Josef Hofmiller
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Josef Hofmiller

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Der »Δ-Kritiker«

Musik-Kritiken

Beethovenabend des »Kaim-Orchesters«.

1901

Die Ouvertüre zu den »Geschöpfen des Prometheus« und die achte Symphonie zeigen so recht Beethovens Humor, beide allerdings in verschiedenem Grade und in anderer Art, dem langen Zeitraum entsprechend, der zwischen ihnen liegt. Gegenüber dem esoterischen und kontemplativen Humor der letzten Sonaten und Quartette entwickelt Beethoven in seinen Symphonien einen außerordentlich direkten, naiven Humor von grandioser Volkstümlichkeit. Beim Anhören solcher Werke überkommt einen ein leises Bedauern, daß Beethoven zu einer Zeit, wo er noch umgänglicher war und noch nicht in erhabener Einsamkeit über allen menschlichen Dingen schwebte, nicht einen anständigen Text zu einer komischen Oper bekommen hat. Was hätte das werden müssen! Diese lustige Grundstimmung steckt auch in der Achten; in allen Formen des Ausdrucks spielt hier Beethovens Humor, vom feinsten geistvollsten Scherze bis zu übermütiger Persiflage (des Mälzlschen Metronoms) und tobender Laune. Deutlich klingen Themen an, die vom »Heurigen« herübergeweht worden sind, einfache Weisen von Volkssängern, von herbstlichen Tänzen, nordischen Singspielen. Jeder Kenner Beethovens weiß, daß er sich gern von Wiener Volksmelodien anregen ließ, um dann ganz Außerordentliches daraus zu machen. Hausegger ist ein tüchtiger Beethoven-Dirigent; er beherrscht die Werke, nicht nur dem Gedächtnis nach (er dirigierte alles auswendig), sondern auch stilistisch; eine gesunde und sichere Kraft trägt seine Auffassung jedes Werkes.

1901

Das Symphonie-Konzert des Kaim-Orchesters zu ermäßigten Preisen erfüllte den Wunsch, den ich vor vierzehn Tagen hier geäußert habe: es brachte »nur« die beiden großen Symphonien Schuberts, die unvollendete in H-moll und die siebente in C-dur. »Freudschauernd« lernte, nach seinem eigenen Zeugnisse, Schumann 1838 in Wien die große C-dur-Symphonie kennen. Zehn Jahre lang war das herrliche Werk unerkannt unter den Nachlaßsachen Schuberts gelegen und erst am 22. März 1839 fand die erste Aufführung in Leipzig unter Mendelssohns Leitung statt. Noch merkwürdiger war das Schicksal der H-moll-Symphonie, die volle vierzig Jahre lang verschollen war, erst 1865 erklang das wundervolle Fragment zum erstenmal. Durch zwei Zufälle ist uns so der Symphoniker Schubert erhalten geblieben, der sich mit diesen zwei Werken direkt an die Seite Beethovens gestellt hat. Darum habe ich es so innig gewünscht, darum auch so freudig begrüßt, daß man ausschließlich diese beiden Werke einmal in einem Konzerte aufführte. Hausegger hat das Wagnis unternommen, dieses kühne und stolze Programm aufzustellen; er hat mit edler Begeisterung und energischer Kraft dirigiert. Hervorragend gelungen war gleich das Allegro der H-moIl-Symphonie mit dem strahlend schönen wiegenden Gesang der Violinen. Geistreich und mit köstlicher Laune kam das Scherzo der C-dur-Symphonie heraus und mit dröhnender Wucht rauschte das Finale einher, das wohl für alle Zeiten, eines der großartigsten Werke bleiben wird, die je geschrieben worden sind. Je mehr ich Hausegger höre, desto mehr staune ich über seine rastlose Energie, seinen hohen künstlerischen Ernst und sein fabelhaftes Gedächtnis. Ich wünsche, daß sein Beispiel auch anderwärts Nachahmung finde. Denn diese zwei Symphonien gehören in jeder Saison aufgeführt, bis sie ebenso populär werden wie diejenigen von Beethoven es schon sind und diejenigen von Brahms und Bruckner es werden müssen. Denn diese beiden letzten verehrten Namen, deren Träger bei Lebzeiten durch die gehässige Dummheit ihrer Anhänger in ein Antipodenverhältnis geraten waren, nennen wir ruhig in einem Atem. Vielleicht führt uns Hausegger auch seinen Barbarossa vor, der in Berlin so warme Anerkennung gefunden hat, dazu vielleicht etwas von unserm lieben alten Alexander Ritter und von Richard Strauß? Der Saal war übrigens wieder so gut wie ausverkauft und der größere Teil des Publikums zeigte für Hauseggers Absicht, die einzelnen Sätze ohne Pause zu verbinden, Sinn und Sympathie. Es wäre auch viel gescheiter und stilvoller, wenn das Geklatsche zwischen den Sätzen in Zukunft fortfiele.

 

1901

Der von der Münchner Kammermusikvereinigung unter Mitwirkung von Frau v. Kaulbach-Scotta im Museumssaal veranstaltete Bläserabend bot hervorragende Genüsse. Das Oktett in C-moll von Mozart für zwei Oboen (HH. Reichenbächer und Millé), 2 Klarinetten (HH. Wagner und Walch), 2 Hörner (HH. Hoyer I und Busch) und 2 Fagotte (HH. Abendroth und Koch) wurde graziös und frisch gespielt; besonders schön war der letzte Satz: zuerst wird das Thema viermal variiert, das viertemal sehr reich und frei, dann folgt ein strahlend schöner Mittelsatz in Dur, in dem die Hörner das große Wort führen, dann wieder drei Variationen, von denen die vorletzte harmonisch sehr eigenartig und die letzte, wieder in Dur, von prachtvollem Feuer ist. Wieviel leuchtende Anmut, wieviel liebenswürdiger Geist ist über dieses zierliche Werk ausgegossen! Als zweite und wohl wertvollste Gabe des Abends folgte das Trio Op. 40 von Brahms, gespielt von Frau Kaulbach (Violine), Herrn Hoyer I (Horn) und Herrn Schmid-Lindner (Klavier). Man sollte von diesem wundervollen Werke nur im Tone innigster Ehrfurcht und reinster Begeisterung sprechen. Welch stolze und gelassene Schwermut singt aus dem sinnenden Andante! Wie stürmt unbändig und in kraftvoll überschäumendem Humor wie in wildem Galopp das Scherzo dahin; dazwischen wieder Minuten des zartesten, selbstvergessenen Hindämmerns, Hinträumens; – es ist, als wenn mit einemmal silbernes Mondlicht über eine nächtliche Landschaft aus zerrissenen Wolken flösse, und alle Bäume am Wege biegen sich und leiser zieht der Stern in dunklem Glänzen; dann wieder ein plötzliches Aufbäumen und übermütig-jauchzend geht der Ritt weiter. Ich mußte immer an die nächtlichen Ritte Goethes nach Sesenheim denken ... Frau v. Kaulbach spielte dieses, trotz aller sanften Sehnsucht, so herb und stolz männliche Werk mit großem Zuge und männlicher Kraft, von den beiden Herren trefflich unterstützt. Die Zuhörer waren von dem Werke sichtlich im Innersten ergriffen. An Brahms ist hier in München manche Unterlassungssünde begangen worden. Nun scheint die Zeit gekommen, wo diesem großen, ehrlichen und herrlich deutschen Genius auch hier in München sein königliches Recht wird! – Die Phantasiestücke Op. 73 von Schumann für Klavier (Herr Schmid-Lindner) und Klarinette (Herr Walch) sind drei feine, ungemein liebliche und zart getönte Skizzen, frisch wie ein Frühlingsmorgen. Klavier und Klarinette wetteiferten in graziösen Nuancen. – Frau v. Kaulbach hatte sehr schöne Blumenspenden empfangen. Schönere und vollere Rosen aber, als sie durch ihr seelenvolles Spiel auf das Grab unseres geliebten Meisters Johannes Brahms gelegt hat, können ihr nimmer gegeben werden!

 

1901

Volks-Symphoniekonzert des »Kaim-Orchesters«.

Siegmund v. Hausegger dirigierte Beethovens Ouvertüre »Zur Weihe des Hauses« und Mozarts G-moll-Symphonie. Dem energischen Interpreten Wagners und Brückners liegt das Beethovensche Werk mit seiner manchmal ganz meistersingerhaft gemahnenden Formensprache besser als die unendlich geistreiche und zartest beschwingte Symphonie Mozarts. In der Tat steht vielleicht kein Werk Beethovens, die Diabelli-Variationen ausgenommen, dem Stil der Meistersinger so nahe wie diese Ouvertüre, und über manches Gesicht zog ein Lächeln freudiger Überraschung, als im letzten sequenzenhaften Teil von den Holzbläsern das gemütvoll-behäbige Thema des zweiten Taktes der Meistersinger-Ouvertüre einen Augenblick deutlich anklang. Für die G-moll-Symphonie ist Hausegger vielleicht noch zu jugendlich stürmisch, doch konnte auch der Hörer, dem die entzückend feine Filigranarbeit des ersten Satzes etwas zu rauh angefaßt schien, des energischen Temperaments und behaglichen Humors, mit dem Hausegger den Menuet herausbrachte, von Herzen froh werden. Zwischen beiden Werken spielte Herr Guido Peters das Es-dur-Konzert von Beethoven mit gewandter Technik und gesangvollem Anschlag. Besonders das schöne Adagio, dessen charakteristisches Thema auch anderwärts bei Beethoven, z. B. in den Bagatellen, wiederkehrt, war bei aller Deutlichkeit mit dem zartesten Legato herausgearbeitet. Die traumhaft zögernde Stelle unmittelbar vor dem Rondo kann kaum schöner gespielt werden.

 

1901

Kammermusikabend im Museum.

Mit dem G-dur-Quartett Op. 18 Nr. 2 von Beethoven wurde der Abend eröffnet. Was soll man noch zu dieser heiteren und geistreich belebten Musik Worte machen? Wie fest und meisterhaft gefügt ist das Ganze! Jeder Satz ein Organismus in sich und alle vier Sätze eine organische Einheit, Früchte eines Baumes und an einem Sonnentage gereift. Man muß immer und immer wieder bewundern, wie sogar bis in die nur scheinbar äußerlichen Verzierungen Beethovens Werke, jedes für sich, zusammengestimmt und stilistisch geschlossen sind. Das Quartett Op. 84 Nr. 3 von Spohr zeigt die Vorzüge dieses Meisters in hellem Lichte: eine leidenschaftliche Innigkeit gesteigerter Empfindung, verbunden mit einer vornehmen Form und technischen Vollendung. Es ist ein einziges Ding, so ein Spohrsches Adagio, gar nicht so bequem zugänglich, aber echt und tief. Auch die raschen Sätze Spohrs sind eigentlich verkleidete Adagios; wie wenn mitten im Reigen tanze ein süßer, dunkler Blick eines Mädchens ihre feine gütige Seele erraten läßt. Das 1898 in Prag preisgekrönte D-dur-Quintett Webers bildete den Schluß. Das gefällige aber schwierige Werk wurde mit Schwung gespielt und fand reichen Beifall, besonders der kecke zweite Satz und das humorvolle Finale. Die HH. Weber und Leitner (Geige), Bihrle (Bratsche), Ebner und Fleißner (Cello) haben sich sehr gut eingeführt. Sie spielen schon jetzt gut zusammen und werden sich noch besser zusammenspielen. Schon gestern war es oft, als ob die Schönheit und sanfte Gewalt der Töne den Saal zersprengen wollte.

 

1904

Das Volkssymphoniekonzert brachte, unter Raabes hervorragend glücklicher Leitung, ein Programm, wie wir's seit Hausegger nicht mehr erlebt haben: Bruckners herrliche siebente Symphonie und Hugo Wolfs Penthesilea. Die E-dur-Symphonie wurde mit stürmischer Begeisterung aufgenommen. Hier in München ist auch Boden für Brückner: nur ein Süddeutscher konnte diese Sätze voll Glanz und Farbe, voll Wucht und Pracht dichten, und nur ein kindlich frommes und gläubiges Gemüt konnte die einsame und meditative Inbrunst solch seelenvoller Gesänge gestalten. Inbrünstig ist Bruckner, aber niemals brünstig; sein Ausdruck ist stets, auch wenn er an die letzten Schleier rührt, ungemein gesund, keusch und gebieterisch; er schmachtet nicht, er verdreht die Augen nicht; kurz: Parsifal und Bruckner sind Antipoden. Auch Bruckners Orchester ist nicht modern im Sinne hoffnungsvoller Musikeleven; er wirkt nicht mit orchestraler Sauce, die möglichst scharf gepfeffert sein muß, sondern mit instrumentalen Gruppen, wie Beethoven. Man kann vielleicht Anton Bruckner als den letzten, größten und modernsten Vertreter der katholischen Kirchenmusik auffassen, die sich in seinen Werken glorreich und glanzvoll zu Ende singt; denn was nachher kommt, sind die pfiffigen Eklektiker und die sklavischen Archaiker, Die katholische Kirchenmusik ist in Brückner symphonisch geworden. Parallel mit der Entwicklung, wie die Wagnerianer sie gerne wahr haben wollen, von der Symphonie zum Musikdrama, geht eine andere, viel stärkere, tiefere, innigere: vom Wort zur absoluten Musik. Schon Beethovens Hohe Messe steht hart an der Grenze, wo das Wort versagt und als störend empfunden wird. Das Gebiet der absoluten Musik ist unendlich weiter und reicher, als die sogenannte Worttonkunst. Bei Brückner ist alle Kirchenmusik symphonisch geworden; alles Festliche und Herzliche, alle Kränze und tannengeschmückten Triumphbögen, Weihrauchduft und sonnigstes Leuchten in alten Barockkirchen, Beichtzerknirschung und Himmelfahrtsjubel, Wallfahrten mit fröhlich flatternden Fahnen und einsames Gebet in der Dämmerung vor dem ewigen Licht, Maienandacht und Kirchweihlust, alles, was im Katholizismus stark und zart und innig und festlich ist – das alles lebt in Brückners mächtiger Kunst. Er hat unvergleichlich die Elemente der alten Kirchenmusik ausgedrückt: das Hochfesttägliche, das Pastorale, das Treuherzig-Gelehrte. Er hat Stellen geschrieben, die einsam und ungeheuer dastehen: Ewigkeitsmusik von einer Tiefe, die wir nie ergründen, von einer leuchtenden Reinheit, die abseits vom ganzen Musiktreiben des 19. Jahrhunderts steht. Man tut ihm unrecht, wenn man ihn als bloßen Symphoniker auffaßt; das Organisch-Geschlossene, Prägnant-Notwendige der Symphonie ist diesem wundervollen Kindergemüt nie aufgegangen. Seine Symphonien sind glanzvoll instrumentierte Orgelphantasien einer unbändig kraftvollen und zugleich ergreifend schamhaften Seele: kaum hat er mit vollem Werke gespielt, so greift er zaghaft ins obere Manual und läßt alle Zartheiten und alle Demut seiner gnadenvollen Mannesseele verschämt Wort und Klang und Ausdruck gewinnen; Gebete sind seine Meditationen, Hymnen seine Adagios, Dörperweisen seine Scherzi, inkommensurabel seine Schöpfungen. Immer ist die Orgelphantasie das Primäre bei ihm, und manchesmal muß man die selige Schönheit seiner primären Inspiration erraten, wie bei einem Palimpseste. Von solchem Werke sagt man dankbar, daß es aufgeführt wurde. Aber auch, wie es aufgeführt wurde, ist aller Ehren wert. Peter Raabe darf zufrieden sein, – er hat ein gutes Werk getan. 1903

Im Münchener Schauspielhaus errang Ludwig Ganghofers Volksstück »Der heilige Rat«, das in Wien abgelehnt worden war, einen glänzenden Erfolg. Das Werk war klugerweise nicht wie in Wien als ländliches Drama, sondern als Komödie aus dem Volksleben auf dem Zettel bezeichnet worden; das trug zum Erfolge wesentlich bei. Denn auch das harmloseste Publikum weiß, daß eine Komödie aus dem Volksleben im wesentlichen auf eine rührsame Posse hinausläuft, die man weiter nicht ernst zu nehmen und bei der man sich nicht aufzuregen braucht. Der Untertitel eines Stückes ist so wichtig wie beim Weine die Etikette: was die Flasche enthält, ist belanglos; wenn nur »Rauenthaler Berg« darauf steht, wenn nur das Getränke süß und süffig die Kehle hinunterläuft, darf es auch »Grünberger Schattenseite« sein. Der Verfasser hatte bei der ersten Bearbeitung das Stück tragisch ausgehen und die unsympathischste Person des Dramas am Schlusse triumphieren lassen. In der neuen Bearbeitung triumphiert das kosende Pärchen, ziehen die unsympathischen Bösewichte mit langen Nasen ab und geht alles glücklich zu Ende: so will's das Publikum haben; Ganghofer ist kein Unmensch: »Hier stehe ich, ich kann auch anders!« Das durch Anzengruber vorgebildete Wieher Publikum sollte einen Anzengruberischen Schluß vorgesetzt bekommen, das durch Ganghofer vorgebildete Münchener Publikum hatte sein Recht auf einen Ganghoferischen Schluß; das kann auch der einfache Parterrebesucher für seine Mark verlangen, daß die Geschichte versöhnlich endet: man ist doch in einem Volksstück und in keinem Drama! Um beim Gleichnis vom Weine zu bleiben: Es ist eine Tatsache, daß früher sehr viele Rhein- und Moselweine für den süddeutschen, speziell Münchnerischen Konsum »aufgerichtet«, d. h. parfümiert und gezuckert wurden, weil der Durchschnittstrinker vom Weine ebensoviel versteht, wie ein Durchschnittsleser vom Drama. Wie oft hat man es nicht totgesagt, das liebe, sentimentale oberbayerische Volksstück! Wie oft haben ehrlich entrüstete Leichenredner ihm böse Nekrologe gehalten! Das Volksstück aber lebt, es ist nicht umzubringen. Es wird immer Leute geben, denen Konrad Kiesel künstlerisch höher steht als Albrecht Dürer. Die tränenfeuchten Seelen werden allezeit bis ins Innerste erregt werden, wenn ein Leierkasten mit seinen weihevollsten Klängen intoniert: »Bei ihrem schwer erkrankten Kinde« ... Auch die Liebhaber des spezifisch oberbayerischen Volksstückes werden nicht alle werden. Wie gut unser Autor das Volk kennt! Daß unsere katholischen Bauern eine Bibel im Hause haben, wußten wir bisher nicht; in unserem Unverstande glaubten wir, man dürfe ganz Oberbayern und das schöne Land Tirol absuchen, ohne in einem einzigen katholischen Bauernhause eine Bibel zu finden. Ganghofers Bauern haben sogar die Lutherbibel im Hause. Darauf aber, daß 1. die Nachbarin ihre Heilige Schrift so genau kennt; daß 2. die Seehoferin die Bibel im Hause hat; daß 3. die Nachbarin auf den Einfall kommt, der kinderlosen Seehoferin das Experiment der Sara mit der Hagar zur Nachahmung zu empfehlen; daß 4. die Seehoferin auf den Vorschlag eingeht; daß 5. der Seehofer sich dazu bereden läßt, um einen Erben zu bekommen; daß 6. justament ein dazu passendes Mädchen im Hause ist; daß 7. auch dieses Mädchen einwilligt; daß 8. dieses Mädchen schon in der Hoffnung ist, aber von dem Knecht; daß 9. ein Jahr nach dem untergeschobenen Sohne ein legitimer Sohn nachkommt; daß endlich 10. der Vater den illegitimen lieber hat als den legitimen – darauf ruht das Stück. Das Fundament ist solid: zehn Unwahrscheinlichkeiten, eine dicker als die andere, sind notwendig, bis eine Art Handlung in Fluß kommt. Selbstverständlich liegen zwischen dem ersten und zweiten Akte zwanzig Jahre Pause; wir sind ja in einem Volksstück! Eine Zeitlang tut nun der Autor, als ob er die Sache schlimm ausgehen lassen wolle. Der erfahrene Volksstückbesucher aber läßt sich nicht anschmieren: er weiß, daß in der letzten Szene des letzten Aktes ein liebendes Paar sich busseln wird und daß sämtliche Personen, natürlich nur die edlen Menschen, in Rührung schwimmen werden wie die Kücheln im Schmalzpfandl. Der erfahrene Volksstückbesucher verrechnet sich niemals: Letzter Akt letzte Szene: ein Liebespaar busselt; ein Ehepaar liegt sich gerührt in den Armen; im Vordergrunde der alte Pfarrer, der ins Wasser gefallen ist, mit triefenden Kleidern; im Hintergrunde die Bösewichte, Vater und Sohn, die sich scheu zur Tür hinausdrücken: ersterer einen durch Zufall verhüteten Mord, letzterer einen tatsächlich begangenen Inzest im schuldigen Busen verbergend. So was macht in einem Volksstück gar nichts. Wenn nur der richtige Bua sein richtiges Deandl kriegt! Das ist Ganghofers neues Stück!

Das ist im Schauspielhaus jubelnd applaudiert worden! Immer wieder rief man den Autor; man wurde nicht müde, den Mann zu sehen, der dieses schöne, rührende, humorvolle, echte Volksstück geschrieben hatte. Warum doch unterließ es dieser Mann, nach berühmtem Muster zu seinen Getreuen zu sprechen: »Sie haben gesehen, was wir können: an Ihnen ist es nun, zu wollen. Und wenn Sie wollen, haben auch Sie Ihre Heimatkunst.« – Größte und aufrichtige Anerkennung den Schauspielern, die mit diesem Werke sich mühten. Neuerts Pfarrer, Linds Kronschnabl, Schwartzes Seehofer, Esslairs Knecht, die Damen Nebauer, Ida Müller, Luise Fischer, Anny Blaha als Mutter, Magd, Nachbarin und Veverl: Leistungen, die schlechthin vollendet waren; diese Leistung der Schauspieler allein schon ist es wert, daß das Stück sich eine Zeitlang hält. Im übrigen ist nun die Konfusion in unsern Theatern komplett. Im Hoftheater die Fledermaus, im Residenztheater Ludwig Thoma, im Gärtnertheater Monna Vanna, im Schauspielhaus ein Volksstück: nächstens wird Schmids Marionettentheater die Götterdämmerung ankündigen und das Prinzregenten-Theater: »Schuriburiburischuribimbampuff oder Kasperl als Porträtmaler.«

1903

Der Akademisch-dramatische Verein hat durch das Personal des Schauspielhauses Anton Tschechows »Onkel Wanja« zum erstenmal in Deutschland aufführen lassen. Tschechow war eine Zeitlang Favorit des literarischen Spezialitätentheaters; augenblicklich hat ihn gerade Gorki abgelöst, aber auch er wird wohl nicht allzulange Mode sein: Die kleinen Berliner Nachtcaféästhetiker schauen sich gegenseitig schon ganz gelb und giftig an, ob nicht der Konkurrent den neuen Ausländer, der auf die dummen Deutschen losgelassen werden soll, schon eingeschmuggelt habe. Immerhin ist Tschechow ein ganz gutes Papier der Literaturbörse, und all die kleinen Makler, die den französischen Maupassant nicht kennen, bieten ihn als den russischen Maupassant an. Sein Drama »Onkel Wanja« ist, wie sich von selbst versteht, eine Novelle, die so unvorsichtig war, in vier Akten anstatt vier Kapiteln auf die Welt tu kommen. Als Novelle müßte man auch den Inhalt erzählen; ihn in einen Bericht zusammendrängen, ist müßig. Die Andeutung genüge, daß der Zuschauer von den auf der Bühne sicb langweilenden Neurasthenikern bald angesteckt wird und sich ebenfalls langweilt. Langeweile und Lebensekel sind das moderne Analogon zur aristokratischen Furcht- und Mitleidstragik. Natürlich langweilt man sich bei Tschechow nicht à la silésienne, sondern à la russe; die philosophischen und sozialen Gemeinplätze sind spottbillig, das Familienleben ist einem Hundekäfig abgeguckt, die Personen öden sich gegenseitig an und wenn sie das vier Akte lang getan haben, schicken sie uns nach Hause. Ich glaube, wir täten am besten, den modernen Russen gegenüber etwas vorsichtiger zu sein. Was haben sie uns denn gegeben? Was gehen uns diese stammelnden Halbasiaten mit ihrer primitiven Technik eigentlich an? Welten liegen zwischen ihnen und uns: Homer, Dante, Shakespeare, Goethe heißen diese Welten. Seien wir doch nicht so dumm, uns all diese talentvollen Ausländer aufschwätzen zu lassen! Ich meine hiermit durchaus nicht etwa die Kleinen, sondern gerade die Größten: Was hat uns Germanen Tolstoi zu sagen? was geht uns eigentlich Zola an? Ibsen, Jakobsen, Björnson, überhaupt die Germanen – die verstehen wir, sie reden unsere Sprache, sie sind eines Blutes mit uns. Aber wenn man uns mit Russen kommt, sollten wir immer fragen: »Verehrtester, kennen Sie denn Keller, Stifter, Mörike, Gotthelf, Meyer, Storm, Anzengruber, Rosegger, die Ebner-Eschenbach, Fontane, Hermann Kurz, Melchior Meyr usw.?« – Ich möchte jedoch mit diesen grundsätzlichen Einwänden dem Verdienste des Münchener Akademisch-dramatischen Vereins durchaus nicht zu nahe treten: wer so viele Verdienste hat, darf sich auch einmal vergreifen; ohne Experiment kein Fortschritt!

1903

Gastspielabend der »Internationalen Tournée«. Zum erstenmal: Nachtasyl. Szenen aus der Tiefe in 4 Akten von Maxim Gorki. Deutsch von August Scholz.

Seit geraumer Zeit sind die meisten unserer Premieren nicht mehr in erster Linie als künstlerische Ereignisse bedeutsam, sondern als Kulturdokumente, oder – um noch deutlicher zu sein – als Krankheitssymptome. Irgendwo in Halbasien macht ein Schriftsteller in Dialogform einen Ausschnitt aus dem elenden Leben eines Nachtasyls; sofort kommt das halbasiatische Werk nach Europa; Direktoren und Verleger raufen sich um die tristen Vagabundenszenen; sie werden vor täglich ausverkauften Häusern gegeben; man vergleicht sie mit dem Teuersten, was man sein eigen nennt, mit Wildes Salome; es bildet sich ein Ensemble, das nur mit diesem Stück reist; in allen größeren Städten wird das Werk aufgeführt und mit mehr oder weniger simulierter Begeisterung aufgenommen; brave, reiche Leute schwärmen für diese verkommene Gesellschaft; ach, vom sicheren Parkett aus läßt sich's so gemächlich schwärmen; alle Stammgäste der Nachtcafés fühlen sich angeheimelt von denjenigen des Nachtasyls –: die Sache fängt an, zur enthusiastischen Posse zu werden; wir werden allgemach das Gespött unserer Nachbarn; der ganze Nachtasylschwindel ist ein unheimliches Zeichen für den Niedergang des deutschen Geschmacks.

Fern sei es mir, dem Dichter unrecht zu tun. Alexej Maximowitsch Pjeschkow, der sich als Schriftsteller mit leiser Koketterie Gorki, den Bittern, nennt, hat Schicksale erlebt und weiß Schicksale zu gestalten; er ist durch manche Lande des riesigen Zarenreiches gepilgert und in vielen Berufen herumgekugelt, er hat Schuhe geflickt und Bäume gefällt, Brot gebacken und auf einem Wolgadampfer den Küchenjungen gemacht; er war eine Zeitlang Schreibergeselle bei einem Advokaten, dann wieder Bahnwärter irgendwo in Kleinrußland; jahrelang ist er auf der Walz im russischen Süden herumgestreunt; wie der alte Odysseus hat er geirrt, gewandert, gelitten. Seine Novellen umwittert ein urwüchsiger stärkender Hauch von freier Wald- und Steppenluft, der auch solche Leser noch zu fesseln vermag, die Gorkis unvergleichlich größeres Vorbild Korolenko kennen und in Gorki nur den Epigonen sehen: denn auch Korolenko ist nur ein interessanter Spezialist gegenüber dem gewaltigen Gogol.

Auch seinem Werke möchte ich nicht unrecht tun. Gewissenhaft sei der Inhalt der vier Akte angegeben, keine Person soll unterschlagen, keine Szene vergessen werden: Ein ältlicher Herbergsvater, Gauner und Hehler, Heuchler und sanfter Halsabschneider, ohne Herz, ohne eine menschlich versöhnende Eigenschaft; sein freches Weib, eine gemeine Megäre, die einem strammen Bengel gegenüber mit ihren Dirnenreizen nicht kargt; ihre junge Schwester, ein gutmütiges mißhandeltes Ding; als Onkel der beiden der würdige Polizist, der bei Mißhandlungen und Hehlereien gnädig die schnapsfeuchten Augen zudrückt, wenn die Sache in der Familie bleibt; der Dieb Pepel, der die liebesgierige Herbergsmutter tröstet und in seinen besseren Stunden ihre Schwester liebt; ein verkommener Schlosser mit seinem halbtotgeprügelten Weibe: er feilt und raspelt, sie hustet und röchelt; eine Dirne, die vom Morgen bis in die Nacht über Schundromane Tränen vergießt und die Erlebnisse der jeweiligen Heldin sich suggeriert; ein derbes Hökerweib; ein verunglückter Mützenmacher; ein philosophierender Tagdieb; ein versoffener Schauspieler; ein verkommener Baron, der auf allen Vieren kriecht und wie ein Hund bellt, wenn man ihm dafür Schnaps zahlt; der greise Pilger Luka, der ger schwätzige Räsonneur des Stücks; ein besoffener Schuster; zwei Lastträger; ein paar Barfüßler. Ich habe niemand vergessen: die Menagerie ist komplett – die Vorstellung mag beginnen.

Erster Akt: Man zankt und beschimpft sich, die Kranke röchelt, der Schauspieler renommiert, die würdigen Herbergsleute schleichen tückisch in der stickigen Spelunke umher, horchen und lauern; Luka gibt das erste Dutzend seiner Weisheiten zum besten; hier eine Probe: »Was du auch anstellst, wie du auch aufspielst, ab Mensch bist du geboren und wirst als Mensch sterben.« Der Schuster poltert im Rausche herein und spielt Ziehharmonika; die beiden Schwestern prügeln sich halbtot. Vorhang. –

Zweiter Akt: Die Herrschaften spielen Karte und Dame, mogeln und streiten: Luka tröstet die Sterbende mit dem zweiten Dutzend seiner Weisheiten: »Du wirst nun sterben, siehst du – und dann hast du Ruhe. Brauchst dann vor nichts mehr Angst zu haben, vor gar nichts! So still wirds sein, so friedlich, und du liegst ganz ruhig da« usw. Die Hauswirtin sucht den Pepel zu überreden, ihren Mann umzubringen: die Kranke stirbt; der Schauspieler deklamiert ein albernes Gedicht; die Herrschaften legen sich murrend zum Schnarchen. Vorhang. –

Dritter Akt: Die romanwütige Dirne renommiert, heult, zankt, renommiert wieder. Luka läßt das dritte Dutzend seiner Weisheiten los: »Nicht aufs Wort kommt es an, sondern darauf, warum's gesprochen wird, seht ihr, darauf kommt's an!« oder »Gegen einen Menschen freundlich sein, schadet niemals.« Der Schlosser brüllt vor Wut. Pepel versucht die Natascha zur gemeinsamen Flucht ins ehrliche Leben zu überreden; die würdigen Herbergsleute horchen; die Schwestern prügeln sich halbtot, Pepel schlägt den Herbergsvater ganz tot; Vorhang. –

Vierter Akt: Luka ist fort; die Bande streitet und zankt sich. Einer läßt, in Haltung und Sprache Luka kopierend, das vierte Dutzend seiner Weisheiten los. Die Herrschaften fangen wieder an zu streiten, dazwischen philosophieren sie, lauter tiefe Wahrheiten, billig und nützlich wie Hosenknöpfe, sie brüllen, saufen, singen, musizieren. Der Schauspieler geht leise hinaus und erhängt sich. Vorhang und Ende.

Um diese Menschen zu sehen, dieses Theaterstück auf sich wirken zu lassen, hat am Samstag eine auserwählte Menge das Volkstheater gefüllt; Equipagen fuhren vor, Diener in eleganten Livreen warteten, bis es ihren schönen Herrinnen gefällig war, aus der Idealwelt der Verbrecherspelunke in die gänzlich unpoetische Atmosphäre zurückzukehren, wo die Männer weder Strolche noch Diebe und die Weiber keine schmierigen Dirnen sind. Equipagen und Diener mußten lange und geduldig warten; das Stück dauerte geschlagene drei Stunden, länger als die Iphigenie!

Gorkis zweites Stück ist an künstlerischem Feingehalte unendlich ärmer als seine »Kleinbürger«. Die »Szenen aus dem Hause Bessjemenows« waren der Aufschrei eines Leidenden, quälend, rücksichtslos, rauh, echt bis zur Grausamkeit, der Dialog stellenweise von wunderbar feiner Arbeit. Das Verbrechermelodram für gemütvolle Jobber, die da ausziehen, das Gruseln zu lernen, ist recht grob gearbeitet; die Charakterisierung flüchtig und leitmotivartig wie bei den schwächsten Gestalten von Dickens; der Zigeuner Gorki hat kompromittierend rasch begriffen, wie man ein Fünf-Mark-Publikum gewinnt; sein Werk trieft von unechter Mitleidreligion und süß einschläfernder Moral. Seine letzte, im Grunde einzige Weisheit, ist das alte Nitschewo: »Nichts! Hat nichts zu sagen! Lüge ist so gut wie Wahrheit, der Strolch so gut wie der arbeitende Bürger, die Dirne so gut wie die ehrbare Frau: »Menschn, Menschn san mer Alle!« Ach, er hat reichlich Sirup in seine Bitternis getan und viel beruhigendes Zuckerwasser in den Essig seiner Kunst gegossen, der ehemals so bittere Max! Er ist ansässig geworden, er ist Theaterdirektor geworden, er wird noch Klassiker werden, der süße Max! Denn süß wie Honigseim mundet seine Kunst den Berlinern, und glätter ist seine Kehle denn Öl: und war doch vordem bitter wie Wermut, und scharf wie ein zwoschneidig Schwert.

Für das oppositionelle Rußland mag Gorkis Stück trotz seiner hilflosen novellistischen Breite als Dokument sozialer Anklage etwas zu bedeuten haben. Für Deutschland hat es gar nichts zu bedeuten. Wertvoll ist es höchstens als Symptom der trostlosen Verworrenheit deutscher Theaterzustände, der beschämenden Unsicherheit deutschen Geschmacks, der Verheerungen theatralischer Moden und Machenschaften.

Ich soll wohl noch von der Aufführung und Darstellung berichten? Aber ein Stück wie dieses gibt nicht den mindesten Anhalt dazu. Man kann nur sagen, daß alles klappte. Es ist unmöglich, ein Werk wie dieses durch die Darstellung zu heben oder zu gefährden. Man kann es nicht gut spielen, man kann es nicht schlecht spielen, man kann es nur spielen wie der Verfasser es im kleinlichsten Detail vorschreibt: heulend, brüllend, keifend, röchelnd, gähnend. Es ist sehr schwierig, ein solches Werk zu inszenieren, bis alles klappt. Noch besser wäre es, es wäre unmöglich. Szenen aus der Tiefe? Darauf – pfeifen wir! Gebt uns Szenen aus der Höhe!

1903

Münchener Schauspielhaus.

Eine der sympathischsten Überraschungen brachte uns das Gastspiel Centa Brés durch die Wiederaufnahme des »Frühlingsopfers« vom Grafen Keyserling. Dieses stimmungsvolle Werk ist in seinen Mitteln durchaus echt und anständig und hatte deswegen von Anfang an gegenüber der aufdringlichen Bazarware unserer Spielpläne einen schweren Stand. Es ist für den genauen Beobachter geradezu eine Freude, zu sehen, wie unfehlbar sicher Keyserling die Situation gerade dann abschließt, wann ein Modedramatiker erst anfangen würde, die Stimmung oder das Milieu auszupressen wie eine Zitrone. Diese Eigenschaft ist ebenso selten wie vornehm. Die düstere und wilde Mischung von Glaubensinbrunst und brutal-egoistischem Aberglauben in der Seele dieser Bauern ist ausgezeichnet getroffen. Dazu ist die tragische Idylle originell in jeder Faser; das Werk steht hoch über der erfolgreicheren gleichzeitigen Produktion. Es gehört zu den wenigen neueren Stücken, die nicht nur von einem Verfasser, sondern von einem Dichter geschrieben worden sind. Es sind Situationen darin, so sachlich und zugleich zart, so rührend in ihrer grausamen Echtheit, daß man unwillkürlich genauer hinhört: »Ja, das ist ja ein Dichter ...«

1904

Münchener Schauspielhaus.

Im Sommer ist das Bier etwas stärker, hingegen die Überzieher, die Wäsche und die Dramatik etwas leichter als im Winter. Es gibt Winterdramen, z. B. die Salome, Monna Vanna, das Nachtasyl, und Sommerdramen, z. B. Höhenluft von Heinr. Stobitzer. Unter den Sommerdramen ließen sich noch einige feinere Unterschiede machen; es gibt welche, die man im kühlen Bierkeller, welche, die man im Seebade am besten genießt, andere im Anbau einer Sennhütte, wieder andere auf Schutzhütten, wenn man eingeregnet ist. Wenn man nichts anderes hat, gefallen sie einem; manchmal selbst dann nicht. Sie haben fast alle einen Fehler, nämlich den, daß sie geschrieben sind. Aber, du lieber Gott, wer oder was auf Erden hat keinen Fehler! Beim Kuhhandel gibt es sogar gesetzliche Fehler. Das unterscheidet den Kuh- und den Dramenhandel. Soll ich von der Posse berichten, die gestern (es war ziemlich regnerisch) den Beifall des Publikums fand? Aber es hieße dem Werke sein Feinstes rauben, wollt' ich mit rauher Hand es kritisch entblättern. St. Harmlos ist dabei Gevatter gestanden. Schließlich ist mir eine freiwillige Posse lieber als eine unfreiwillige, die sich für ein Drama hält. Schließlich ist mir der harmlose Spaßmacher lieber als der »satanische« Nichtskönner, der sich für ein Genie hält. Genta Bré hat uns auch dieses Stück beschert: wie nett von ihr! Sie hat mit Selbstverleugnung die Rolle eines Gänschens gespielt. Hat sie nichts anderes zu spielen? Schwartze gab den Schwerenöter als Moralanwalt munter und launig. Olga Heydecker füllte ihre Hosenrolle erfreulich aus: wenn die russischen Studentinnen alle so wären, ginge mancher Mann mehr nach Zürich. Noch eine Anzahl anderer verdienter Mitglieder des Schauspielhauses spielte mit und half dem Verfasser zu einem Hervorruf, dem Gaste, durch flottes Zusammenspiel, zu einem warmen Erfolge, dem Publikum zu einem ganz netten Abend. Kein Mensch zischte. Es war wirklich nicht der Mühe wert. Es war nett.

1903

Theater am Gärtnerplatz. Gastspiel Eleonora Duse: La Città Morta von Gabriele d'Annunzio.

Den Deutschen fehlt gewöhnlich das Verhältnis zu den Schauspielern anderer Nationen. Sehr oft, wie bei den Franzosen, halten sie für Fehler, was nationale Eigentümlichkeiten sind. Sehr oft, wie bei den Südromanen, bei der Duse, bei Andrade, bei Novelli, bei der Bellincioni, halten sie die nationalen Eigentümlichkeiten für einzigartige Vorzüge. Sie verwechseln das Allgemeine der Rasse mit dem individuellen Genie. Denn davon muß man ausgehen, wenn man einer italienischen Truppe gerecht werden will: daß, was bei uns Ergebnis eines langen Lebens, überlegten Kunstverstandes, sorgfältigen Studierens ist, daß das alles diesen Sonnenkindern als himmlisches Patenangebinde in die Wiege gelegt wird: Einfachheit und Stil der Gebärde, Adel der Haltung, süßer Zauber des Wortes. Sie sind Plastiker und zugleich Gegenstände der Plastik; wenn sie sich die Sandalen fester schnüren, wenn sie mit stürmischer Gebärde winken, rufen, wenn sie in leisem Kummer den schönen Leib demütig neigen – sie sind ein Kunstwerk, und nur einer der Ihren vermag es zu schaffen und warme Seele ihm einzuhauchen, nur ein heimlicher Grieche, wie Adolf Hildebrand. Was Eleonora Duse zur ersten lebenden Schauspielerin macht, ist ein Doppeltes: Gebärde und Stimme. Hinreißend schön ist diese Anna in der »Toten Stadt«, wenn sie schlanken Leibes an der dorischen Säule lehnt, wenn sie schreitet, wenn sie weggeworfene Rosen gütig vom Boden aufliest, wenn sie ihr Antlitz sehnend dem dunklen und großartigen Schicksal zuwendet, das ihr erst die letzte Weihe und die Holdseligkeit auf das zarte Haupt träufeln wird. Wie ein ergreifendes Wunder wandelt diese blinde Frau über die tragische Bühne, und man weiß nicht, soll man mehr ihrer Hoheit huldigen oder ihrem Liebreize.

Die Anmut der italienischen Rasse, ihre geschmeidige Grazie, ihre herrliche Natürlichkeit feiert in Eleonora Duse einen vollendeten Triumph. Die größte Schauspielerin unserer Zeit – wie nichtssagend ist dieser Superlativ! Aber hinter all dieser blassen Zartheit und Lieblichkeit, hinter all diesen unvergeßlich einfachen und überredenden Gebärden eine vornehme, tiefe und feine Seele zu erraten, über der Kunst der Duse die edle Künstlichkeit Gabriele d'Annunzios zu vergessen, Zug um Zug der seltsam schönen Dichtung zu erleben, die sie, nicht ihr Dichter schafft –, wie viel näher kommt man ihrem Wesen durch diese Auffassung! Sie ist der Tragödie, was ein Lamond oder ein Joachim dem musikalischen Manuskripte ist. Sie belebt, beseelt; alle Rosen fangen an zu blühen unter ihren Händen, und alle Saiten beginnen geheimnisvoll zu rauschen und zu singen, wenn ihr zarter Finger leise nur sie liebkost.

Mit eintönig süßer Stimme plaudert, lacht, scherzt, klagt, jubelt Eleonora Duse; man horcht erstaunt auf; kaum ein Schrei, so gar nichts Theatermäßiges geht von ihr aus; leise, sanft, fast unhörbar schwebt der silberne Ton von ihrer Lippe hernieder zum Hörer, und die Brunnen der Dichtung werden wach und ihre versunkenen Schätze glühen und blühen sehnsüchtig empor: so spricht eine Geliebte! so tröstet eine Mutter! so klagt ein Kind! Man wird nicht müde, dieser rätselhaft einzigen Stimme zu lauschen. Man ist um ein Glück reicher, wenn man Eleonora Düse erlebt hat. Man weiß, daß es auf dieser erbärmlichen Erde »so etwas gibt«, schön wie ein Traum, leuchtend wie ein Märchen, geheimnisvoll lockend und beglückend wie der warme Wunderblick von Meister Lionardos Gioconda.

Und diese Frau hat man gewagt, in einem Atem mit Sarah Bernhardt zu nennen! Sie unter die Bernhardt zu stellen! Es ist als ob man lebendige Rosen mit Blumen aus parfümierter Seide vergleiche!

Die Aufführung der »Toten Stadt« war ein Erlebnis. Wieder einmal hatte man den Eindruck, daß ein Dichterwerk einen adäquaten Ausdruck gefunden habe. Die schlechteste italienische Truppe ist besser als eine gute französische Gesellschaft: gewisse Geschmacklosigkeiten und Albernheiten sind den Italienern einfach unmöglich. Die Truppe der Duse aber ist sogar gut. Rosaspina, den wir vom letztenmal her kennen, gab die beiden großen Erzählungen vom Goldfund und von seiner Verblendung mit ausgezeichnetem Ausdrucke, und Bianca Franci verlieh der Bianca Maria immerhin einiges von der holden und herben Zartheit der Dichtung.

Haben wir nun nicht gerade den Fehler begangen, den wir im Eingange als zu vermeiden bezeichnet hatten: das Temperament der Rasse mit der schauspielerischen Begabung des Individuums verwechselt? Oder ist eben doch in der Duse etwas, das entschieden über die italienische Schauspielkunst weit hinausgeht, etwas rein Persönliches, eine Feinheit und Tiefe des Ausdrucks, die nur sie allein hat? Es ist so schwer, dies zu sagen. Man kommt mit der Absicht, sich diesmal ganz bestimmt nicht überrumpeln und zu kritiklosem Schwärmen verführen zu lassen – und nach den ersten Repliken der Duse ist man gefangen und fängt zu schwärmen an »als wie in alter Zeit«. Man will einen kühlen und vorsichtig abwägenden Bericht schreiben, und richtig ist es wieder ein Hymnus geworden. Ach, diese mächtige Zauberin, wie oft wird sie uns noch behexen und den kritischen Sinn lähmen? Aber ist nicht gerade das ein Beweis ihrer Größe? ... 1904

Im Prinzregenten-Theater Don Carlos: Unvermindert wirkt und ergreift das trotz aller Schwächen unvergängliche Werk. Mag mancher Theatereffekt Viktor Hugo vorwegnehmen, mag das Gefüge der beiden letzten Akte sogar zeigen, wie viel Sardou in unserem Schiller steckte, – das Ganze atmet eine Größe, die den Referenten des modernen Theaters doppelt erquickt. Wir alle machen eine Zeit durch, in der wir uns von Schiller ungestüm entfernen: es ist das Zeichen beginnender Selbständigkeit. Dann aber kommt für uns alle wieder die Zeit, in der wir mit wachsender Bewunderung erkennen, wie groß Schiller ist. Auf einmal entdecken wir hinter dem Jubiläums- und Schulausgaben-Schiller wieder den wirklichen Schiller, und ein edles, wundervolles Haupt wird uns allmählich sichtbar, mit den unaussprechlichen Zügen eines tief Leidenden und mit der Gloriole eines großartig Sieghaften. Wenn man jahraus, jahrein nur die Kolophoniumblitze zu registrieren hat, die unsere klugen Tagesarrangeure machen, fühlt man sich sonderbar wohl in den historisch-philosophischen Gewittern, die Schiller zusammenprallen läßt. Daß auch heute noch, heute mehr als je, Schiller volle Häuser macht, ist ein hoffnungsfrohes Zeichen dafür, daß wir allmählich wieder anfangen, das Drama großen Stils von der anmaßlichen Plebejerkunst des Tags reinlich zu scheiden.


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