 150-Millionen-Reich auf die Dauer nicht in solcher Form von der übrigen Menschheit abzusperren. Die Bolschewiki beantworten die wirtschaftliche Blockade mit einer Gedankenblockade – sehr zum Schaden des Passanten. Des Passanten – jedermann ist dieser Passant, denn die Zeitungen haben zu wenig Papier zur Verfügung, kleben an den Mauern und haben infolgedessen einen weiteren Leserkreis als welches Weltblatt immer, das nummerweis verkauft wird.

Züge mit Propagandamaterial werden allmonatlich von den Bahnhöfen Moskaus nach allen Richtungen ins weite Land hinausgesandt. Nicht nur politische Propagandazüge und die bekannten Trotzkizüge der Roten Armee – Propagandazüge für die Landwirtschaft, für den Unterricht, die Volkshygiene, die Proletkult. Ich sah das Material für einen Propagandazug, der nach Samara, in die Erntegebiete, abgefertigt werden sollte. Auf großen Tafeln war da die Entstehungsgeschichte 76 einer Bürste, beginnend mit einem Holzklotz und einer Borste, bis zur Vollendung des komplizierten Gebildes: Besen-, Topf-, Kleider- und Haarbürste in all' den zur Herstellung notwendigen Materialien dargestellt. Mit dem Zug sollten Leinwandweberinnen an einfach gezimmerten und leicht herstellbaren Webstühlen, geschickte Vorarbeiter für die Herstellung landwirtschaftlicher Geräte und außerdem redegewandte Genossen mitfahren, die den Bauern Vorträge über alle Probleme der Bodenkultur und der Bewirtschaftung halten sollten. Chemische Substanzen und Geräte füllten einen Schrank. Tafeln zeigten in graphischer Darstellung alle Stadien der Kornkrankheit, der Klauenseuche. Außerdem war ein kleines anatomisches Museum vorhanden, das das Innere des menschlichen Körpers und pathologische Veränderungen des Herzens, der Atmungsorgane, der Leber und der Milz vorführte. Ein Berg von Broschüren aller Art, Anleitung zur Futterbereitung, zur Schweinemast ging mit. All dies schien wohl geordnet und erwogen. Auch eine hübsche Darstellung, wie man mit geringer Mühe Kinderspielzeug herstellen könne, fiel mir auf. Die Freude an dieser wirklich prächtigen Gesamtarbeit wurde mir natürlich wieder durch die Sowjet-Bourgeoise verleidet, die, als sie mir alles gezeigt hatte, mit sauersüßer Miene erklärte: die Regierung sollte den Bauern lieber Schuhe, Petroleum und Salz schicken, als sie mit Wissen zu füttern.

 

Es ist in Rußland ein harter, erbitterter Kampf gegen die Vereinigung oder die Verschmelzung der Propaganda mit dem Schulwesen geführt worden. Nicht zuletzt innerhalb der 77 Kommunistischen Partei selbst. Hier ging allerdings der Kampf nicht ausschließlich um das Prinzip, sondern er hatte einen Beigeschmack des Streites um die Organisation und Kompetenz, wie das bei einem so wenig gefesteten Apparat wie die Sowjet-Verwaltung entschuldbar und erklärlich ist. Die lokalen politischen Behörden wollten sich nämlich in ihre Agitationsarbeit nicht vom Kommissariat für Volksaufklärung dreinreden oder hineinpfuschen lassen. Es handelt sich im wesentlichen um folgendes Problem: wie weit ist die Aufklärung über das politische, d. h. das ethische Ziel des Kommunismus identisch mit der wissenschaftlichen Aufklärung der Massen? Die Physik, die Mathematik kann natürlich niemals zu Zwecken der politischen Propaganda benutzt werden. Aber wie steht es um solche Wissenszweige wie die Weltgeschichte, die Geographie, die Hygiene?

Lunatscharsky formuliert die Kernfrage: ob das Kommissariat für Volksaufklärung ein Werkzeug der Aufklärungsarbeit für die Ziele der Kommunistischen Partei sein dürfe oder nicht, in diesen Worten: »Wie könnte es in einem proletarischen Staat einen Volksunterricht ohne kommunistische Propaganda geben? Haben wir, die wir kommunistische Propaganda treiben, uns jemals mit etwas anderem beschäftigt als mit der Volksaufklärung? Ist denn die revolutionäre Propaganda nicht die einzig wahre Volksaufklärung auf dem Gebiete, das dem Volke am meisten notwendig ist, das zu seinen dringendsten täglichen Bedürfnissen gehört? Wenn wir aus Erwägungen der proletarischen Taktik fordern, daß der Schul- und der Fortbildungsunterricht vom Geiste 78 des wissenschaftlichen Sozialismus beseelt sein müssen, so könnten wir mit gutem Gewissen die gleiche Forderung aus Gründen der höchsten wissenschaftlichen Objektivität stellen.«

Das erschütterndste Erlebnis, das der nach Rußland kommende Fremdling erfährt, ist: bisher in grausamster Weise unterdrückte Schichten des russischen Volkes sind, man kann sagen über Nacht, zu stärkstem Selbstgefühl erwacht. Dabei sind Instinkte entbunden worden, die durch die Sklaverei Jahrhunderte hindurch zurückgedämmt und gepreßt gewesen sind. Wer sonst als der Lehrer wäre befugt und berufen, diese wild emporschießenden Instinkte nach der Seite hin zu lenken, wo sie für die Gemeinschaft nutzbar gemacht werden können? Die Verwilderung des Triebes in baren Egoismus zu verhindern und hintanzuhalten? Zumal die Sinnesverfassung des Arbeiters und des Bauern bedarf infolge der radikal veränderten wirtschaftlichen Basis der Produktion einer sicheren und energischen Führung.

Von all' den vielen Propagandaheften und Schriftchen, die ich durchgesehen habe, ist mir eines das Bemerkenswerteste geblieben. Über dieses Heft will ich ausführlichen Bericht geben, weil es mir als vollendetes Werkzeug in den Händen der bolschewistischen Machthaber erscheint, zugleich aber die vollständige Rechtfertigung der uns gewaltsam erscheinenden Verbindung: Propaganda und Unterricht dartut. Dieses Heft ist vom »Allrussischen Verband zur Liquidierung des Analphabetentums« herausgegeben, stellt eine Fibel für des Lesens und Schreibens unkundige Erwachsene vor und enthält, mit einer kleinen Anthologie populärer klassischer und moderner 79 Gedichte und einem Kalender Anleitungen für den Lehrer zum Gebrauch der Fibel selbst.

Auf dem Heft, das die Aufschrift »Nieder mit dem Analphabetentum!« trägt, sieht man ein primitives Bildchen: ein verwundeter Soldat lehrt einen alten Bauer die »Prawda« lesen. Auf dem Tisch der Bauernstube steht ein Tintenfaß. Eine junge Bäuerin lehrt eine andere, die ihr Kind stillt, in einem Buche lesen. – Hier sieht man also Lehrer und Schüler beisammen. Die Lehrer sind Soldaten, Arbeiter, Bauern und Bäuerinnen, die vor kurzem noch selber nicht schreiben und lesen konnten. Jetzt lernen sie sozusagen die zweite Klasse der Wissenschaft, indem sie andere in der untersten ersten unterweisen. In diesem Sinne sind die Instruktionen für den Lehrer in dem Heftchen verfaßt: für primitive, aus der Lethargie der Unwissenheit eben erst erwachte Intelligenzen. Die Freude an dem Lernen entfacht sich an der Freude, anderen das mitteilen zu können, was man selber weiß, und zwar seit kurzem erst weiß. So zieht das große, durch die Bolschewiki erweckte Volk Rußlands jetzt in enge aufeinander folgenden Staffeln in das Gefild einer werdenden Kultur ein.

Wer wollte es den Männern der Oktoberrevolution verdenken, daß sie bei dem Buchstaben F statt Fisch, Fliege, Fuhrmann die Worte »Fabrik, Front, Flagge, Fackel« hinsetzen? Daß für fortgeschrittene Schüler der Name »Friedrich Engels« und das Wort »Föderative Republik« genannt ist? . . .

Der Konsonant R und der Vokal A sollen in einem Wort zusammengestellt werden. Der Satz, der dieses Wort enthält, lautet: 80

»Muj nje rabi.«

»Wir sind keine Sklaven.« Die Variante:

»Muj nje bari.«

»Wir sind keine Herren.«

Ein Satz mit den Vokalen I, O, U.

»Miri swobodu.«

»Wir bringen der Welt die Freiheit.«

Andere Sätze heißen: »Alle Macht den Räten.« »Unsere Armee ist eine Armee der Arbeiter und Bauern.« »Der Kommunismus ist die Fackel unseres Glaubens.« – Das erste Lesestück ist eine Rede Trotzkis. Die erste Übung für Fortgeschrittene enthält für den Lehrer folgende Anweisung: »Das Dekret über die Liquidierung des Analphabetentums erschien am 26. Dezember 1919. Gib dieses Datum in kürzester Form wieder. – Sage, wieviel Zeit seit jenem Datum vergangen ist? – Erzähle, was man bei euch im Dorf, in der Fabrik getan hat, um dieses Dekret zu verwirklichen? – Sage, was dein persönlicher Anteil an der Verwirklichung dieses Dekretes ist.« –

 

Die Gebildeten in größeren und kleineren Orten aller Gouvernements werden von Zeit zu Zeit mobilisiert, d. h. sie werden in die Dörfer geschickt, um ihre unwissenden Brüder und Schwestern in der Kunst des Lesens und Schreibens zu unterrichten. In den Fabriken werden Hefte verteilt, in denen zum Beispiel ein Dialog zwischen einer Kommunistin und einer politisch Indifferenten in großer leserlicher Schrift gedruckt steht: An der Front, um ein Beispiel zu nennen, wird ein Propagandaheft verteilt: »Warum soll 81 das Fußvolk die Reiterei nicht fürchten?« Die Fabrikarbeiterin lernt erkennen, wofür sie schuftet, der simple Soldat lernt Strategie. Dies ist Aufklärungsarbeit, Propaganda und Unterricht in einem.

Es wird den Bolschewiki vorgeworfen, daß sie zu viel Papier für ihre Propagandaschriften verwenden, viel zu wenig für den Druck ihrer Schulbücher. Und wirklich – die prunkvollen, luxuriösen Monatshefte in Großquartformat der »Kommunistischen Internationale« stellen einen Unfug vor. Das Analphabetenheft haben sie in einer vorläufigen Auflage von drei Millionen auf mittlerem Papier gedruckt.

 

Die Kinder Rußlands, die Kinder der Ärmsten sind glücklich und heiter. Für sie sorgt die Regierung mit allen Mitteln, die das verelendete Land gegenwärtig aufbringen kann. Über das Versagen der Schule, über das verhängnisvolle Problem der Volksernährung berichte ich in anderem Zusammenhang. Hier nur so viel: Villen, Schlösser und Paläste der enteigneten Reichen sind in den Städten und auf dem Lande in Kinderheime, Kindersanatorien, Fröbelgärten verwandelt. Die notwendige Zahl von Kalorien, die zur vollkommenen Erhaltung der Gesundheit erforderliche Zahl ist in Rußland bei der Verteilung der Lebensmittel auf den Kopf der Bevölkerung in keinem Falle erreicht (vielleicht bei dem Frontsoldaten – gewiß nicht bei irgend anderen Individuen innerhalb und außerhalb des Kreml!), der höchsterzielbare Prozentsatz aber entfällt auf die Kinder. Viele Güter, darunter Jassnaja-Poljana, Tolstojs Wohnsitz, beherbergen jetzt 82 Kinderkolonien. Leider war es mir nicht vergönnt, nach Jassnaja zu fahren. Ich hatte im Kommissariat für Volksaufklärung angeregt, es solle uns ausländischen Publizisten ein Waggon zur Verfügung gestellt werden zu diesem Zweck; eine kleine Gruppe hatte sich im Nu angeschlossen; alles schien in bester Ordnung; dann wurde das ganze Projekt durch die Fahrlässigkeit des Beamten natürlich ohne Entschuldigung verbummelt. Dies zum endlosen Kapitel: »Russische Ämter.«

Aber ich habe doch eine ganze Anzahl Kinderheime in Moskau, Petersburg und in der Provinz zu sehen bekommen und genau besichtigen können. Das bestgehaltene war das Petersburger Beobachtungsheim für geistig und sittlich unnormale Kinder. Ein ausgezeichnet eingerichtetes, von tüchtigen Lehrern und Psychologen beaufsichtigtes Institut in den Räumen des weiland vornehmsten Hotels der Stadt. Die gesamte Arbeit der Volksaufklärungsabteilung wird in Petersburg von der Genossin Liljina, der Frau Sinowjews, geleitet. In allen Kinderheimen gibt es Klubräume, an die Schulsäle stoßende Ausstellungszimmer, in denen die naiven Zeichnungen, Skulpturen und gemalten Wahlsprüche der Kinder nett arrangiert zu sehen sind, Bühnen für Theateraufführungen und für Übungen des Kurses für rhythmische Gymnastik. In Petersburg wurden uns allerliebste Darstellungen vorgeführt; wir sahen eine Kinderaufführung des Märchens »Vom Fischer und sin Fru«, Übungen nach dem System Dalcroze; auch viele modernste Erziehungsmethoden der Amerikaner schienen hier durchgeführt zu sein – oder erst in der Absicht angedeutet.

Der amerikanische Unterricht zum 83 Staatsbürgertum, die »Civic-Stunde«, die in mir vor etwa einem Jahrzehnt in einer Mittelschule Chicagos einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen hatte, dient als vollendete Rechtfertigung der Bolschewiki, denen man Propagandaarbeit unter Kindern vorwirft. Wie die große Masse der erwachsenen Analphabeten durch die Bolschewiki geistig befreit wurde, so verhält es sich, geistig und körperlich, mit dem Kindern der armen und unterdrückten Klassen des 150-Millionen-Volkes.

Nicht über diese Arbeit will ich noch referieren, sondern über die Erfahrungen, die wir mit einem 13jährigen Jungen in einem Kinderheim in Iwanowo-Wosnessensk gemacht haben. Sie zeigen an einem Beispiel, welche Resultate die Propagandaarbeit in dem Material, das die Bolschewiki vorgefunden haben, erzielen kann. Wassili K. aus Jurjetz, Sohn eines in der Revolution gefallenen Vorarbeiters, Bruder ebenfalls in der Revolution gefallen, Mutter Kontrolleurin auf einem Wolga-Dampfer. Als wir den Saal des schönen Hauses – es hatte einem reichen Tuchfabrikanten gehört und war erst im Krieg fertig geworden – betraten, saß Wassili an dem herrlichen Bechsteinflügel und spielte eine kleine russische Volksweise. Wassili ist Autodidakt; er spielte besser als die junge Lehrerin, die nachher den Chorgesang der »Internationale« zu begleiten hatte. Als Wassili hörte, die kleine Frau, die mit uns hereingekommen war, sei Angelica Balabanoff, die große alte aber Klara Zetkin, trat er artig zu uns und begann zuerst Balabanoff auszufragen: wie es mit dem Moskauer Konservatorium bestellt sei. Ob Balabanoff ihm dort 84 eine Studentenstelle verschaffen könne? Nachher fragte er unsere Zetkin: welchen Eindruck sie von Rußland habe, ob sie den Genossen Lenin und Trotzki schon begegnet sei, wie es mit dem Musikunterricht in Deutschland aussehe, ob Zetkin glaube, er könnte sich an einer der großen Musikakademien Deutschlands in seiner Kunst besser vervollkommnen, als das in Rußland möglich wäre? Wir erklärten Wassili durch einen Dolmetscher den Unterschied zwischen den Lebensbedingungen für die Kinder der Armen in Rußland und in Deutschland, Konservatoriumsunterricht usw. Worauf Wassili mit unerschütterlichem Ernst, klarem Blick und einer ruhigen Würde, die sich in seinen kleinen gemessenen Handbewegungen wie auch in der ganzen Art und Weise kundgab, wie er zu uns Erwachsenen völlig gleich einem Erwachsenen und Gleichberechtigten sprach, die Notwendigkeit zu erörtern begann: Daß die politischen Verhältnisse Deutschlands umzuwälzen seien, wie das in Rußland geschehen wäre. Wenn die Bildungsmöglichkeiten für die Kinder der Ärmsten in Deutschland, dem kultivierten Land, schwerer seien als in Sowjet-Rußland – dann sei es Pflicht der deutschen Arbeiterschaft, hier Wandlung zu schaffen, die Bourgeoisie davonzujagen und von der Staatsgewalt Besitz zu ergreifen. Er trug der Genossin Zetkin auf, diesen Wunsch der deutschen Arbeiterschaft zu übermitteln und gab der Hoffnung Ausdruck, daß er in absehbarer Zeit ein Konservatorium »in dem befreiten Deutschland« werde beziehen können . . .

Dies ist bloß eine amüsante Episode und durch die kindliche Naivität, mit der Wassili – 85 allerdings ein ernstes, begabtes und leidenschaftliches Kind – seine Ansprache gehalten hat, klingt sie um einen Grad noch unterhaltsamer. Indes, sie sollte uns allen, uns und euch, zu denken geben. Was die Bolschewiki für die Kinder Rußlands tun, geistig und materiell, ist nicht auf Kinderwohlfahrt, Körper- und Geistespflege allein beschränkt. Die Stärkung des Selbstgefühls in den bisher unterdrückten Schichten vervielfältigt sich in den jungen Intelligenzen der befreiten Massen. Hier erziehen sich die Bolschewiki mit den reinsten und einfachsten Mitteln eine ungeheure Zukunftskraft, eine Waffe, mit der die Welt wohl erobert werden könnte. Der Frohsinn und Aufschwung, die die Kinder der Ärmsten Sowjet-Rußlands erleben, wird sie befähigen, die Zeit der furchtbaren Not, unter der die Erwachsenen seufzen und der sie zu erliegen drohen, zu überstehen.

Niemals, niemals werden die kleinen befreiten Intelligenzen, die kleinen, zur Freiheit erzogenen Seelen und Körper der russischen Kinder vergessen, wem sie ihre Freiheit verdanken! Es ist nicht Agitation und nicht Propaganda allein, was die Bolschewiki bis zur Virtuosität ausgebildet haben. Es ist etwas mehr, etwas anderes, etwas Unvergängliches. Hier, wenn irgendwo in dieser heutigen Welt, ist ein Samen gesät.

 


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